Sie waren sich sicher! Carsten und seine beiden Kollegen aus Frankfurt bestätigten, dass der zweite Mann auf dem Foto ein Kollege war. Peter Auwald, wie Carsten vermutet hatte.
„Ich sage euch, der steckt auch hinter dem Flugzeugabsturz, er hat Maren und Nina getötet. Dieser Mistkerl, diese Drecksau. Wenn ich den in die Finger bekomme, den bringe ich um. Und jetzt vergreift er sich auch noch an Marie!“, begehrte er wütend auf, aber seine Stimme wurde zum Ende immer brüchiger.
„Warum? Warum macht er das?“
„Nun, wir wissen jetzt, dass Sie durch Ihre Ermittlungsarbeiten in Frankfurt mitten in ein Wespennest aus Drogenhandel, Prostitution und Autoschieberei getroffen haben. Auwald hat das mitbekommen und seine Auftraggeber informiert. Diese mussten handeln“, erklärte Gerdes. „Ich stehe mit Ihrem ehemaligen Chef dort in ständiger Verbindung.“
„Aber wieso ich? Versteht mich bitte nicht falsch“, rief er entsetzt in die Runde. „Jeder andere Kollege war doch genauso daran beteiligt.“
Ben Rüster, einer der Kollegen aus Frankfurt, meinte plötzlich: „Hast du dich nicht gewundert, warum die ganze Truppe ausgetauscht wurde? Von der Truppe von damals waren nur noch Auwald und du dabei.“
„Ja, und?“ Carsten schaute ihn fragend an. Plötzlich erkannte er den Hintergrund der Frage.
„Ihr glaubt doch nicht ..., du willst doch nicht etwa andeuten, dass ich ...! Spinnt ihr? Ich ein Spitzel, ein Maulwurf, ein Verräter? Dann hätte ich ja auch das Flugzeug mit meiner Familie ...“ Carsten sprang auf und wollte seinem Kollegen an den Hals gehen, doch die anderen hielten ihn zurück.
„Du musst zugeben, dass das mit den angeblichen Drohungen gegen dich damals recht, nun, wie soll ich sagen, eigentümlich war. Erst sagst du nichts, dann kommst du plötzlich mit solch absurden Verdächtigungen an. Es sah schon so aus, als hättest ...“
„Als hätte ich das selbst arrangiert? Dann habe ich also auch den Absturz meiner Familie arrangiert? Habt ihr sie noch alle?“
„Das Leck konnte nur Auwald oder eben du sein. Nun wissen wir es, also reg dich ab“, versuchte Rüster ihn zu beruhigen.
„Arschlöcher!“, fauchte Carsten. Und leise: „Ich bring ihn um, den Scheißkerl!“
Gerdes, der die ganze Zeit schweigend dabeigesessen hatte, schaltete sich ein. „Nun mal sachte, Schmied. Das habe ich überhört. Sonst sind Sie raus und für die nächste Zeit suspendiert.“ Er blickte in die Runde.
„Ich würde sagen“, Gerdes stand auf, „Sie gehen zurück an die Arbeit, unterstützen Ihre Kollegen in den offenen Fällen und überlassen alles andere den Kollegen aus Frankfurt und Hannover.“
Sein Tonfall ließ keine Widerrede zu.
Carsten stand auf, er verließ den Raum grußlos und kopfschüttelnd.
Es war gut, dass Tomke und Hajo nicht nach Carolinensiel gefahren waren, denn kurz nach ihrer Rückkehr bekam Tomke von der Spusi die Nachricht, dass man nach weiterem intensiven Suchen und kurz vor Abbruch der Arbeit wegen des starken Sturmes, in der Güllegrube des Bauern Jan Becker zwei Dosen Rattengift gefunden habe. Diese würden nun zur Untersuchung der Kriminaltechnik und dem Labor übergeben.
„Also doch!“, triumphierte Tomke. „Becker hat also auch Rieke Gärtner ermordet. Dieses widerliche Schwein! Den nehme ich mir gleich vor. Kommst du mit?“
Sie griff nach dem Telefonhörer und arrangierte, dass man Becker abermals in den Verhörraum brachte.
Hajo lehnte ab. Er wollte noch eine andere Spur verfolgen.
