Auf dem Revier in Wittmund war die Aufregung groß


Wer?“, flüsterte Carsten gefährlich leise. „Welcher Scheißkerl war das?“

Christof Gerdes, der noch immer an Tomkes Handy war, versuchte ihn zu beruhigen.

„Darüber kann und darf ich im Moment noch nichts sagen. Eigentlich habe ich auch gar nichts erzählt. Allerdings wollte ich Sie ein wenig vorwarnen. Also bitte, Schmied, bleiben Sie ruhig. Das LKA und die Kollegen aus Frankfurt sind unterwegs und werden in Kürze bei Ihnen eintreffen. Kein Wort darüber, dass Sie schon etwas wissen. Klar?“

„Gut, in Ordnung, Chef. Ich versuche es.“

„Ihr Wort? Oder muss ich bereuen, dass ich es Ihnen gesagt habe?“

„Nein, ist schon okay! Ich sage nichts!“

Nachdem das Telefongespräch geendet hatte, herrschte einige Minuten Sprachlosigkeit im Raum.

Carsten fand als Erster wieder Worte und sagte leise: „Auwald! Ich behaupte mal, dass es Auwald war.“

„Meinst du damit den Kollegen aus Frankfurt?“, wollte Tomke wissen. „Wie kommst du darauf?“

„Mehrere Dinge sind es, die mich das vermuten lassen. Er war mir damals und einigen Kollegen übrigens auch, schon lange sehr suspekt. Sein Auftreten, seine Reisen, ein großes Auto und überhaupt seine ganze, großspurige Art. Seinen Lebensstil hat er uns damals mit einer Erbschaft erklärt. Tatsächlich war zu unserer gemeinsamen Zeit seine Großmutter verstorben, er behauptete, dass sie ihm einiges hinterlassen hätte. Keiner hat es nachgeprüft, warum auch. Bevor Maren und ich geheiratet haben, machte er immer wieder den Versuch, bei ihr zu landen. Sie aber hat ihn abblitzen lassen. Wir waren Kollegen, wisst ihr? Maren war damals auf einem anderen Revier in Frankfurt. Sie erzählte mir, dass er, obwohl wir schon zusammen waren, immer wieder versuchte, an sie heranzukommen. Aufgehört hat das wohl erst, als unsere Nina zur Welt kam und Maren nicht mehr arbeitete.“

Wieder war einige Zeit Schweigen im Raum.

„Wenn er es ist und wenn er auch hinter dem Tod von Maren und Nina steckt“, sprach Carsten mehr zu sich selbst, „dann bring ich ihn um!“

Das Telefon auf Hajos Schreibtisch holte alle drei wieder aus ihren Gedanken zurück.

Eine Mitarbeiterin des Jugendamtes wurde ihm angekündigt und Hajo verließ das Büro.

„Carsten!“, wandte sich Tomke nun an ihren Kollegen. „Muss ich jetzt zu dir sagen, dass du keinen Blödsinn machen sollst? Auch wenn es dieser Kollege war, und auch wenn er mit dem Tod deiner ersten Frau und deiner Tochter zu tun hat, bitte denke daran, dass du wieder eine Familie hat. Michaela, Marie und das Baby, das unterwegs ist. Du kannst niemanden zurückholen, aber du kannst neues und viel schlimmeres Unheil anrichten. Das ist es nicht wert.“

Die Befragung von Dirk und Benny verlief enttäuschend. Jedenfalls für Hajo Mertens. Er hatte sich mehr erhofft.

Dirk hatte die meiste Zeit geschwiegen. Nur als Hajo und Frau von Benischhaus, die Sozialarbeiterin des Jugendamtes, anmerkten, dass man nun dringend Dirks Vater ausfindig machen müsse, begehrte der Junge auf. Er lehnte jeden Kontakt mit seinem Vater ab, wurde sogar richtig ausfallend, als die beiden Erwachsenen ihn von der Sinnhaftigkeit zu überzeugen versuchten. Er habe noch nie ein wirkliches Zuhause gehabt, erklärte Dirk trotzig und brauche das jetzt, wo er doch in zwei Jahren volljährig würde, auch nicht. Sein Vater habe ihn mit der saufenden Mutter alleine gelassen, das würde er ihm nie verzeihen. Außerdem wäre er bei den Frerichs’ doch gut untergebracht, die würden ihn aufnehmen und dort wolle er bleiben.

Ansonsten schwieg Dirk. Weder zum Tode seiner Mutter noch zum Einbruch im Museum machte er irgendwelche Aussagen. Er starrte nur stumm vor sich hin.

Benny war zwar redseliger, zu sagen hatte er allerdings nichts. Er beantwortete Hajo alle seine Fragen, aber nichts von dem, was er sagte, brachte den Kommissar weiter.

Beide Jungs stritten vehement ab, in der besagten Nacht im Museum gewesen zu sein.

