8. Kapitel

Hamburg, Deutschland

Mirjam schlug die Augen auf. Trübes Tageslicht drang durch den Spalt der Gardinen auf ihr Kopfkissen und streifte ihr Gesicht. Sie gähnte und reckte sich. Dann fiel ihr alles wieder ein. Die Klausel in Julius’ Arbeitsvertrag, ihr lautstarker Streit, das Auftauchen der Polizei, sein fassungsloser Blick, als sie den Kriminalbeamten von seiner Sondervereinbarung erzählt hatte.

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie die nackte Angst darin gesehen, doch im nächsten Moment hatte Julius sich wieder im Griff gehabt, und er hatte diese unsägliche Arroganz an den Tag gelegt, die sie so hasste. Zweifel erfassten sie. Wer war der Mann, von dem sie geglaubt hatte, sie würde ihn kennen?

Julius hatte sie gebeten, in seiner Wohnung auf ihn zu warten, damit er ihr später in Ruhe alles erklären konnte. Bitte, Schatz. So hatte er sie zuvor noch nie genannt, und fast wäre sie schwach geworden.

Doch sie war nach Hause gefahren, hatte sich, emotional vollkommen ausgelaugt, in ihrem Bett eingeigelt, ehe sie schließlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen war.

Jetzt fühlte sie sich seit Tagen erstmals frisch und ausgeruht. Sie griff nach ihrem Handy auf dem Nachttisch und schaltete es ein.

Zehn Anrufe von Julius und drei Voicemails waren eingegangen. Die letzte stammte von drei Uhr zwanzig.

Sie hörte die Sprachnachrichten ab. Julius bat sie um eine Chance, ihr alles zu erklären, schwor inbrünstig, dass er nichts von dem getan hatte, was ihm vorgeworfen wurde. Die Polizei würde nach jedem Strohhalm greifen. Sie könne doch nicht ernsthaft glauben, er sei korrupt oder dazu in der Lage, jemanden zu ermorden. Und schon gar nicht ihre Eltern. Doch je mehr er seine Unschuld beteuerte, desto mehr wuchs ihr Argwohn.

Der Zweifel, der sich schon vor Tagen in ihrem Kopf geregt hatte, festigte sich.

Sie erinnerte sich an ihr Kennenlernen beim Firmenjubiläum von Dahlmann Invest. An Julius’ offenkundiges Interesse. An seine Redegewandtheit und seinen Charme, mit dem er sie augenblicklich umgehauen hatte, ohne dass sie es zu erkennen gegeben hatte. An seine Hartnäckigkeit, mit der er sie über Monate hinweg erfolglos zu einem Abendessen hatte einladen wollen. Doch als verheirateter Mann, noch dazu Vater von zwei Kindern, war er für sie tabu gewesen. Erst als sie von der Trennung von seiner Frau erfahren hatte, war ihr Widerstand Stück für Stück gebröckelt.

Seine Beharrlichkeit hatte sie beeindruckt, zumal sie es nicht gewohnt war, dass ein Mann so offensichtlich um sie buhlte. Ihr haftete seit Jahren das Klischee der strebsamen Juristin an. Langweilig und regelkon form. Attribute, die auf Mirjam früher durchaus zugetroffen hatten.

Sie war schon immer eine Einzelgängerin gewesen, hatte nie zu einer angesagten Clique oder zu den Mädchen gehört, die sich ihre Lippen auf der Schultoilette nachzogen oder Glitzerlack auf den Nägeln trugen, die auf Partys gingen oder sich mit einem gefälschten Ausweis Zutritt in einen Club verschafften.

Ihr schlimmster Regelverstoß hatte darin bestanden, zu spät im Unterricht zu erscheinen, weil der Bus unpünktlich gewesen war.

Erst an der Uni hatte sie schließlich ihren Weg gefunden und war zu der Frau geworden, die sie heute war. Scharfsinnig und spitzzüngig.

Mirjam hatte Julius fast ein ganzes Jahr zappeln lassen, ehe sie ihm schließlich Zeit für einen gemeinsamen Kaffee zwischen zwei Terminen gewährt hatte. Noch am selben Abend waren sie zusammen im Bett gelandet. Das war rund sieben Monate her.

Seitdem trafen sie sich regelmäßig. Anfangs hatte Mirjam sich eingeredet, es ginge nur um Sex, doch irgendwann hatte sie erkannt, dass Gefühle im Spiel waren. Zumindest auf ihrer Seite. Bei Julius hatte sie es nur angenommen. Erstmals kam ihr der Gedanke, dass er ihr von Anfang an alles bloß vorgespielt hatte, weil er einen Plan verfolgte.

Er hatte ihr nie erzählt, weshalb Alina und er sich getrennt hatten. Vielleicht waren ihm die Felle davongeschwommen, und er wollte eine reiche Frau durch die nächste ersetzen.

Ihr Handy vibrierte. Julius’ Nummer erschien auf dem Display. Mirjam drückte das Gespräch weg. Sie verspürte keinerlei Lust, mit ihm zu reden, außerdem hatten sie und Thomas zahlreiche Dinge zu regeln. Am Nachmittag waren sie verabredet, um zu überlegen, wie sie mit den privaten Besitztümern ihrer Eltern verfahren wollten. Zudem mussten sie ein Beerdigungsinstitut beauftragen, die wichtigsten Dokumente zusammenstellen, die Bestattung organisieren, mit der Bank sprechen sowie laufende Verträge, Abos und Mitgliedschaften kündigen. Die To-do-Liste war ellenlang.

Mirjam fiel ein, dass sie sich künftig auch um die Angelegenheiten ihrer Oma kümmern mussten. Sofort nagte das schlechte Gewissen an ihr. Sie hatte die Pflegeeinrichtung telefonisch über den Tod ihrer Mutter informiert, doch es war mit Sicherheit ein halbes Jahr her, seit sie sich zuletzt dort hatte blicken lassen. Die Besuche waren jedes Mal eine Herausforderung. Ihre Oma erkannte sie schon lange nicht mehr. Manchmal erzählte sie unzusammenhängende Dinge von früher, nannte sie Luise, und für kurze Zeit kehrte das Leuchten in ihren Augen zurück.

Mirjam beschloss, zu ihr zu fahren, ehe sie es sich wieder anders überlegte. Eine halbe Stunde später stand sie frisch geduscht und zurechtgemacht am Küchentresen und bereitete sich an der glänzenden Siebträgermaschine ihren morgendlichen Espresso zu.

Während sie ihn in einzelnen Minischlückchen genoss, überlegte sie, was sie ihrer Oma mitbringen konnte. Vielleicht etwas Süßes? Ihr fiel die kleine Schachtel Pralinen ein, die ihr eine Nachbarin vor Weihnachten in die Hand gedrückt hatte.

Sie nahm den letzten Schluck Espresso und verließ kurz darauf mit der Pralinenschachtel in der Hand die Wohnung.

Ihre Oma trug einen fliederfarbenen Pullover zu einem Faltenrock aus grauem Flanell, darunter schauten hautfarbene Kompressionsstrümpfe hervor. Sie saß auf einem Stuhl am Fenster, das weiße Haar am Hinterkopf vom Schlaf noch ein wenig platt gedrückt, den Blick in die Parkanlage gerichtet. Ihre Hände lagen regungslos im Schoß.