„Nimm Birger mit“, schlug er vor. „Der freut sich, ich bin mir sicher!“
Tomke stieß an der Bürotür mit Carsten zusammen, der nach wie vor wütend und aufgebracht war.
„Was ist los?“, fragte sie und hielt ihn am Arm fest.
Beckers Vernehmung musste warten, was war mit Carsten passiert? Tomke zog ihn am Arm an seinen Schreibtisch und deutete an, dass er sich setzen solle.
„Na? Was ist passiert?“
Carsten starrte vor sich hin. In ihm arbeitete es, er hatte das Gefühl, jeden Moment zu explodieren. Tomke zog sich einen Stuhl heran und setzte sich dicht vor ihn. Hajo hatte die Situation auch erkannt und kam um seinen Schreibtisch herum.
„Carsten, bitte“, bat Tomke eindringlich.
„Auwald?“, fragte sie dann.
Carsten nickte und dann brach es aus ihm heraus.
„Er war es tatsächlich“, stieß er hervor. „Diese verdammte Drecksau, dieses Kollegenschwein war es. Er hat zusammen mit einem Frankfurter Ganoven Marie entführt. Er ist das Leck in der Abteilung gewesen und er hat auch meine Familie getötet.“
„Warum?“, fragte Tomke. „Das Leck, gut! Aber warum soll er denn diesen Absturz arrangiert und deine Familie getötet haben?“
„Weil er von dieser Verbrecherbande den Auftrag bekommen hat mich auszuschalten und weil er eine hinterlistige, niederträchtige Sau ist. Dann hat er allerdings nicht mich, sondern meine Familie getötet. Er hat mir Maren und Nina nie gegönnt und diesen Auftrag sicher mit Freude ausgeführt.“
Er schluchzte auf und brach in Tränen aus.
„Ich weiß nicht, wie ich damit fertigwerden soll. Ich bin schuld! Meine Arbeit ist schuld, dass die beiden tot sind. Ich bin schuld, dass Marie entführt wurde, Michaela so entsetzlich leiden musste und dadurch unser Baby hätte verlieren können. Ich bin schuld! Wie soll ich damit weiterleben? Was passiert als Nächstes?“
Tomke und Hajo schauten sich an und verstanden sich wortlos.
Reden lassen, wussten sie. Das musste nun alles raus. Carsten hatte lange genug geschwiegen oder nur bruchstückhaft erzählt. Er musste endlich alles rauslassen, damit er es verarbeiten konnte. Nur so war das möglich.
Sie hörten ihm lange zu und unterbrachen ihn nur selten.
Tomke verließ zwischendurch das Büro, um Kaffee zu holen. Sie steckte ihr Handy ein. Unterwegs wählte sie die Nummer von Michaela.
„Jetzt weißt du schon mal grob Bescheid und bist vorbereitet. Wir Frauen sind doch stärker, als die Herren meinen und vor allem müssen wir zusammenhalten“, endete sie, wischte über das Display und steckte ihr Handy in die Hosentasche.
Tomke brachte für alle Kaffee und sie redeten noch eine Weile.
Nach knapp einer Stunde klingelte das Telefon und einer der Kollegen fragte nach, ob man den Verdächtigen Becker vergessen habe. Seit einer Stunde warte dieser nun schon im Verhörraum.
„Ja, gleich!“, antwortete Tomke nur. Carsten war jetzt wichtiger.
„Willst du nach Hause? Oder geht es dir besser, wenn du hier bei der Arbeit bleibst?“
Carsten überlegte nicht lange. Er entschied: „Ich fahre nach Hause und rede mit Michaela. Ich muss ihr die Sache erklären. Das braucht Zeit, denn ich will sie in ihrem Zustand nicht überfordern, die Aufregungen der letzten Tage waren schon sehr viel für sie und das Baby! Außerdem ist es im Moment vielleicht ganz passend, dass Marie nicht da ist, die Gelegenheit muss ich nutzen, sie soll das alles nicht mitbekommen.“
„Okay, mach das, aber Michaela ist stärker als du denkst, glaube mir.“
Sie verabschiedete Carsten mit einer Umarmung und bat ihn, Michaela von ihr zu grüßen.
„Von mir auch!“, rief Hajo ihm nach.
Tomke griff sich die Ermittlungsakte Becker, sie hatte den Bericht der Spusi ausgedruckt und abgeheftet und machte sich auf den Weg in den Verhörraum. Unterwegs bat sie den Chef der uniformierten Kollegen, ihr Birger Schoof für eine Stunde auszuleihen.
