Benny war sich nicht sicher, wie es nun weitergehen sollte. Solche Dinge kannte er bisher nur aus dem Fernsehen. Der Koffer mit der Bibel war gut versteckt. Oder? Ob er wohl nachschauen sollte? In der Nacht hatte er sehr schlecht geschlafen. Sonst plagten ihn Albträume wegen seines brutalen Vaters, heute hatte er andere Sorgen. Die Unruhe trieb ihn an und er entschloss sich doch, nachschauen zu gehen. Draußen war es noch dunkel, das passte.
Mutter und Großmutter saßen in der Küche beim Frühstück und waren in ein Gespräch darüber vertieft, wie die Beerdigung ablaufen sollte. Benny lauschte eine Weile. Die Leiche von Hinnerk Frerichs war noch nicht freigegeben. Nach Auskunft der Polizei konnte es aber nicht mehr lange dauern. Die Unterhaltung der beiden Frauen war nicht wirklich von Trauer geprägt, eher von der Erleichterung, den brutalen Zeitgenossen endlich los zu sein. Allerdings sollte er eine anständige Beerdigung haben, das gehörte sich so. „Den Beerdigungstee“, so beschlossen sie, „bestellen wir bei Hinrichs. Das ist praktisch, fast gegenüber der Kirche“, hörte er die Mutter sagen.
Benny fragte sich, warum die beiden solch einen Umstand um den blöden Kerl machten.
Er zog seine dicke Winterjacke an und die Strickmütze fest über die Ohren. Es wehte ein eisiger Wind.
Unterwegs bedauerte er, keine Handschuhe mitgenommen zu haben. Auf dem Fahrrad war es noch eisiger. Bennys Finger waren nach der kurzen Fahrt Richtung Hafen schon steif gefroren. Obwohl es so kalt war, schlug er vorsichtshalber ein paar Haken, falls Jan Becker ihm folgte und fuhr einen Umweg über die Kirchstraße. Er schaute sich immer wieder um. Von der Kirchstraße bog er, direkt gegenüber des Friedhofes, in die schmale Totenlohnefn1 ein, hob sein Fahrrad ein paar Stufen hoch und drückte sich in der engen Straße dicht an die Hauswand.
Ein vorsichtiger Blick zurück zeigte ihm, dass die Straße fast leer war. Von Becker keine Spur. Gut. Er wartete noch ein paar Minuten und stieg dann wieder auf das Rad. Am Deich angekommen fuhr er hinunter und ließ sein Rad auf halbem Wege gegen die Böschung ins nasse Gras fallen. Bevor er zur Harle hinunterstieg, schaute er sich wieder argwöhnisch um. Der Museumshafen war leer. Kein Mensch war hier unterwegs. Die Lichter des Weihnachtsbaumes und die weihnachtlich beleuchteten Häuser erhellten den Hafen allerdings so, dass er ohne Taschenlampe auf das Plattbodenschiff und von dort aus in das angebundene Ruderboot klettern konnte. Benny kannte sich hier sehr gut aus; Achim, den Skipper der Hoop op Zegen, besuchte er oft auf seinem Schiff. Mit wenigen Ruderzügen erreichte er den Ponton, auf dem der Weihnachtsbaum befestigt war. Er zog das Boot dicht heran, band das Seil an einer der Metallstangen fest und stieg auf die Schwimminsel des Weihnachtsbaumes. Geduckt robbte er unter dem riesigen Baum hindurch und schob die tief hängenden Tannenzweige zur Seite, um an den Baumstamm zu gelangen. Dort lagen, dicht gestapelt, etliche Tannenzweige. Benny schob sie zur Seite und atmete erleichtert auf. Ein besseres Versteck gab es nicht. Als er die Zweige schnell wieder zurückschob, traf ihn von hinten plötzlich der grelle Strahl einer Taschenlampe.
„Was machst du da?“, hörte er eine Männerstimme und drehte sich um.
fn1 Totenlohne ist ein schmaler Weg zwischen Häuserfronten zum Friedhof.