Was ging in ihrer Oma vor? Regte sich noch etwas in ihrem Geist, oder war er wie ein unbeschriebenes Blatt? Weiß und leer. Und was war mit ihrer Seele? Die konnte doch nicht einfach verschwunden sein. Irgendwo dadrinnen musste noch der Mensch sein, der sie früher einmal gewesen war.

Mirjam wurde schwer ums Herz. Wie würde es ihr gehen, wenn sie alt war? Würde sie noch immer allein sein, oder würde es jemanden an ihrer Seite geben, der sie umsorgte?

»Hallo, Oma.« Mirjam hauchte der alten Frau einen Kuss auf die Wange und vernahm den vertrauten Geruch nach Rosenwasser. Sie öffnete ihre Handtasche. »Schau, was ich dir mitgebracht habe.« Sie nahm die Pralinen heraus und hielt sie ihrer Oma hin, doch die reagierte nicht.

Mirjam legte die Schachtel beiseite. Beim Schließen ihrer Handtasche stach ihr aus dem Extrafach die Ecke des Zeitungsartikels ins Auge, den sie aus dem Bungalow ihrer Eltern in Niendorf mitgenommen hatte. Sie ha tte ihn komplett vergessen. Der Eiswinter, fiel es ihr wieder ein.

Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihre Oma, folgte ihrem Blick. An einem Futterhaus pickte gerade ein kleiner schwarzer Vogel Körner auf. Nahm ihre Oma das wahr? Konnte sie das überhaupt? Doch was sah sie sonst für Dinge? Dinge, die sie nicht vergessen konnte?

Mirjam schämte sich plötzlich, dass sie sich nie mit der Krankheit ihrer Oma beschäftigt hatte. Stattdessen hatte sie sich nur um ihre eigenen Belange gekümmert. Im Grunde war sie damit auch nicht viel besser als ihr Vater.

Sie schob den Gedanken beiseite und zog stattdessen den Zeitungsartikel über den Eiswinter aus ihrer Handtasche. Er war auf den 2. Januar 1979 datiert. Zu dem Zeitpunkt war ihre Mutter gerade fünfzehn gewesen. Weshalb hatte sie den Artikel aufbewahrt?

Mirjam wünschte, sie könnte ihre Oma fragen, doch sie war nach wie vor in ihrer eigenen Welt versunken. Spontan begann sie, den Artikel vorzulesen.

»›Auch fünf Tage nach Einbruch der Schneekatastrophe sind in Schleswig-Holstein zahlreiche Dörfer und Einzelgehöfte von der Außenwelt abgeschnitten.‹« Mirjam hob den Blick, ihre Oma zeigte jedoch keinerlei Regung. Sie las weiter. »›Nach Angaben des Krisenstabs der Landesregierung sind dreizehntausend Helfer unentwegt im Einsatz, unter anderem versuchen Soldaten der Bundeswehr, mit Bergungspanzern zu den Eingeschlossenen vorzudringen. Rund dreißig Helikopter versorgen die Ortschaften mit Lebensmitteln und Notstromaggregaten. Bisherige Bilanz der Schneekatast rophe: Eintausend durchgefrorene Menschen mussten in Notaufnahmelager gebracht, siebzig Personen mit Helikoptern in Krankenhäuser geflogen werden. Vier Menschen sind erfroren. Hinzu kommen Hunderte auf den Höfen verendete Tiere.‹« Sie betrachtete die Fotos neben dem Artikel. Luftaufnahmen von eingeschneiten Dörfern, in Schneewehen feststeckende Züge, Landstraßen und Autobahnen, deren Konturen im allumgebenden Weiß nicht mehr auszumachen waren.

»So viel Schnee.« Sie hatte die Worte laut ausgesprochen.

Erst dachte Mirjam, ihr Hörvermögen würde ihr einen Streich spielen, als neben ihr eine leise Stimme ertönte, doch dann sah sie, wie sich die Lippen ihrer Oma bewegten.

»Still, wie unterm warmen Dach«, flüsterte sie, »liegt das Dorf im weißen Schnee; in den Erlen schläft der Bach, unterm Eis der blanke Schnee.«

Unwillkürlich stellten sich Mirjams Nackenhaare auf. Sie wagte kaum zu atmen.

»Weiden steh’n im weißen Haar«, fuhr die alte Frau fort, »spiegeln sich in starrer Flut; alles ruhig, kalt und klar. Wie der Tod, der ewig ruht.«

Padborg, Dänemark

»Die Auswertungen der Kriminaltechnik sind gekommen«, sagte Luís mit Blick auf seinen Bildschirm. Bis auf Rasmus saßen alle Teammitglieder an ihren Plätzen. »Sie konnten die Lacksplitter am Fundort von Ricky Ahlgren einem Volvo 240, Baujahr 1984, zuordnen.«

Vibeke sah ihn interessiert an. »Fährt einer der Beteiligten so einen Volvo?« Ihr Blick blieb an Søren hängen, der am Vortag zusammen mit Jens die Häuser in Sarup abgeklappert hatte.

»Ein schwarzer Volvo ist uns untergekommen«, erwiderte der Hüne, »aber das ist ein neueres Modell.«

»Er gehört dem Vater der Frau, die Konrad und Luise Dahlmann tot aufgefunden hat«, ergänzte Jens.

»Larissa Kerber?«, fragte Vibeke überrascht. »Aber es ist sicher, dass der Farbsplitter nicht von dem Wagen stammt, oder?«

Jens nickte. »Wir haben uns das Fahrzeug angeschaut. Es hatte definitiv keinen Unfall vor Kurzem.«

»Was ist mit Olsens Werkstatt?«

»Dort haben wir uns als Erstes umgesehen. Kein schwarzer Volvo. Im Übrigen haben wir mit Albert Olsen wegen der Rechnung gesprochen.« Jens verzog grimmig das Gesicht. »Ein unangenehmer Typ. Der hatte eine Fahne, als hätte er einen ganzen Schnapsladen leer gesoffen. Er hat zugegeben, dass Dahlmann vor einiger Zeit mit seinem Wagen in seiner Werkstatt war. Die Elektronik spielte wohl verrückt, und die Fenster ließen sich nicht mehr schließen. Er konnte den Fehler in der Werkstatt beheben, aber als er kurz darauf erneut auftrat, verlangte Dahlmann sein Geld zurück.« Er rieb sich das glatt rasierte Kinn. »Vielleicht sind die beiden deshalb in Streit geraten.«

»Aber bringt man deshalb zwei Menschen um?«, warf Pernille in den Raum.

»Im Normalfall sicher nicht«, bestätigte Jens. »Doch was ist heutzutage schon normal? Es gibt Leute, denen brennt die Sicherung durch, wenn ihnen ein anderer den Parkplatz wegschnappt. Auf mich erweckte Olsen den Anschein, dass er durchaus rabiat werden kann.«

»Das hat man gemerkt, als wir nach seiner Frau gefragt haben«, bestätigte Søren. Obwohl ihm der Sonntag als Familienzeit heilig war, war er mit einem Blech Apfelkuchen und einem Gruß von Brigitte pünktlich zur Besprechung erschienen. »Er hat sie sofort als Schlampe beschimpft und erzählt, er hätte sie schon vor Jahren rausgeschmissen. Aber vielleicht will er sich auch keine Blöße geben, und sie hat ihn verlassen.«

»Wo ist seine Frau abgeblieben?«

»Angeblich weiß er es nicht.« Søren erhob sich von seinem Stuhl und lud sich am Sideboard ein Stück Apfelkuchen auf den Teller. Es war bereits sein drittes.

