Der Weg von Leerhafe raus nach Carolinensiel war, wie schon zuvor der Hinweg, sehr unangenehm zu fahren, da sich zu Dauerregen und Sturm nun auch noch die Dunkelheit einstellte. Es war den ganzen Tag noch nicht richtig hell gewesen und nun wurde es von Minute zu Minute dunkler. Der Regen, die einsetzende Dunkelheit und die unbeleuchteten Landstraßen forderten Tomkes ganze Aufmerksamkeit. Gegen halb fünf trafen sie am Museumshafen von Carolinensiel ein und wurden mit einem wunderbaren Anblick entlohnt.
Mitten im Hafen, in der Harle, schwamm auf einem Floß der überdimensionale Weihnachtsbaum mit seinen Lichtern. Im Wasser lagen etliche Plattbodenschiffe, die alle weihnachtlich beleuchtet waren. Rechts und links, am Ufer der Harle, standen kleine, hölzerne Weihnachtshütten, um die sich, dick eingepackte Menschen gruppierten. Es roch nach Glühwein und Bratwurst. Die Häuser rechts und links des Hafens waren ebenfalls mit Lichterketten geschmückt und ließen weihnachtliche Stimmung aufkommen.
Tomke zog Hajo am Ärmel seiner Jacke und meinte leise: „Schau mal! Ganz Ostfriesland, nein, die ganze Küste, duckt sich unter dem winterlichen Grau, kaum einer möchte seine warme Stube verlassen. Nur Carolinensiel strahlt und lockt die Menschen bei jedem Wetter nach draußen.“
Sie stiegen das Kopfsteinpflaster entlang der alten Häuser hoch zum „Groot Hus“, wo die Leiche gefunden worden war. Das Haus war ebenfalls hell erleuchtet und sie konnten erkennen, dass im Museumsladen einiges zu tun war. Zwei Kunden standen vor den Regalen mit den Büchern, Jürgen Wolff saß an der Kasse. Sein Kollege, ebenfalls ein ehrenamtlicher Mitarbeiter des Museums, bediente gerade eine Kundin.
„Moin“, rief Tomke ihnen zu, „wir müssen noch mal nach oben.“
„Denn man to“, kam es hinter dem Verkaufstresen hervor. Mehr nicht! Wolff hatte zu tun.
Tomke und Hajo gingen durch den Laden und einen Nebenraum, vorbei an einem riesigen Modell eines Plattbodenschiffes, in die hinteren Räume und dann in das Treppenhaus.
„Mensch, das hat ja fast etwas von einem Labyrinth“, brummte Tomke auf dem Weg nach oben, „aber super, was man daraus gemacht hat, oder?“
„Ja“, antwortete Hajo, „das habe ich vor ein paar Tagen schon festgestellt. Richtig gut ...!“
„... und größtenteils bestritten von ehrenamtlichen Mitarbeitern! Da bringen sich viele Menschen sehr stark ein. Oma hat bis vor ein paar Jahren auch immer noch kräftig mitgearbeitet.“
Auf der Etage, von der die Bibel gestohlen wurde, wollten sich Tomke und Hajo nochmals umsehen. Allerdings liefen hier auch Besucher, die zu einer geführten Gruppe gehörten, herum und bestaunten die ausgestellten Objekte. Tomke hätte es lieber gesehen, das Museum wäre noch für weitere Tage geschlossen geblieben. Aber der Museumsleiter wollte unbedingt heute wieder öffnen. Zwei Busreisegruppen waren angemeldet und hatten schon bezahlt. Die könne man nicht wegschicken, behauptete er. Die Eintrittsgelder der Besucher und Führungen von Gruppen waren eine ganz wichtige Einnahmequelle für das Museum, das ohnehin von Zuschüssen durch Stadt und Land leben musste. Jeder Euro zählte hier. Auch die ehrenamtlichen Mitarbeiter hatten einen besonderen Stellenwert. Ohne sie, so wusste man in Verwaltung, Vorstand und Politik, wären die drei Museumshäuser gar nicht zu halten. Sie arbeiteten an den Kassen der einzelnen Häuser, im Museumsladen, der auch eine gute Einnahmequelle bot oder waren an anderen Stellen rund um das Museum im Einsatz.