„Gut!“, beschloss Hajo, „dann nehmen wir jetzt noch eure Fingerabdrücke und das übliche Prozedere, dann könnt ihr wieder nach Hause gehen.“

Nun wurde Greta Frerichs aktiv, die während der ganzen Zeit schweigend im Raum gesessen hatte.

„Ich denke, dass das nicht nötig ist“, warf sie ein. „Welchen Grund haben Sie, von zwei Minderjährigen Fingerabdrücke zu nehmen? So einfach geht das nicht. Vielleicht hätte ich wirklich einen Anwalt mitbringen sollen. Was sagen Sie dazu, Frau von Benischhaus?“, suchte sie Unterstützung bei der Sozialarbeiterin.

Hajo ging dazwischen: „Wenn die beiden nicht im Museum waren, werden wir auch nichts finden, oder? Aber da wir einen begründeten Verdacht haben, können wir auch auf einen richterlichen Beschluss warten. Das dauert einen Moment, wenn Sie so lange warten wollen?“ Er deutete an, dass sich alle nochmals setzen sollten. Greta Frerichs zuckte mit den Schultern und gab sich geschlagen. „Also gut, dann machen Sie es halt, damit endlich Ruhe ist.“

Sie schaute ungehalten zu der Sozialarbeiterin hinüber. Von ihr hatte sie sich etwas mehr Unterstützung versprochen. Wenigstens hatte diese nichts dagegen, dass Dirk für die nächste Zeit bei ihnen leben durfte. „Einer weiteren Prüfung vorbehalten“, wie sie mit hochgezogenen Augenbrauen dennoch bemerkte. Egal, Dirk musste nun endlich mal zur Ruhe kommen. Nun stand die Beerdigung seiner Mutter vor der Tür und das ausgerechnet vor Weihnachten. Es würde keine leichte Zeit werden.

Hajo bestellte einen Kollegen, der die beiden Jungs zur Abnahme der Fingerabdrücke mitnahm. Unterwegs flüsterte Dirk seinem Freund zu: „Jetzt wissen sie es gleich!“

„Was?“

„Dass wir im Museum und in dieser Kapitänskajüte waren.“

„Wir waren doch vorige Woche dort, wegen des Referates zu deinem Berufspraktikum. Hast du das vergessen?“, flüsterte Benny zurück und zwinkerte ihm zu. „Da waren wir auch in dieser Kajüte.“

Dirk schaute seinen Freund überrascht an. Wie cool und abgeklärt er war! Benny würde sicher mal ein guter Pilot werden. Das wusste Dirk nun.

Vernehmungen, Berichte, Telefonate und Protokolle.

Sie hatten noch bis spät in den Abend zu tun. Erst gegen neun Uhr fanden sie ein Ende und beschlossen, für heute die Arbeit zu beenden.

Carsten war bedrückt, die Sache mit dem Frankfurter Kollegen beschäftigte ihn sehr. Nun, morgen würde er mehr erfahren.

Er gestand Tomke, dass er nun die Wohnung noch etwas auf Vordermann bringen müsse, denn morgen käme schließlich Michaela wieder nach Hause. Ihr und dem Baby ginge es gut, alles sei im grünen Bereich.

Tomke grinste in sich hinein und sagte nichts dazu; sie wollte Oma und Tant’ Fienchen die Überraschung nicht verderben. Am Nachmittag hatte sie kurz mit Oma telefoniert, die ihr erklärte, dass sie und Fienchen nun rübergingen, um zu schummeln.fn1

Ein Mann alleine zu Hause, das könne ja nicht gut gehen. „Die arme Michaela“, meinte Oma, „kommt nach Hause und muss gleich die Wohnung putzen. Dat geit nich. Michaela ist immer für uns da, nun sind wir dran.“ Das war klar und deutlich und duldete keinen Widerspruch.

Auf dem Weg zum Auto zog Tomke ihr Handy aus der Tasche und betrachtete es. Hajo, der das aus den Augenwinkeln beobachtete, meinte spöttisch: „Du kannst noch so sehnsüchtig auf das Telefon schauen, heute ruft Ilka nicht an. Schon wieder Tacos is’ nich’!“

„Blödmann!“, lachte Tomke. „Ich überlege, ob ich uns eine Pizza bestellen soll. Wir könnten vorbeifahren und sie direkt abholen.“

„Gute Idee! Ich nehme die Tonno und einen gemischten Salat mit Thunfisch.“

Tomke wählte die Nummer der Pizzeria und gab die Bestellung auf.

„Und eine Flasche der Hausmarke“, merkte Hajo noch an.

Tomke nickte. „Dat mut!“

„Und?“, fragte Hajo, als Tomke geendet hatte.

Tomke wusste, was er meinte. „Funfezehneminute, wie immer!“, grinste sie.

„Na, der wird sich wundern, wenn wir in zwei Minuten auf der Matte stehen“, gab Hajo lachend zurück.