»Haben wir die Adresse von Rickys Vater?«, fragte Vibeke.

»Ich habe eine Auskunft für das Melderegister in Niedersachsen beantragt«, sagte Pernille, »und zudem das LKA in Hannover um Mithilfe gebeten. Bislang ist allerdings noch keine Rückmeldung erfolgt. Vermutlich weil Wochenende ist.« Sie griff nach einem Zettel, der neben ihrer Computertastatur lag. »Ich habe übrigens herausgefunden, zu wem die Initialen auf dem Holzkreuz gehören. Mikael Martinesen, ein junger Landwirt aus Mommark, ist in seinem Auto mit hoher Geschwindigkeit gegen den Baum gefahren. Die Polizei geht von einem Suizid aus.«

»Schlimm«, sagte Søren, »wenn man keinen anderen Ausweg mehr sieht.«

Vibeke nickte. Gedankenverloren ging ihr Blick zu dem freien Platz von Rasmus. Wo blieb er nur so lange? Sie fasste für die anderen Julius Fabers Vernehmung zusammen.

»Dann ist Faber aus dem Schneider?«, erkundigte sich Luís.

»Jedenfalls, was den Tod von Ricky Ahlgren betrifft. Laut Rechtsmedizin ist er zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens gestorben, doch er muss schon ein paar Stunden eher angefahren worden sein. Für die Zeit hat Faber ein Alibi. Aber nicht für den Mord an den Dahlmanns. Leider sind uns vorerst die Hände gebunden. Aber wir bleiben dran.« Sie sah in die Runde. »Was haben wir noch?«

Pernille klopfte auf eine vor ihr liegende Mappe. »Ich bin noch einmal das Material zu Dahlmanns Bauvorhaben durchgegangen. Bei den Unterlagen zu Birga Andresens Haus stand eine Telefonnummer. Zunächst dachte ich, es wäre ihre, aber beim Abgleich habe ich festgestellt, dass es eine andere ist.«

Vibeke nickte. Anders als in Deutschland gab es bei dänischen Telefonnummern keine zusätzliche Ortsvorwahl, sodass man sie nicht gleich zuordnen konnte.

»Wem gehört sie?«

»Ihrem Sohn. Bjarne Andresen.«

»Wurde er schon befragt?«

»Bislang gab es keinen Grund dafür«, erwiderte Pernille. »Aber ich habe ihn gestern angerufen. Konrad Dahlmann ist an ihn wegen des Hauses seiner Mutter herangetreten.«

»Wie bei Tinne Nygaard«, warf Søren kauend ein.

Pernille nickte. »Bjarne Andresen hat ihm gesagt, dass seine Mutter nicht verkaufen will.« Sie zwirbelte nachdenklich mit ihrem Stift ihren Pferdeschwanz. »Irgendetwas an dem Mann war komisch.«

»Inwiefern?«

»Als ich ihn fragte, ob er eine Ahnung hätte, weshalb jemand die Nachbarn seiner Mutter ermorden sollte, sagte er, dass er die Dahlmanns nicht gekannt habe. Es klang fast so, als wäre es in Ordnung, Menschen unter bestimmten Umständen zu töten, aber vielleicht interpretiere ich da auch zu viel hinein.«

»Vielleicht sollten wir den Mann abklopfen«, sagte Vibeke. »Haben wir seine Adresse?«

Pernille nickte. »Er wohnt mit seiner Familie in Aarhus.«

Vibeke griff zum Telefon und wählte die Nummer von Rasmus. Das Freizeichen ertönte, doch es dauerte eine Weile, ehe er ranging. Vermutlich suchte er wieder nach seinem Handy im Fußraum.

»Hej, Vibeke«, schallte es ihr schließlich blechern entgegen. »Ich weiß, ich hätte längst da sein sollen, aber ich bin auf dem Weg.« Rasmus klang seltsam aufgekratzt.

»Wo genau steckst du?«

»Kurz vor Kolding.«

»Gut. Dann fahr bitte nicht nach Padborg, sondern weiter nach Aarhus.« Vibeke berichtete ihm von dem Telefonat mit Bjarne Andresen. »Kannst du dem Mann ein wenig auf den Zahn fühlen?«

»Kein Problem. Ich bin ohnehin auf halber Strecke.«

»Danke, Rasmus. Pernille schickt dir gleich die Adresse aufs Handy.«

»Alles klar. Ich melde mich, sobald ich dort war. Hej hej.«

Sie beendeten das Gespräch.

Pernille tippte auf ihrem Handy herum. »So, erledigt.« Sie legte es wieder beiseite. »Es gibt noch weitere Neuigkeiten … Ihr erinnert euch, dass ich von einer früheren Nachbarin der Rötgens erzählt habe?«

Alle nickten.

»Frau Berling hat sich gestern Abend zurückgemeldet«, fuhr Pernille fort. »Als sie von dem Doppelmord hörte, war sie sehr erschüttert. Sie kannte Luise Dahlmann und ihren Bruder als Kinder, auch ihre Eltern. Allerdings ist der Kontakt vor Langem abgerissen. Zuletzt hat sie Luise im Jahr nach dem Eiswinter gesehen.«

»Eiswinter?«

»1978/79«, sagte Jens. »Eine der größten Schneekatastrophen in Schleswig-Holstein seit der Nachkriegszeit. Auch Teile der DDR, Süddänemark, Südschweden und das nördliche Polen waren betroffen. Ich selbst war damals noch ein Kind, aber ich kann mich gut daran erinnern, dass der Schnee bis zu meinem Zimmer reichte. Und das lag im zweiten Stock.« Ein Schmunzeln streifte seine Lippen. »Für meinen Bruder und mich war es ein Heidenspaß. Erst später, als ich älter war, habe ich begriffen, wie ernst die Lage damals war.« Er griff nach seinem Glas und ließ nachdenklich das Wasser darin kreisen. »Erst vor Kurzem gab es eine Dokumentation im Fernsehen. Schleswig-Holstein war komplett zugeschneit, und das in einem Ausmaß, das ihr euch nicht vorstellen könnt. Telefon- und Stromleitungen sind unter der Last der Schneemassen zusammengebrochen. Ganze Dörfer waren von der Außenwelt abgeschnitten. In der Ostsee steckten Schiffe im Eis fest, Menschen erfroren in ihren Autos. Auf den Höfen starben die Tiere. Kranke und Schwangere wurden mit Hubschraubern ausgeflogen.« Er trank einen Schluck. »Besonders hart hat es damals die Landwirte getroffen. Es fehlte überall an Kraftfutter. Die Kühe mussten per Hand gemolken werden, und da die Straßen versperrt waren, konnte die Milch nicht abgeholt werden. Die Bauern haben sie dann auf Plastikplanen im Schnee gefrieren lassen. Zahlreiche Tiere sind in der Kälte verendet. Nicht nur Kühe, auch Schweine und Hühner.«

Einen Moment breitete sich Schweigen aus.

»Das klingt wirklich schlimm«, sagte Vibeke. Ein solches Ausmaß war für sie kaum vorstellbar.

»Ich war damals noch nicht geboren«, meldete sich Søren zu Wort, »aber mein Vater hat mir davon erzählt. Er meinte, die Deutschen hätten ihre Landsleute an den Grenzen ausgesperrt. Im Rundfunk wurde es die deutsche Kapitulation vor dem Schnee als Niederlage deutscher Organisationswut bezeichnet.«

Vibeke schmunzelte.

