Nachts zuvor in der Kajüte


Benny und Dirk wussten nicht, wie lange sie schon so unbeweglich und fast atemlos auf der harten Bank in der Kapitänskajüte gesessen hatten. War er weg? Oder lauerte er irgendwo da draußen? Hatte er sie bemerkt und wartete darauf, dass sie ihre enge Behausung verließen, um dann auch sie zu töten? Mitwisser konnte er sicher nicht gebrauchen.

Benny wusste genau, wer er war. Schlimmer hätte es nicht kommen dürfen.

„Was machen wir jetzt?“, raunte Benny, „sollen wir es wagen?“

„Ich weiß nicht“, kam es zaghaft zurück.

„Es ist schon so lange nichts mehr zu hören, vielleicht ist er ja weg.“ Benny wusste selbst nicht, ob er daran glauben sollte. Aber sie konnten ja nicht den Rest ihres Lebens hier verbringen.

Entschlossen stand er auf und schob sachte den schmalen Riegel der Kapitänstüre nach oben. Ganz darauf bedacht, nur kein Geräusch zu verursachen, öffnete er die Tür. Dirk hatte sich dicht hinter ihn gestellt und griff nach Bennys Jacke.

„Lass los“, flüsterte Benny, „wir müssen da jetzt raus. Es ist alles ruhig, er ist wohl weg. Komm mir nach, aber leise.“

Vorsichtig machten die beiden Jungs Schritt für Schritt, immer darauf bedacht, auf den alten Dielen kein Knarren zu verursachen. Mitten im Raum lag noch immer der Turnschuh des Toten. Sie wagten es nicht, nach hinten zu gehen, um nachzuschauen, was mit der Leiche war und wer die Leiche war. Um die alten Jutesäcke machten sie einen großen Bogen. Egal, nur raus hier. Die Straßenbeleuchtung erhellte den Raum so weit, dass sie gut sehen und ihren Weg finden konnten. Kurz vor der Tür zum Treppenhaus blieb Benny abrupt stehen.

„Unsere Rucksäcke, wir haben unsere Rücksäcke vergessen. Geh zurück und hol sie. Los Dirk, ich warte hier auf dich.“

„Ich? Nein, ich gehe keinen Meter mehr zurück, die können von mir aus dort verrotten.“

„Spinnst du? Da sind unsere Papiere drin, Geld und mein Tablet, das können wir nicht alles hierlassen.“

Doch Dirk schüttelte energisch den Kopf. Er fragte sich inzwischen sowieso, warum er bei dieser ganzen Aktion mitgemacht hatte. Kurzzeitig hatte er das schlimme Leben an der Seite seiner Mutter vergessen. Das hier war der reinste Albtraum.

„Ich gehe schon, du Feigling. Warte hier im Treppenhaus auf mich.“

Benny drehte sich um und lief, immer noch bedacht keine Geräusche zu machen, zurück zur Kajüte. Sein Herz raste. Er nahm die beiden Rucksäcke, schob sich einen auf den Rücken und den anderen vorne auf die Brust, so hatte er die Hände frei. Vorsichtig lief er nun zurück zu seinem Freund. Von Dirk war nichts zu sehen. Er ist schon vorgegangen, überlegte Benny, das ist gut, er kennt sich hier aus und wird nach einem Ausgang suchen. Als er jedoch zur Treppenhaustür kam, stockte ihm der Atem. Auf dem Podest, direkt vor der Treppe, stand der bullige Mann, den er gut kannte. Dieser hielt mit dem rechten Arm Dirk umklammert und die Hand auf dessen Mund gepresst. Dirks Füße zappelten in der Luft.

„Und nun zu dir, mein Sohn.“ Benny machte ängstlich ein paar Schritte zurück. Er war es, er war es tatsächlich.

Mit dem linken Zeigefinger deutete er an, dass Benny zu ihm kommen solle. „Zur falschen Zeit am falschen Platz, kann ich nur sagen. Ich frage dich jetzt nicht, was du hier zu suchen hast. Komm nur her, Bürschchen, oder soll ich deinem Freund hier gleich den Hals umdrehen?“

Als Benny nicht reagierte, warf er den zappelnden Dirk mit Wucht gegen die Wand, sodass der benommen liegen blieb. Benny hatte Angst, Todesangst.

„Dirk!“, schrie er erschrocken auf. Wie von Sinnen stürmte er plötzlich mit ausgestreckten Armen und markerschütterndem Schrei auf den verhassten Mann zu und stieß ihm die Hände gegen die Brust, sodass er das Gleichgewicht verlor und nach hinten stolperte. Er ruderte mit den Armen, versuchte nach dem Treppengeländer zu greifen, fiel dann aber mit einem überraschten Schrei rückwärts über das Geländer in das stockfinstere Treppenhaus hinunter.

Es gab ein riesiges Gepolter, bis er endlich liegen blieb. Ruhe, es war nun absolut still im Treppenhaus.

