17
Boscastle
2019
K urz hatte Sienna überlegt, ein Taxi zu rufen, das sie zum Polizeipräsidium bringen würde, doch am Ende war sie schließlich trotz des Alkohols in ihrem Blut selber gefahren.
Die Konzentration während der Fahrt auf den Verkehr und die Straße vor ihr hatte geholfen, sich wenigstens für kurze Zeit von dem Gedankenchaos in ihrem Kopf zu lösen.
Sie lenkte den Wagen in eine der freien Parkplätze, stieg aus. Sie wollte sich gerade auf den Weg zum Eingang machen, als ihr siedend heiß einfiel, dass sie überhaupt nicht wusste, was sie zu Detective Roth sagen sollte.
Den Anhänger hatte sie Gerry am Nachmittag zurückgegeben und die anderen Schmuckstücke … Sienna schluckte.
Im Grunde bedeutet all das gar nichts, meldete sich die Stimme in ihrem Kopf zu Wort.
Und klar, Sienna war durchaus bewusst, dass es auch vollkommen andere, weit optimistischere Erklärungen gab und dennoch … Sie kam gegen das bohrende Gefühl in ihrem Innern nicht an, schaffte es nicht, ihre Atemblockade in den Griff zu bekommen, hatte den Eindruck, ihre Haut wäre ihr plötzlich viel zu eng.
Ihre Gedanken wirbelten in ihrem Kopf herum, verursachten ihr Schmerzen.
Sie stöhnte leise.
Deine Großmutter könnte den Anhänger tatsächlich gefunden haben …
Sienna schüttelte den Kopf.
Zu vage.
Das Freundschaftsband … solche Dinger gibt es zu Tausenden. Du selbst hattest früher ein ganz ähnliches.
Aber das in der Kiste sah eben haargenau wie das von diesem Mädchen in dem Internet-Artikel aus. Und diese Perlenohrringe sahen genauso aus wie die von dieser deutschen vermissten Touristin.
Diese Dinger sind Allerweltsschmuck. Jede zweite Frau hat solche in ihrem Schmuckkästchen.
Nein , dachte Sienna und zuckte zusammen, als ein vorbeieilender Mann sie irritiert anstarrte.
Hatte sie gerade laut gedacht?
Sie seufzte.
Immerhin waren da der Herzanhänger von Clara, die Brosche in Froschform von Rowan.
So viele Zufälle konnte es doch gar nicht geben.
Sie straffte die Schultern, griff in ihre Handtasche, zuckte zurück, als sie das Holz der Box unter ihren Fingern spürte.
»Detective Roth ist heute Abend nicht mehr im Haus«, erklärte ihr wenig später ein jüngerer Polizeibeamter und musterte sie. »Könnte ich Ihnen vielleicht auch weiterhelfen? Mein Name ist übrigens Isak und wie heißen Sie?«
Unter seinem stechenden Blick fühlte sie sich auf merkwürdige Art verletzlich, ja, beinahe nackt. »Ich bin Sienna.«
Sie sah zu Boden, suchte nach Worten.
»Detective Roth arbeitet an dem Fall, der den gewaltsamen Tod meiner Mutter betrifft. Ihr Name lautet Marlene Aschenbrenner. Sie wurde vor knapp vier Wochen in Boscastle überfallen und starb wenig später an ihren schweren Kopfverletzungen.«
Der junge Beamte runzelte die Stirn, nickte schließlich. »Der Fall ist mir bekannt«, sagte er. »Und Sie sind jetzt hier, um nachzufragen, ob es neue Erkenntnisse gibt?«
Sienna schüttelte den Kopf. »Nicht direkt. Ich meine, ja, das interessiert mich natürlich auch, aber eigentlich bin ich wegen etwas anderem hier.« Sie deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch des jungen Beamten. »Darf ich mich setzen?«
Der Mann nickte.
Nachdem Sienna Platz genommen hatte, zog sie die Holzkiste aus ihrer Tasche hervor, stellte sie vor dem Beamten auf den Tisch.
