Vom Ende der Umerziehung

Vorwort

Dieses Buch will mit Leidenschaft, zuweilen mit Ironie, oft auch mit Selbstironie Gedankenfenster öffnen; es ist ein Text, der Bilanz zieht und sich in die Zukunft richtet. Als Leserinnen und Leser wünsche ich mir Menschen der mittleren und jüngeren Generation, die mitten im Leben stehen und sich mit Fragen konfrontiert sehen über das Miteinander der Geschlechter; Eltern, die es schwer haben, manche Verhaltensweisen ihrer Töchter und Söhne zu verstehen, sie erfolgreich zu führen und ihnen zu helfen, anspruchsvolle Ziele zu verfolgen; Lehrerinnen und Lehrer, die damit zu kämpfen haben, dass ihnen so viele Jungen an den Schulen entgleiten; Studentinnen und Studenten, die aus ihrem unbewussten Nebeneinander ein aktives Miteinander-Arbeiten machen wollen; Personalverantwortliche in kleinen und großen Unternehmen, die es schwer haben, Führungspositionen mit Frauen zu besetzen – ebenso wie Frauen, die gern Karriere machen möchten, und Männer, die ein latentes Unbehagen an den Umwälzungen im Verhältnis der Geschlechter empfinden. Aber auch Menschen, die in Vereinen, Bürgerinitiativen, Parteien, Gemeinderäten, in Behörden konkrete Weichen stellen für das Zusammenleben und Zusammenarbeiten, was immer auch bedeutet: von weiblichen und männlichen Wesen.

Dieses Buch ist eigentlich unfertig – täglich finden sich neue Beispiele, die sich einfügen ließen. Es sollte, als ich 2009 damit begann, eine Art Bilanz darstellen – nach mehr als vier Jahrzehnten Erfahrung mit dem Alltag von Großunternehmen im Hinblick auf neue Geschlechterverhältnisse, mit praktischen Projekten und Studien zum Thema Familie, Nachbarschaft und Beruf, nach Diskussionen in Parteigremien – aber es sollte auch meine eigenen widersprüchlichen Erfahrung als Partnerin und Ehefrau, als Mutter, Stiefmutter, Schwiegermutter, Großmutter reflektieren. In der Bilanz wollte ich auch der Frage nachgehen, warum mich das Thema Männer und Frauen ganz zu Beginn meines eigenständigen Denkens, in der Studenten- und Frauenbewegung der 1 960 er- und 1 9 70er-Jahre, kaum bewegt hat (so wie es heute unter vielen jungen Leuten wieder der Fall ist), obwohl ich in einer zutiefst sozialdemokratischen Familie aufgewachsen bin, in der der Geist der Chancengleichheit selbstverständlich war – und meine Mutter dennoch Hausfrau blieb.

Schwerpunkt dieses Buches ist die Auseinandersetzung mit der Frage, warum die vielen Bemühungen der globalen Wirtschaft, Frauen in wirkliche Führungspositionen zu befördern, so hartnäckig und gründlich scheitern und welche Strategien vielleicht erfolgreicher sein könnten. Ein wichtiges Ziel war es auch, meinen Kolleginnen und Kollegen in der von mir gegründeten Firma nach meinem Ausscheiden eine Art Navigationshilfe anzubieten – auf dem Weg von einem reinen Frauenunternehmen zu einem Kleinkonzern mit inzwischen über 1300 fest angestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, überwiegend Frauen.

Es zeigt sich nämlich, dass die spontan entstandene Frauenführungskultur in ihrer Dynamik gut verstanden werden will; dass zugleich aber ebenfalls gut überlegt sein muss, wie sich diese Kultur für Männer stärker öffnen lässt, ohne den Kern des Erfolgs, die effiziente Kultur von Frauen, zu beschädigen. Beim Nachdenken darüber eröffneten sich hier viele Tiefen und Untiefen, mir wurde auch deutlich, dass es sich dabei um ein Problem handelt, das sich spiegelbildlich zu den Schwierigkeiten des Aufstiegs von Frauen in männlich geprägten Organisationen stellt.