»In Nordfriesland und im Kreis Schleswig-Flensburg herrschte Fahrverbot«, bestätigte Jens, »und die Urlauber aus Dänemark konnten nicht ins Land zurück. Der Winter war ganz schön tückisch. Anfang Januar setzte Tauwetter ein, und jeder dachte, es wäre vorbei, doch sechs Wochen später begann alles von vorn. Starker Schneefall, Stürme mit Orkanböen, meterhohe Verwehungen, und das über mehrere Tage. Ein absolutes Desaster. Es hat Monate gedauert, bis die Schneemassen geschmolzen waren.«

Vibeke wandte sich wieder Pernille zu. »Hat Frau Berling etwas Interessantes über Luise erzählen können?«

»Nicht direkt. Allerdings erwähnte sie einen Cousin von Luises Mutter, den die Familie damals häufig besuchte. Wohl auch während des Eiswinters. Das war in einem kleinen Ort in Schleswig-Holstein. Moment …« Sie langte nach ihrem Tablet und scrollte durch eine Textdatei. »Der Ort heißt Hederup und der Cousin Enno Hansen. Soweit ich den Meldedaten entnehmen konnte, lebt er heute noch unter der Adresse.«

»Dann war er Luises Großcousin«, sagte Vibeke nachdenklich. »Sein Name taucht nirgendwo in den Unterlagen auf.«

»Vielleicht hatten sie keinen Kontakt mehr.« Jens putzte sich die Nase, knüllte das Taschentuch zusammen und warf es in den Papierkorb. »Ich habe etliche Cousins und Cousinen, die ich nur bei irgendwelchen Hochzeiten und Beerdigungen treffe, und manchmal nicht mal dort. Teilweise kann ich mich nicht einmal an die Namen erinnern.«

»Vielleicht lohnt es sich, mit dem Mann zu spre chen, wenn er Luise als Kind kannte«, sagte Vibeke. »Wir wissen bislang viel zu wenig über sie.« Ihr Blick ging zum Fenster. Draußen hatte es wieder zu schneien begonnen. Unwillkürlich fröstelte sie. »Hederup, liegt das nicht im Kreis Schleswig-Flensburg?«

Pernille nickte. »Ziemlich mittig davon.«

»Ich fahre hin«, entschied Vibeke spontan. Oftmals fand sich die Lösung in kleinen Details. Alles konnte wichtig sein. Auch ein entfernt lebender Cousin. Sie sah zu Jens. »Begleitest du mich?«

Ihr Kollege erhob sich.

Aarhus, Dänemark

Es war später Vormittag, als Rasmus die Route 501 mit seinem Bulli an der Ausfahrt 3-Viby verließ und zunächst den Weg Richtung Zentrum einschlug.

Fünfstöckige rote Backsteinbauten säumten die Straße zu beiden Seiten, wurden abgelöst von stuckverzierten Gebäuden, in denen sich Geschäfte, Cafés und Restaurants aneinanderreihten. Es fühlte sich merkwürdig an, nach so langer Zeit wieder durch Aarhus’ Straßen zu fahren. Früher hatte er es nahezu täglich getan. Da war er noch Leiter der Mordkommission in Aarhus gewesen und hatte mit Camilla und Anton in einer Wohnung in Frederiksbjerg gelebt. Dort hatte er seine glücklichsten und schwärzesten Stunden verbracht. Es schien Lichtjahre her zu sein.

Trotzdem war er mit Aarhus noch immer eng verbunden. Der Vierseithof aus Fachwerk seiner Eltern, auf dem auch Jonna und ihre Familie lebten, lag etwas außerhalb der Stadt, zudem war Anton in Aarhus begraben.

Vor ihm leuchtete die bunte Krone vom ARoS über der Stadt. Das Kunstmuseum war seit Jahren ein Besuchermagnet, was vor allem an dem gläsernen Rundgang mit den getönten Scheiben in Regenbogenfarben über dem Backsteinkubus lag, durch die man besondere Ausblicke über Aarhus geboten bekam.

Rasmus war früher häufig dort gewesen.

Seine Gedanken glitten zu Maja. Unwillkürlich musste er lächeln. Ehe er aufgebrochen war, hatten sie zusammen in seinem Bett Kaffee getrunken und nach Fanø geschaut, gerade als über dem Meer die Sonne aufgegangen war.

Noch in der Nacht hatten sie ein klärendes Gespräch geführt. »Ich möchte mit dir zusammen sein, Rasmus«, hatte Maja frei heraus gesagt und ein »Wenn du das auch möchtest« hinzugefügt. Natürlich wollte er nichts lieber als das. Sie hatten vereinbart, ihre private und ihre dienstliche Beziehung auseinanderzuhalten, wohl wissend, dass dies keine Dauerlösung war. Beziehungen zwischen Kollegen kamen bei der Polizei häufig vor und wurden im Allgemeinen toleriert, doch zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden verhielt es sich anders. Früher oder später würden sie deshalb ein Gespräch mit der Behördenleitung führen müssen.

Rasmus erreichte die Adresse, die ihm Pernille durchgegeben hatte. Ein Mehrfamilienwohnhaus am Ingerslevs Plads, nur wenige Straßenzüge von seiner a lten Wohnung entfernt. Er verbot sich sämtliche Gedanken daran und stellte den Bulli ab. Eine ältere Frau kam gerade aus dem Haus, und nach einem kurzen Blick aufs Klingelschild schlüpfte er hinter ihr durch die Eingangstür.

Rasmus nahm die Treppe in den dritten Stock hinauf. Aus der Wohnung der Andresens drangen Kinderstimmen. Er drückte die Klingel, und gleich im nächsten Moment wurde geöffnet.

Zwei Blondschöpfe im Grundschulalter, die einander wie ein Ei dem anderen glichen, sahen zu ihm hoch.

»Hej. Ich bin Rasmus. Ist euer Vater oder eure Mutter da?«

Eine Frau mit blonden Locken tauchte hinter den Zwillingen auf. Sie trug einen Daunenmantel und Stiefel und hielt in jeder Hand einen Sportrucksack. Offenbar war sie gerade im Aufbruch.

»Ach, hej.« Sie lächelte freundlich. »Willst du zu uns?«

Rasmus nickte. »Ich bin von der Polizei und hätte ein paar Fragen an Bjarne Andresen. Er wohnt doch hier, oder?« Er zeigte seinen Dienstausweis vor.

Die Frau warf nur einen kurzen Blick darauf. »Bjarne?«, rief sie über die Schulter. »Besuch für dich.« Und an die beiden Jungs gewandt: »Jetzt steht hier nicht rum wie die Stockfische. Zieht eure Jacken und eure Schuhe an.« Sie lächelte entschuldigend. »Wir wollten gerade zum Fußball. Die beiden haben ein Hallenturnier.«

Die Blondschöpfe, die Rasmus zuvor mit großen Augen angestarrt hatten, kamen der Aufforderung ihrer Mutter nach, nicht ohne dabei weiterhin in seine Richtung zu schielen.

Ein kräftiger, dunkelhaariger Mann trat aus einem Raum am Ende des Flurs. Er hatte einen spitz zulaufenden Vollbart, freundliche braune Augen und schien einige Jahre älter zu sein als seine Frau. Rasmus schätzte ihn auf Mitte bis Ende fünfzig.

»Das ist Rasmus von der Polizei«, erklärte ihm seine Frau. »Wir müssen los. Kommst du dann später nach?«

Bjarne Andresen nickte. »Viel Glück, Jungs! Und denkt dran: immer draufhalten.« Er ballte die Hände kämpferisch zu Fäusten und gab seiner Frau zum Abschied einen Kuss.