„So, nun erzähl mal, wo hat man die Colaflasche gefunden, die du erwähnt hast?“
Hajo deutete in die Mitte des Raumes. „Dort hinten“, erklärte er, „in der Kapitänskajüte. Komm mit, ich zeige es dir.“
Er zog eine Klarsichthülle aus seiner Jackentasche, in der sich ein paar Seiten der Berichte von Spurensicherung und KTU befanden. Er hatte die Stellen markiert, die ihm wichtig erschienen, um nochmals überprüft zu werden.
In der nachgebauten Kapitänskajüte war es dunkel, nur eine kleine Funzel über dem Tisch spendete ein wenig Licht. Zu wenig, um sich hier umzuschauen, stellte Tomke fest. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und schaltete die integrierte Lampe ein, die für diesen Raum vollkommen ausreichte.
Er war klein und eng, eingerichtet lediglich mit einem Tisch, über dem die dunkle Lampe hing, einer Holzbank und einem in die Wand eingebauten Schrank. Bei der Holzbank konnte man die Sitzfläche hochklappen und hatte so weiteren Stauraum.
„Stopp, genau hier muss sie gelegen haben. Leuchte mal unter den Tisch. Dort in der hinteren Ecke lag, laut dem Bericht der Spusi, die Flasche.“
Hajo nahm Tomke die Handylampe ab, kniete sich neben die Bank und leuchtete unter den Tisch.
„Es konnte bisher nicht geklärt werden, ob die Flasche von Museumsbesuchern oder von dem oder den Einbrechern stammt“, erklärte er Tomke, während er noch weiter unter den Tisch kroch.
Es war ein schwieriges Unterfangen bei seiner Körpergröße. Früher waren die Menschen um einiges kleiner gewesen.
„Haben sie denn keine Fingerabdrücke gefunden?“, wollte Tomke wissen.
„Doch“, kam es unter dem Tisch hervor, „aber keine verwertbaren oder bekannten, leider! Ich habe hier allerdings noch etwas gefunden, das nicht im Bericht steht. Schau mal.“ Er hielt etwas in die Höhe, das Tomke in der Dunkelheit nicht erkennen konnte.
„Was ist das?“, fragte sie.
„Keine Ahnung, aber es gibt noch mehr davon! Warte!“
Er leuchtete nochmals unter den Tisch und sammelte etwas auf, das er in seinen Handteller legte.
„Ich wüsste jetzt schon gerne“, sagte Hajo, während er wieder unter dem Tisch hervorkroch, „ob die schon während der Durchsuchung unserer Kollegen hier lagen oder heute von den Besuchern dort hinterlassen wurden. Ich denke, das sind Kekskrümel. Schau!“ Er hielt Tomke seine offene Hand hin, in der sich Keksreste und Krümel in verschiedenen Größen befanden.
Tomke nahm das größte Stück selbst in die Hand, es war etwa drei mal zwei Zentimeter groß und roch daran.
„Komm, lass uns erst mal hier aus diesem engen Raum rausgehen. Da bekommt man ja Beklemmungen!“
Vor der Tür roch sie nochmals an dem Krümel.
„Das hat sicher keiner dieser Besucher hier“, Tomke deutete in den Raum, „verloren. Ich weiß, was das ist! Du nicht? Riech doch mal.“
Sie hielt es ihm unter die Nase.
Hajo schüttelte den Kopf.
„Keine Ahnung.“
„Knippkuchen, ganz klar! Die habe ich als Kind in der Vorweihnachtszeit immer mit Oma gebacken. Kennst du die nicht?“
„Klar kenne ich Knippkuchen, aber an diesem kleinen Stück kann ich das nicht erkennen. Du hast wirklich eine gute Nase.“ Er schnupperte erneut daran. „Deshalb wissen wir aber noch immer nicht, wer sie hier hinterlassen hat“, stellte er fest und reichte Tomke das kleine Keksstück zurück.
