ZUM GELEIT.

Von

Walter Heynen.

Am 60. Geburtstag Gerhart Hauptmanns wird die vierte Sammlung seiner Dichtungen vorliegen : die älteren sechsbändigen Ausgaben und die jüngst herausgekommene achtbändige soll eine monumentale in zwölf Bänden abschließen. Daß gerade eine zwölfbändige es ist, in der auch mehreres Unbekannte enthalten sein wird — Gedichte, Aphorismen, in sich gerundete Fragmente —, muß die Erinnerung wachrufen an eine andere, gleichstarke Sammlung von Dichtungen, die Goethe der Sechzigjährige hatte erscheinen lassen, kurz bevor er die gleiche Lebensschwelle überschritt.

Man weiß, daß erneute Beschäftigung mit seinen Arbeiten und die Schwierigkeit der Einordnung des einzelnen Werkes in die Ganzheit seines Schaffens ihn zu dem endgültigen Entschluß gebracht hatte, mit der künstlerischen Ausformung seiner Lebenswanderschaften eine Warte zu errichten, von der aus erst es völlig möglich sein würde, der Ausstrahlungen seiner gewaltigen Persönlichkeit nicht mehr erahnend bloß inne zu werden und so sich die richtige Blickeinstellung auf das Gesamtwerk zu verschaffen.

Auch die Art ist hinlänglich bekannt, wie Goethe durch den angeblichen Brief eines Freundes sein „immer bedenkliches Unternehmen" rechtfertigen zu müssen meinte.

Gerhart Hauptmann hat, von der Einmaligkeit jeder bedeutsamen Lebenskonstellation gewiß mit Recht überzeugt, bei der Einbringung so großer und wichtiger Teile seiner dichterischen Lebensernte in neue Scheuern anscheinend keinerlei Nutzanwendung daraus gezogen: jedenfalls sieht es nicht so aus, als ob sich eine Bandfolge, die nun lediglich seinem Leben gelte, an die gesammelten Dichtungen anschließen werde.

Und doch brauchte man sich, ihre Notwendigkeit zu erhärten, nicht einmal die zielsicheren Gründe jenes fiktiven Briefschreibers zuzueignen, von denen Goethe sich so leicht bestimmen ließ,längst selber warm gehegtenPlänen die Ausführung zu schenken. Denn noch leben die schlicht ergreifenden Worte unverklungen, mit denen Gerhart Hauptmann bei der denkwürdigen Begrüßungsfeier in Breslau ausführte, wie der Weg von den Steinen des „Ringes" in den Remter des Rathauses, an sich nicht weit, doch von ihm nicht im Sprunge zurückgelegt worden sei, wie er vielmehr ein halb Jahrhundert nicht leichten Ringens von Stufe zu Stufe gebraucht und dabei nicht einmal die Staupsäule vor dem Rathause ganz habe umgehen können.

Heißt das nicht ebenfalls, daß es an der Zeit sein dürfte, zu Leben und Zukunft auf die Vergangenheit zu blicken, diesem oder jenem Werke seine Besinnlichkeit zu leihen, an einer oder der anderen entscheidenden Lebensserpentine auch nachträglich noch zu forschen, ob der Weg in anderer, gar entgegengesetzter Richtung sich in Nebel verloren oder in noch wetterklarere Höhen geführt haben würde?

Wer ebenso interpretiert, wird dem vorliegenden Büchlein seine Daseinsberechtigung nicht abstreiten mögen. Es durfte aber nicht bloß jenem kommenden, weil nicht wegzudenkenden Werke Hauptmanns Ankündigung und Begründung sein wollen und damit gleichsam die Stelle vertreten, die

in Goethes Vorrede der Freundesbrief einnimmt; es mußte auch -— und war in unseren zeitgebundenen Tagen strengste Notwendigkeit — zugleich einen Teil der Vorarbeiten übernehmen, die Goethe aus solchem Beginnen klar herausspringen sah, und die sich für jedes ähnliche naturgemäß wiederholen müssen.

So entstand der Gedanke, zunächst engere Freunde — nicht zufällig meist Dichter und Künstler — zur Niederschrift ihrer Eindrücke zu bewegen, Berichte anzulegen über Gespräche und Begegnungen, die mit helleren Augen gesehen, mit vertrauteren Ohren gehört, voll tragenderer Ahnung erlebt waren,

Aber gerade deshalb hat sich vorerst nicht jeder, der hier hätte zu Wort kommen sollen, dazu entschließen mögen; in anderen Fällen hinderte Krankheit und in einem — wer sonst als Walther Rathenau, der langjährige vertraute Freund des Dichters sollte gemeint sein — Tod die Erfüllung gern gegebenen Versprechens. Daher rundet sich das Bild leider nicht in der beabsichtigten Weise, aber es darum zurückzuhalten, schien weder geboten noch angebracht.

Schon die Anfänge der Verwirklichung des Vorhabens wiesen so grell auf die Schwierigkeiten, freilich auch Notwendigkeiten des Unterfangens, daß ein intimer Kenner Hauptmannschen Lebens und Schaffens, Moritz Heimann, mir besorgt schrieb: „Ich fürchte, wenn es mit aller Geschichte so steht wie mit der Hauptmanns, wir schleppen uns mit einem Sack voll Irrtum." Aber mußte das nicht erst recht locken, gegen die unersättlich nagende Flut der Vergänglichkeit wenn auch den niedrigsten Damm aufzuwerfen?

Und dann: auch aus den hier vereinten Berichten springt jener Funke noch auf den heutigen Leser über, der einst

den Erlebenden in manchmal wie heiligem Schauer durchzuckte; wallt jenes Gefühl auf, das Rahel nach einem unvermuteten Besuch Goethes als Ritterschlag empfunden hatte, ihr für ewig erteilt; tönt endlich symphonisch ein herzlicher Festgruß für den verehrten Dichter.

DER BRESLAUER KUNSTSCHÜLER

Erinnerungen an die Jahre 1880 — 82

von Professor Max Fleischer.

Lange habe ich gezögert, mit meinen Erinnerungen aus der Kunststudienzeit meines Jugendfreundes Gerhart Hauptmann an die Öffentlichkeit zu treten; denn einerseits ist es keine leichte Aufgabe, weit über 40 Jahre alte Erlebnisse so aufzufrischen, daß sie für die Mitwelt interessant und lebenswahr genug erscheinen, andererseits hielt mich ein gewisses Pietätgefühl davon ab, diese in Vergessenheit versunkenen Zeiten wieder an das Tageslicht zu zerren, um so mehr, da sie eng mit vielen schmerzlichen Erinnerungen an meine teure Mutter verbunden sind.

Um dem Milieu, in dem wir lebten, und den sachlichen Umständen gerecht zu werden, muß ich vorausschicken, daß unsere damaligen Jünglingsjahre hart waren, weil sie im Zeichen der Dürftigkeit standen. Aber so hinderlich es uns damals erschien, so viel hat es zur Stählung des Charakters beigetragen. Hauptmann war ebenso wie ich nicht im Überfluß aufgewachsen. Ich hatte kurz vorher meinen Vater verloren und besuchte seit einem Jahre die Breslauer Kunstschule. Da trat im Herbst 1880 ein schmächtiger, blondgelockter Jüngling in die Kunstschule ein, mit der Absicht, sich

als Bildhauer auszubilden. Es war kein anderer als Gerhart Hauptmann. Langes blondes Haar und ein kühner, breitrandiger Künstlerhut darauf, das genügte, um die Spottlust und abfällige Bemerkungen der anderen Kollegen auszulösen. Dagegen erregte er sofort mein besonderes Interesse, aber erst ein paar Monate später kamen wir uns menschlich näher. Er vertraute mir seine augenblickliche bedrängte finanzielle Lage an, infolge deren er seine damalige kostspielige „Bude" in der Seminargasse nächst der Kunstschule nicht mehr halten könnte. Auch das Mittagessen hatte er sich, wie er meinte, „total abgewöhnt". Der sogenannte Wechsel langte nicht, aber &ar nicht, um schon entstandene Schulden zu decken. Sofort bot ich ihm eine Unterkunft in unserem schon bescheidenen Hause an. Wir, d. h. meine Mutter, mein jüngerer Bruder und ich, bewohnten damals eine kleine Mietswohnung gegenüber dem Lobetheater. War es die Nähe des Musentempels — denn Hauptmann hatte auch in jener Zeit schon einen mächtigen Trieb für das Drama — oder gegenseitige Sympathie, jedenfalls fühlte sich mein Schützling, den ich bei uns in einem bescheidenen Zimmerchen gegen mäßiges Entgelt hatte unterbringen können, sehr wohl. Nicht ohne Grund sagte ich „Schützling", denn als der anderthalb Jahr Ältere fühlte ich mich berufen, ihm, wo ich nur konnte, zu raten und zu helfen. Auch meine Mutter, eine ziemlich strenge und skeptische Natur, fand an dem blonden, idealen Jüngling Gefallen und bemühte sich um sein leibliches Wohl, soweit es seine und unsere kärglichen Mittel erlaubten. So konnte er die Folgen seiner Unterernährung allmählich überwinden.

