Am nächsten Morgen erschienen Greta Frerichs, Benny und Dirk pünktlich auf dem Kommissariat. Nur Frau von Benischhaus ließ etwas auf sich warten. Abgehetzt und schlecht gelaunt kam sie dann zehn Minuten zu spät, mit einem Mann im Schlepptau.
„Wenn der bleibt, gehe ich!“ Dirk hatte, obwohl er ihn schon seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, seinen Vater sofort wiedererkannt.
„Das entscheidest nicht du!“, blaffte die Benischhaus.
„Doch, der Junge kann das schon mitentscheiden, und das sollten Sie wissen.“
Hajo passte der Tonfall der Benischhaus nicht, hatte er sich doch erhofft, heute mehr von den beiden Jungs zu erfahren. Jetzt, mit dem verhassten Vater im Raum, würde der Junge nicht reden.
Hajo wollte noch einen Versuch starten. Tomke war sich zwar sicher, dass die Fälle alle geklärt waren, Becker war für sie der Übeltäter, aber Hajo war davon nicht ganz überzeugt.
Etliche der Fingerabdrücke in der Kapitänskajüte und, wie er nun erfahren hatte, auch auf dem Fensterrahmen der Toilette im Museum, stammten von Benny und Dirk. Mit dieser Tatsache und damit, dass die DNA an den Kekskrümeln auch ihre war, wollte er die Jungs nun konfrontieren.
Er hatte die Berichte gleich als er ins Büro kam auf seinem Rechner.
„Bingo!, wusste ich’s doch!“, war seine Reaktion.
Er legte sich zurecht, wie er die Jungs mit dem neuen Erkenntnisstand überraschen wollte, aber Greta Frerichs machte ihm einen Strich durch die Rechnung.
„Dirk und Benny wollen Ihnen etwas erzählen, Herr Kommissar“, begann sie entschieden. „Nun mal los, erzählt dem Kommissar, was ihr mir erzählt habt.“
Anfangs drucksten die beiden noch etwas herum, aber dann erzählten sie Hajo, was sich im Museum abgespielt und was sie dazu gebracht hatte, überhaupt dort zu sein. Es hatte den Anschein, als würden sie sich zum zweiten Mal eine Last von der Seele reden. Zuerst bei Greta und nun bei Hajo.
Nur von der Bibel erzählten sie nichts. Benny hatte Dirk beschworen, dass sie nichts davon sagen sollten. Er wollte sie im Frühjahr, wenn das Wasser nicht mehr so kalt war, vom Grund der Harle holen.
Bei seinen Erzählungen über den Stoß gegen die Brust seines Stiefvaters war Benny zunächst etwas zögerlich.
„Ich hab das so nicht gewollt, der sollte nur Dirk in Ruhe lassen. Ich hatte Angst, er tut ihm was“, erzählte er. Alle Anwesenden im Raum nahmen ihm das ohne Zweifel ab. Fast, bis auf die Mitarbeiterin des Jugendamtes.
Sie meinte, dass die Zustände im Hause Frerichs nun doch genauer überprüft werden müssten und Dirk unter diesen Umständen auf keinen Fall dort bleiben könne.
Damit hatte sie aber etwas losgetreten.
Greta ging wie eine Löwin auf sie los. Dirk und Benny protestierten ebenfalls lautstark und selbst Dirks Vater, der die ganze Zeit schweigend im Raum gesessen hatte, schaltete sich ein. Auch Hajo, der die Familie Frerichs nun schon mehrmals besucht hatte und wusste, dass Dirk keinen besseren Platz finden könnte, redete auf sie ein.
„Gut!“, meinte die Benischhaus dann spitz und stand auf. „Ich werde es auf dem Amt klären und Ihnen meine Entscheidung zukommen lassen.“ Danach rauschte sie ab.
„Wird sie jetzt etwas gegen uns unternehmen?“, fragte Greta entsetzt.
Beert Gärtner schaltete sich leise, aber bestimmt ein: „Wenn Dirk nicht zu mir will, dann werde ich vor dem Amt befürworten, dass er bei dir bleibt, Greta. Das bin ich meinem Jungen schuldig.“
Greta schaute ihn dankbar an.
Hajo hatte aber noch etwas, das er unbedingt klären wollte. Unvermittelt fragte er Dirk: „Wie war das mit deiner Mutter, Dirk? Meine Kollegin beschuldigt Jan Becker, auch sie ermordet zu haben. Was weißt du? Hast du etwas mitbekommen? War es vielleicht doch ganz anders?“
Dirk schaute ängstlich zu Greta. Die schloss die Augen und nickte ihm aufmunternd zu. „Rede, mein Junge“, sollte das heißen.