Sie nahm es zwischen zwei Finger und betrachtete es. „Doch, ich denke schon! Das riecht wie ... frisch gebacken! Selbst gebacken, meine ich. Mit Kardamom, wie bei Oma. Nicht wie gekauft. Deshalb vermute ich, dass sie kein Besucher hinterlassen hat. Gäste oder Touristen kaufen Gebäck im Supermarkt, abgepackt, fabrikgefertigt. Die haben in der Regel keine selbst gebackenen Knippkuchen dabei. Eher jemand, der aus der Gegend stammt und sie hierher mitgebracht hat. Eintüten!“, entschied sie. „Wollen wir doch mal sehen, ob unsere Spusi geschlampt hat.“
Hajo nickte und schlug vor: „Ich erkundige mich bei der Museumsleitung, ob heute jemand in dieser alten Kajüte war. Soviel ich weiß, gab es heute nur diese beiden Busreisegruppen. Die hatten eine Führung durch das Haus und ob die alle in dieser kleinen, dunklen Kapitänskajüte waren, bezweifle ich. Wenn ja, müsste man versuchen in Erfahrung zu bringen, ob jemand Knippkuchen dabeihatte. Das dürfte so schwer doch nicht sein!“
„Mook dat!“, antwortete Tomke und schloss die Kajütentür. „Versuche es doch gleich mal unten im Museumsladen. Vielleicht kann dir der Seewolf auch etwas dazu sagen.“
Sie stiegen durch das schmale Treppenhaus nach unten. Hajo bog nach links ab in den Laden, Tomke nahm ihr Handy und versuchte Carsten zu erreichen. Sie hatte kaum Empfang und musste aus dem Haus. Als sie die schwere Eingangstür öffnete, pfiff ihr der scharfe Nordwestwind ins Gesicht. Sofort schossen ihr die Tränen in die Augen. Schutzsuchend drückte sie sich mit dem Handy am Ohr in die Nische des Eingangsbereiches, die ein wenig den Wind abhielt.
Carsten war schon zu Hause bei seinen beiden Mädels und berichtete Tomke kurz, was er über den Toten erfahren hatte. Viel war es nicht, so erzählte er. Hinnerk Frerichs war ein allseits unbeliebter Kollege. Cholerisch, gewalttätig, unkollegial und einigen seiner Kollegen schuldete er sogar noch Geld. „Das können wir jetzt wohl abschreiben!“, brüllte während seiner Befragung einer von ihnen durch den Raum. Und: „Scheiße, sag ich da nur. Aber andererseits ist es ja auch für etwas gut, er kommt nicht wieder! Dafür lass ich die fünfzig Eier gerne sausen.“ Die Frauen in der Verwaltung der Firma erzählten Carsten, dass er für jede Kollegin, ob alt oder jung, immer einen zweideutigen Anmachspruch auf den Lippen hatte. „Ekelig“, meinten sie und schüttelten sich.
Auch der Chef konnte nichts Gutes über Frerichs berichten, er musste ihn vom Bock nehmen, klagte er, denn Frerichs habe immer öfter nach Alkohol gerochen.
„Viel habe ich also nicht erfahren, jedenfalls nichts, was uns in dem Fall weiterbringt. Ach doch, Tomke, eines noch. Die Mitarbeiter der Firma erzählten mir, dass Frerichs sich mit einem der Kollegen doch recht gut verstanden habe, der hat allerdings vor über einem Jahr gekündigt. Du kennst ihn übrigens. Zuerst hat mir der landläufige Name nichts gesagt. Als ich allerdings den Grund seiner Kündigung erfahren habe, wusste ich, wer es war. Er hat umgesattelt und wurde Bauer. Jan Becker, das ist der ...“
„Kenn ich, weiß ich, da waren wir heute!“
„Wie? Wieso?“
„Er gehörte zur Erbengemeinschaft der gestohlenen Bibel und hat gegen die Schenkung geklagt. Deshalb waren Hajo und ich heute bei ihm. Die Spurensicherung durchsucht gerade seinen Hof.“
„Und warum durchsuchen die Kollegen den Hof? Hast du einen Anlass?“, wollte Carsten wissen.