Für mich begann nun eine der anregendsten Zeiten des Gedankenaustausches mit dem von hohen Idealen erfüllten Kunstjünger. Hauptmann war eine sehr zurückgezogene nach dem Höchsten strebende Natur, und es stellte sich

bald heraus, daß auch er keine Befriedigung in dem Umgang mit fast allen seinen Studiengenossen finden konnte, so daß er sich immer mehr auf sein Zuhause zurückzog und in den Mußestunden mit seinen literarischen Arbeiten beschäftigte, während mein Steckenpferd das naturwissenschaftliche Gebiet, besonders die Botanik, war. Aus diesen vielseitigen Interessen ergab sich für uns gegenseitige Anregung und reichlich Stoff zu den weitest führenden Erörterungen. Oftmals disputierten wir ganze Abende bis in die Nacht hinein über allgemein wissenschaftliche, philoso phische, literarische, künstlerische Ansichten und Streitfragen, überhaupt über alles, was über unserem weitgesteckten Interessenkreis lag.

Durch den täglichen Umgang und im Kampf mit den geistigen Waffen wandelte sich die Sympathie in Freundschaft um. Ich betrachtete es als ein besonderes Vertrauen, daß er mir oft Abende lang mit pathetischen Gesten seine vor oder in dieser Zeit entstandenen, mehr oder minder romantischen Dramen und Gedichte auf dem Bettrand sitzend, denn ein Sofa hatte man nicht, vortrug, wobei wir uns nicht selten in die Haare über das eine oder andere gerieten. Es war die anregendste Zeit, und unser angehender Dichter war, glaube ich, weit mehr mit der Seele bei seiner Nebenbeschäftigung als bei dem Tonkneten. — Jedenfalls konnten die Anfangsgründe dieser Kunst bei einem braven, aber künstlerisch sterilen Ornamentlehrmeister nicht ermutigend wirken und endeten dann auch bald mit einem Krach, der nach einer zeitweiligen Verweisung aus dem Institut Hauptmann in die Hände des in seiner Art genialen Prof. Härtel gab, welcher dazumal die figürliche Bildhauerklasse leitete. Er war gegenüber seinen Schülern nicht nur der Professor, sondern auch ein väterlicher Berater und deshalb allgemein beliebt als Lehrer. Überhaupt waren die dama-

ligen Lehrkräfte unserer Kunstschule mehr oder minder Originale, von denen jeder in seiner Weise einen nachhaltigen Einfluß auf seine Schüler auszuüben verstand. Obenan Prof. Bräuer (der Hauptmannsche „Michael Kramer" mit seinem genial verbummelten Sohn), ein Mann mit einem eisernen Willen, der uns stundenlange, eindringliche Vorträge über allgemein menschliche, philosophische und künstlerische Dinge zu Gehör gab und der es verstand, seine außerordentliche Energie auf viele seiner Schüler zu übertragen. Weiter der Leiter der Malschule, Prof. Marshall (der „Kollege Crampton" Hauptmanns), eine künstlerisch geniale, aber willensschwache Natur. Ihn fand ich nach zwei Jahren, gelegentlich einer Rückkehr von München, bei seinem früheren Packträger einlogiert vor, auf einer „Ritsche" sitzend vor einem alten Stuhl, den er als Staffelei benutzen mußte für seine zu bemalenden Zigarrenbrettchen, denn Leinwand war für ihn ein unerschwinglicher Luxus geworden. Beide hat ja Hauptmann später in meisterhafter Weise mit allen ihren menschlichen Schwächen und Vorzügen der Nachwelt übermittelt. Man ersieht daraus zur Genüge, welchen tiefgehenden Einfluß diese Zeit auf Hauptmanns späteres Schaffen gehabt hat. Das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, besonders in der Bildhauer- und Malklasse, war mehr ein kameradschaftliches und artete zuweilen, anstatt uns im Abend-Akt schwitzen zu lassen, in gemeinschaftliche Kneipereien von Lehrer und Schüler im nächsten Bierlokal aus. Um unsere platten Börsen aufzufüllen, wurden die verschiedenartigsten Pläne geschmiedet. Gemeinschaftlich glaubten wir uns zunächst der Literatur bemächtigen zu können. Umsomehr schmerzte uns damals unser gemeinschaftliches Fiasko beim Verlag der Fliegenden Blätter, die uns ein Gedicht Hauptmanns und meine dazu verfertigte Illustration umgehend zurücksendeten. Im Winter 1830 81

gesellte sich zu uns ein Dritter im Bunde, auch ein blondgelockter Maljünger der Anstalt, der Einzige aus dem Anfang der Sturm-und Drangperiode, den wirunsres Umgangs für würdig hielten. Es war Hugo Schmidt, ebenfalls vaterlos und nicht auf Rosen gebettet, Schmeo genannt, der auch im Michael Kramer als einer der Hauptfiguren verewigt ist, und mit dem Hauptmann und ich bis an sein leider zu frühes Lebensende Anfang 1900, in treuer Freundschaft verbunden blieben. In München, wo auch wir uns das Mittagessen abgewöhnen mußten, und Rom studierten wir noch zusammen

In diese Breslauer Zeit fiel das erste wache Stadium des Sozialismus in Deutschland. Noch unbewußte Anhänger der neuen demokratischen Ideen, wurde von uns Zeitkritik aus dem Stegreif, wie man so sagt „nach der Klafter", geübt. Die endlosen Dispute über all das Neue, Weltbewegende, was halb unbewußt in uns gärte, kann man sich vorstellen, übrigens war Hauptmann in dieser Zeit ein eifriger Leser und Anhänger von Wilhelm Jordan und Felix Dahn und hatte sich ganz in das alte Germanentum eingesponnen. Sein Herz gehörte daher mehr noch dem Wotan und Tor als Marx und Engels.

Unterdessen gingen die Sorgen des täglichen Lebens ihren Gang, man drückte sich durch, so gut und schlecht es eben mit mageren Stipendien und etwas Beiverdiensten gehen wollte. Meine brave Mutter hatte oftmals sorgenvolle Tage, um unserem leiblichen Wohl gerecht zu werden. Sie nahm keinen Anstand, um uns gehörig die Meinung zu geigen, wenn etwas nicht nach ihrem Sinne war. Dabei griff sie auch, wo sie es nötig fand, sehr energisch mit wohlgemeinten Ratschlägen in erzieherischer Weise ein und stellte an ihre nächste Umgebung immer die größten Anforderungen. Noch bis heute erinnert sich Hauptmann ihrer in dankbarer Weise und Verehrung als einer zweiten Mutter, die ihn nach seinem

Ausspruch ein regelmäßiges Leben verschaffte und lieb machte und ihm dadurch damalsvomUntergang gerettet hätte. Mein Studium in Breslau war im Sommer 1881 beendet, und ich bezog im Herbst für kurze Zeit die Berliner Akademie- Um so mehr nahm nun Hauptmann im mütterlichen Heim meine Stelle ein, bis er sich verlobte und von der Bildhauerlaufbahn Abschied nahm, um sich in Jena dem Literaturstudium zu widmen. Unsere Wege trennten sich, er landete glücklich bei den „Jungfern vom Bischofsberg", ich ging in die Boheme.

Wir sahen uns nach der Zeit des täglichen Zusammenseins nunmehr nur selten wieder. Aber ein Zusammentreffen in Berlin ist mir noch besonders in Erinnerung geblieben. Freund Hauptmann kam vor seiner Hochzeitsreise mit wohlgefüllter Börse nach Berlin, und wir feierten den Tag in mir ungewohnten Genüssen. Ziemlich voll des Weines und aller möglichen Ideale, zogen wir in der Nacht in den Tiergarten vor das damals neue Goethedenkmal vonSchaper und liessen, streitlustig wie wir immer waren, unseren Gefühlen von Für und Wider freien Lauf, bis uns ein Wächter der nächtlichen Ordnung zu der Erkenntnis brachte, daß wir nicht allein auf der Welt seien.

Seitdem sind wir nur, aber immer in der alten, getreuen Freundschaft, zusammengetroffen, wenn von meinem Triebe in die Ferne der Zufall mich wieder einmal aus fremden Landen oder Erdteilen in die Nähe der deutschen Heimat brachte. Ich wüßte für diese knappen Erinnerungen keinen besseren Abschluß als die Worte Hauptmanns, die er auf meine Benachrichtigung an mich nach Holland richtete; „Was Du, lieber Freund, von unserer Breslauer Zeit weißt, sollst du ruhig nach Herzenslust mitteilen. Es ist ja einigermaßen lustig, unsere gemeinsame Jugend, unseren gemeinsamen Sturm und Drang der Vergessenheit zu entreißen."

DER NOTHELFER.

Eine Jugenderinnerung

von

Meo.