»Komm doch bitte rein«, sagte er, sobald die drei im Fahrstuhl verschwunden waren.

Rasmus trat über die Schwelle. Sofort fielen ihm die farbenfrohen Wände auf. Im Flur waren sie in einem warmen Orange gestrichen, im Wohnzimmer, dessen Tür offen stand, in einem Fliederton. Bis zur Decke reichende Bücherregale, eine Sofalandschaft mit grauen Bezügen und ein mit Dannebrogs geschmückter Weihnachtsbaum. Auf dem Boden verteilte sich ein Mix aus Legosteinen und Superheldenfiguren.

Rasmus folgte Bjarne Andresen in die Küche. Helle Birkenfronten zu grünen Metrofliesen und blauen Wänden, auf dem langen Tisch stand noch das bunt zusammengewürfelte Frühstücksgeschirr. In der Mitte brannte eine Kerze. Es duftete nach Kaffee und Pfannkuchen.

»Sonntags mache ich den Kindern immer Pancakes, während Johanne beim Gottesdienst ist.« Bjarne lächelte offen, und Rasmus fand ihn auf Anhieb sympathisch. »Wenn du möchtest, es sind noch welche da.« Er wies auf einen abgedeckten Teller.

»Danke, nein«, sagte Rasmus. Er hatte sich zuvor an einer Autobahntankstelle zwei Hotdogs geholt, die ihm wie Blei im Magen lagen. Sein Blick erfasste eine selbst gebastelte Girlande aus rot-weißen Weihnachtsherzen, die unter einer Lichterkette im Fenster hing, und einen kurzen Moment verspürte er Wehmut. Er riss sich zusammen und konzentrierte sich auf den Grund seines Kommens.

»Aber einen Kaffee nimmst du doch, oder?« Bjarne Andresen hielt eine Thermoskanne hoch.

»Kaffee geht immer.«

»Du bist wegen dem da, was in Sarup passiert ist, oder?«, fragte Bjarne Andresen, sobald sie sich an den Tisch gesetzt hatten. Sein Tonfall klang jetzt nicht mehr ganz so munter, sondern viel eher ruhig und bedächtig.

Rasmus nickte. »Du hast meiner Kollegin gestern am Telefon erzählt, dass Konrad Dahlmann dich wegen des Hauses deiner Mutter kontaktiert hat.«

»Das stimmt. Er rief vor einiger Zeit an und machte uns ein Angebot. Ein recht gutes sogar. Aber meine Mutter wollte nicht verkaufen.«

»Das klingt, als hättest du ihr zum Verkauf geraten.«

Bjarne nickte. »Ich finde es nicht gut, dass sie in ihrem Alter ganz allein auf der Insel lebt. Johanne und ich haben ihr schon häufiger angeboten, zu uns und den Kindern zu ziehen. Aber sie will nichts davon hören. Selbst nach den Morden nicht.« Er kratzte sich am Bart. »Sie sagt, einen alten Baum verpflanzt man nicht.«

Rasmus konnte ihre Aussage verstehen. Auch seine Eltern würden ihren Resthof niemals freiwillig verlassen. »Weshalb hast du dich nicht bei uns gemeldet und erzählt, dass Konrad Dahlmann wegen des Hauses an dich herangetreten ist?«

»Ich dachte nicht, dass es eine Rolle spielen könnte.« Auf dem Rand seiner Oberlippe bildeten sich Schweißperlen.

Bjarne Andresen wirkte mit einem Mal nervös, doch das war nicht besonders ungewöhnlich. Schließlich schaute die Polizei nicht jeden Tag vorbei und stellte Fragen zu einem Doppelmord.

Trotzdem würde Rasmus genau hinsehen. »Rein der Form halber … Wo warst du vorletzten Freitag zwischen zwölf und achtzehn Uhr?«

Bjarne Andresen zog die Stirn in Falten. »Ich hatte mir den größten Teil des Tages freigenommen. Johanne und ich waren am Vormittag mit den Kindern auf der Schlittschuhbahn und anschließend bei meinen Schwiegereltern zum Essen. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen, wann wir wieder zu Hause waren, aber ich meine, es war gegen halb drei. Danach musste ich noch ein paar Stunden arbeiten.«

Rasmus beförderte sein Notizbuch aus der Jackentasche und hielt die Angaben darin fest. »Was machst du beruflich?«

»Ich arbeite als Pädagoge beim Jugendamt und helfe Jugendlichen, die auf die schiefe Bahn geraten sind, dabei, die Kurve zu kriegen. Damit sie nicht zu Intensivtätern werden.« Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. »Abwarten und wegsperren kann nicht die Lösung sein. Wir müssen präventiv handeln.«

Rasmus nickte zustimmend. »Und Freitagnachmittag warst du in deinem Büro im Jugendamt?«

Bjarne schüttelte den Kopf. »Ich arbeite einmal wöchentlich ehrenamtlich bei der Notfall-Hotline für Kinder und Jugendliche. Von zu Hause aus.«

Rasmus notierte sich auch diese Angaben. »Hattest du vorher schon einmal mit den Dahlmanns zu tun? Bist du ihnen jemals persönlich begegnet?«

»Nein und nein. Ich kannte nicht einmal ihre Namen, ehe Konrad mich angerufen hat.« Der Pädagoge sah Rasmus offen in die Augen. Alles, was er sagte, wirkte aufrichtig.

»Hast du irgendeine Verbindung nach Hamburg?«, hakte er nach.

»Nein. Ich war zwar einmal dort, aber das ist eine halbe Ewigkeit her. Irgendwann Mitte der Zweitausenderjahre.«

Rasmus dachte nach. »Luise Dahlmann hieß mit Mädchennamen Rötgen. Klingelt da vielleicht etwas bei dir?«

Bjarne Andresens Blick wanderte zum Fenster. Er schien nachzudenken, dann schüttelte er den Kopf. »Leider nein.«

»Was ist mit Ricky Ahlgren?«

»Ricky?«, erwiderte er erstaunt. »Den kenne ich natürlich. Er ist der Sohn von Magnus, einem früheren Freund von mir. Weshalb fragst du nach ihm?«

Rasmus griff nach seinem Kaffeebecher und trank einen Schluck, ehe er antwortete: »Ricky wurde vor zwei Tagen tot aufgefunden. Jemand hat ihn in der Nacht von Donnerstag auf Freitag an der Landstraße Höhe Ny Pøl angefahren und schwer verletzt liegen gelassen.«

Bjarne Andresen erblasste. »Ach, du meine Güte. Das ist ja schrecklich.«

»Das ist es«, bestätigte Rasmus. »Deshalb überprüfen wir derzeit sämtliche Fahrzeuge in der Umgebung. Du kennst nicht zufällig jemanden, der einen alten schwarzen Volvo fährt?«

In den Augen seines Gegenübers blitzte etwas auf, doch es war so schnell wieder verschwunden, dass Rasmus sich nicht sicher war, ob er sich nicht geirrt hatte.