»Ich bin wegen dieser Mädchen hier, die vor mehr als zwanzig Jahren zum Teil ermordet wurden oder noch immer als vermisst gelten.« Sie brach ab, hob die Schultern. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber ich denke, dass der Überfall auf meine Mutter irgendwas damit zu tun haben könnte. Genau wie die Tatsache, dass mein Vater uns damals einfach verlassen hat.« Sie sah den Mann an, schaffte es nur mit Mühe, ihre Stimme ruhig und bedacht klingen zu lassen. Sie deutete auf die Kiste. »Darin befinden sich etliche Schmuckstücke. Ich habe sie im Schrank meiner Großmutter gefunden. Sie lebt seit über zwanzig Jahren im Pflegeheim und die Schwestern sind absolut sicher, dass diese Kiste erst in den Sachen meiner Grandma auftauchte, nachdem meine Mutter bei ihr war.«
Der Mann runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht ganz …«
Sienna holte tief Luft. »Diese Kiste, ich bin überzeugt davon, dass meine Mutter sie im Schrank meiner Großmutter versteckt hat. Warum, weiß ich nicht. Aber Fakt ist, dass sie nach Jahrzehnten zum ersten Mal wieder hierher gekommen ist und sofort überfallen wurde. Das muss mit dieser Kiste zu tun haben. Oder zumindest mit dem, was diesen Mädchen damals zugestoßen ist.«
Sienna beobachtete, wie der junge Polizist die Box öffnete und die Schmuckstücke betrachtete.
Schließlich sah er sie an. »Wollen Sie mir genauer erklären, was Sie meinen?«
»In der Kiste war ein Schmetterlingsanhänger. Ein ganz altes Familienerbstück. Ich dachte, es gehörte meiner Großmutter, doch dann stellte sich heraus, dass er einem Mädchen gehörte, das vor über zwanzig Jahren aus Boscastle verschwunden ist. Das Mädchen heißt Jessica und stammt aus Manchester. Jessi hat den Anhänger damals von Gerry bekommen, einer Urlaubsliebe.«
Der Polizist schüttelte den Kopf. »Und woher wissen Sie das?«
»Gerry selbst hat es mir erzählt. Und ich habe den Anhänger auf einem Foto wiedererkannt, das Jessis Eltern damals der Polizei und Journalisten zur Verfügung stellten.«
»Und dieses Zeug hier?« Er deutete auf die Kiste.
»Das gehört einigen der anderen toten und vermissten Mädchen.« Sienna beugte sich vor, zeigte auf den Frosch. »Der gehörte einer Rowan L. Ihren Nachnamen kenne ich nicht. Aber ich weiß, dass man damals ihren Ex-Freund für die Tat verantwortlich machte, obwohl er immer wieder beteuerte, unschuldig zu sein. Und dieses Freundschaftsband da … Es gehörte einer Patricia aus der Gegend. Ihre Freundin Susan hatte auch so eins.«
»Und das wissen Sie auch von einem der Vermisstenfotos?«
Sienna nickte. »Genau wie der Herzanhänger einer Clara gehört und diese Perlenohrstecker einem Mädchen namens Sandra.«
Der Polizist starrte eine Weile darauf, verzog das Gesicht. Schließlich sah er Sienna ernst an. »Was wollen Sie mir damit sagen?«
Sienna zuckte mit den Schultern, hatte plötzlich das Gefühl, innerlich zu zerbrechen. Sie öffnete den Mund, bekam aber keinen Ton heraus. Es war, als versage ihre Stimme ihr den Dienst. Beinahe, als würde sie sich verweigern, die Wahrheit laut auszusprechen.
»Wollen Sie wissen, was ich denke?«
Sie nickte schwach.
