Vor und nach der Schule


Benny hatte ein schlechtes Gewissen. Achim, der Skipper war sein Freund und er hatte ihn angelogen. Aber was sollte er tun? Die ganze Geschichte erzählen? Das ging nicht! Er musste das ganz alleine durchziehen.

Sie hatten gemeinsam einen Pott Tee getrunken und Benny hatte Achim dann erzählt, der Tod seines Stiefvaters habe ihn geschockt, obwohl er ihn doch eigentlich nicht ausstehen konnte.

„Mum sitzt zu Hause und heult. Sie und Oma besprechen die Beerdigung. Ich wollte einfach nur weg, aber für die Schule war es noch zu früh. Da bin ich zum Hafen, aber bei dir war es noch dunkel ...“

„Schon gut, mein Junge, lass mal. Das nächste Mal klopfst du so lange gegen die Tür, bis ich aufwache, klar?“

Achim glaubte ihm die Story, zum Glück! Aber Benny hatte ein schlechtes Gewissen.

Als er seinen Tee getrunken hatte, verabschiedete er sich, schließlich wollte er pünktlich in der Schule sein.

Auch wenn es heute wieder sehr kalt war, machte er sich mit dem Fahrrad auf den Weg. Den Bus wollte er nicht nehmen, mit dem Fahrrad war er unabhängiger. Er holte schnell noch seinen Rucksack von zu Hause ab, griff sich ein paar Handschuhe und machte sich auf den langen Weg entlang der K461 in Richtung Wittmund.

Endlich war die Schule aus! Dirk war heute auch nicht gekommen, was da wohl los war? Sicher musste er sich wieder um seine Mutter kümmern. Benny dachte an die gemeinsame Pilotenausbildung. „Wenn das so weitergeht“, überlegte er, „verschlechtert sich nicht nur sein Notendurchschnitt, sondern er schafft das Abi nicht. Dann können wir das vergessen. Nein, ich nicht, ich zieh mein Ding durch, mit oder ohne Dirk.“

Benny schwang sich auf sein Fahrrad und strampelte zurück nach Carolinensiel. Gleich wollte er Jan Becker anrufen und ein Treffen für die Geldübergabe vereinbaren. Der sollte ihn nur nicht bescheißen.

Aber zuerst würde er noch bei Dirk vorbeifahren, nahm er sich vor, dass der mir bloß nicht schlappmacht. Schließlich bekommt er die Hälfte des Geldes und kann es mindestens genauso gut gebrauchen wie ich.

Ungefähr auf halber Strecke wurde er von einem Notarztwagen überholt, der mit Blaulicht und Martinshorn in Richtung Norden, vielleicht nach Carolinensiel, raste.

Benny trat so fest in die Pedale, dass ihm trotz der eisigen Kälte ganz warm wurde. Der Nordwestwind peitschte ihm ins Gesicht und ließ Tränen über seine Wangen laufen, aber das kannte er schon und es machte ihm kaum etwas aus. Der Himmel war grau verhangen, die Sonne hatte heute wieder einmal keine Chance.

Gedanken an die Nacht im Museum, an das bevorstehende Telefonat mit Jan Becker und auch an Dirk schossen ihm durch den Kopf. Dann wieder: „Wie es wohl Mum geht? Sie wird dem blöden Kerl doch hoffentlich nicht nachheulen?“, fragte er sich weiter, während er auf den ehemals schönsten Kreisel Ostfrieslands zustrampelte.

Der Ort war leer, fast ausgestorben, was im Winter und dazu in der Mittagszeit, nicht verwunderlich war. Die Geschäfte waren geschlossen, kaum Gäste im Ort und die Einheimischen hielten „Mittagsstunde“.

Benny fuhr an seinem Elternhaus vorbei und dann links durch einen schmalen Weg Richtung Marie-Ulfers-Weg. Kurz vor der kleinen, engen Straße, die nach einer alten Carolinensielerin benannt wurde, stoppte er abrupt ab. Hier stand der Notarztwagen, der ihn unterwegs überholt hatte. Direkt vor dem Haus, in dem Dirk wohnte. War ihm etwas passiert? Oder seiner Mutter?

Benny atmete auf. Dirk war okay, er kam gerade aus der Tür.

Hinter ihm wurde eine Trage herausgeschoben, auf der jemand lag. Benny erkannte, obwohl die Patientin eine Atemmaske trug, das Gesicht von Dirks Mutter. Ein dünnes, weißes Rinnsal lief aus ihrem Mund. Irgendwann säuft sie sich noch zu Tode, dachte er.