»Nein. Tut mir leid.« Der Pädagoge schüttelte den Kopf. »Johanne und ich fahren einen Skoda Octavia, falls das deine nächste Frage sein sollte. Und wir waren beide in der Nacht zu Hause bei unseren Kindern.«

Rasmus notierte sich auch diese Angaben. »Du sagtest eben, Magnus Moberg wäre früher ein Freund von dir gewesen. Ist das heute nicht mehr so?«

Bjarne Andresen fuhr sich mit der Hand zum Mund. »Leider nein. Es ist eine lange Geschichte. Kurz zusammengefasst: Wir hatten uns damals in dieselbe Frau verliebt. Es war das Ende unserer Freundschaft.«

»Reden wir über Rickys Mutter?«

»Nein. Sie hieß Fria.«

»Fria Olsen?«, fragte Rasmus überrascht. »Albert Olsens Frau?«

»Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte.« Bjarne lächelte schwach. »Fria hielt Magnus und mich für unreif. Sie heiratete dann Albert, vermutlich dachte sie, er wäre die bessere Partie, aber sie ist mit ihm nicht glücklich geworden.«

»Sie hat ihn verlassen?«

Bjarne nickte. »Wobei Albert es gerne anders darstellt. Aber das ist irgendwie auch verständlich.« Sein Blick glitt ins Leere. »Fria ist mit Magnus durchgebrannt. Danach waren zwei Familien zerstört. Albert hat mit dem Trinken angefangen, und Magnus’ damalige Freundin stand mit Ricky von einem Tag auf den anderen allein da. Sie ist dann mit ihm nach Sønderborg gezogen, hat dort aber nie so richtig Fuß fassen können. Zudem war sie mit dem Jungen heillos überfordert. Sie ist an einer Überdosis Tabletten gestorben, da war Ricky bereits auf die schiefe Bahn geraten. Armer Junge.«

»Hast du noch Kontakt zu Fria und Magnus?«

Bjarne schüttelte den Kopf. »Fria hat mir mal eine Postkarte geschickt, aber das ist schon viele Jahre her. Damals lebten sie und Magnus irgendwo in Deutschland.«

»Hatte Ricky noch Kontakt zu seinem Vater?«

»Tut mir leid, aber das weiß ich nicht.«

Rasmus leerte seinen Kaffeebecher. »Sollte dir noch etwas einfallen, dann lass es mich wissen.« Sekundenlang fixierte er sein Gegenüber, doch Bjarne Andresen ließ keinerlei Unsicherheit erkennen, sondern nickte nur.

Kurz darauf verabschiedete sich Rasmus mit einem Zettel in der Hand, auf dem die Kontaktdaten von Bjarne Andresens Schwiegereltern und seiner Frau Johanne standen. Keine fünf Minuten später waren sämtliche Angaben von Bjarne Andresen bestätigt.

Rasmus rief Luís an und bat ihn, die Kfz-Halter-Daten von Bjarne Andresen, seiner Frau Johanne und s einer Mutter Birga noch einmal durchzugehen. Es gab keinerlei Hinweis auf einen Volvo 240. Anschließend wählte er die Nummer von Vibekes Handy, um sie auf den neuesten Stand zu bringen. Sie vereinbarten, einen Zeugenaufruf in der Öffentlichkeit zu starten, um Hinweise zum Volvo und zum Unfallhergang zu bekommen, und Rasmus versprach, sich darum zu kümmern. Da es bereits Mittag war und die Fahrt von Aarhus nach Padborg rund zwei Stunden dauerte, beschlossen sie, sich am nächsten Morgen wieder im GZ zu treffen.

Vielleicht suchten sie an der vollkommen falschen Stelle, dachte Rasmus, nachdem sie sich verabschiedet hatten. Am Ende war der Täter einer von Konrad Dahlmanns Mietern, denen er übel mitgespielt hatte. Oder irgendein Verrückter, der gedacht hatte, in dem alten Haus gebe es etwas zu holen.

Rasmus blickte noch einmal zum dritten Stock des Mehrfamilienhauses hoch, erkannte die Weihnachtsherzen unter der Lichterkette und erwartete fast, Bjarne Andresen dort stehen zu sehen. Doch der Platz am Fenster war leer.

Hederup, Deutschland

Vibeke drückte auf die Klingel. Nichts tat sich. Neben ihr trat Jens ein paar Schritte zurück und sah zum oberen Stockwerk des Architektenhauses hinauf, das ver mutlich aus den 1970er-Jahren stammte. Es hatte ein asymmetrisches Satteldach und Betonelemente.

»Ich glaube, da haben wir Pech gehabt. Hier ist niemand.« Er hob die Klappe des Briefkastens an. Einige Briefe und Werbeprospekte lugten hervor. »Und das anscheinend schon länger nicht.«

Auf dem Nachbargrundstück kam eine junge blonde Frau im Joggingoutfit aus dem Haus und war gerade im Begriff, sich In-Ear-Kopfhörer in die Ohren zu stecken. Im Gegensatz zum zwanzig Kilometer entfernten Flensburg lag in Hederup kein Schnee.

»Entschuldigung«, rief Vibeke zu ihr über den Zaun. »Wissen Sie, ob Ihre Nachbarn verreist sind?«

Die Frau blieb stehen, einen der Stöpsel noch in der Hand. »Die sind weggefahren. Zu ihrer Tochter nach Hannover.«

Vibeke trat näher an den Zaun heran. »Wissen Sie vielleicht, wann sie wiederkommen?«

»Ich glaube, morgen. Zumindest bat mich Christel, bis heute die Blumen zu gießen.« Ihr Blick wurde neugierig. »Soll ich den Hansens etwas ausrichten?«

»Danke, nein. Wir lassen eine Nachricht da.« Vibeke wollte sich bereits abwenden, als ihr noch etwas einfiel. »Wie lange wohnen Sie schon hier?«

»Ungefähr fünf Jahre.«

»Sagt Ihnen der Name Luise Rötgen oder Luise Dahlmann etwas? Haben die Hansens vielleicht von ihr erzählt?«

»Tut mir leid. Ich habe die Namen noch nie gehört.«

»Gibt es Nachbarn, die schon länger hier wohnen? So seit Ende der Siebziger?«

»Probieren Sie es mal bei Frau Ellerkamp nebenan. Die wohnt schon ewig hier. Oder bei Bauer Kruse.« Sie deutete mit der Hand die Straße hinter ihrem Haus entlang, wo sich Grünflächen und Weiden erstreckten. »Der Hof liegt etwa einen halben Kilometer weiter. Sie können ihn gar nicht verfehlen. Soweit ich weiß, lebt die Familie schon seit mehreren Generationen dort.« Sie hielt den In-Ear-Stöpsel in ihrer Hand hoch. »Dann kann ich jetzt los? Mir wird langsam kalt.«

»Natürlich. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Vibeke wandte sich zu Jens um, der gerade die Gebäudefassade inspizierte.

»Die haben drinnen bestimmt Feuchtigkeitsschäden.« Er deutete auf den Sockelbereich, an dem neben zahlreichen Rissen auch abgeplatzter Putz und Grünspan sichtbar waren.

»Bist du jetzt Fachmann für Haussanierungen?«, scherzte Vibeke.

»Es ist gut, sich auch mit solchen Dingen auszukennen.« Jens zog eine Visitenkarte heraus, schrieb etwas auf die Rückseite und klemmte sie an die Haustür. Anschließend klappte er den Kragen seines dunkelblauen Mantels hoch. »Komm, wir probieren es bei der Nachbarin.«

Wenige Augenblicke später standen sie vor einer winzigen grauhaarigen Frau mit Rollator, die an beiden Ohren Hörgeräte trug.

»Luise Dahlmann – sagt Ihnen der Name etwas?«, fragte Vibeke, nachdem die Frau gefühlt mehrere Minuten lang ihre Ausweise studiert hatte.