»Ich denke, Ihre Nerven liegen blank, wegen dem, was mit Ihrer Mutter passiert ist. Und jetzt versuchen Sie krampfhaft, eine Erklärung für all das zu finden.« Er sah sie an, griff über den Tisch nach ihrer Hand. »Schmuckstücke dieser Art werden zu Tausenden hergestellt. Das war auch früher schon so. Und all diese Mädchen, was mit ihnen passierte, war vor zwanzig Jahren. Die Mode damals war eine ganz andere als heute. Und Ihre Mutter …« Er brach ab, starrte sie nachdenklich an. »Ihre Mutter war vor zwanzig Jahren eine junge Frau … natürlich hat sie genau solchen Schmuck besessen wie der, der damals modern war. Bestimmt gehörte das ganze Zeug Ihrer Mutter und sie hat es seinerzeit von ihrem Mann geschenkt bekommen. Und weil er sie verlassen hat, Sie beide, wollte Ihre Mutter das alles nicht mehr. Und der Überfall …« Er seufzte, brach ab. »Ich denke genau wie Detective Roth, dass es sich um die Tat einer Bande Jugendlicher handelt.«
Sienna schüttelte den Kopf. »Da ist auch noch etwas anderes. Als mein Vater verschwand, damals, vor zwanzig Jahren, verschwand mit ihm eine Frau namens Mary. Mary Wood. Und kurz darauf kam ein Mädchen namens Amelie an den Klippen vom Cliff Ville zu Tode. Das alles hängt irgendwie zusammen, das spüre ich einfach.«
»Und was schlagen Sie vor?«
Sienna sah den Mann an. »Ich möchte, dass Sie Detective Roth sagen, dass ich hier war und auf seinen Anruf warte. Ich muss wissen, ob es sein kann, was ich denke, oder ob ich einfach nur irre werde.«
»Was genau denken Sie denn?«
Sienna stieß die Luft aus, hatte auf einmal das Gefühl, vornüberzukippen.
»Dass mein Vater ein Monster sein könnte. Ein Monster, das etliche junge Mädchen tötete. Und dass er abgehauen ist, nachdem meine Mutter dahinterkam.«
Der Polizist sah Sienna erstaunt an. »Und wieso ist Ihre Mutter damals nicht zur Polizei gegangen? Ich meine, wenn es wirklich so sein sollte, wie Sie vermuten, wieso hat sie damals nicht diese Kiste geschnappt und hat ihren Ehemann angezeigt?«
Sienna hob die Schultern, spürte, wie ihr die Tränen kamen. »Vielleicht weil sie Angst vor ihm hatte«, brachte sie mühsam hervor. »Oder weil sie feige war. Wäre doch möglich, dass sie nicht wollte, dass alle wissen, dass sie jahrelang mit einem Irren Seite an Seite gelebt hat. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb sie nach all den Jahren wieder herkam. Weil sie endlich mit der Vergangenheit abschließen und die Wahrheit sagen wollte – und genau das war schließlich ihr Todesurteil.«
Als Sienna wenige Minuten später wieder in ihrem Wagen saß, fragte sie sich, wie jemand, der so beschränkt dachte, überhaupt Polizist hatte werden können. Sie hatte diesem Isak so viele Fakten geliefert, doch er hatte sie nur mitleidig angesehen. Und ein klein wenig argwöhnisch, so als wäre sie die Verrückte und reif für die Gummizelle.
Sein Blick war es gewesen, durch den sie erkannt hatte, dass sie auf sich alleine gestellt war. Oder zumindest warten musste, bis Jonathan Roth sie irgendwann zurückrief. Sofern er sie nicht auch für durchgeknallt hielt.
Sie seufzte, zog ihr Handy hervor, suchte nach Rowan L.
Danach suchte sie die Berichte von den anderen Mädchen. Sie studierte deren Gesichter.
Sie alle waren wunderschöne junge Frauen gewesen, einige von ihnen halbe Kinder, als sie verschwanden oder starben, die als Models hätten durchgehen können. Sie schnappte nach Luft, als ihr Rias Worte wieder einfielen.
Die Kollegin ihres Vaters hatte damals Fotos bei ihm entdeckt, auf denen etliche junge Mädchen zu sehen gewesen waren. Und Ria zufolge schien es ihm unangenehm gewesen zu sein, dass sie sie gesehen hatte.
Sienna wurde heiß und kalt zugleich, als sie begriff, was das bedeutete.
Ihr Vater war Fotograf.
Und wie es aussah, hatte er seinen Beruf als Masche benutzt und all diese Mädchen mit der Aussicht auf einen Modelvertrag in die Falle gelockt.
Sienna schluckte.
Diese Mädchen waren tot, weil sie gehofft hatten, dass ihr Vater sie ihrem größten Traum näherbringen konnte.
Stattdessen waren sie arglos einem Monster in die Arme gelaufen. Und genau diese Naivität hatte sie am Ende das Leben gekostet.
So und nicht anders musste es passiert sein.
Nur das ergab letztendlich einen Sinn.
Oder?
ODER?