Auf nach Spiekeroog


Tomke und Hajo hatten sich gleich bereit erklärt, Marie am Wochenende rüber zur Insel zu bringen. „Morgen ist Samstag“, meinte Hajo, „lass uns eine Nacht dranhängen und erst am Sonntag zurückfahren. Carsten wird hier schon die Stellung halten.“ Auch Michaela fand die Idee gut und fragte sofort bei Gesche an, ob sie ihre Ferienwohnung für eine Nacht frei hätte.

Einen Tag mal raus hier! Tomke war begeistert, obwohl, wenn sie an die Überfahrt dachte ...!

Die Spiekeroog II lag im Hafen von Neuharlingersiel und wartete auf Gäste, die übergesetzt werden wollten. Viel Betrieb war nicht, denn Touristen würden erst kurz vor Weihnachten eintreffen.

Pendler, die auf der Insel arbeiteten, einige Handwerker, die morgens für Bauarbeiten rüber und abends wieder zurückfuhren sowie Tomke, Hajo und Marie stiegen hintereinander an Bord, sonst war nicht viel los. Unter Deck befanden sich schon einige wenige Fahrgäste, die weit verstreut an den Tischen saßen.

Die drei hatten einen Tisch für sich alleine und Tomke schnell einen Fensterplatz eingenommen. Obwohl sie noch im Hafen vor Anker lagen, schwankte das Schiff im Wintersturm, was Tomke dazu veranlasste, durch die große Glasscheibe den Horizont zu suchen. Das sollte gegen Seekrankheit helfen, sagte man allgemein. Viel Unterschied zwischen Horizont und Wasser war allerdings nicht zu sehen, alles war grau. Auch die Häuserfront auf Spiekeroog war nicht zu sehen. Hajo bemerkte sofort, was los war. Er schaute zu Marie hinüber, die munter wie immer war. Hajo warf ihr einen Blick zu, nickte zu Tomke hinüber und wackelte mit dem Kopf. Marie verstand sofort. Sie schaute Tomke nachdenklich an.

„Tomke“, fragte sie von der Seite, „bist du kein Kind von der Küste?“

„Warum?“ Tomke war irritiert.

„Weil du ganz grün im Gesicht bist“, kicherte Marie.

„Doch, ein Kind von der Küste bin ich schon, nur seetauglich war ich noch nie!“, antwortete Tomke und musste schlucken.

„Ich schon, ich bin ein Kind von der Küste“, plapperte Marie unbeirrt weiter, „das steckt bei mir in den Genen!“

Tomke drehte sich langsam zu Marie um und schaute sie verblüfft an. Hajo saß ihnen mit offenen Mund gegenüber.

„In was?“, fragten beide wie aus einem Munde.

„In den Genen, sagt meine Mama!“

„Wieso in den Genen, Marie?“, wollte Hajo wissen und musste sich ein Lachen verkneifen.

„Na, weil mein Papa Kapitän zur See war, deshalb. Mir macht das gar nichts aus, wenn es schaukelt. Wir fahren ja noch gar nicht, hoffentlich wird das dann nachher ganz doll, wie auf einer Schiffschaukel!“

„Na hoffentlich nicht.“ Tomke wollte es sich gar nicht vorstellen.

„Du, Tomke“, meinte Marie dann leise kichernd von der Seite, „was hast du denn heute gefrühstückt?“

„Warum?“

„Sag doch mal!“

Tomke überlegte kurz. „Nicht viel, nur etwas Toast und Kaffee! Warum denn?“, fragte sie.

„Na hoffentlich mögen die Fische das auch“, kam es trocken von Marie zurück.

„Na warte, du kleines Biest. Ich werde dich jetzt tüchtig durchkitzeln“, konterte Tomke und griff nach ihr. Aber Marie war schon von ihrer Sitzbank gesprungen und in Hajos Arme geflüchtet.

Hajo zog sie schmunzelnd an ihren Zöpfen. „Du bist vielleicht eine Nummer!“

Inzwischen waren die Maschinen der großen Fähre zu hören und das Schiff setzte sich langsam in Bewegung. Es vollzog eine halbe Drehung, um dann in Fahrtrichtung aus dem Hafen auszulaufen.

Der Himmel war verhangen. Dicke, graue und schwarze Wolken berührten fast das Wasser. Der von Tomke angepeilte Horizont war kaum zu sehen. Am Morgen hatte es schon einen Hagelschauer nach dem anderen gegeben, die Winterstürme hatten die Küste voll im Griff.

Ein Blick nach draußen zeigte Tomke, dass es eine stürmische Überfahrt werden würde. Die Wellen zwischen Neuharlingersiel und der Insel waren hoch und hatten grauweiße Gischtkronen.

Na Mahlzeit, dachte Tomke, das wird was werden. Ich muss mich zusammennehmen, damit ich vor der Kleinen nicht zum Wiederkäuer werde.

