I
sak sah sie schockiert an. »Wie meinst du das?«
Sienna schluckte hart, deutete auf den Kopf von James. »Das hier … es hat mich daran erinnert, was damals passiert ist. Als Amelie von der Klippe stürzte, war da auch so unglaublich viel Blut.«
»Wieso glaubst du, dass du dafür verantwortlich bist?«
»Weil es die Wahrheit ist.« Sienna seufzte.
»Amelie hat deine Mutter und meinen Vater beim Streiten beobachtet. Für sie muss es damals so ausgesehen haben, als tue mein Vater dem Zimmermädchen Gewalt an. Dabei hat er nur versucht, deine Mutter davon zu überzeugen, dass ihr Ehemann etwas mit den Mädchenmorden zu tun hat. Sie wehrte sich gegen die Behauptungen meines Vaters und deswegen riss er ihr den Anhänger eines der Mädchen vom Hals. Für Amelie hat es so ausgesehen, als würge er sie. Und nachdem deine Mutter auf einmal verschwunden war, erzählte mir Amelie, dass sie meinen Vater beobachtet habe, wie er der vermissten Frau wehgetan hat. Ich bin so wütend gewesen, dachte, dass Amelie lügt. Schließlich kam es zum Streit, sie rannte weg, ich ihr hinterher und dann …« Sienna brach zitternd ab, sah zu Boden. »Dann hab ich sie geschubst.«
Eine Weile herrschte eine beinahe geisterhafte Stille, dann war es Isak, der das Schweigen brach. »Du warst damals ein kleines Mädchen, wusstest nicht, was du tatst. Ich bin mir absolut sicher, dass du ihr niemals absichtlich hattest wehtun wollen.«
Sienna sah zu Isak auf. »Natürlich wollte ich ihr nicht schaden. Dennoch habe ich es getan. Meinetwegen starb sie damals viel zu jung. Und meinetwegen mussten ihre Eltern das Schlimmste durchmachen. Außerdem war Amelies Tod für meine Mutter der ausschlaggebende Aspekt, meinen Vater für ein Monster zu halten. Meinetwegen ist auch er seit vielen Jahren tot.«
Isak schüttelte energisch den Kopf. »Er wäre so oder so gestorben. Er wusste zu viel über meinen Vater. Und wenn es deine Mutter nicht getan hätte, dann mein Vater selbst … Er war so kaltblütig, er hätte ganz sicher einen Weg gefunden.«
Isak räusperte sich. »Wenn jemand Schuld an all dem trägt, dann mein Vater. Er hat alle getäuscht, über Jahrzehnte hinweg, sogar meine Mutter und mich.« Isak sah angewidert auf den Leichnam seines Vaters, schüttelte den Kopf. »Das Schwein hat den Tod verdient, ganz im Gegensatz zu deiner Mutter.« Sein Gesicht fiel plötzlich innerhalb von Sekunden in sich zusammen. »Meine Güte«, stammelte er leise. »All die Jahre habe ich sie so sehr gehasst, ihr das Allerschlimmste gewünscht. Und dann, als ich sie an jenem Abend zufällig sah und auf Anhieb erkannte, hab ich nur rot gesehen. Sie hat versucht, mir alles zu erklären, doch ich konnte ihr nicht zuhören, hab so lange auf sie eingeprügelt, bis sie sich nicht mehr bewegt hat. Und obwohl ich bis heute sicher war, das Richtige getan zu haben, leide ich seither unter Schuldgefühlen. Vor allem, nachdem ich dich neulich auf dem Präsidium erkannt habe. Du sahst so traurig aus.« Er seufzte leise. »Und alles nur, weil mein Vater gelogen hat. Als meine Mutter damals verschwunden und Amelie tot war, hatte ich ein Gespräch zwischen deiner Mutter und meinem Vater belauscht. Ich hab leider nicht alles gehört, musste mir das meiste zusammenreimen, doch am Ende zählte für mich nur, dass dein Vater meine Mutter tötete und sowohl mein Vater als auch deine Mutter ihn damit hatten davonkommen lassen. Ich wusste nicht, wieso, dachte, dass mein Vater es meinetwegen tat. Aber bei deiner Mutter … bei ihr wurde mir im Laufe der Jahre klar, dass sie nur schwieg, um sich selbst zu schützen, zumindest habe ich das all die Jahre angenommen, mich so immer mehr in meinen Hass hineingesteigert.« Er kam noch näher zu Sienna, schüttelte beschwichtigend den Kopf, als er bemerkte, dass sie ängstlich vor ihm zurückwich. »Ich tu dir nichts, vertrau mir! Du hast nichts zu befürchten.« Er griff nach ihrem Arm, sah sie an. »Wenn ich es könnte, würde ich rückgängig machen, was ich getan habe. Deine Mutter … sie müsste noch an deiner Seite sein, ihr alle … deine ganze Familie, ihr habt all das Leid, das euch wegen meines Vaters widerfahren ist, nicht verdient.«