Hajo setzte nach und fragte: „Müssen wir Jan Becker auch wegen des Mordes an deiner Mutter anklagen?“
Benny meinte lakonisch: „Da kommt es doch jetzt auch nicht mehr drauf an. In den Knast geht er doch sowieso.“
„Benny, bitte!“, ermahnte Greta ihren Sohn. „Lass Dirk reden.“
„Ich kenne Becker“, begann Dirk ganz leise. „Der war manchmal bei meiner Mutter, zum ..., zum ...“
„Zum Poppen, sag’s nur, weiß doch jeder im Ort. Das pfeifen die Spatzen von den Dächern. Der und noch etliche andere“, meinte Beert Gärtner bissig und erntete von seinem Sohn dafür einen giftigen Blick.
„Also manchmal war er da, ja“, fuhr er fort. „An dem Tag auch. Aber nicht deswegen. Er hat herumgebrüllt und nach der Bibel gefragt, aber als er weg ist, hat Mama noch gelebt. Sie hatte nur eine Schnittwunde am Hals.“ Er unterbrach kurz und schaute in die Runde.
„Was ist passiert, Dirk“, wollte Hajo wissen.
„Ich war in meinem Zimmer und bin durch das Fenster raus“, sprach er dann stockend weiter. „Wollte es nicht hören. Bin weg, aber nach ein paar Minuten zurück, weil ich Angst hatte, dass er wegen der Bibel, weil doch ...“ Benny schaute ihn entsetzt an und Dirk brach ab.
„Becker war weg und dann ist meine Mutter auf mich los! Ich sei schuld, nur ich! Immer wieder die alte Leier. Ich solle ihr etwas zum Trinken besorgen und Pfefferminz, sie brauche unbedingt Pfefferminz, nachher käme noch ein guter Bekannter.“ Er stöhnte auf. „Diese guten Bekannten kenne ich. Dann fiel mir die Dose ein!“
Hajo wurde hellhörig.
„Welche Dose, Dirk?“
Mit einem scheuen Blick auf Greta flüsterte er kaum hörbar: „Die ich bei Greta mitgenommen habe. Das ist alles meine Schuld. Greta kann nichts dazu. Ich habe sie einfach mitgenommen.“
Hajo blickte fragend zu Greta Frerichs.
„Wir hatten im Schuppen, ganz hinten im Schrank noch eine Dose Rattengift versteckt, ganz alt und, na ja, auf alle Fälle ... ich hatte schon fast vergessen, dass sie dort noch lag, meine ich.“
„Die hast du genommen, Dirk?“, wollte Hajo wissen.
„Ja!“
„Warum?“
„Ich weiß nicht, einfach so“, antwortete der Junge verzweifelt. „Ich weiß es nicht!“
„Wolltest du deine Mutter damit töten?“
„Nein!“, schrie er auf, „ich weiß auch nicht. Es war alles so schlimm, immer wieder, ich habe sie einfach nur mitgenommen.“
„Und wann hast du deiner Mutter das Gift gegeben? Und wie?“
Hajo wollte es nun wissen.
„Ich habe es auf die Fensterbank draußen im Hof gelegt, als ich weg bin, um ihr Schnaps und Pfefferminz zu holen. Als ich zurückkam, lag Mama in der Küche und hatte Schaum vorm Mund. Dann habe ich den Notarzt angerufen.“
„Ach Junge!“, stieß Greta hervor, „dann hast du ja gar nicht ...“
„Doch!“, flüsterte Dirk, „ich bin schuld! Wie immer.“
Greta stand auf und nahm ihn in die Arme. Sein Vater brach in Tränen aus.
„Genau wird sich das sicher nicht klären lassen“, stellte Hajo einige Tage später fest, als er mit Tomke und Carsten den abschließenden Bericht verfasste.
Sie ließen die Fälle Revue passieren, und versuchten dabei, einige Ungereimtheiten, die es doch noch gab, zu klären.