»Sie hieß früher Luise Rötgen.« Vibeke hielt ihr das Handydisplay mit dem Foto der jungen Luise hin. »Und so sah sie aus. Ihre Mutter Edith war die Cousine von Enno Hansen.«

»Ach, die Edith.« Die Andeutung eines Lächelns streifte ihre Lippen. »Die kenne ich. Aber das ist schon eine Ewigkeit her, seit ich sie zuletzt gesehen habe. Wie geht es ihr denn?«

Vibeke überging die Frage. »Können Sie uns etwas über Luise erzählen? Wir wissen, dass sie im Eiswinter 1978 mit ihrer Familie bei den Nachbarn zu Besuch war. Das haben Sie sicher mitbekommen.«

»Tut mir leid. Ich kann mich nicht erinnern.« Die alte Frau kniff die Lippen zusammen.

»Tatsächlich?«, bohrte Jens nach. Ihr Kollege hatte während der Fahrt recherchiert, dass Hederup zu den achtzig Dörfern gehört hatte, die von der Außenwelt abgeschnitten gewesen waren. »Das war doch bestimmt ein sehr einschneidendes Erlebnis. Sie waren hier vollkommen auf sich allein gestellt.«

»Das ist alles lange her.« Die alte Frau mied jeglichen Blickkontakt.

Vibeke spähte an ihr vorbei ins Innere des Hauses. Perserteppiche auf braunen Fliesen zu Kirschholzmöbeln. »Leben Sie allein hier? Oder gibt es noch jemanden, den wir nach damals fragen können?«

»Mein Mann, der Nils, ist schon seit Ende der Neunziger tot. Hier interessiert sich keiner mehr für die alten Geschichten.« Ihr Blick wurde grimmig. »Und das ist auch besser so. Jetzt entschuldigen Sie mich, meine Lieblingsserie fängt gleich an.« Sie löste eine Hand von ihrem Rollator und schlug die Haustür zu.

Verdutzt sahen sich die beiden Kriminalbeamten an.

»Das war merkwürdig, oder?«, fragte Vibeke.

Jens nickte.

»Dann fragen wir jetzt bei dem Bauern nach.«

Sie gingen zurück zu Vibekes Dienstwagen.

»Ich wollte dir noch etwas erzählen«, sagte Jens, sobald sie die Straße entlangfuhren.

Vibeke warf ihm einen Seitenblick zu. »Du hast hoffentlich nicht vor, die Sondereinheit zu verlassen.«

»Wie immer direkt auf den Punkt.« Er setzte eine wichtige Miene auf. »Du bist die Erste im Team, die es erfährt. Ich wechsle nächsten Monat zur Bundespolizeidirektion nach Bad Bramstedt.«

»Das freut mich für dich«, sagte Vibeke. Sie hatte gewusst, dass Jens sich umorientieren wollte. Bislang arbeitete er beim Landespolizeiamt in Kiel bei der Einsatzplanung. »Welche Abteilung?«

»Sachbereich 15. Kriminalitätsbekämpfung.«

»Klingt gut. Ich hoffe, du bleibst dem Team trotzdem erhalten.«

»Selbstverständlich. Da bleibt alles beim Alten.« Er musterte sie von der Seite. »Und du? Gefällt es dir noch in Flensburg? Oder hast du Lust auf eine berufliche Veränderung?«

»Ich bin zufrieden.«

»Und ehrgeizig«, ergänzte Jens. »Was ist, wenn zum Beispiel Europol anruft und dir ein Angebot macht?«

»Weshalb sollten die mich anrufen?«

Hinter einer Baumreihe wurde ein stattlicher Reetdachhof mit mehreren Stallgebäuden sichtbar.

»Wir sind da.« Vibeke bog in die Einfahrt und parkte ihren Dienstwagen neben einem schwarzen Pick-up auf dem Vorplatz.

Die Rundbogentür des Haupthauses ging auf, und ein etwa dreißigjähriger Mann in Gummistiefeln und grob kariertem Flanellhemd über der Arbeitshose kam heraus.

»Moin«, begrüßte er die Neuankömmlinge. Ein Lausbubengesicht unter blondem Wuschelhaar. »Kann ich helfen?«

»Moin.« Vibeke schlug die Autotür zu. Ein strenger Geruch nach Gülle und Ammoniak stieg ihr in die Nase. »Wir sind von der Polizei und ermitteln in einem Doppelmord. Konrad und Luise Dahlmann. Ein Hamburger Ehepaar.« Sie und Jens zeigten ihm ihre Dienstausweise. Aus dem Stallgebäude klang das Muhen von Kühen.

»Hamburg?«

»Ja. Es ist ein wenig kompliziert. Die Frau hieß früher Rötgen und war als Kind häufiger zu Besuch in Hederup. Auch während der Schneekatastrophe 1978.«

»Da war ich noch nicht auf der Welt. Am besten, Sie reden mit meinem Vater. Die Namen der Leute sagen mir nichts.« Er zog die Haustür auf. »Vattern? Komm mal!«

Kurz darauf tauchte ein Endsechziger in Cordhose auf. Er trug ein ähnliches Hemd wie sein Sohn, seine Glatze wurde von einem grauen Haarkranz geziert.

»Moin.«

Vibeke und Jens stellten sich vor.

»Hannes Kruse.«

»Mich braucht dann wohl keiner mehr«, stellte sein Sohn fest. Er machte auf dem Absatz kehrt und steuerte auf eine der Scheunen zu.

Vibeke wiederholte ihr Anliegen.

»Das klingt schrecklich«, sagte der Landwirt. »Aber was hat das mit uns zu tun?«

»Kannten Sie vielleicht Luise Rötgen?« Vibeke zeigte ihm das Foto auf ihrem Handydisplay. »Vielleicht auch ihre Mutter Edith oder ihren Vater Otto?«

Hannes Kruse strich sich nachdenklich über die Glatze. »Hatte das Mädchen einen Bruder?«

Vibeke nickte.

»Kann sein, dass die als Kinder mal bei mir auf dem Hof waren. Ja, jetzt erinnere ich mich.« Er nickte zur Bestätigung seiner Worte. »Ich glaube, ich habe ihnen einmal die Kälber gezeigt. Damals hatte ich gerade den Betrieb von meinem Vater übernommen, und meine Lieblingskuh hatte gekalbt.« Ein Lächeln streifte seine Lippen.

»Können Sie uns irgendetwas über Luise erzählen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ist ja auch lange her.«

»Haben Sie die beiden im Eiswinter 1978 gesehen? Sie waren mit ihren Eltern zu Besuch bei den Hansens.«

Der Landwirt bekam einen harten Zug um den Mund. »Ich hatte damals andere Dinge zu tun.« Sein Blick glitt zum Stall. »Die Tiere sind mir unter den Händen weggestorben. Mutterkühe. Kälber.« Er verstummte, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Auch über vierzig Jahre später war die Trauer über den Tod seiner Tiere noch immer greifbar.

»Und Hilfe gab es keine?«, erkundigte sich Vibeke mitfühlend. »Was ist mit den Nachbarn die Straße runter?« Neben ihr schnäuzte sich Jens die vor Kälte gerötete Nase.