Ich zweifle, ob Jena sobald wieder zwei so ausgefallene Musensöhne beherbergt hat, als damals im beginnenden Wintersemester des Jahres 1882: den Musiker und Pianisten, den körperliches Hemmnis genötigt hatte, von seiner Kunst einstweilen Abschied zu nehmen, und der nun während dieser aufgezwungenen Muße, unter inneren Lasten seufzend, in den Gefilden der Wissenschaft spazieren ging; und den jungen Bildhauer, der eben dabei war, sich zum Dichter umzumausern, der wie er im Drange nach eigener Durchformung zum Meißel gegriffen, jetzt aus demselben Bedürfnis nach Entwirrung sich, wenn auch vorsichtig und probeweise, der Zucht des Begriffes unterwarf, während doch bereits das tiefere Verlangen, vorfühlende Schau am Wirrsal des Lebens zu bewähren, mit jedem Tage mehr Macht über ihn gewann- Zwei Müßiggänger des Geistes unter so vielen werkelnden und schuftenden Geistesarbeitern. Die nicht daran dachten, in diesen nur zu dürftigen Bezirken Heimatrechte zu erwerben. Vornehme Fremde aus einem weit entlegenen fabelhaften Reich; Abenteurer der Seele, die das Meer an diesen unwirtlichen Strand gespien; heimsuchende nach ihrem verlorenen Paradies.

Die Luft Jenas schlitterte damals vom Getöse der philosophischen Glaubenskämpfe:

Ein harmonieseliger, begeistert ins allgemeine verschwebender Idealismus, von Eucken mit Schwung vorgetragen, führte die weisheitsbeflissenen Gemüter zu höheren Verzückungen; alle Meister der Vorzeit meinten im Grunde dasselbe, alle hatten sie recht. Dicht daneben hielt Otto Liebmanns nüchterne Erkenntniskritik und säuberliche Kategorienklitterei gegen solche Höhenräusche und Wonnebrünste ihre kalten Duschen bereit; ein Mann, der eine untrügliche Wage in der Hand hält, abwägt — und verwirft, selten bestätigt.

Beide aber verankerten die Welt im Bewußtsein, im Geist und dessen Gesetzen. Gegen beide stellte sich, breitbeinig und zuversichtlich, ein handfester Glaube — man kann nicht sagen an die fünf Sinne, wohl aber an Skalpell und Mikroskop, der auf den Darwinschen Entwicklungsgedanken eine neue Weltanschauung, eine neue Lebenslehre gründen wollte. Häckel und seine Schar waren seine stimmkräftigen Bekenner. Der ließ sichs wohl sein in der sogenannten wirklichen Welt, in der es so gesund und natürlich zuging; die, welch prachtvolle Einrichtung, durch die unaufhörliche allgemeine Rauferei, durch Biß und Schlag, durch Fressen und Gefressen werden mit jedem Tage nur immer aufgeräumter, sinniger und vollkommener wurde; und in der die „ethische" Aufgabe des Menschen darin bestand, mit auf-gekrempten Ärmeln sein Tagespensum an solcher Art Weltvervollkommnung zu erledigen.

Jenen Fremdlingen aber vermochte der Schlachtruf „hie Geist — hie Wirklichkeit", „hie Kant — hie Häckel" keine Entscheidung abzunötigen. Während diese Kämpfe unter den Eingeborenen, die auf Kathedern und Bierbänken mit

dem gleichen verbissenen Eifer ausgefochten wurden, ihnen notgedrungen das Ohr und die nächsten Hirnlappen anfüllten, lauschte ihr innerer Mensch gespannt in die Tiefe, damit über dem Getos und Geschrei des Tages ein ferner Klang der Tröstung oder der Verheißung, wenn er unversehens käme, ihnen nicht entgehen möge. Das Problem, welches in ihnen bohrte und nagte, war kein Erklärungskopfschmerz, es war die Frage der Gnadenwahl, vor welche die Persönlichkeit sich immer wieder gestellt sah: bin ich berufen oder verworfen, werde ich im eigenen Tun mir die Erlösung schaffen, die für mich allein Erlösung ist, oder bin ich auf immer zu ohnmächtiger Qual verdammt?

Aber noch irrten unsere beiden Angespülten ein jeder für sich. Eh wir sie zusammenführen, müssen wir, sonst versteht man die ganze Geschichte nicht, den eingangs erwähnten Bildungsreisenden wider Willen näher ins Auge fassen und ihm nachträglich das Horoskop stellen. Seine Sterne sprechen sich sehr ungünstig aus, ihm droht große Gefahr, seinem Platz in der Selbstmörderecke scheint er kaum mehr entgehen zu können — wenn nicht noch im letzten Augenblick ein unberechenbarer Himmelswanderer sein Feld kreuzt und die gefährliche Konstellation durchbricht.

Mensch sein, heißt schuldig sein.

Aber es gibt Leute, die immer daran schuld sind. Die auch wirklich immer dabei sind, wo irgend etwas schlimmes passiert. Und es schließlich doch auch gewesen sein müssen. Sie ziehen Verfehlung und Schuld an sich wie ein Magnet; und steigern dabei die jedem angeborene Gabe, schuldig zu sein, schließlich zu einer unerhörten Vollkommenheit

Ein solcher war er: die wandelnde Erbsünde! Ein Sträfling des Lebens, der ab und an mit schier übermenschlicher Anstrengung seine Fesseln sprengte und jauchzend, frei

davonstürzte: dem aber die Kette am Bein immer wieder nachwuchs wie dem Prometheus die abgefressene Leber. Einer, der nie Kind gewesen war. Dem das Wort Elternhaus nur die Erinnerung an namenlose innere Qualen auslöste. Ein Unwürdiger und Verfemter! so hatte er sich vorgefunden, als er zu sich erwachte. Und die Stimme des eigenen Innern hatte dies Urteil nachgesprochen. Niemand, der ihn zu lösen gesucht aus dieser Verstrickung in eigene und fremde Schuld, der dem kranken, vergifteten Selbstgefühl den Heiltrank der Liebe gereicht hätte. Eine freudlose, achtlos niedergetretene Jugend. Und statt des Glanzes und Aufschwungs der Jünglingszeit neue Jahre der Knechtung und Entehrung, hingebracht in tötlicher Vereinsamung. Die Menschenwelt, durch die er, auf einem übrigens normalen, fast biederen Lebenswege, gleichsam in Ketten hindurchgeführt wurde, hatte er mit scheuem, niedergeschlagenem Blick durchquert. Eine gleichgiltig vorbeihastende Menge, einige müßige Zuschauer, die sich, die Hände in den Taschen, an den Weg stellten, dem Zuge zuzusehen, ein paar johlende Verhöhner: das etwa war sein Eindruck vom Leben. Alles lebensgroß und doch unendlich fern, getrennt von ihm wie durch eine gläserne Mauer; beängstigend fremd und wesenlos alles.

Nur wenn die Tasten sich unter seinen Händen regten, die Töne ihnen entperlten, rieselten und rannen, rauschend aufstürmten, ihre Reigen schlangen, sich scharten und lösten, in klagenden oder lobsingenden Chören gewaltig schritten, dann zerrann, was andere Wirklichkeit nennen, wie ein garstiger Traum, dann spürte er Boden unter den Füßen, Heimatgrund, dann schritt er leicht und erhobenen Hauptes, umblüht und umduftet, von Licht durchflutet, dann lebte er sein Leben. Aber es endete auch mit dem letzten Ton' Dann glitt er wieder zurück in sein Sträflingsdasein. Die

beiden Welten klafften auseinander, es gab keine Brücke zwischen ihnen; von den empfangenen Gnaden einen Abglanz in seinen grauen Alltag zu tragen, blieb ihm versagt.

Eine Berufswahl hatte es für ihn nicht gegeben. Als die Schule endlich hinter ihm lag, hatte er in Streit und Zorn das Elternhaus verlassen, um sich der Musik zu widmen. Er war vorangekommen in seiner Kunst, da wackere Meister ihn bereitwillig gefördert hatten; er hatte seine Ziele hochgesteckt. Aber er war derselbe geblieben, auch als der schlimmste Zwang gewichen war: ein Verworfener und Ausgestossener, der von den inneren Dämonen von einer Pein zur andern gezerrt und gestossen wurde. Dem noch immer jedes Tun sich in Anklage, jedes Geschehen in Verhängnis und Strafe verkehrte- Der, als sein eigner Folterknecht, kaum dass eine Pein bestanden, schon eine neue gesuchtere bereit hielt. Noch immer schritt er durchs Leben als ein Gefesselter. Schwamm er verloren auf dröhnenden nächtlichen Meeren, vom dunklen Schwall immer aufs neue überschüttet. Schwebte, ein ermattender Kletterer, über dem Abgrunde der Vernichtung. Und keine Hand, die sich ihm helfend entgegenstreckte Eine Gottheit, daß sie ihm hülfe, hätte in nie gehörten Tönen zu ihm reden müssen: sie erklangen ihm nicht. Daß aber ein Mensch in solchen Nöten ein Helfer sein könne, diesen Glauben hatte das Leben ihm gründlich ausgetrieben.