Marie saß noch immer auf Hajos Schoß und beobachtete die Gäste an Bord. Die meisten sahen gedankenverloren aus dem Fenster, andere unterhielten sich. Das leise Gemurmel wurde von den Schiffsmotoren übertönt. Zwei Handwerker lümmelten in den Ecken ihrer Sitzbänke und schliefen. Eine Frau hatte einen kleinen Spiegel in der Hand und zupfte sich ihre Barthaare.

Marie beobachtete sie eine Weile, dann sprang sie auf und lief zu ihr hin.

„Was machst du denn da?“, wollte sie wissen und schaute die Frau fragend an. „Bist du ein Mann, weil du einen Bart hast?“

Aber die Frau antwortete nicht.

Marie blieb hartnäckig.

„Aber die Haare auf deinem Kopf sehen aus wie die von einer Frau.“

Die Frau drehte sich langsam zu Marie, machte ein zischendes Geräusch und eine kurze, abweisende Handbewegung, die wohl sagen sollte: „Verschwinde“.

Doch Marie ließ sich nicht beirren, sie wollte es wissen und fragte weiter. „Bist du oben eine Frau und da unten“, sie deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das Kinn der Frau, „ein Mann?“

Die Frau schaute sich um. „Also, wirklich!“ Sie war entrüstet. „Verschwinde gefälligst, du dumme Göre!“

Gerade noch wollte Tomke sich ganz klein in ihrem Sitz machen und überlegte, wie sie den Menschen im Raum klar machen könnte, dass das Kind nicht zu ihr gehörte. Die Reaktion der Frau allerdings ließ sie wütend werden und Marie wie eine Löwin verteidigen.

„Hallo?“, rief sie scharf, „wenn Sie Ihre Körperpflege zu Hause vollziehen würden, müssten Kinder Ihnen keine peinlichen Fragen stellen. Ich hoffe nur, dass Sie Ihre Fußnägel schon geschnitten haben und wir nicht auch noch davon Zeugen werden müssen.“

„Unverschämtheit“, meinte die Zupferin und packte ihre Gerätschaft ein.

„Na, geht doch!“, stellte Tomke zufrieden fest und schaute erneut aus dem Fenster. Marie hatte sich wieder auf Hajos Schoß verzogen und schaute die Erwachsenen fragend an.

„Schneidet die Frau jetzt wirklich ihre Fußnägel, Hajo?“, flüsterte sie leise in Hajos Ohr. Hajo schürzte die Lippen und schüttelte sachte den Kopf.

Für ein paar Minuten war wieder Ruhe unter Deck. Marie spielte mit Hajos Haaren und versuchte ihm eine neue Frisur zu verpassen, was er mit einer stoischen Ruhe über sich ergehen ließ. Als das dann auch erledigt war, schaute sie sich gelangweilt im Raum um.

„Wenn ich sonst zu Tante Gesche fahre, ist es nicht so langweilig“, rief sie plötzlich laut, streckte ihren Zeigefinger in die Luft, wie sie es immer tat, wenn sie eine Idee hatte, kletterte auf die Sitzbank und rief: „Wollen wir alle zusammen etwas singen? Wer kann ... ,An der Nordseeküste ...‘?“

Tomke lief rot an und rutschte tief in ihren Sitz.

Keiner der Passagiere reagierte. Hajo grinste.

„Die sind langweilig!“ schmollte Marie und setzte sich enttäuscht.

Kurz darauf streckte sie erneut ihren Zeigefinger in die Luft und kletterte wieder auf die Bank.

„Übrigens“, rief sie in den Raum und deutete auf ihren Gips. „Das ist ein Grünholzbruch. Wollt ihr vielleicht alle darauf unterschreiben? Ich habe auch ganz viele Pflaster dabei.“

Tomke schaute aus dem Fenster, als würde sie nicht dazugehören und Hajo meinte: „Gute Idee, Marie, dann hast du ganz viele Namen auf deinem Gips.“

Ein Mann vom Tisch gegenüber, der die ganze Zeit Maries Treiben mit einem Schmunzeln verfolgt hatte, griff in seine Tasche, zog einen Stift hervor und winkte Marie mit einer Handbewegung zu sich: „Dann komm mal rüber, Fräulein. Ich mache den Anfang!“

Marie rutschte von der Bank, lief zu ihm und meinte: „Du hast mich mit jemand verwechselt, ich heiße Marie und nicht Fräulein, aber unterschreiben darfst du trotzdem.“

Aus Tomkes Ecke war ein leichtes Grunzen zu vernehmen.

Weitere Passagiere forderten sie auf, zu ihnen zu kommen. Sie wollten plötzlich alle unterschreiben, Marie hatte sie wohl aus ihrer Lethargie geweckt. Und Marie strahlte. Ihr Gipsverband war mit beschriebenen Pflastern übersät.

Viel zu schnell war die Überfahrt vorbei und Tomke hatte vor lauter Aufregung um Maries Eskapaden ihre Übelkeit vergessen.

Am Anleger auf Spiekeroog wurden sie schon von Gesche erwartet.

Gesche freute sich sehr, ihre Nichte wieder einmal bei sich zu haben. Die Begrüßung war innig, wie immer.