Erst bei der Befassung mit meiner eigenen Firma und der Frage, wie denn Männer in ein über lange Zeit ausschließlich von der weiblichen Arbeitskultur geprägtes Unternehmen zu integrieren sind, fiel mir die Parallele zwischen dem Thema Frauen/Männer in der Berufswelt und dem Thema Mädchen/Jungen in der Schule auf: Jungen bekommen im heutigen Schulsystem nicht das, was sie brauchen, um voranzukommen, und Frauen nicht in der Arbeitswelt. Wenn ein Geschlecht erfolgreicher ist, ist das andere nicht etwa inkompetent, unbegabt oder ungeeignet, sondern es trifft auf Strukturen, die seinem Wachsen und Gedeihen, seiner Entfaltung nicht förderlich sind. Das gilt für Jungen in den heutigen Schulen ebenso wie für Frauen in der heutigen Wirtschaft. Großflächiger Misserfolg von Gruppen, seien es Frauen oder Männer, Nationalitäten oder Religionen hat primär mit falschen Strukturen und weniger mit Versagen, mit mangelnder Kompetenz einzelner zu tun. Talente und Begabungen sind immer breit über die Gesamtbevölkerung verteilt, Dummheit oder Antriebslosigkeit vererben sich, wenn überhaupt, dann sozial. Über Erfolg oder Scheitern entscheiden nicht nur (aber auch) konkrete Bedingungen: Einkommen, Kindergärten, Ganztagsschulen, gute Betreuung pflegebedürftiger Menschen; entscheidend aber ist, ob es gelingt, mit Angeboten, Anforderungen und Anreizen Motivationen zu mobilisieren: Diese müssen die inneren Orientierungen und Werten derer ansprechen, die sie erreichen wollen – und daran, so meine Kernthese, mangelt es. Der umgekehrte Versuch, grundlegende Motivationen an Strukturen anzupassen, endet hingegen häufig im Misserfolg.

Eine solche These mag noch zu wenig differenziert sein, sie lässt auch etliches, was ihr zu widersprechen scheint, erst einmal außen vor. Aber sie hat mir geholfen, das Scheitern vieler gut gemeinter Versuche, Frauen für die Führungsspitzen von Unternehmen zu gewinnen, zu erklären und, hoffentlich, Anstöße für erfolgreichere Strategien zu entwickeln. Denn das ist mein Ziel: Wir haben die reale Gleichstellung auf allen Ebenen noch lange nicht erreicht, wir könnten sie aber deutlich beflügeln, wenn wir das, was die Menschen antreibt, reizt und motiviert, was ihnen Freude macht und sie anspornt, wirklich ernst nehmen. Die Schaffung des neuen Menschen von oben oder von außen kann nicht Ausgangspunkt von Politik sein. Veränderungsmut ist gefordert, auf der Basis des Respekts vor dem, was die Menschen mitbringen, als Frauen oder Männer; neue Horizonte erschließen, indem neue Erfahrungen miteinander gemacht werden können, an denen beide Geschlechter – oftmals – mehr Gefallen finden als am Alten.

Damit komme ich zurück zu einigen heftigen Debatten der 1 960 er-, 1 970 er- und der frühen 1 980 er-Jahre, die viele der heutigen jüngeren Leserinnen und Leser gar nicht mehr kennen. Ich habe 1 985 mit meinem Buch Frauenzimmer – für eine Politik des Unterschieds und 1 987 mit dem Müttermanifest der Partei der Grünen intensiv zu dieser Diskussion beigetragen und fand mich mit meiner Position zwischen allen Fronten wieder. Alice Schwarzer hatte sich 1 975 unendlich verdient gemacht mit ihrem Buch Der kleine Unterschied , in dem sie die Gebärfähigkeit der Frau zum einzig tatsächlichen Unterschied zwischen Frauen und Männern erklärte. Das Buch trug dazu bei, Frauen endlich alle grundlegenden Kompetenzen zu attestieren, über die auch Männer verfügen. Doch mit meinem Müttermanifest , das in heftigen Kontroversen mit vielen »grünen« Frauen entstand, tat sich unter den Frauen ein tiefer Graben auf, der unüberbrückbar erschien. Meine Aussage, dass Mutterschaft nicht nur Last, sondern auch Lust bedeutet, meine Kritik an der Arbeitswelt und den Karrierepfaden vieler Frauen (»Die Karrierefrauen in ihrem Aquarium«) wurde als »rückwärtsgewandt« und »biologistisch« verdammt, weil ich damals schon über Forschungen berichtet hatte, die das unterschiedliche Kommunikationsverhalten von Frauen und Männern nicht als ewig sich wiederholendes chauvinistisches Ritual, sondern als neurobiologische verankerte Differenz sahen. Inzwischen wissen wir viel mehr über solche neurobiologischen oder biochemischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Sie besagen allerdings keineswegs, dass Frauen oder Männer bestimmte Tätigkeiten jenseits von Schwangerschaft und Geburt nicht ausüben können, sondern nur, dass sie vieles mit unterschiedlichen inneren Strategien tun.