Eine heftige Armmuskelentzündung, die Folge übertriebener Klavierübungen, riß ihn aus seinem Trott: sein Kunstbetrieb war auf lange hinaus lahmgelegt! Und da seine Kunst, seit er dem Elternhaus den Rücken gekehrt, ihm auch den Lebensunterhalt hätte verschaffen müssen, stand er vor dem Nichts.

Die Hilfe die ihm kam, sah er wie ein Wunder an: eine großmütige Freundesgabe gewährte ihm bis zu seiner vollen

Wiederherstellung, die erst in Jahr und Tag zu erwarten stand, die Mittel zu sorgenfreier Existenz. Der eben noch in der Unterrichtsfron geschmachtet hatte, war plötzlich sein eigener Herr. So konnte er einen jahrelang gehegten Wunsch befriedigen: er begab sich nach Bayreuth, wo eben die Vorbereitungen für die erste Aufführung des Parsifal begonnen hatten, in der Hoffnung, dort seine Gaben im Dienste einer großen Sache verwenden zu können. Alte Familienbeziehungen zu Richard Wagner boten erwünschte Anknüpfung. Aber der Meister weilte in Palermo, niemand wußte, wann er zurückkehren werde. Wochen qualvollen Harrens vergingen, die ihn allen bösen Mächten seines Innern wieder auslieferten. Um ihnen nicht zu erliegen, gab es schließlich nur noch ein Mittel: Flucht auf Nimmerwiederkehr, den Kopfsprung in eine neue Tätigkeit. Die unaufhaltsam abrollende Zeit der Freiheit zu nutzen, entschied er sich, durch ein Universitätsstudium früh begonnenen philosophischen Studien Unterbau und Folge zu geben. Die Tür zum Reich der Töne warf er schmetternd hinter sich ins Schloß.

Und so saß ich denn eines Oktobertages 1882 in Jena, in den Vorlesungen von Eucken, Falkenberg, Liebmann, Boehtlingk und was es an Größen gab, und lauschte nicht eben gläubig, ihren widersprechenden Behauptungen. Draußen zwischen den Feldern in einer abgelegenen Schneidemühle hatte ich Quartier bezogen, beflissen, jedem Verkehr auszuweichen. War ich doch ohnehin den meisten dieser jungen Leute um ein paar Jahre voraus, und alle Jahre meines bewußten Lebens waren Kriegsjahre gewesen; was scherten mich deren Sorgen?

So erfüllte ich wochenlang in leidlichem Behaben alle Gerechtigkeit.

Bald aber begann der neue Zustand mich zu quälen.

Die dumpfe Last eines unschöpferischen, nur aufnehmenden Daseins wurde mit jedem Tage fühlbarer. „Tröstungen" hatte ich bei der Philosophie nicht gesucht, aber doch würdige Ablenkung. Die selbstverordnete Medizin büßte bei längerem Gebrauch ihre Wirkung immer mehr ein; ich schwitzte sie wieder aus, ohne daß sie in meinem Organismus Spuren hinterlassen hätte- Der Trank, der meinen heimlichen Schmerzen Linderung, meinem kranken Wesen Genesung brachte, mußte wohl aus anderen Zutaten gemischt, seine Kräutlein auf anderen Wiesen, an anderer Sonne gewachsen sein. Heimweh nach der verlorenen Klangwelt überfiel mich immer jäher und verzehrender. Die ungeschlagenen Saiten schwirrten mißtönig in meinem Gehirn, das Tongeflute, das zu den Fingerspitzen hinaus wollte, doch alle Ausgänge versperrt fand, verquirlte und verkochte zu einem Hexenbräu, der mir das Blut versetzte, es dick und gallig machte. Hatte das Schicksal selber den Stab schon über mich gebrochen, mir das Heimatrecht in der tönenden Welt, in der allein es sich zu leben lohnte, auf immer abgesprochen? Das Strafgericht, das immer über mir geschwebt, wurde es vielleicht schon vollzogen, teuflischer, vernichtender, als ich je gefürchtet? Tötliche Ängste packten mich. Wieder durchlief das innere Fragen die alten Bahnen, .stand Rede auf vernichtende Anklagen, wurde halbschuldig schuldig gesprochen, schrie verzweifelt um Gerechtigkeit, um Milde — kurz, ich spürte förmlich, wie das eben zusammengeschlichtete Wesensgefüge sich wieder zerdehnte und lockerte. Die niedergeworfenen Dämonen zerrten an ihren Ketten. Wurden zu brüllenden Unholden. Machtlos das Leierschlagen meiner kollegbezahlten Orpheuse, sie wieder still und gefügig zu machen. Der Erschütterungsmesser stand auf Erdbeben. Einen Ätna im Gemüte, saß ich auf der Lernbank, nur mühsam noch Ohr gebend: gefaßt auf

einen Ausbruch, der auch den äußeren Menschen in Stücke reißen oder wer weiß wohin verschleudern würde.

Ein Zufall brachte Hilfe — wie ein Zufall mich nach Jena geführt hatte. Beide freilich von jener Art, die dem rückschauenden Blick wie bestellte Arbeit erscheinen.

Eines Tages trat ich zu einem Gang durch die Felder vor die Tür, als in einiger Entfernung drei junge Männer in lebhaftem Gespräch vorüberschritten. Ohne rechte Absicht änderte ich die Richtung und schritt ihnen nach; irgend etwas lockte mich, Sie redeten— wovon sollten sie auch sonst reden — von der Entwicklungslehre. „Sie" das heißt hauptsächlich einer. Während scharfe, nachdrückliche Handbe-bewegungen das tönende Gefüge der Sätze gleichzeitig in die Landschaft schrieben, setzte dieser eben auseinander, es fehle der Entwicklungslehre, obwohl sie mit ihrem Forschungsprinzip überall neue Zusammenhänge ans Licht hebe, doch an einer kritischen Besinnung über die Tragweite ihrer Grundgedanken; hier sei noch so gut wie alles zu tun! — Nun ja! aber das hatte mich doch nicht aus meiner Richtung bringen können. Und nun begriff ich, an welchem Faden ich nachgezogen wurde: die Stimme hatte mir's angetan. Ein weithin tragender Tenor, der unter den inneren Antrieben schwoll und wieder verebbte; nichts darin von Süße, die um Frauengunst buhlt: eine Führerstimme, welche die Gefolgschaft zu kühnem Wagnis sammelt; aus der es wetterleuchtete wie von Durgängen Händelscher Trompeten. Glanz und Freudigkeit der Jugend, ungebrochener Lebensmut, fortreißender Glaube an Geisteskraft und Geistessieg drang darin auf mich ein. Eine Stimme, die all das ausströmte, was mir versagt war! Ich folgte ihr durch die Gassen von Jena, besorgt, selber unbemerkt zu bleiben. An einer Ecke löste die Gruppe sich rasch auf, meine Stimme eilte allein weiter. Ich schwankte:

sollte ich sie schießen lassen, dies Unterpfand aller stolzen Hoffnungen? oder mich ihr in den Weg werfen mit allen Cellis, Fagott, dem gesamten Holz? Aber wie denn, hier auf der Straße, ich, der ich's aus Mangel an Vokabeln im Dunkeln nicht hergebracht hätte, einer Schönen Arm und Geleit anzutragen, wie denn reden mit der Stimme? Teufel auch, wenn ich wenigstens meinen Flügel bei mir hätte! Aber eh ich mich zu einem Verzicht durchgerungen, hatten mich meine Beine schon herangetragen, war ihrem eiligen Fugato bereits eine jähe Viertelpause vorgeriegelt, stammelte ich unwahrscheinliche Anfänge der entfallenen Textesworte. Und nun die Aufnahme! Ein rascher Blick aus zwei hellen Augen, und gleich auch ein Aufleuchten des Verstehens, ein Entgegennehmen des ganzen Menschen, das keiner Worte, geschweige denn Sätze bedurfte. Mit freundlicher Unbefangenheit, nicht anders, als hätte ich um Feuer gebeten, war ich beim Arm ergriffen und eine Strecke Weges mitgeführt, daß wir gleich wie alte Bekannte neben einander schritten. Nur ein Stück. Bald blieb mein neuer Gefährte mit einem hastigen Blick an die Uhr stehen und reichte mir die Hand: heut habe er's eilig, aber morgen vormittag erwarte er mich zu einem Spaziergange; er nannte Namen und Wohnung. Schon im Davoneilen, winkte er noch einmal zurück. Dann verschwand er im flotten Dauerlauf um die nächste Ecke- „Carl Hauptmann" — es war das erste Mal, daß ein Name an mein Ohr schlug, der meinem Leben soviel bedeuten sollte.