Isak sah aus, als breche er jeden Moment zusammen. »Und natürlich weiß ich, dass Vergebung mir nicht zusteht, und doch bitte ich dich darum.«
Sienna ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen, sah ihn schließlich an. »Ich glaube, dafür brauche ich noch ein wenig, schätze ich.« Sie lächelte gequält. »Wir sind beide ebenfalls zu Opfern deines Vaters geworden. Zwar leben wir, aber zu welchem Preis?«
Sie sah Isak an. »Am besten rufen wir jetzt die Polizei, sorgen dafür, dass alle erfahren, wer dein Vater war und was all diesen Menschen tatsächlich zugestoßen ist.«
Isak schüttelte den Kopf, sah Sienna bedauernd an. »Was das angeht, wirst du auf dich allein gestellt sein.« Er zog sein Handy hervor, reichte es Sienna. »Das Diktiergerät war an. Ich hab es ziemlich am Anfang deines Gesprächs mit meinem Vater angeschaltet. Die Aufnahme sollte reichen, um der Polizei alles zu erklären.«
Sienna sah Isak verwirrt an. »Was bedeutet das? Wieso bin ich auf mich allein gestellt?«
Isak seufzte, verzog seinen Mund zu einem gequälten Lächeln. Dann hob er seine Waffe hoch, zuckte mit den Schultern.
Sienna spürte, wie das nackte Entsetzen von ihr Besitz ergriff. »Nein!«, stammelte sie. »Du bist nicht wie dein Vater, du hast es nicht verdient, zu sterben. Du hast eine Familie oder? Du musst auch an sie denken!«
Isak nickte. »Genau das tue ich doch. Meine Frau ist die warmherzigste und ehrlichste Person, die ich kenne. Sie würde niemals bei mir bleiben, wenn sie wüsste, dass ich einen unschuldigen Menschen getötet habe. Aber so großartig, wie sie ist, würde sie dennoch darunter leiden, mich zu verlassen und mir wehtun zu müssen. Und dann mein Sohn, er ist so ein wunderbares Kind, natürlich braucht er seinen Vater, aber nach dem, was ich deiner Mutter angetan habe, werde ich sowieso lange Zeit nicht für ihn da sein können. Also ist es im Grunde für alle das Beste, wenn ich einen klaren Schnitt mache und sofort für meine Tat bezahle.«
Sienna deutete auf James. »Das hast du doch längst. Und sieh mich an, ich habe auch eine sehr schwere Schuld auf mich geladen. Trotzdem habe ich dadurch nicht das Recht verwirkt, weiterleben zu dürfen. Ich werde mich der Schuld stellen, damit zu leben lernen und in Zukunft ein besserer Mensch sein. Es ist nicht zu spät, für uns beide nicht.«
Isak legte den Kopf schräg, lächelte. »Du hast so viel von deiner Mutter«, sagte er traurig. »Diese unglaubliche Stärke, den Mut. Es tut mir so leid.« Er stieß die Luft aus, dann ging alles ganz schnell.
Bevor Sienna überhaupt realisierte, was passierte, hatte Isak sich schon den Lauf seiner Waffe in den Mund gesteckt und abgedrückt.
Doch anders als zuvor bei seinem Vater hatte das Bild eines zerberstenden Schädels diesmal nichts Erschreckendes an sich. Stattdessen war es, als würde Sienna auf einmal von einer so niederschmetternden Traurigkeit erfüllt, als stünde der junge, sterbende Mann ihr persönlich nahe.
Vielleicht tat er das tatsächlich irgendwie – ging es ihr durch den Kopf, denn im Grunde war Isak genau wie ihre Mutter, Serafina und sie selbst ein vom Leben und der Vergangenheit gezeichnetes Individuum gewesen, das letztendlich nur von einem geträumt hatte – endlich Frieden zu finden.
Und vielleicht hatte er diesen in genau diesem Augenblick nach langer Zeit endlich gefunden.