„Der Junge hat zwar das Zeug mit nach Hause genommen, aber verabreicht hat er es seiner Mutter wohl nicht. Ob sie die Dose in ihrem Wahn als Pfefferminzdose angesehen hat, wird man wohl nie erfahren. Die KTU hat mir und übrigens erst sehr spät mitgeteilt, dass an der im Hause Gärtner gefundenen Rattengiftdose die Fingerabdrücke von Dirk und auch von Rieke Gärtner waren. Diese Schlafmützen.“
„Lass mal“, beschwichtigte Tomke, „es hat sich ja alles geklärt und die Kollegen hatten nun wirklich sehr viel zu tun. Außerdem gab es da ja auch noch diesen Stromausfall, da ist dann wohl einiges durcheinander gegangen. Ich bin auf jeden Fall gespannt, wie das für diesen Jan Becker ausgeht.
Übrig geblieben ist der Doppelmord, der Einbruch und die Sache mit den EC-Karten. Reicht auch für lebenslänglich. Seine Frau kommt wohl mit einer Bewährungsstrafe davon. Die beiden Jungs haben sicher nichts zu befürchten. Bei Benny war das ganz klar Notwehr und Dirk, nun ich denke, dem kann man keine Absicht unterstellen, er ist einfach ein verzweifelter Junge, der ohne zu überlegen die Giftdose mitgenommen hat. Hoffentlich verkraftet er das alles.“
Carsten schaltete sich ein und meinte: „Wir haben eine gute Psychologin für Marie gefunden. Allerdings habe ich das Gefühl, dass es nur einige wenige Sitzungen geben wird. Sie hat bisher keine Auffälligkeiten bei ihr festgestellt. Scheinbar hat sie die ganze Geschichte um die Entführung gut verarbeitet. Ich gebe Greta Frerichs mal ihre Telefonnummer. Vielleicht kann sie sich ja auch Dirks Seele annehmen.“
„Mach das“, stimmte Tomke zu. „Der Museumsleiter hat übrigens heute wieder angerufen und nach der Bibel gefragt. Wo die wohl ist? Becker behauptet ja steif und fest, die Jungs hätten sie mitgenommen, nachdem er dann endlich zugegeben hatte, dass es nicht zwei Männer waren, die das Museum durch das Toilettenfenster verlassen haben. Die Jungs behaupten, sie nicht zu haben. Ob diese Bibel wohl jemals wieder auftaucht?“
Sie sprachen alles noch ganz genau durch und entschieden dann, wer welchen Bericht schrieb.
Drei Fälle, drei Berichte, hatte Tomke achselzuckend gemeint.
Carsten fing plötzlich an zu lachen.
„Und wer hat dich jetzt gebissen?“ wollte Tomke wissen.
„Ich muss gerade an unsere Rückfahrt von Spiekeroog denken. Marie hat sich da wieder einen geleistet.“
„Oh, hör bloß auf, die Hinfahrt mit uns war wirklich auch sehr unterhaltsam. Ich habe dabei fast meine Übelkeit vergessen.“
„Gutes Kind!“, grunzte Hajo im Hintergrund.
Tomke hob drohend die Hand und fragte: „Was war denn bei euch?“
„Auf der Fähre war ein Mann im Rollstuhl. Marie schaute ständig zu ihm rüber und wir sahen das Malheur schon kommen.“
„Und?“
„Irgendwann stand sie dann auf und ging zu ihm hin. Michaela tat, als bekäme sie das nicht mit und schaute aus dem Fenster.“
„Wie Tomke“, grunzte es aus Hajos Richtung.
„Marie stellte sich vor ihn hin und betrachtete das Gefährt, in dem er saß. Hightech sage ich nur.
Plötzlich fragte sie: Bist du behindert?
Der Rollifahrer meinte nur kurz: Ja!
Marie weiter: Wo?
Der Mann: An den Beinen!
Marie ließ nicht locker und fragte: Immer?
Der Mann wieder: Blöde Frage, nee, nur manchmal!
Daraufhin Marie: Bist du teilzeitbehindert?
Der Rollifahrer war so verdutzt, dass er erst mal nichts sagen konnte und dann laut loslachte.
Den Rest der Überfahrt setzte er Marie auf seine Beine und sie rasten durch die Gänge. Gut, dass kaum Passagiere an Bord waren. Es war ein toller junger Mann, wir waren uns sofort sympathisch. Wenn er das nächste Mal an der Küste ist, wird er uns besuchen. Aber Marie, ich kann euch sagen, das ist eine Nummer.“
„Was ich bestätigen kann“, kam es von Hajo. „Was wir mit ihr erlebt haben, wird ewig unser Geheimnis bleiben, nicht wahr, Tomke?“
„Klar! Wir petzen doch nicht!“, bestätigte sie.