Nachmittag
Benny schob sein Fahrrad und Dirk lief neben ihm her. Sie hatten das Ausflugsschiff verlassen, die Tür wieder verriegelt und die Winterplane zugezogen. Der Weg vom Museumshafen zu Bennys Elternhaus in der Wittmunder Straße war nicht weit, aber für die beiden Jungs zog er sich doch. Sie waren müde und durchgefroren. Der Schrecken der vergangenen Nacht saß ihnen noch immerin den Gliedern, und Dirk wollte gar nicht an den Überfall auf ihn denken. So schlurften sie mit hängenden Köpfen nebeneinander her. Kurz nachdem sie hinter der Brücke in die Wittmunder abbogen, stieß Benny seinen Freund an und deutete nach vorne.
„Die Bullen sind bei uns, sie sagen meiner Mum sicher gerade, dass sie ihn gefunden haben. Aber Mum und Oma weinen dem Typen bestimmt auch keine Träne nach.“ Sie hielten kurz inne.
„Irgendwann einmal“, sinnierte er laut, „werde ich ihr vielleicht erzählen, dass ich ihn erledigt habe, wenn auch ungewollt.“
Gemeinsam liefen sie auf das Haus zu, vor dem zwei Polizeifahrzeuge und ein Zivilwagen mit Blaulicht standen.
„Kein Wort von heute Nacht“, flüsterte Benny seinem Freund kurz vor dem Haus zu. „Ich habe heute Nacht bei dir geschlafen, deine besoffene Mutter wird sicher nicht das Gegenteil behaupten. Also, wir wissen von nix!“
Als sie das Haus betraten, kam seine Mutter auf ihn zugestürzt und fiel ihm weinend um den Hals.
„Benny, die Leute sind von der Polizei, Papa ist tot. Stell dir vor, man hat ihn tot im Museum gefunden.“
„Papa? Von wegen Papa“, schnaubte er. „Wieso im Museum, was wollte er denn dort?“ Benny schaute fragend in die Runde. „Der war doch noch nie in einem Museum.“
Dirk schaute erschrocken zu seinem Freund hinüber. Dass der so cool sein konnte, verblüffte ihn. Ob er das wohl durchhalten konnte? Immerhin waren die Bullen hier. Sein Blick ging unruhig hin und her und er tastete nach der Dose in seiner Tasche. Dirk fühlte sich zwischen den vielen Menschen unwohl. Zwei uniformierte Polizeibeamte standen in der Stube und zwei vor dem Haus und der andere Typ war wohl einer in Zivil, stellte er fest. Bennys Mutter lief weinend auf und ab, Oma Eilts saß in ihrem Sessel und hatte die Augen geschlossen.
Benny allerdings hatte sich gut im Griff.
Der Polizist in Zivil kam auf Benny zu und zeigte ihm seinen Ausweis.
„Hajo Mertens, Kripo Wittmund“, stellte er sich vor. „Ich muss auch mit dir sprechen, ich darf doch du sagen? Ist das ein Freund von dir?“
„Ja, das ist Dirk, mein bester Freund, der soll aber hierbleiben.“
„Kein Problem. Ich bin gleich so weit, vielleicht wartet ihr in deinem Zimmer auf mich?“, meinte Hajo. Er schaute Benny nachdenklich hinterher und wandte sich nochmals Bennys Mutter zu.
Dirk war total nervös. „Dass du so cool bleiben kannst, Mensch, ich bin voll am Zittern“, zischte er auf dem Weg in Bennys Zimmer.
„Mein ,Nichtvater‘ ist tot, etwas Besseres kann mir doch gar nicht passieren“, flüsterte er zurück, „wenn die Bullen weg sind, rufe ich Becker an. Aber zuerst muss ich mein Tablet aus dem Rucksack holen, wir müssen wissen, was die alte Bibel wert ist.“ Er schaute sich nach seinem Rucksack um, zog das Tablet heraus und war mit seinen Gedanken schon viel weiter.
Er versuchte sich genau zurechtzulegen, was er Jan Becker am Telefon sagen wollte. Nur nicht einschüchtern lassen, nahm er sich vor. Ich weiß, wo die Bibel ist, und sonst niemand. Das Versteck ist genial, grinste er in sich hinein, dort konnte der Koffer bis in den Januar hinein unentdeckt stehen bleiben. Keiner würde ihn dort vermuten. Er war völlig ruhig. Der einzige Mensch, vor dem er in seinem Leben Angst hatte, war tot, was konnte ihm noch passieren? Und wenn man wirklich darauf kommen sollte, dass er seinen Vater gestoßen hatte, na und? Das war Notwehr. Aber wie sollten sie das je erfahren? Benny war sich sicher, dass man ihm nichts anhaben konnte. Das war ihm sehr wichtig. Schließlich wollte er Pilot werden. Eine Vorstrafe und selbst eine Jugendstrafe würde ihm das zunichtemachen. Nur Dirk machte ihm Sorgen, hoffentlich würde der stillhalten.
Dieser Kommissar Mertens hatte nur ein paar Fragen, aber helfen konnten sie ihm nicht. Nein, ihnen war nichts aufgefallen, schließlich hatten sie die Nacht bei Dirk zu Hause verbracht. Am Morgen sei er, Benny, dann zur Schule gefahren und Dirk musste wieder einmal seine Mutter versorgen, die er betrunken und hilflos auf dem Boden in der Stube gefunden hatte.
Als die Polizeibeamten gegangen waren, holte Benny sein Tablet und suchte im Internet nach der alten Bibel.
Kurze Zeit später griff er nach dem Telefon und wählte die Nummer von Jan Becker.
„Wusste ich doch, dass mein Alter die Nummer gespeichert hatte.“