„In Sachen der gestohlenen Bibel im Grunde nicht. Aber seine Frau ist verschwunden und er konnte uns nicht sagen wohin! Im Haus haben wir Blutspuren gefunden. Von wem, wissen wir noch nicht. Da auch im Museum jemand geblutet hat, wollte ich nachsehen, das hat er nicht zugelassen. So kam eines zum anderen. Außerdem hat sich das jetzt ganz gut ergeben. Schließlich sind auch die beiden Bauern vom letzten Jahr noch nicht wieder aufgetaucht und alle Wege führen zu ihm. Ich finde, das sind ziemlich viele Zufälle. Meinst du nicht auch?“
„Ja, doch! Hast du gut gemacht. Vielleicht fängst du zwei Fliegen mit einer Klappe.“
„Oder drei!“, konterte Tomke.
„Oder drei!“, bestätigte Carsten. „Im Übrigen bin und bleibe ich für heute zu Hause. Wir haben etwas mit Marie zu klären. Außerdem waren die Kollegen vom LKA bei uns und haben sie befragt. Sehr rücksichtsvoll, muss ich sagen. Hätte ich so nicht erwartet.“
„Was ist mit Marie?“, wollte Tomke wissen. „Alles okay?“
„Ja, ziemlich. Es geht ihr gut. Sie fängt jetzt an zu reden. Ich erzähle es dir morgen. Tschüss und grüß Hajo.“
„Mook ik, hol di munter un grööt ook moi!“fn1
Tomke drückte das Gespräch weg, wischte über das Display und steckte ihr Handy in die Tasche.
Hajo war inzwischen neben sie getreten und zog an ihrem Arm. „Komm, lass uns den Besuch bei den Frerichs schnell hinter uns bringen und dann ab nach Hause. Es ist ja saukalt.“
„Gute Idee, aber vorher müssen wir nach Wittmund ins Krankenhaus. Du weißt doch, die Vergiftung!“
„Schiet, ja, stimmt. Dann mal los!“
Das Auto stand auf dem Parkplatz im Hafeneingang. Es war zwar nur ein kurzer Weg zu den Frerichs, aber Tomke und Hajo dachten gar nicht daran zu laufen. Sie stiegen ein und fanden es im Wagen fast genauso kalt wie draußen. „Wenigstens kein Wind!“, meinte Hajo mit einem Anflug von Sarkasmus.
Tomke startete den Motor, drehte die Heizung auf die höchste Stufe und schaltete die Sitzheizung ein. Umwelt hin oder her, ihr war kalt. Bevor sie zu der Familie des Toten fuhren, musste sie Hajo noch darüber informieren, was Carsten in Erfahrung gebracht hatte, erfrieren wollte sie dabei nicht. Die Sitzheizung kam schnell in Gang und bald spürten sie eine wohlige Wärme unter dem Hinterteil.
„Mit anderen Worten, ein richtiger Scheißkerl“, stellte Hajo fest, als sie geendet hatte. „Lass uns fahren, vielleicht bekommen wir bei der Familie doch mehr heraus, als sie mir bei meinem ersten Besuch gesagt haben.“
Tomke war skeptisch. Was wollten sie von der Frau des Toten, seinem Stiefsohn und der Schwiegermutter erfahren, was nicht schon im Protokoll stand? Sie wusste es nicht. Es war diesmal Hajos Bauchgefühl, das sie hierher führte.
Die Ehefrau, der Junge, die Schwiegermutter! Viel Trauer war bei ihnen nicht zu verspüren. Hajo war es bei seinem ersten Besuch sofort aufgefallen ... Warum?
fn1 Mach ich, Kopf hoch und grüß auch schön.