»Es kam niemand zu uns durch. Der Schnee lag meterhoch auf den Straßen.«

»Ist Ihnen irgendetwas zu Ohren gekommen, ich meine, abgesehen von dem vielen Schnee, dass damals in der Nachbarschaft etwas passiert ist?«

Hannes Kruses Gesicht verschloss sich. »Wie gesagt, ich hatte andere Dinge zu tun, und ich will das alles auch nicht noch einmal aufwühlen. Außerdem wird mir langsam kalt. Ich gehe wieder rein. Schönen Tag noch.«

Zum zweiten Mal standen sie vor verschlossener Tür.

»Und jetzt?«, fragte Vibeke.

»Jetzt klappern wir die anderen Häuser in der Straße ab.« Jens rieb sich die Hände. »Vielleicht ist man dort gastfreundlicher.«

Es war bereits später Mittag, als sie das letzte Haus in der Straße, einen weißen Sechzigerjahre-Bungalow, verließen. Die Bewohner hatten schon Ende der 1970er-Jahre in Hederup gelebt, genau wie ein paar andere, an deren Türen sie zuvor geklingelt hatten. Doch die Leute waren allesamt zurückhaltend gewesen, hatten fast schon abweisend reagiert, sobald Vibeke die Sprache auf die Schneekatastrophe gebracht hatte.

Sie schloss die Gartenpforte hinter sich. »Warum reden die nicht?«

Jens zuckte die Achseln. »Weil sie keine Lust ha ben.« Sein Blick wanderte zurück zum Bungalow. »Oder weil sie etwas zu verbergen haben.«

»Alle?« An Vibeke nagte das Gefühl, dass hier etwas im Argen lag. »Damit haben sie jedenfalls erst recht erreicht, mich neugierig zu machen.«

»Was schlägst du vor?«

»Wir versuchen es beim Gemeindeamt.«

»Das hat sonntags geschlossen.«

»Dann bei der Kirche«, sagte Vibeke entschlossen. »Oder im Dorfkrug. Wenn es etwas zu erzählen gibt, wird irgendjemand reden.«

Sie gingen zurück zum Wagen. Ehe Vibeke einstieg, ließ sie den Blick die Straße entlangschweifen. Was war hier während des Eiswinters passiert?

Flensburg, Deutschland

Um halb sechs stieß Vibeke die grüne Rundbogentür zur Polizeidirektion auf.

Im dritten Stock angekommen, öffnete sie als Erstes das Fenster in ihrem Büro. Es war drei Tage her, seit sie zuletzt hier gewesen war, und die Luft im Raum war stickig und abgestanden. Dunkelheit hatte sich über Flensburg gesenkt, und im trüben Licht der Straßenlaternen glitzerte der Schnee.

Vibeke zog ihren Parka aus und stellte den Computer an. Während die Programme hochfuhren, überflog sie die Dokumente, die ihr Michael zur Unterschrift hingelegt hatte, und zeichnete sie ab. Die letzten Tage war es ruhig geblieben in Flensburg. Glatteis-bedingte Verkehrsunfälle ohne Personenschaden, ein aufgebrochener Geldautomat, eine Demonstration von Landwirten am Fähranleger Schlüttsiel, wo der Bundeswirtschaftsminister von einer privaten Reise zurückgekehrt war. Keine Toten.

Vibeke dachte an die Frage nach beruflicher Veränderung, die ihr Jens vorhin gestellt hatte und der sie ausgewichen war.

In den letzten drei Jahren hatte sich in ihrem Leben viel ereignet, beruflich wie privat, und sie war froh über den aktuellen Stillstand.

Das Kräftemessen zwischen ihr und Jan Bachmann beim LKA Hamburg, der Schlaganfall ihres Vaters, ihr Neustart in Flensburg samt Umzug und Führungsposition, der nervenaufreibende Kleinkrieg mit Kriminalhauptkommissar Klaus Holtkötter, ihrem früheren Stellvertreter, der Tod von Claas und ihre Selbstzweifel, die sie danach fast zerfleischt hätten. All das hatte ihr zugesetzt, und auch wenn sie versuchte, es nicht an sich heranzulassen, bereitete ihr die tote Solveigh mehr Kopfschmerzen als zu ihren Lebzeiten.

Vergangene Nacht hatte sie wieder einen Albtraum gehabt, doch anders als in den vorherigen hatten sich zu Claas und ihrer Erzeugerin auch noch die alte Frau vom Friedhof und ihr Anwalt dazugesellt, und sie ahnte bereits, dass in der Angelegenheit, worum es auch immer gehen mochte, noch nicht das letzte Wort gesprochen war. Dabei hatte Vibeke gehofft, mit ihrer Teilnahme an der Beerdigung einen Schlusspunkt zu setzen.

Vielleicht hatte Jens recht, und es wurde Zeit für eine Veränderung. Ein Neuanfang, möglichst weit weg von allem. Europol war dabei sicher nicht die schlechteste Option.

Der Cursor auf ihrem Computerbildschirm blinkte. Die Programme waren hochgefahren.

Vibeke zog ihr Notizbuch heraus, blätterte zu der Seite mit den Befragungen und schrieb die nächste halbe Stunde ihren Bericht für Kriminalrat Petersen.

Sie und Jens hatten den Nachmittag damit verbracht, noch weitere Häuser in Hederup abzuklappern, nachdem sie zuvor bei der Kirche mit einer Pastorin gesprochen hatten, die ihnen jedoch nicht hatte weiterhelfen können.

Ihre letzte Anlaufstelle war der Dorfkrug gewesen, ein alteingesessenes Gasthaus, das sich bereits seit über zweihundert Jahren in Familienbesitz befand. An der Theke hatten zwei Männer älteren Jahrgangs über das Leben im Allgemeinen und Frauen insbesondere philosophiert, beide vor sich ein Herrengedeck.

Im Gegensatz zu den bisher Befragten waren die beiden Männer in Redelaune gewesen, als Jens das Gespräch auf den Eiswinter gebracht hatte. Mit leuchtenden Augen hatten sie davon berichtet, wie die Menschen in Hederup zusammengerückt waren, ihr Essen geteilt und gemeinschaftlich gegen Schnee und Kälte gekämpft hatten. Sie erzählten von Bauer Kruse und seinen Tieren und einer Schwangeren mit Wehen, die ein Helikopter ausgeflogen hatte, und von den armen Seelen, die während der Katastrophe gestorben waren. Auch in ihrem Ort hatte es einen Toten gegeben, begraben unter Schnee. Ganz in der Nähe von Kruses Hof.

Vibeke war augenblicklich hellhörig geworden und hatte nachgebohrt, doch die beiden Alten hatten zu ihren Schnapsgläsern gegriffen, sie mit einem einzigen Schluck geleert und sich dann mit einem Klopfen auf den Tresen zu ihren Ehefrauen verabschiedet. »Wir haben schon zu viel gesagt«, hatte der eine noch verlauten lassen, ehe die Eingangstür hinter ihnen ins Schloss gefallen war.

Jens hatte auf der Rückfahrt auf seinem Handy nach den Toten der Schneekatastrophe gegoogelt. Insgesamt waren siebzehn Menschen gestorben, davon sechs in Schleswig-Holstein, viele in ihren Autos, die im Schnee stecken geblieben waren. Nähere Informationen zu den Opfern konnten sie nur über die Archive oder Gemeinden erlangen, doch die waren an den Wochenenden geschlossen.

Vibeke fragte sich, ob sie an der richtigen Stelle suchten, ob es überhaupt einen Zusammenhang zwischen dem Eiswinter und den toten Dahlmanns gab. Der Fall wurde immer komplexer und undurchsichtiger. Ihr Blick glitt zum Fenster. Waren sie auf der richtigen Spur?