Auf dem Revier in Wittmund


Carsten war sich nicht sicher, ob er Tomke am Telefon absichtlich nichts gesagt oder es schlichtweg vergessen hatte. Was soll’s, sie würde es noch früh genug erfahren. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass die beiden Kollegen nun auf dem Weg zu Rieke Gärtners Wohnung sein müssten. Er selbst wollte sich nun Jan Becker vornehmen. Die Kollegen der Spurensicherung hatten ganze Arbeit geleistet und „Altes und Vergammeltes“, wie sie es nannten, zutage gefördert. Darum saß Becker nun in Untersuchungshaft. Da hat Manninga nun wirklich zwei Stinker auf dem Tisch, im doppelten Sinne des Wortes, überlegte er.

Die Dosen mit dem Rattengift, nach denen Hajo vor einer Stunde telefonisch gefragt hatte, tauchten im Bericht der Spurensicherer allerdings nicht auf.

Carsten griff zum Telefon und wählte die Nummer der Spusi. Vorsichtshalber wollte er dort nochmals nachfragen. Tomke sei es sehr wichtig, hatte Hajo am Telefon gemeint. Also dann!

Spurensicherung und KTU arbeiteten wie immer Hand in Hand, aber in keiner der beiden Abteilungen konnte man ihm etwas über Rattengift im Hause Becker sagen. Diverse Pflanzenschutzmittel, ja, die habe man gefunden, aber sonst? Nichts! Da mussten sie wohl noch mal ran.

„Dann wollen wir doch mal sehen, was Herr Becker selbst dazu zu sagen hat“, sprach Carsten mehr zu sich selbst und stand von seinem Schreibtisch auf, um ihn aus der Zelle zu holen. Als er schon mitten im Raum war, klingelte sein Telefon.

„Oh, Tomke, nicht schon wieder“, maulte er vor sich hin und ging zurück zum Schreibtisch. Es war nicht Tomke, sondern Michaela.

„Es ist gesund, alles ist gut!“, schluchzte und lachte sie gleichzeitig. „Wir bekommen einen Jungen, ach sorry, das wollte ich dir gar nicht sagen. Es sollte doch eine Überraschung werden. Jetzt müssen wir uns keine Gedanken mehr machen, dass unser Kind Swantje oder Levke heißen muss. Aber sicher fällt Marie für ihren Bruder auch etwas ganz Besonderes ein.“ Ihre Stimme überschlug sich immer wieder und sie hörte gar nicht mehr auf zu reden.

„Geliebte Frau und Mutter deiner Tochter ...“, unterbrach Carsten sie.

Nun stellten sich ein paar Sekunden Stille ein, bis Michaela fragte: „Was meinst du denn damit?“

„Dass du deine Tochter nicht verleugnen kannst. Wenn ich es nicht immer schon geahnt hätte, wäre es mir jetzt klar geworden. Wie Marie, ohne Punkt und Komma! Ich liebe dich! Ich liebe Marie! Und ich liebe unseren Sohn und bin glücklich und dankbar, dass es euch gut geht. Ihr seid die größten Schätze, die ein Mann sich wünschen kann. Dir geht es doch auch gut, oder?“, fragte Carsten nun besorgt.

„Ja, alles gut. Ich soll noch für zwei bis drei Tage im Krankenhaus bleiben, aber das muss nicht ...“

„Oh doch, das muss! Marie ist bei Gesche, ich bis spät im Büro und du lässt dich im Krankenhaus einmal schön verwöhnen. Keine Widerrede. Am Ende steckst du dich bei Oma und Tant’ Fienchen noch an, das muss nich‘!“

„Och, ich bin doch ...“, begann Michaela zu maulen, meinte dann aber: „Vielleicht habt ihr ja recht, die Ärzte und du! Vielleicht sollte ich noch bleiben.“

„Nicht vielleicht, ganz sicher haben wir recht. Bleib dort und komm zur Ruhe. Bitte!“

„Na gut! Wie geht es denn unseren beiden kranken alten Mädels zu Hause?“, wollte sie dann wissen.

„Ach!“, lachte Carsten plötzlich auf, „den beiden geht es wieder relativ gut, wenn sie dann mal von der Toilette kommen.“

Er konnte sich kaum beruhigen.

„Was ist denn passiert?“, fragte Michaela besorgt. „Haben sie zu ihrer starken Erkältung jetzt auch noch ‚Magen und Darm‘?“

„Kann man so sagen, aber anders, als du denkst. Ich habe gestern Abend für sie gekocht! Hessisch!“, lachte er. „Ich hatte sie gewarnt, aber sie wollten ja nicht hören.“

„Du hast doch nicht etwa ...?“

„Doch, ich habe! Für mehr war keine Zeit. Da die beiden wegen ihrer Erkältung in den letzten Tagen sehr wenig gegessen haben, habe ich ihnen ‚Handkäs mit Musik‘ gemacht. Das ging am schnellsten.“

Michaela war entsetzt.

„Carsten, das sind sie doch gar nicht gewohnt.“

„Ach, das war nicht so arg. Der Fehler war wohl, dass ich ihnen dazu heißen Apfelwein gemacht habe. Ich dachte, wegen der Erkältung ..., na ja, der hatte dann wohl gemeinsam mit Käse und rohen Zwiebeln die durchschlagende Wirkung.“

„Carsten!“, stöhnte Michaela auf. „Die Armen!“

„Lass mal, das wird schon wieder! Aber jetzt muss ich weiter, Michaela, Mörder überführen! Hajo und Tomke sind auch schon wieder da. Wir haben viel zu tun und heute kann es spät werden. Ich rufe dich am Abend an, dann habe ich mehr Zeit. Pass gut auf dich und meinen Sohn auf!“

Er hörte noch kurz Michaelas Protest, hatte dann aber schon lachend aufgelegt. Bevor er das Büro verließ, griff er abermals nach dem Telefon und bat einen Kollegen, den Verdächtigen Jan Becker in den Verhörraum zu bringen.

Auf dem Weg ging Carsten in Gedanken durch, welche Verdachtsmomente sie gegen Jan Becker hatten.

Vor allem natürlich die fast skelettierten Leichen in der Güllegrube. „Das ist ja Hammer!“, hatte er ins Telefon gerufen, als die Spurensicherer ihn über den Fund informierten. Es war zwar noch nicht sicher, aber wer sonst, wenn nicht die schon lange vermissten beiden Bauern, sollte das sein? Wenn Tomke es erfuhr, würde sie sich bestätigt fühlen. Sie hatte immer den Verdacht gehabt, dass die beiden damals ermordet wurden.

Wo aber war Beckers Frau? Würden sie die auch noch irgendwo auf dem Hof finden? Oder war sie wirklich „abgehauen“, wie Jan Becker behauptete? In der Gülle schien sie nicht zu liegen.

Und wo waren die verschwundenen Rattengiftdosen? Dazu wollte er Becker befragen. Denn wenn Tomke sagte, sie habe sie gesehen, dann war das so. Da war sich Carsten sicher!

Konnte es wirklich sein, dass diese Frau, die im Krankenhaus an einer Vergiftung gestorben war, von Becker vergiftet wurde?

Warum?

Was hatte er mit ihr zu tun?

Oder war das alles nur ein Zufall?

Nun, vielleicht würde er es gleich erfahren.

Carsten bat einen uniformierten Beamten, bei der Vernehmung anwesend zu sein, besser ist besser, dachte er. Wenn auch das Band mitlief, es war gegen seine Überzeugung, Verdächtige alleine zu vernehmen.

Als er den Verhörraum betrat, war Becker mit dem Uniformierten schon da.