Punkt zwölf Uhr war ich zur Stelle. Ich fand noch zwei junge Männer anwesend, mit denen Carl Hauptmann mich bekannt machte- Der eine sein Freund und Hausgenosse Simon, Physiologe wie er, dazu aber Mediziner; klar, klug und bestimmt in Blick und Wort, ganz eingestellt auf Erfassung und Bewältigung der Wirklichkeit, von eigenem

Harm ungekränkt, für mich — hoffnungslos. Der andere hochgewachsen, überschlank, mit langem wirrem Blondhaar, den Kopf etwas vornübergeneigt, als trüge er eine unsichtbare Last — sein Bruder Gerhart. Wie er aufschaute und herzutrat, reine, klare Jünglingszüge, mit einem Einschlag von Leid und Mühsal, bleich und vergeistigt, als sei er erst vor kurzem von schwerer Krankheit aufgestanden. Freundlich blickend, aber auch baldwieder wie in sich hineinsinkend. Ich war betroffen. An dem gezwungenen Gespräch, bis Carl sich zum Ausgang gerüstet hatte, nahm er mit keinem Worte teil. Auf unserm Gange machte mein Weggenosse mir die Sache leicht, wenngleich ja, bei meiner ungewohnten Pflicht, im Palaver mit einem so ansehnlichen Häuptling nichts zu versäumen, das schöne und reine Verhältnis von gestern nicht so recht wieder aufblühen wollte. Er erörterte, durch Zeichen des Beifalls von mir ab und zu bestärkt, ein Problem, das ihm über exakter biologischer Kleinarbeit immer wichtiger geworden sei, die Abhängigkeit der sogenannten „Tatsachen" und angeblichen „Beobachtungen" der Wissenschaft von unbemerkten und ungeprüften metaphysischen Voraussetzungen; diesen Unterstellungen müsse, in allen Zweigen der Lebensforschung, sogleich zu Leibe gegangen werden — er sprach wie einer, dessen Winke ganze Hundertschaften von Kopfarbeitern bereitstehen. Als ich aber bescheiden einwarf, wie sehr, die Wichtigkeit, ja Notwendigkeit seiner Maßnahmen in allen Ehren, eine solche Geistesfron und ausschließliche Hirnkost den wahren und eigentlichen Menschen in uns doch darben und verkümmern lasse, da stimmte er mit Überzeugung zu, änderte nun auch gleich das Thema und begann von seinem Bruder Gerhart zu erzählen. Hätte er mein Herz nicht schon gewonnen gehabt, der Zartsinn, die Fürsorge, der heimliche Stolz, die fast verehrende Liebe, mit denen er von dem jüngeren Bruder,

seinen Gaben und Zielen, seiner Mühe und Vereinsamung sprach, hätten ihn mir liebenswert machen müssen.

Als wir wieder vor seiner Behausung standen, lud er mich ein, noch einmal einzutreten: Gerhart sei jetzt allein und werde sich gewiß freuen, mit mir noch schnell ein paar menschliche Worte zu wechseln; er mochte spüren, daß da sich wohl Fäden anspinnen, angeborene Vertrautheiten auftun könnten.

Ich folgte gern. Auch Gerhart nahm nun unbefangen an dem Gespräche teil, welches sich noch vorsichtig zu beziehungsreicheren Punkten hintastete. Da erblickte ich mittendurch im Nebenzimmer ein offenstehendes Klavier. Einem inneren Zwange folgend, trat ich hinzu, griff versuchend in die lang entbehrten 1 asten, spielte, spielte immer vergessener, verloren in gurgelnde Tiefen — nun aber heraufgehoben in den Flutkampf, zur letzten Erprobung — rang und ruderte, im rollenden Gleichschritt ozeanischer Finsternisse dahin-geworfen — den Gischt nun durchquerend, Flügel schwingend, todesmatte, versiegende des verflogenen Meervogels, des Albatros, der trotzigen Herzens, mit schrillen Rufen, sich noch einmal einlegt — aufhebt — fernem Erdämmern, geglaubtem Rastort, mit letzter Schwinge, näher, näher

Als die verebbenden Tonfluten mich wieder an Land gesetzt hatten, fand ich mich, überraschend, in einer gänzlich veränderten Seelenkonstellation. Die Sprache, in der ich mir meine Bedrängnisse vom Herzen geredet hatte, war verstanden worden. Die Fremdheit war wie weggewischt, Blick und Wort gingen zwischen uns dreien wie zwischen lang Vertrauten. Von Stund an waren wir Freunde.

Schon in wenigen Tagen war auch das äußere Leben ein gemeinsames, soweit nicht die Arbeit jeden an seinen Platz bannte. Ungewollt war ich in einen angeregten, durch geistige Interessen zusammengehaltenen Kreis fähiger junger

Männer hineingeraten, der zweifellos die geistige Elite von Jena darstellte, und eh ich mich Übels versah, als Zugehöriger anerkannt und angebunden; ein Verkriechen war nicht mehr möglich. Auch ließ man ja jeden gewähren; man kritisierte die Welt und die Wissenschaft, nicht einer den andern. So konnte ich meine Gewohnheit des Schweigens, die mir durch Jahre der Einsamkeit zur zweiten Natur geworden war, beibehalten, ohne daß sie mich von der Gemeinschaft ausgeschlossen hätte: man ließ dem Eisberge Zeit aufzutauen. Es gelang mir denn auch mit jedem Tage besser, mich auf den unbefangenen, schalkhaft heiteren Ton dieses Kreises einzustimmen.

Zusammengehalten war dieser Kreis im wesentlichen durch die Persönlichkeit Carl Hauptmanns-

Was ihn auszeichnete, war die Gabe, das was ihn bewegte, im Worte auszuströmen. Und nie fand man ihn anders, als mit ernsten und großen Problemen beschäftigt und neuen Lösungen auf der Spur. Er hatte etwas von der Gespanntheit des Jägers, der eben zu Schusse kommen will. Ein geborener Sprecher, nicht Redner, am allerwenigsten ein solcher, der sich reden hören will. Auf Widerhall und Einrede angewiesen, um die Wirkung auf den Zuhörer aber ganz unbekümmert: er wollte nicht überreden, sondern überzeugen. Auch das nicht um des Andern willen, sondern um einer Idee zu ihrem Rechte zu verhelfen. Je tüchtiger ihm einer den Widerpart hielt, umso lieber war er ihm; dann war er unermüdlich, dann konnte die nächtliche Gasse nicht oft genug abgeschritten sein. Wo er erschien, übernahm er auch gleich die Führung, die man ihm bereitwillig überließ. Er bestimmte Richtung und Gangart des allgemeinen Gesprächs. Sein Denken hatte den langen Atem, um eine Erörterung zwanglos zusammenzuhalten und ihrem Ziele zuzutreiben. Er erschien damals eindeutiger als er

im Grunde war, sein bewußtes Streben galt ausschließlich den Problemen der Wissenschaft. Freilich mit einer Neigung, in jeder Disziplin bis an die Grenzen zu gehen, die Fundamente anzubohren, ihre letzten Bedingungen aufzugraben. Daß er nach schneller Erledigung der Formalitäten auf irgend ein freigewordenes Katheder der Philosophie oder der Biologie springen und dort seinen Mann stehen werde, schien ausgemacht. Der Ruf zur Kunst war noch nicht an ihn ergangen.

Um so mehr hegte und pflegte er in dem jüngeren Bruder den geborenen Künstler. Er versorgte ihn mit Geistesnahrung — wie eine Hühnermutter nicht müde wird, dem Paradiesvogelküken, das ihr unter die Fittiche geraten, die erlesensten Körner vor den wählerischen Schnabel zu legen. Er räumte ihm die Steine aus dem Wege, warb, wo er konnte, ihm Freunde Auf sein Wort hin nahmen Männer wie Eucken und der feinsinnige Kenner Boehtlingk, dessen durchseelte Geschichtsvorträge keiner von uns so leicht versäumte, Gerharts jetzt verschollene Erstlingsdichtungen bereitwillig entgegen, galt er ihnen von vornherein als eine ernst zu nehmende Kraft.

Gerhart nahm diese Bemühungen, wenn auch dankbar, so doch mit der Gelassenheit des Grandseigneurs entgegen. Er hielt sich im Hintergrunde. Nie zeigte er Beflissenheit, andere mit seinen Arbeiten bekannt zu machen; man mußte ihn bitten, wollte man von seiner Bildnerei oder von seinen Dichtungen etwas zu sehen oder zu hören bekommen. Anders als Carl, war er im größeren Kreise eher zurückhaltend und schweigsam, erst im nahen Umgange schloß er sich auf. Bei längeren theoretischen Auseinandersetzungen trat bald etwas Gequältes in seine Mienen. Ihn fesselten Menschen und Schicksale, nicht abgezogene Gedanken.