„Ungern“, brummte der.
Die erneute Vernehmung von Jan Becker verlief erfolglos. Becker gestand zwar nach einigem Leugnen, die alten Giftdosen in die Grube geworfen zu haben, aber nur, um sie loszuwerden, weil das Zeug inzwischen verboten war. Mit dem Tod von Rieke Gärtner habe er nichts zu tun.
„Ach, Herr Becker“, räumte Tomke plötzlich ein, „darauf kommt es doch nun auch nicht mehr an. Habe ich Ihnen eigentlich erzählt, dass wir Ihre Frau gefunden haben? Lebendig und bei bester Gesundheit. Wir haben uns mit ihr unterhalten und dabei so einiges erfahren. Zu all den bisherigen Anklagepunkten kommt jetzt auch noch ein zweifacher Mord hinzu. Des Weiteren Diebstahl der EC-Karten zum Zwecke des Betruges und/oder Veruntreuung, schauen wir mal. Das gibt so was von lebenslänglich, Herr Becker, lebenslänglicher geht nicht! Machen Sie reinen Tisch. Das hilft, glauben Sie mir.“
Sie stand auf und ließ einen sprachlosen Jan Becker zurück.
Birger Schoof gab sie ein Zeichen, Becker in seine Zelle zurückzubringen.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es schon wieder später Nachmittag war. Sie wollte noch die Unterlagen für die Staatsanwaltschaft fertig machen und dann nach Hause fahren. Es war genug für heute. Hoffentlich sah Hajo das ebenso.
Carsten fuhr mit gemischten Gefühlen nach Hause. Wie sollte er Michaela das alles erzählen? Sie durfte sich nicht aufregen. Nur gut, dass Marie noch bei Gesche auf Spiekeroog war. So waren sie ungestört.
Das Gespräch verlief anders als gedacht. Michaela nahm ihn in den Arm und sie redeten und redeten. Sie konnte seine Trauer so gut nachvollziehen, hatte sie doch fast zur gleichen Zeit damals ihren Mann verloren.
„Lass die Trauer, die nun wieder hochkommt, zu und glaube bloß nicht, dass ich deshalb eifersüchtig bin. Wir haben beide geliebte Menschen verloren und nur weil wir jetzt das Glück haben, gemeinsam wieder glücklich zu sein, haben wir sie doch nicht vergessen. Wenn ab und an Traurigkeit aufkommt, dann lassen wir es geschehen, gemeinsam. Wir haben das alles beide noch nicht wirklich verarbeitet. Vielleicht hat uns der der da oben“, sie deutete gen Himmel, „deshalb zusammengebracht. Sicher hat er sich etwas dabei gedacht.“
„Er oder Marie, unser kleiner Engel, wer weiß ...“, schmunzelte Carsten.
Sie redeten noch lange und beschlossen, doch schon am nächsten Tag auf die Insel zu fahren und einen Tag dort zu bleiben. Michaela fragte bei ihrer Schwägerin an, ob sie einen Schlafplatz für sie habe.
Gesche versprach, ihnen die Ferienwohnung herzurichten, im Moment seien noch keine Gäste da, erst ab nächste Woche sei sie belegt.
Sie vereinbarten, dass Gesche Marie nichts erzählen solle, Michaela und Carsten wollten sie überraschen.
„Sicher, die wird sich freuen!“, meinte Gesche. „Dann gehen wir alle zusammen zum ,Lebendigen Adventskalender‘.“
„Hoffentlich lässt der Sturm nach, sonst geht gar nichts“, beendete Michaela das Gespräch.
Sie schaute auf den Fahrplan der Fähre.
„Wenn alles klappt, können wir die um 11.15 Uhr nehmen“, informierte sie Carsten dann.
Der nahm das Telefon und rief auf dem Kommissariat an. Christof Gerdes war schon auf dem Weg nach Wilhelmshaven, aber Tomke, die er gerade noch erreicht hatte, meinte: „Mach nur, hier ist fast alles aufgeklärt, den Rest schaffen wir sicher morgen. Und in der Sache Frankfurt und Maries Entführung darfst du sowieso nichts machen. Also, macht euch eine schöne Zeit.“