Ein heftiger Wind pfiff ihnen um die Ohren, als sie sich auf den Weg über den Deich in das Dorf machten. Tomke nahm Maries kleinen Spielzeugkoffer, Hajo die Reisetaschen und Gesche Maries Hand. Eigentlich mochte Marie es nicht, wenn man sie an der Hand nahm, schließlich war sie schon groß. Auf Spiekeroog ist das auch nicht nötig, denn dort fahren keine Autos. Aber gegen den heftigen Wind von Nord konnte Marie kaum angehen und so ließ sie sich von Gesche gerne festhalten.

Als sich Marie später in Gesches Gästezimmer einrichtete und ihren Spielzeugkoffer auspackte, fragte sie plötzlich: „Tante Gesche! Kannst du dranputieren?“

„Was bitte? Was ist denn dranputieren, Liebes?“

„Ach Tante Gesche, das ist doch, wenn man etwas wieder dranmacht!“

Gesche musste mehr als fragend geschaut haben, denn Marie fuhr mit ihrem Erklärungsversuch fort. „Weißt du, als ich meinen Koffer gepackt habe, musste ich Brumm einen Arm abputieren, weil sonst der Koffer nicht zugegangen wäre und jetzt muss er wieder dranputiert werden.“

„Brumm?“, fragte Gesche.

„Ja, Brumm, der Bär. Er wollte unbedingt mit, weil Quak, die Ente, schon im Koffer war und die Bücher und meine beiden Lieblingspuppen und der Schminkkoffer für die Puppen“, plapperte sie aufgeregt.

„Soso, dann hast du dem Bären also den Arm abgeschnitten?“ Gesche schaute ihre Nichte weiter ungläubig an und versuchte sich ein Lachen zu verkneifen.

Marie nickte. „Sag ich doch! Weil Brumm unbedingt mitwollte, musste ich ihm den Arm abputieren, damit der Koffer zuging.“

„Also, Maus, das heißt aber nicht abputieren und dran ...“, wollte Gesche ihrer Nichte erklären, aber die unterbrach sie gleich wieder.

„Doch! Abputieren ist abschneiden und dranputieren ist drannähen. Das weiß ich genau!“, meinte Marie energisch. Gesche machte sich auf eine heftige Diskussion gefasst. Doch dann kam ihr die Idee, den Rechtschreibduden aus dem Regal zu holen, um ihr schwarz auf weiß die Schreibweise samt Erklärung zu zeigen. Sonst gäbe sie doch keine Ruhe, wusste sie. Lesen konnte ihre kleine Nichte schon gut, nur verstand sie noch nicht wirklich alles. Es dauerte einen Moment, bis Marie es einsah. Dann sagte sie: „Amputieren? Das ist aber doof! Und was sagt man dann, wenn etwas wieder drangemacht wird?“

„Annähen, ganz einfach, mein Süße!“

Marie überlegte kurz und meinte: „Ab und dran ist viel besser, dann weiß ich gleich, was gemeint ist“, gab sie sich dann aber zufrieden.

Thomas, Gesches Mann, war unbemerkt ins Zimmer gekommen und stellte sich hinter die beiden.

„Na, das werden ja diskussionsreiche Tage, Gesche! Hoffen wir, dass uns nie die Argumente ausgehen!“

Marie fuhr herum, jubelte: „Onkel Thomas!“, und sprang ihm mit einem Satz in die Arme. Als der Begrüßungssturm nachließ, zeigte sie stolz ihren Arm. „Schau mal, Grünholzbruch! Aber das haben der Doktor und ich gleich gesagt. Du musst auch hier unterschreiben und Tante Gesche auch und ...“

Gesche unterbrach die Redeflut ihrer Nichte: „Stopp, jetzt gibt es Abendbrot und dann ist es Zeit zum Schlafen. Morgen ist auch noch ein Tag.“

„Bleibst du auch bei mir, bis ich eingeschlafen bin, Tante Gesche?“, fragte Marie wie beiläufig, als sie am Abendbrottisch saßen. Gesche und Thomas warfen sich einen kurzen Blick zu.

„Natürlich, Marie. Das habe ich doch immer gemacht, wenn du hier bei uns warst.“

„Ach, eigentlich ist das nicht mehr nötig, schließlich bin ich ja schon groß. Aber ...“

„Ich weiß, mein Liebes! Ich weiß, dass du schon groß bist. Aber es gibt ja schließlich Ausnahmefälle. So, jetzt gehen wir Zähneputzen und ab ins Bett. Du bist sicher müde. Das war ja auch ein langer Tag für dich.“

„Soll ich dir noch eine Geschichte vorlesen?“, fragte Gesche, als sie ihrer Nichte das Kopfkissen aufschüttelte.

„Mir nicht! Aber Brumm und Quak wollen bestimmt noch eine Geschichte hören. Die sind ja noch klein!“

„Ja“, meinte Gesche mit gespieltem Ernst, „dann lese ich eben für die beiden Kleinen. Du kannst ja weghören.“