Den Stamm unserer Schar bildeten die führenden Köpfe des naturwissenschaftlichen Vereins, unter ihnen hervorragende Begabungen, die in Erholungsstunden, auf Spaziergängen oder beim traulichen Schoppen, ihren besten Debatter nicht missen wollten. Voran die Biologen aus Häckels näherer Umgebung; aber auch Physiker und Chemiker von Klasse, die „Goldmacher und Laboranten", wie sie von den „Froschquälern" genannt wurden — einige von ihnen, wie Carl Duisberg, haben ja denn auch später dieser Bezeichnung alle Ehre gemacht. Sie verlangten Klarheit, wissenschaftliche Methode, exakte Beobachtung, lückenlosen Beweis; lauter scharfgeschliffene Intelligenzen die mit der Blendlaterne ihres Verstandes in jeden schum-merigenWinkel leuchteten. Einige philosophisch interessierte Außenseiter aus den Geisteswissenschaften hatten sich herzugefunden, angelockt hauptsächlich durch Carl Hauptmanns zu Rede und Antwort jederzeit bereiten Scharfsinn. Im äußersten Umring dieses Planetariums schwebte, ein massiver, dunkler, noch nicht recht ausgemessener Himmelskörper, Gerhart allein.

Ohne daß es großer Erklärungen zwischen uns bedurfte, hatte sich schnell eine engere Gemeinschaft zwischen Gerhart und mir herausgebildet. Eine Gruppe Gerhart-Meo tat sich auf, die durch Zuläufer aus jenen .Proselyten des Tores', ein paar Germanisten und Sprachwissenschaftler, sogar etwas Schweif und Anhang gewann. Mit der Alleinherrschaft der Naturphilosophen hatte es nun ein Ende. Schulter an Schulter verteidigten wir gegen die Männer des sauberen Präparats und der erschöpfenden mathematischen Formel die Grenzen unserer Kunst- und Seelenwelt und erzwangen ihre Anerkennung. Wir bedienten uns im Wortgefecht unserer Sprache, die nun freilich als Verständigungsmittel nicht wohl gelten konnte. Wieder war es Carl, der sich keine

Mühe verdrießen ließ, diese hier unbekannte Sprache uns vom Munde weg zu erlernen, Sinn und Meinung unseres Zungenredens heraus zu bekommen und unsere apokalyptischen Äusserungen, in den naturphilosophischen Jargon übersetzt, den Kindern dieser Welt als respektable Weisheiten zu übermitteln.

Und doch war es nicht diese unvermutete Einbeziehung in ein reich bewegtes Geistesleben, was für mich den Aufenthalt in Jena zu einem entscheidenden Ereignis gemacht hat, sondern der ganz persönliche Umgang mit Gerhart. Die inneren Nöte, die mich bis zur Vernichtung bedrängten, konnten durch diesen seelischen Klimawechsel für eine Weile zurückgedrängt und beschwichtigt, nie aber wirklich gebessert oder gar geheilt werden.

Es ist schwer, von solchen Vorgängen zu reden, es rührt an Geheimnisse, die vielleicht nie entschleiert werden.

Die deutschen Gottesfreunde des Mittelalters haben das Wort geprägt, und ihnen war es eine geläufige Erfahrung, daß, wer aus zerrüttenden Seelenkämpfen zum Frieden gelangen wolle, sich einem andern Menschen „an Gottes Statt zu Grunde lassen müsse". Anderen, wenn sie sich das Bild eines solchen Nothelfers ausmalen, wird vielleicht ein mildes, vom Leben durchfurchtes Greisenantlitz vor die Seele treten: ich sehe dabei vor mir ein blasses Jünglingsgesicht, noch ohne die Flutzeichen und Notmarken des Lebens, doch mit den Zügen des ewigen Harms, das in vollem Verstehen, in innigem Miterleben mir zugewendet ist.

Es gibt sonderliche Tröster. Den gemeinen Wald- und Wiesentröster, der sich zu dir hält, um die Leere seines lauen Herzens mit deinem blutwarmen Schuldleide aufzufüllen; meide ihn, er läßt dich matt und wertlos zurück. Es gibt einen giftigen Trostsprecher: Schmock im Trösterkleide, der, das Notizbuch am Griff, dich als „Fall" studiert.

Und es gibt, heute die verbreitetste Form, den Aufklärungströster, der dir überzeugend auseinandersetzt: Schuld ist Unsinn.

Aber schuldig sein, ist — zu dem Getanen hinzu — selber eine Wesenstat des Herzens. Dem unter der Schuldlast Seufzenden damit zu kommen: du bist eigentlich gar-nicht schuld, sondern die Andern, die Verhältnisse, die Umwelt, alles, nur eben du nicht! ist, in zeitgemäßer Aufmachung, Tetzelgesinnung, dadurch bloß noch schlimmer, daß sie ihren Ablaßzettel gratis abgibt. Der Bejahende hat immer recht! So auch, wer sagt und fühlt: ich bin schuldig. Helfen kann ihm nur, wer in seinem Innern die gleiche Schuld aufbringt, sie im eigenen verbrecherischen Herzen brennen fühlt und gegen solche eigene echte Not die Abwehrkräfte seiner Seele aufbietet. Nur so hilft er tragen und lösen. Der mitleidig Lächelnde ist vor dem Schuldbedrückten ein bettelarmer Gesell. Als gab es nicht schwarze Meere der Schuld genug in der Welt, daß jeder darin gebadet werden kann! Nur wer, im Mitleiden, seine eigene Schuld beweint, reicht dem Verstoßenen die Bruderhand und reiht ihn der Menschheit wieder ein.

Das Einfache und Schlichte, es ist nicht nur in der Kunst, es ist auch, scheint's, im Leben das Schwierige und Seltene, ein unverhofftes Glück: ein Mensch, der Not des andern selbstvergessen hingegeben, ohne jedes Drum und Draußen; der wesenhafte, sachversunkene Mensch.

Der das Zeug hat, ein Helfer und Heilender zu sein aus dem Grunde-

Weil er das eine hat: ein großes und reines, zur Schuld geborenes, zur Sühne berufenes Herz.

In das enge Gefäß der Menschenform eingegossen die linde, gütige, heilende Natur selber; die strömende Urkraft gefaßt und verdichtet in eine reine, unverbildete Menschen-

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seele: so offenbarte, nicht durch Worte, sondern durch die Wirkung von Person zu Person, sich der Zwanzigjährige dem Freunde. Um solcher Herkunft willen wetteifern die Gestalten des Dichters an Lebenskraft mit echten Gebilden der Natur.

Wie er heute als Schaffender, dessen Lebenswerk sich rundet, vor vieler Augen steht, so stand, noch eh ihm ein bleibendes Werk gelungen, der Mensch, der unver-lautbarte, von Ruhmesglanz noch nicht umstrahlt, vor meinem Gemüt: unter wimmelnden, kümmerlichen Teilgebilden ein Echter und Ganzer, unter all den gestammelten Verheißungen in schlichter Wirklichkeit einmal die Erfüllung.

Inzwischen aber hatte nun schon der heilsame Freund sein Schifflein mit allen ihm begehrlichen Wissensschätzen beladen, nahm, mit kaum halber Fracht, an einem schönen Morgen die Anker hoch und entsegelte frohgemut zu südlicheren Gestaden. Es war gut so, wir schieden als Freunde, ich mit Gemütstauen für immer an ihn gefesselt. Wenige Wochen noch, nnd ich hätte vielleicht auch mit grimmem Griff nach der geschärftesten Stange gelangt, um, geschickter als Saul, den lästigen Tröster mit einem Wurfe an die Wand zu spießen! So aber, wie gesagt, schieden wir als Freunde, verbrieft und versiegelt.

Und sind es, Gott sei Dank, geblieben.

IN ERWARTUNG HAUPTMANNS.

Von

Hermann Bahr.

In allen Künsten gibt es Werke, denen man vom Zeitalter so wenig als vom Volkswesen ihrer Schöpfer anmerkt; ja auch die Sonderart ihrer Kunst, ob sie reden, tönen oder bilden mag, verstummt hier fast, wir werden durch sie nur die Gegenwart des schlechtweg Vollkommenen, des Guten, Schönen, Rechten unmittelbar gewahr. Auf solcher Höhe reichen einander über die Zeiten, über die Völker, über die Künste hin Phidias, Dante, Grünewald, Shakespeare, Bach im nie verstummenden Selbstgespräch der Ewigkeit die Hände; man könnte zuweilen meinen, es sei nur immer wieder dasselbe Werk, das sie schaffen. Doch auch diese Künstler sind Kinder ihrer Zeit, Kinder ihres Volkes, und wenn sie gleich alle dasselbe sagen, jeder sagts doch in einer Mundart, in der es noch nicht vernommen worden ist; darum klingt es immer wieder neu. Die Wahrheit, die jedem Wechsel entrückte, von Urzeiten her unabänderlich gleiche Wahrheit, die alte Wahrheit immer wieder so zu sagen, daß wir aufhorchen, als hörten wir sie jetzt zum ersten mal, ist recht eigentlich das Amt der Kunst. Und je nach dem Grad, in welchem einem Künstler gelingt, Urweisheit, Urschönheit, Urgesetz in ihrer unvergeßlichen Ewigkeit uns empfinden zu lassen, als wenn sie jetzt eben erst entdeckt, als wenn sie das Werk dieses Augenblicks; sein Werk und unser