Heute klingen diese Debatten wie ein Echo aus einer fernen Zeit, die Heftigkeit, mit der sie damals ausgetragen wurden, erscheint kaum mehr verständlich; vieles, wenn auch nicht alles, ist in allgemeinen Konsens übergegangen. Nicht wenige Frauen aus meiner Generation halten das für »gegessen«, für »alte Kamellen«, über die doch längst alles gesagt sei. Und junge Menschen, mit denen ich über dieses Buch diskutiert habe, meinen, meine Sichtweise auf die beiden Geschlechter bei diesem Thema sei höchst altmodisch und gefährlich: Junge Männer von heute seien viel kommunikativer als früher, Mädchen viel rücksichtsloser und härter, wir befänden uns mitten in einer großen Verschiebung mit offenem Ausgang, die keinerlei Festschreibungen erlaube. Wir sollten im Gegenteil alles tun, um die Erprobung neuer Muster und Stile, Cross-over-Verhaltensweisen zu unterstützen. Frauenfußball! Männer im Ballett! Frauen als Feuerwehrfrauen! Männer als Geburtshelfer!

All das gefällt auch mir, macht mir Mut, all das sollten wir unterstützen. Die Grenzen zwischen den Geschlechtern liegen ganz sicher auf keinen Fall darin, dass eine Frau oder ein Mann bestimmte Dinge nicht tun sollte oder tun könnte – Auto fahren in Saudi-Arabien oder Panzer steuern in Deutschland. Die Grenzen liegen nicht in der erforderlichen Kompetenz. Wie stark Frauen noch werden und wann Männer vorwiegend Röcke tragen, ist ungewiss – und ich setze keine normativen Grenzen. Im Gegenteil: Das Austesten und Überwinden von Grenzen ist Teil unserer Zukunft, Spaß an neuen Identitäten ebenfalls. Für viele.

Und trotzdem gilt: Wir haben ein mächtiges kulturelles und neurobiologisches Erbe in uns, das weiterhin unterschiedliche Geschlechterdispositionen erzeugt. Die Unterschiede in Motivationen und Antrieben, in Kommunikationsstilen und Interessen sind groß und in vieler Hinsicht stabil, wenn nicht sogar wachsend. Meine sechs Enkelkinder sind individuell sehr verschieden, die Jungen teilweise sanfter als die Mädchen, aber die Jungen-Mädchen-Differenzen sind dennoch geradezu überwältigend. Ich habe, all meinem Wissen zum Trotz, nicht damit gerechnet, wie heftig sich dies heute auch in so fortschrittlichen jungen Familien mit äußerst aktiven und fürsorglichen Vätern noch immer Bahn bricht. Von Anfang an.

Wie also können wir als von unserem jeweiligen Geschlecht stark bestimmte Individuen mit unseren spezifischen inneren Dispositionen so zusammenarbeiten, dass es uns Spaß macht und dass es erfolgreich ist? Dass es wirklich gelingt, und zwar auf Augenhöhe? Ganz unten und ganz oben! Und nicht nur für eng begrenzte Minderheiten, die kulturell dem anderen Geschlecht am nächsten sind?