Benny schaute ihm angstvoll nach und befürchtete, dass er gleich wieder aufstehen und erneut auf ihn losgehen würde. Aber nichts. Er bewegte sich nicht. War das eine Falle? Wartete er darauf, dass er, Benny, nach ihm sah um ihn sich dann zu schnappen?

Dirk, was war mit Dirk? Er musste sich um Dirk kümmern. Aber Gott sei Dank, der bewegte sich wieder und rappelte sich langsam hoch.

„Was ist passiert?“, wollte er wissen, „wo ist er?“

Benny zitterte am ganzen Körper und deutete nach unten.

„Da! Ich glaube, der ist auch tot.“

Dirk zog die LED-Lampe aus der Tasche und leuchtete in das Treppenhaus hinunter.

„Benny, aber das ist doch dein ...“

„Sag es nicht, sprich es nicht aus. Der“, er funkelte Dirk mit zusammengekniffenen Augen an und deutete nach unten, „ist nicht mein Vater. Komm, lass uns verschwinden, ich will hier raus – und abhauen will ich jetzt auch nicht mehr. Ich wollte wegen ihm weg, aber das ist jetzt vorbei. Ich gehe nach Hause.“

„Du, ja, du hast es gut und was ist mit mir? Erst überredest du mich, gemeinsam abzuhauen und dann lässt du mich hängen! Meinst du vielleicht, ich gehe zu meiner besoffenen Mutter zurück? Ich will weg! Nach dem Albtraum der letzten Stunden erst recht.“ Schlagartig war er wieder in seinem Leben zurück.

„Vielleicht kannst du ja bei uns wohnen“, warf Benny beruhigend ein, „jetzt, wo er nicht mehr ...“, er nickte mit dem Kopf nach unten.

„Pah, das lässt sie nie zu. Wer macht ihr dann zu Hause den Dreck weg? Und wem kann sie dann die Kohle für ihren Schnaps aus den Rippen leiern? Nein, ich haue ab, ob du mitkommst oder nicht. Aber wenn nicht, das sage ich dir, dann bist du mein Freund gewesen.“

Dirk musste schlucken, er hatte Tränen in den Augen.

„Lass mal“, beschwichtigte Benny seinen Freund, „ich lasse dich nicht im Stich. Aber zuerst müssen wir hier raus. Komm!“

Er zog den Rucksack, den er noch immer vorne umgeschnallt hatte, ab und reichte ihn Dirk.

„Hier, das ist deiner und jetzt komm.“

Sie stiegen vorsichtig die Treppe hinunter, aber keiner wagte es, über den Toten zu klettern. So schwangen sie sich nacheinander über das Treppengeländer und ließen sich auf der anderen Seite vorsichtig hinuntergleiten. Sie konnten in der Tiefe des Treppenhauses kaum die Hand vor den Augen sehen, so dunkel war es hier. Die beiden hatten es plötzlich sehr eilig, aus dem Museum zu kommen, aber wie?

Am Ende der Treppe stolperte Benny, fiel hin, rappelte sich wieder hoch und bekam etwas zu fassen, was sich wie ein Koffer anfühlte. „Das ist der Koffer, in den sie die Bibel gepackt haben“, flüsterte er Dirk zu, „den nehmen wir mit.“

Die Vordertür war verschlossen und die Nebeneingangstür, an die sich Dirk plötzlich erinnerte, ebenfalls.

„Irgendwie müssen die beiden doch ins Museum gekommen sein. Wenn alles verschlossen ist, hatten sie sicher einen Schlüssel“, flüsterte Benny.

„Jetzt sag’ nicht, dass wir zurück müssen, um bei den Leichen nach einem Schlüssel zu suchen“, Dirk schüttelte den Kopf.

„Willst du etwa bis morgen früh hierbleiben?“, raunzte Benny ihn an. Ihm war es ebenso wenig geheuer, bei den beiden Männern nach einem Schlüssel zu suchen, aber was sollten sie tun? Er richtete sich auf, streckte den Rücken durch und meinte: „Ich mache es, ich gehe zurück.“

„Okay, ich halte die Stellung“, tat Dirk mutig. „Aber mach schnell, ich will hier raus.“

Dirk wartete einige Zeit ungeduldig. Dann nahm er den Koffer und ging in Richtung der Toiletten. Wie lange war Benny nun schon weg? Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. „Das kann doch so lange nicht dauern“, überlegte er. „Wo bleibt er nur?“

Plötzlich war zu hören, dass Benny angelaufen kam.

„Raus, schnell raus, da ist noch jemand im Haus“, rief er.

„Hast du den Schlüssel?“

„Nein, aber wir müssen sofort weg, ich habe oben etwas gehört.“

Fast flehentlich schaute er Dirk an.

„Du kennst dich hier doch aus, wie kommen wir aus diesem beschissenen, alten Kasten raus?“

„Ich hab’s, komm mit. Die Alarmanlage ist ja wohl nicht aktiv, sonst wäre schon die Hölle los. Es gibt einen Weg.“

Dirk zog seinen Freund am Arm hinter sich her in Richtung der Toiletten, schob die Tür der Herrentoilette auf und zeigte auf das Fenster. „Da können wir raus. Wir schlagen die Scheibe ein. Hier geht es zum Innenhof des Nachbarhauses, da sieht uns keiner.“

„Los, schnell!“ Benny griff nach dem Aluminiumkoffer und schlug ihn gegen die Scheibe.