Werk wären, nach diesem Grade schätzen wir ihn. Schon in den Anfängen, so weit wir Nachrichten davon haben, ist Kunst immer Wiederholung, aber eine, die zu beginnen scheint. Die Menschheit spricht immer wieder das Wort Gottes nach, aber sie will sich einbilden können, es eben jetzt erst gefunden zu haben. Sie läßt das Schöne, Wahre, Gute, dessen Gehalt allein den Wert eines Kunstwerks bestimmt, nur auf sich wirken als Ausdruck ihres eigenen Sinns, ihrer eigenen Zeit. Das Kunstwerk ist soviel, als es Altes enthält, gilt aber der Gegenwart immer nur soviel, als es neu scheint. Dieses Paradox muß in der Menschenart tief eingewurzelt sein, denn gerade je ernster es eine Zeit mit der Wahrheit und Schönheit nimmt, desto gieriger blickt sie nach der Zukunft aus: Wahrheit und Schönheit scheint ihr immer etwas, was erst kommen wird; daß Wahrheit und Schönheit schon einmal gewesen, ja daß sie vorbei sein könnten, das glauben nur die ganz großen Zeiten. Die ganz großen Zeiten fühlen sich immer als Renaissancen, sie können sich gar nicht weit genug zurückdatieren: die erste Renaissance des Abendlands war die Homers, als Babylon in den jungen Griechen wiedergeboren wurde, die letzten Renaissancen waren das Barock, der alte Goethe und die deutsche Romantik. Je jünger ein Volk, je frischer es noch an unberührter schöpferischer Kraft ist, je mehr es vorhat, desto stärker ist sein Vertrauen auf die Vergangenheit: in ihr sucht es seine Zukunft. Je schwächer Völker werden, desto mehr wird ihnen vor der auf ihnen lastenden Vergangenheit bang, sie wollen ihr entlaufen, so stürzen sie sich kopfüber ins Ungewisse der Zukunft. Die seltsamsten Zeiten aber sind immer die, wann ein Volk zum ersten Mal fühlt, daß es schwach wird. Wie dann alle Kraft noch einmal zusammengerafft wird, ein Volk, um Abschied von sich zu nehmen, noch einmal seiner Jugend

einen letzten zärtlichen Blick schenkt, aber sich schon von seiner neuen Leidenschaft, von der Hoffnung auf die Zukunft, auf ein reitendes Forteilen von sich, entführt fühlt, das gibt dann zuweilen, einen Atemzug lang, Umarmungen von Widersprüchen, Coincidentien der Gegensätze, Scheine der Verwirklichung des Unmöglichen von einem Reiz, daß gerade solche schon sinkende Zeiten, wie die des Perikles, wie der Ausgang des zuletzt eigentlich schon selber an sich nicht mehr glaubenden, heiß gelaufenen Barocks, unvergeßlich durch die Jahrhunderte nachglänzen. Ist es aber erst entschieden, daß die bewahrenden Kräfte nicht mehr ausreichen, die zerstörenden niederzuhalten, in solchen Geschlechtern beginnt dann die Flucht vor sich selbst, sie reißen vor sich aus, „Fortschritt" wird ihre Losung: denn keine noch irgendwie sich in sich selber sicher fühlende Zeit hat jemals den Wunsch, von sich fort ins Ungewisse zu schreiten. Eine solche Flucht, mit ein paar ohnmächtigen Versuchen, die verwirrt Abstürzenden aufzuhalten, ist die Geschichte des Abendlands seit der großen französischen Revolution; noch weiter fort von sich wird nun der abendländische Geist kaum mehr schreiten können. Seine Geschichte zeigt in den letzten hundert Jahren drei Gruppen: eine beim Ausbruch der Flucht erschreckende, gleich vor ihr warnende, sich wehrende, das Erbe wahrende, Vätersinn hütende (Klassik und Romantik bei uns, mit ihrem Ausklang in Grillparzer, Feuchtersieben und Stifter; Balzac über Baudelaire und Flaubert zu Barres; Burke/ über die Praerafaeliten zu Chesterton), ferner eine zweite zur Flucht treibende, fluchtselige, fluchtüberstürzende, ja sich auch nur vorzustellen, Leben könnte noch etwas anderes sein als Flucht vor dem, was ist, Flucht zu dem, was niemals war, schon durchaus unfähige, schließlich überhaupt in allem Dasein nur noch eine einzige fortwährende Flucht vor sich selbst erblickende, mit

jedem Sinn für Vergangenheit allmählig auch schon allen Begriff einer Gegenwart aufopfernde, ja nach der Zukunft selbst doch nur, um auch sie gleich wieder in den unablässigen Wirbel der alles verschlingenden Flucht einzureihen, drängende (die des „jungen Europa", des „Liberalismus" aller Länder mit seinen sämtlichen Abarten, Nacharten und Unarten), und endlich eine letzte, schon auf der Flucht und zur Flucht geborene, für die Flucht als Lebensaufgabe der Menschheit, ja der ganzen Schöpfung erzogene Gruppe, die meiner Generation, deren Schicksal, ja deren Sendung es war, mitten auf dieser endlosen Flucht auf einmal durch einen geheimen Instinkt aufgeschreckt sich zu fragen: Wovor fliehen wir denn eigentl.ch, wohin fliehen w:r, wie lange fliehen wir denn noch? Als ihr zum ersten Mal einfiel, ob man nicht wieder einmal zum Augenblicke sagen könnte: Verweile doch, du bist so schön! mit diesem Einfall, den die Maler zuerst hatten, die Maler des Impressionismus, war zum ersten Mal ein Zeichen gegeben, auf der wilden Flucht einzuhalten. Für uns alle, die wir in den sechziger Jahren zur Welt und zwischen 1880 und 1890 zur inneren, in den neunziger Jahren auch zur äußeren Entscheidung kamen, jetzt aber schon langsam an die Heimkehr denken müssen, ist das die große Caesur gewesen. Wir liefen erst alle bloß um die Wette, wer auf dieser Flucht in die Zukunft der erste voran wäre, plötzlich aber sah sich jeder auf einmal irgendwie geheimnisvoll umgedreht, so daß er zwar immer noch automatisch in die Zukunft weiterlief, aber jetzt mit dem Rücken zu ihr, die vor ihm auferstandene Vergangenheit verwundert, noch halb ungläubig, fast beschämt erblickend oder aber auch, als wenn er sich auf einem Verrat ertappt hätte, gewaltsam sich wieder zur Flucht zurückwendend, mit wachsender Eile, doch nicht mehr ganz sicheren Gewissens.

In „Vor Sonnenaufgang", im „Friedensfest", noch in den „Einsamen Menschen" erschien meiner Generation Gerhart Hauptmann als der Mann ihrer Sehnsucht: hier war mit aller Vergangenheit gebrochen, hier^Erinnerung ausgelöscht, hier der große Sprung in die Zukunft getan. Aber noch hatte sich ein unwillig überranntes Publikum von seinem Schrecken, wir Jungen uns vom Siegesrausch kaum erholt, als er, mit der „Versunkenen Glocke", den Vordersten unter uns, die schon indessen wieder des kaum Erreichten, aber weil es erreicht und also nun selber auch nicht mehr Zukunft war, überdrüssig, ja fast in manchen Augenblicken an dieser bisher so gelobten Zukunft, und vielleicht an jeder, so bald sie sich nähert, irre geworden waren, aufs neue zuvorkam durch eine verblüffende Wendung, nämlich zurück, zum Verse zurück, ins Märchen zurück: wieder sahen wir unseren geheimsten Wunsch erfüllt, und einen, den die meisten von uns selber sich noch gar nicht eingestanden hatten. Daß Zukunft auch im Märchen, daß sie zuweilen in uralten Zeiten liegen kann, wer hätte das zu denken gewagt? Da war nur noch ein Schritt und man fragte sich, ob nicht Zukunft vielleicht nur gerade in der Zukunft niemals liegt. Ein neues Problem war damit gestellt; es wurde das Lebensproblem Hauptmanns, er fragt bis zum heutigen Tage noch, wo wir eigentlich suchen sollen, eben darin ein vollkommener Ausdruck eines Geschlechts, das im Eifer unablässigen Fragens, unermüdlichen Suchens fast vergessen zu haben scheint, ob man denn nicht auch einmal antworten, ob man nicht finden könnte. Daß vielleicht Antworten zu finden sind weder in der Vergangenheit noch in derGegenwart noch in der Zukunft, aber in einem der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft entrückten Reich, in das Zeit keinen Einlaß hat, das hoch über aller Bewegung ruht, das vor allem Anfang war und nach allem Ende sein wird, und daß eben dort