Die feministische Wissenschaft hat Unschätzbares geleistet zu den Themen, wie Frauen und Männer sich zueinander verhalten, wie Gewalt aussieht, wie sich Diskriminierung anfühlt und wie sich Körpersprache auswirkt. Sie wurde zur unsichtbaren Stiefschwester der Versuche, frauenpolitische Strategien für Unternehmen, Verwaltungen und Politik zu entwickeln, geronnen in den Katalogen zum »Gender-Mainstreaming«, die so richtig sind, wie sie letztlich folgenlos bleiben. Die meisten dieser Konzepte und Rezepte basieren aber auf zwei problematischen Annahmen: der Opferrolle von Frauen und dem Wunsch, Frauen wie Männer umzuerziehen.

Dieser Text geht nicht in Gegenposition zu all dem, was entwickelt wurde. Vieles, was ich hier ausbreite, mag anderswo genauer und klüger geschrieben oder gesagt worden sein. Aber mein Ansatz ist dennoch grundsätzlich anders: Ich gehe davon aus, dass neues Denken und Handeln Freude machen, dass es anziehend sein, persönlichen Gewinn versprechen muss – jedenfalls mehr als Verlust. Schon im Müttermanifest hieß es, dass Männer erst dann in die Familien einziehen werden, wenn die familiären Aufgaben nicht nur als schreckliche Pflichten weitergereicht werden, sondern wenn der Gewinn an persönlichem Wachstum, Kompetenz und auch an Macht ins Zentrum rückt. Wenn also, schlicht gesagt, Kochen, Kinderbetreuung und in Ansätzen selbst die Hausarbeit »hip« werden. Wir sind dabei noch nicht weit gekommen, aber wer vor dreißig Jahren Kinder hatte, kann den Unterschied zu heute gar nicht leugnen. Ja, Väter machen noch immer freiwillig Überstunden und flüchten vor dem Abwasch. Aber nur extrem bornierte Menschen können die drastische Umwertung und die damit einhergehende Änderung des Verhaltens noch bestreiten. Ist die partnerschaftliche Beziehung dadurch glücklicher? Nicht immer. Ist sie unterm Strich produktiver und zukunftsfähiger? Eher ja, wenn auch – heute noch – anstrengender. Die Anstrengung kann sich aber legen, mit wachsender Erfahrung. Das gilt auch für Unternehmen und Politik.

Anreize also und Belohnung, Spaß am Experiment und der Veränderung und am klaren Nutzen, der daraus für die Zukunft zu ziehen ist – das ist der Kern meiner Vorschläge. Muss Veränderung immer wehtun? Vielleicht manchmal – vor allem aber muss sie Befriedigung verleihen, ähnlich einer anstrengenden Bergtour! Braucht es dazu Quoten? Wahrscheinlich. Aber besser wären andere Hebel. Und ganz sicher können Quoten nicht allein die nötige Tiefe und Nachhaltigkeit der Veränderung herstellen.

Damit kommen wir zum letzten und unerwarteten Aspekt, der dieses Buch auf der Zielgeraden ganz unverhofft mitgeprägt hat: Mein ebenso plötzlicher wie später Einstieg in die Welt der Politik, als »Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung«, in die grün-rote Landesregierung von Baden-Württemberg. Die Bitte des angehenden Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, dieses Amt zu übernehmen, ereilte mich am 9 . Mai 2011 , meinem 65 . Geburtstag. Nach intensiver Rücksprache mit meinem Mann stimmte ich zu, wohl wissend, dass dies unser Leben noch einmal heftig durchschütteln würde. Viele Frauen sagen mir seitdem, dass ihnen allein die Tatsache, dass in meinem Alter ein solcher Einstieg für eine Frau in die Politik noch möglich ist, Hoffnung für ihr eigenes Leben macht. Es stimmt: Ich bin in diesem Amt auch Ausdruck dafür, dass nicht nur Frauen und die Politik sich ändern, sondern auch, dass unsere Generation anders altern möchte als bisher, mit spannenden Aufgaben. Dabei kann es auch bisweilen mit weniger Geld gehen – mein Amt als Staatsrätin ist kein voll bezahltes Ministeramt, sondern ein Ehrenamt mit Aufwandsentschädigung, dafür aber mit allen Stimmrechten einer Ministerin.