Das dünne Glas der alten Fensterscheibe zerbrach sofort.

Er stieg als Erster nach oben, um durch das Fenster zu klettern. Auf dem Fenstersims drängte er: „Gib mir den Koffer, Dirk, los komm endlich.“

Geschafft!

Sie waren im Freien und wagten keinen Blick zurück. Nun standen sie an der Hauswand des Museums und wussten nicht wirklich wohin.

Die Straßenbeleuchtung warf so viel Licht zwischen die beiden Häuser, dass sie nach unten, Richtung Bahnhofstraße, einen Metallzaun erkennen konnten. Nach oben, Richtung Hafen, versperrte ein Holzzaun den Weg.

Benny nahm den Koffer und ging den Weg nach oben voraus. Eigentlich war es egal, aber irgendeinen Ausgang mussten sie finden und das möglichst schnell.

Der Holzzaun war von innen verriegelt. Gut, so konnten sie ihn öffnen und schnell hindurchschlüpfen.

Es war kalt, sehr kalt, eisig und nass. Die beiden Jungs froren.

Vor dem Museum rutschte Benny, den Rucksack auf dem Rücken, den Aluminiumkoffer fest vor sich haltend, den nassen, kalten Deich hinunter. Dirk folgte ihm. Deichrutscher, das hatte sie früher immer gespielt und einheimische sowie Gästekinder spielten das auch heute noch.

Mit nassem Hinterteil und frierend, versteckten sie sich in einer der Aufwärmhütten, die während des kleinen Weihnachtsmarktes im Hafen zwischen den Markthütten standen. Sie waren weihnachtlich beleuchtet und dekoriert, die Lichter des schwimmenden Weihnachtsbaumes, in der Mitte der Harle, brannten auch noch.

Der Deich glitzerte in der Nacht. Kleine Eiskristalle hatten sich gebildet.

Verschnaufen, Luft holen und überlegen, wie es nun weiterging.

Sollten sie nun abhauen oder warten und beobachten, wer aus dem Museum kam?

Dirk zeigte auf den Aluminiumkoffer und fragte: „Was machen wir damit?“

„Weiß ich noch nicht“, flüsterte Benny, „aber vielleicht ist er noch bares Geld wert.“

„Das können wir nicht machen! Wenn da wirklich noch einer drinnen ist“, er deutete auf das Museum hinter ihnen, „dann sucht er den Koffer doch schon. Wenn er uns erwischt, sind wir tot. Du hast doch gesehen, wie das läuft. Die gehen über Leichen.“

„Ich muss nachdenken.“ Benny war sehr wortkarg.

Den Koffer wollte er nicht mehr hergeben, vorerst jedenfalls. Abhauen ebenfalls nicht. Jetzt, wo der Alte tot war, musste er bei seiner Mutter bleiben. Sie brauchte ihn sicher. Es würde schwer werden, Dirk davon zu überzeugen.

Plötzlich entschied er: „Komm mit, wir gehen zu mir nach Hause. Morgen reden wir weiter.“

Benny griff nach dem Koffer, schaute vorsichtig nach rechts und links und zog Dirk aus der Hütte.

„Keiner da, die Luft ist rein, wir können.“

Frierend und übermüdet schlichen die beiden los. Entlang der Weihnachtshütten, über das Siel Richtung Wittmunder Straße. Benny wollte nur noch nach Hause. Er fühlte sich unsicher, immer wieder schaute er zurück. Wurden sie verfolgt?

Der Mann, der leicht gekrümmt in der schmalen Lohnefn1 hinter dem alten Kapitänshaus stand, zündete sich mit der rechten Hand eine Zigarette an. Die Linke presste er gegen seinen Unterbauch. Er trug nur einen Schuh. „Euch hole ich mir und den Koffer auch, Jungs, macht euch darauf gefasst. Ich weiß, wo ich euch finde“, presste er durch die fast geschlossenen Lippen. „Aber zuerst muss ich zum Schlachter.“ Er klopfte sich an die Hosentasche und suchte nach seinem Autoschlüssel. Zum Glück hatte er darauf bestanden, selbst zu fahren. Dass sein Kumpel Hinnerk Frerichs nun tot im Treppenhaus des Museums lag, war im Prinzip ein Glücksfall. Hätte er es dabei belassen, die Bibel zu nehmen und dann zu verschwinden, wäre alles gut. Aber so war er tot, die Treppe heruntergefallen oder wie auch immer. Was allerdings Hinnerks Junge, der Benny, im Museum zu suchen hatte, war ihm ein Rätsel. Aber egal, Benny hatte nun den Koffer mit der Bibel und die musste er sich holen.


fn1 Lohne, ein kleiner, schmaler Weg zwischen den Häuserfronten.