Als er den Motor abstellte, meinte Tomke: „Lass uns hier im Auto warten. Es ist gerade so schön ruhig. Keine Menschenseele auf der Straße, kein Auto, nichts.“

Hajo gab ihr einen Kuss. „Moment! Ich bin gleich wieder da.“

„Was ist denn nun ... oh Mann!“ Tomke verzog das Gesicht. Einen Moment später kam er zurück und hatte eine Flasche Rotwein und zwei Gläser dabei.

„So wartet es sich doch besser, oder?“

Er wartete Tomkes Antwort nicht ab und knackte den Verschluss der Flasche.

Sie schoben ihre Sitze bis zum Anschlag zurück, legten die Beine auf das Armaturenbrett und tranken genüsslich und wortlos.

„Wenn jetzt die Kollegen von der Streife kommen ...“, sinnierte Tomke, „... verhaften wir sie!“, vollendete Hajo den Satz.

Sie alberten und kicherten, malten sich aus, wie das sein würde. Zwei mit Handschellen gefesselte Streifenpolizisten auf dem Rücksitz von Kripobeamten, die Pizza essend und Rotwein trinkend durch die Gegend fuhren. Natürlich mit Blaulicht auf dem Wagendach und heruntergelassenem Fenster. Sie lachten und johlten bei der Vorstellung. „Besser als mit heruntergelassener Hose!“, setzte Tomke noch einen drauf und konnte sich gar nicht beruhigen.

Kurze Zeit später klopfte es heftig an das Wagenfenster.

Als sie sahen, dass Alfredo, ein Mitarbeiter der Pizzeria, mit fragendem Gesichtsausdruck am Auto stand und hineinspähte, ging die nächste Lachattacke los.

Alfredo schob kopfschüttelnd die beiden Pizzen durch das Fenster, Tomke zahlte und ließ die Scheibe wieder hochfahren.

Dann reichte sie Hajo seine Pizza und als sie sich dabei ansahen, prusteten sie wieder los.

„Aua, ich kann nicht mehr.“ Tomke hielt sich den Bauch.

„Wie kann man nur so albern sein?“, keuchte Hajo.

Tomke klappte den Pizzadeckel hoch und griff sich ein Stück.

„Heiß, verdammt“, fluchte sie.

„Das ist gut“, beschloss Hajo. „Wir essen jetzt hier, heiß und lecker. Die Flasche Roten leeren wir zu Hause, ein Glas reicht. Wir sind schließlich von der Polizei!“

„Ich habe lange nicht mehr so gelacht“, erklärte Tomke später, als sie auf der Couch lagen und die Reste des Rotweins vernichteten. „Ich habe noch immer Bauchschmerzen.“

Einige Zeit schwiegen sie. Jeder hing seinen Gedanken nach. Irgendwann betrachtete Hajo Tomke dann von der Seite. Sie schaut so traurig aus, ging es ihm durch den Kopf. Was ist denn los? Bis vor Kurzen haben wir noch so gelacht. Ob ich sie fragen soll? Was geht wohl in ihr vor? Weinte sie?

„Tomke, weinst du?“, fragte er nach einer Weile.

„Nein, ich denke nach.“

„Worüber?“

„Ob es ein Fehler war, kein Kind zu haben. In mir ist manchmal so eine Sehnsucht.“

„Ja?“

„Ja, wenn ich Marie sehe und erlebe, wenn ich an Michaelas Schwangerschaft denke. Wenn ich sie sehe, mit dem wachsenden Bäuchlein. Wenn ich an mein Patenkind denke. Das macht mich gerade so traurig.“

„Hast du mir nicht gesagt, dass du nie ein Kind wolltest? Dass du dir dein Leben anders vorstellst, vorgestellt hast und leben willst?“

„Ja, hab ich, aber ...“

„Warum weinst du dann dem nach, was du in Wirklichkeit gar nicht haben willst?“

„Ich weiß nicht!“

„Was wäre, wenn du ein Kind hättest? Würdest du dann deinem Beruf, deinen beruflichen Ambitionen nachweinen?“

„Ich weiß nicht, Hajo. Es ist nur gerade so ein Gefühl. Sicher geht das schnell wieder vorbei.“

„Ich liebe dich, Tomke. So wie du bist. Ob mit oder ohne Kind!“

„Ich weiß Hajo, das tut so gut!“

Sie lagen noch eine Weile eng aneinandergekuschelt auf der Couch, bis Hajo plötzlich auffuhr und rief: „Und komm mir bloß nicht mit einem Kind nach Hause!“

„Genau ... so lange du deine Füße unter meinen Tisch ...“, kicherte Tomke.

Sie verbrachten die halbe Nacht auf ihrer Couch. Lachend, redend und sich zwischendurch liebend. Hajo holte noch eine Flasche Rotwein, die sie fast austranken. Erst gegen zwei Uhr fanden sie den Weg ins Bett.


fn1 Ein ostfriesischer Ausdruck für putzen.