Mit der plötzlichen Übernahme dieser neuen Aufgabe fürchtete ich zunächst, nun würde ich mich weit vom Thema dieses Buches entfernen, könnte es vielleicht gar nicht fertigstellen oder womöglich täte sich ein politischer Widerspruch zu meinem Amt auf, schließlich ist dieser Text mit niemandem aus den Gremien abgestimmt. Er steht auch nicht für eine Partei oder gar die grün-rote Regierung. Allerdings liefert auch Baden-Württemberg für seine Problemstellung manches »Material«: Die Beteiligung von Frauen an der Politik, die nur 18 Prozent der Abgeordneten – und damit weniger als in der letzten Legislaturperiode – stellen, ist äußerst gering und signalisiert ein grundsätzliches Defizit an Bürgerinnenbeteiligung im Land, zumindest auf der Ebene der repräsentativen Demokratie.

Kein Zufall, kann ich als Autorin dieses Buches sagen: Gerade auch die Politik sowie viele bisherige Formen der Bürgerbeteiligung, »runden Tische« und Expertenkommissionen sind zutiefst geprägt von den Barrieren, die eine Kooperation der Geschlechter auf Augenhöhe verhindern; nicht nur die Zeitbudgets, die Fragestellungen, Diskussionsstile, Sitzordnungen und auch die zuweilen etwas bauerntheatermäßig anmutende Debattenführung im Landtag sind wenig geeignet, Frauen anzusprechen und dazu einzuladen. Sicher, sicher, es geht um objektive Anforderungen und Aufgaben, aber eben auch um die innere Zugehörigkeit. Vieles, was geschlechtsneutral scheint, ist, ganz ungewollt und unschuldig, Männern oder – wenn auch viel seltener – Frauen »auf den Leib geschneidert« und grenzt das jeweils andere Geschlecht aus.

Und doch befinde ich mich – mit einem Bein in Stuttgart, wo ich etwa vier Tage meinem neuen Amt widme, und einem Bein in Berlin, wo ich dieses Buch fertigstelle und noch in meiner Firma beratend tätig bin – mit beiden Beinen, theoretisch wie praktisch, mitten in meinem Herzensthema: dem lösungsorientierten Umgang mit Konflikten, der aktiven Einbindung von Menschen, die sich zu wenig Gehör verschaffen können: Frauen, jungen Leuten, Senioren, den verzweigten kritischen Online-Communitys. Es gilt, sinnvolle und frühzeitige transparente Verfahren für die Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern durch die Verwaltungen zu entwickeln, ob es nun um die bessere Versorgung von alternden Migrantinnen und Migranten geht, um neue Kriterien für die Verleihung von Ehrennadeln oder um die Einbeziehung von Bäuerinnen in die Planung neuer Windräderparks, sodass sie auch wirtschaftlich an der Windernte beteiligt sind.

Ein dicht besiedeltes Land, das sich in einer »neuen Gründerzeit« befindet, braucht viele Diskussionen, wenn es um neue große Infrastrukturprojekte geht, und es muss dennoch in vernünftigen Zeiträumen zu Entscheidungen finden können. Ich gehe davon aus, dass die frühzeitige Einbeziehung der Menschen die Entscheidungen letztlich beschleunigt und die Beteiligten gleichzeitig klüger macht.

Zwischen meinem Ansatz in der Geschlechterfrage und der heutigen Politik gibt es eine unsichtbare Klammer: die sogenannte ökolibertäre Position bei den Grünen. Diese wurde vor über 25 Jahren in einem sehr kleinen Diskussionszirkel entwickelt, dem neben anderen auch Winfried Kretschmann, Wolf-Dieter Hasenclever, die heutige Europaabgeordnete Helga Trüpel, der spätere Chefredakteur der Welt, Thomas Schmid, mein früherer Lebenspartner Joachim Bergmann und ich selbst angehörten. Dieser Zirkel formulierte als erste Gruppierung innerhalb der Grünen, dass die Ökologisierung der Wirtschaft nicht primär mit Verboten durchsetzbar sein würde, sondern eines klaren Ordnungsrahmens und kluger marktwirtschaftlicher Anreize bedürfe. Es war eine Position, die damals absolut nicht mehrheitsfähig war. Winfried Kretschmann hat sie innerhalb der Partei konsequent weiterverfolgt und letztlich zu seinem Markenzeichen gemacht.

Hier trifft sich die Frage erfolgreicher nachhaltiger Wirtschaftspolitik, die den Ehrgeiz der Tüftler, Ingenieure und Unternehmer herausfordert, mit meinem Ansatz in der Geschlechterpolitik. Auch ich bin überzeugt, dass Wirtschaft und Verwaltung letztlich selbst erkennen werden, wie stark sie von einer echten Beteiligung von Frauen in den Top-Entscheidungsgremien langfristig profitieren werden. Der Anfang mag gesetzliche Hilfestellungen benötigen, ähnlich wie die Schulpflicht in Preußen gegen den Widerstand der Unternehmer und Großgrundbesitzer durchgesetzt werden musste, während heute alle Firmen wissen, wie entscheidend gut gebildete Arbeitskräfte für sie sind.

Auch wenn ich diesem Buch gern noch mehr Zeit gewidmet hätte, um hier und da zu glätten, Recherchen noch zu vertiefen, einige Zusammenhänge noch deutlicher zu machen – so glaube ich doch, dass seine Kernaussagen deutlich werden. Vieles wird hier nur gestreift und zusammengetragen, die Fachleute einzelner Disziplinen werden manches davon kritisch kommentieren. Aber ich habe keinen fachwissenschaftlichen Beitrag geschrieben, sondern wollte zur Debatte um Integration, um Einbeziehung – hier am Beispiel von Jungen in der Schule, von Frauen in berufliche Spitzenpositionen – beitragen. Im modernen Personalmanagement spricht man von »Diversity«-Strategien. Zwar hat die Debatte um Integration von Migrantinnen und Migranten mit diesem Thema manches gemeinsam, ist aber nicht deckungsgleich mit ihm. Der Geschlechterunterschied ist weiterhin eine grundlegende Unterscheidungslinie in allen Kulturen – und kommt in fast allen Konzepten und Strategien zur Integration, Diversity und Inklusion nicht vor oder sie zielen auf Umerziehung: Frauen sollen, um Karriere zu machen, ihr Verhaltens- und Darstellungsrepertoire männlich »aufrüsten«, Jungen in der Schule sollen »abrüsten«.

Eine pädagogische Zielsetzung auf eine völlige Angleichung der Geschlechter, mag sie den einen wünschenswert, den anderen erschreckend scheinen, ist jedoch weder in Sicht, noch ist sie wünschenswert, noch wird sie von Erfolg gekrönt sein. Nirgendwo. Nutzen wir doch also eher kreativ die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, Männern und Frauen und spielen wir mit den Überschneidungen und Grenzverwischungen, die es bereits gibt. Und erschließen uns ihre unterschiedlichen inneren Antriebe und Motivationen als bisher ungenutzte Energiequellen für Wirtschaft und Gesellschaft.

Die Parallele des Themas der Geschlechter zur Energiewende gibt mir Hoffnung. Manchmal gehen Veränderungen, die sich lange angekündigt haben, viel schneller als erwartet. So verkündet in diesen Tagen Japan seinen Ausstieg aus der Atomenergie – ein Land, das so fest auf Atomenergie gegründet war, dass trotz der Katastrophe von Fukushima eine rasche Umorientierung unvorstellbar schien. Das Land würde sicher auch großen Nutzen daraus ziehen, seine Frauen endlich stärker in die Führungsetagen einzubinden, sie sind dort ähnlich ausgeschlossen wie in Deutschland, nicht zuletzt, weil Japan einst die bismarcksche Sozialgesetzgebung mit dem männlichen Einverdiener als Modell für seine Entwicklung übernommen hatte. Alles hängt eben mit allem zusammen in unserer globalen Welt.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen.

Berlin, im November 2011