vielleicht die Kunst daheim ist. Ahnungen solcher Art überschreiten schon die dieser Generation gezogenen Grenzen, der Gesetz, aus seiner eigenen Macht und nicht von Menschen gesetzt, auch menschlicher Zustimmung unbedürftig, vielmehr selbstdenMenschen bestimmend,Gesetz einesSeins über dem Menschen, ja vor dem Menschen ein unfaßlicher Begriff blieb-Hauptmanns Freunde sind immer wieder durch sein neustes Werk enttäuscht worden. Es schien jedes Mal ihr Bild von ihm zu trüben, durch irgend einen fremden Hauch. Das war der Hauch der Zeit. Jede der leisesten Veränderungen in der deutschen Seele seit dreißig Jahren hat ihre Spur in seinem Werk gelassen; wer einst ihre Geschichte schreiben wird, kann über jeden Abschnitt ein Hauptmannzitat setzen, über den vom forcierten Möchtegernheidentum in Grunewaldvillen so gut als über den von der Herzensnot des Geistes nach dem Herrn Jesus. Wenn Hauptmanns Bild zuweilen ein wenig schwankt, ist's immer im Winde der Zeit. Unsere sämtlichen Brüche hat sein Werk auf einen Nenner gebracht. Wem es mißfällt, der wird mit der Zeit rechten müssen, nicht mit ihm, der Werk um Werk so fortfuhr, wie vor zweiunddreißig Jahren sein erster Auftritt ihn angekündigt hat- Denn eben dadurch hat er ja damals so gewaltig auf uns gewirkt, daß uns in ihm der Dichter erschien, der jeder von uns gern selber gewesen wäre! Da stand vor uns plötzlich in Fleisch und Blut, was wir uns seit Jahren von uns selber mit solcher Inbrunst ersehnt hatten. Erfüllung eines jeden von uns war der junge Hauptmann, und wirklich wie die gewaffnete Pallas aus des Kroniden Haupt, sprang der blasse Schlesier aus dem klopfenden Herzen seiner ganzen Generation hervor: die deutsche Jugend entlud sich. Nicht bloß als Augenzeuge kann ich davon reden, nicht bloß als Leidensgefährte dieser bangen Sehnsucht, sondern auch als ein Mundstück von ihr: noch bevor Hauptmann begann,

waren meine „neuen Menschen", meine ,,große Sünde", rauchende Dramen, Plakate des irren Ungestüms, erschienen, und eben, als er begann, meine ,,Kritik der Moderne", die, gleich alles Bisherige mit der Schmähung,.Antike" bedeckend, von uns aus gelassen den Anfang einer neuen Weltordnung datierend, dem ungewiß wogenden Getümmel nun den sammelnden Feldruf gab.

„Kein rückwärts schauender Prophet

Geblendet durch unfaßliche Idole,

Modern sei der Poet,

Modern vom Scheitel bis zur Sohle" hatte schon Arno Holz verkündet, ich brachte das nun in ein System, wie der richtige Deutsche, wenn er Mut zu sich selber finden soll, immer eins braucht. Auch hörten mir die Gefährten an, daß ich niemals von mir selber sprach, sondern nicht bloß im Namen, nein, wirklich auch im Dienste der Zeit. Ich war den alten Herren zunächst dadurch unliebsam aufgefallen, daß, während es ihr Brauch war, in einem bescheiden klingenden Plural zu sprechen und von sich „wir" zu sagen, ich dreist immer „Ich" schrieb, aber die Gefährten merkten schon, daß mit meinem trotzigen Ich ja gar nicht ich gemeint war: es meinte sie, es meinte die ganze Jugend, in jedem von uns drohend zusammengeballt, es meinte die Zeit! Ich kann mich nicht vieler Gaben rühmen, dieser einen aber darf ich's, meinen Vorteil niemals auf eigene Faust, sondern/i immer nur dienend zu suchen: einer Gemeinschaft, sei's einer Sache, sei's einer Idee dienen zu müssen, um überhaupt handeln zu können, ist meine Leidenschaft geblieben, ich hielt mich immer selber zu mir erst berechtigt, wenn ich mich einreihen konnte; möge mir gewährt sein, daß ich auch den Rest meiner Kraft im Zeichen des Kundry-worts verbrauchen darf! Der Wunsch istübrigens bezeichnend für meine Generation, die, wenigstens solang sie jung war,

durchaus auf Zusammenschluß und Zusammenhang, auf Einordnung in Reih und Glied, auf gemeinsamen Aufmarsch in gleichem Schritt und Tritt zum gemeinsamen Ziel drang und keinen Eigensinn gelten ließ, sondern nur ihren Gemeingeist. Wir standen immer in Bereitschaft; wir waren nur nicht recht einig, wofür. So hat, wer nicht selber dabei war, hinterher zuweilen eher den Eindruck blinden Läims. Das ist nicht unsere Schuld. An Ernst, Leidenschaft und Treue hat es jener Jugend nicht gefehlt, und sie war mit den seltensten Tugenden begabt: mit Sachlichkeit und Opfersinn. Sie fand nur die Sache nicht, für die sie sich opfern hätte können. Sie war vielleicht gar nicht zur Literatur, zur Kunst bestimmt: es blieb ihr nur kein anderer Ausweg; so fehlt auch ihren besten Dichtern immer doch irgend etwas zum ganzen Dichter, und immer sind ihre Dichter fast alle doch auch wieder noch mehr als bloß Dichter- Ich will darum einmal versuchen, die Geistesart jener Jugend im Erwachen zu schildern: im Berlin der achtziger Jahre, das sich seines eigenen Sinns erst an der Erscheinung des jungen Gerhart Hauptmann bewußt ward und in ihm seine Sprache fand. Ich war 1883 einer allzu deutschen Rede auf dem Wagnerkommers der Wiener Studentenschaft wegen von der Wiener Universität relegiert und dadurch überall in Osterreich den Kommilitonen so wert, den Behörden so verdächtig und so sehr das Ziel studentischer Begeisterung und polizeilicher Verfolgung geworden, daß ich sicherlich verbummeln und auf einem deutschradikalen Reichsratsmandat stranden hätte müssen, wäre nicht mein bekümmerter Vater einsichtig genug gewesen, meinen Bitten nachzugeben und es noch ein letztes Mal mit mir zu versuchen, indem er mich an die Berliner Universität ließ. Es muß ihm schwer genug geworden sein, denn er hat Preußen verabscheut. Er war noch ein richtiger Altösterreicher josefinischer Prägung:

schwarzrotgold schwärmend, so weit die deutsche Zunge klingt, für ein einiges Deutschland, das aber sein vaterländisch schlagendes Herz sich nur unter Habsburgs Führung träumen, sein geschichtlich urteilender Kopf nicht ohne Osterreich denken konnte; er war als Student eine Zeit in der Familie Schmerling Hauslehrer gewesen. Und nun sah er sein Osterreich 1866 aus Deutschland verstoßen: seine Welt brach ein! Denn damit war für ihn Osterreich und Deutschland weg, beide waren unmöglich geworden. Auch Osterreich selber fühlte sich seitdem um sich selbst gebracht und so wuchsen wir jungen Österreicher auf: vaterlandslos. Das eine Vaterland hatte doch keine Sinne mehr und das andere war uns ja verboten: Entsagung aber, in die mit zurückgewendetem Blick die Väter flüchteten, galt der Jugend für feig. Wir hörten es den Eltern, hörten es unsern Lehrern an, hörten es aus jedem Gespräch heraus: Vorbei, wir sind vorbei, die Fortsetzung folgt jetzt draußen! Und Eltern und Lehrer machte die Bitterkeit ungerecht gegen das verlorene Vaterland: damals fing der Österreicher, der ja niemals an Selbstüberschätzung gelitten hat, nun überhaupt nichts Heimisches mehr gelten zu lassen an-Selbstverspottung, Selbstverachtung wurde Sitte; der Oster-reicher hat an ihr noch einmal die ganze Kraft seiner Begabung gezeigt, wir wurden Virtuosen des Unglaubens an uns. Aber nun waren wir doch alle, wenn auch Kinder strenger Josefiner, benediktinischen Geistes erzogen: das österreichische Bürgertum schickt seine Söhne zu den Wiener Schotten oder nach Seitenstetten in Niederösterreich, nach Kremsmünster in Oberösterreich, nach St. Paul in Kärnten, und auch unsere weltlichen Gymnasien verleugnen nicht, daß alles was bei uns humanistischer Unterricht heißt, durchaus in der benediktinischen Überlieferung wurzelt; die alten Sprachen herrschen vor und die Helden Homers sind die

stärksten Erlebnisse des Jünglings, der, in einem vagen Piatonismus aufgewachsen, gewohnt, an Menschen und Taten das heroische Maß Plutarchs, Caesars oder des Tacitus anzulegen, mit einem ungestümen Verlangen nach Größe die Schule verläßt. Wo fand er es gestillt in einem Lande, das seit fast hundert Jahren jeden Anschein von Größe zu verstecken gewohnt war, sich Grillparzer nur als raunzenden Sonderling, Stifter als schweigsamen Schulrat, Anton Brückner als täppischen Vetter vom Lande maskiert gefallen ließ und Tegetthoff, den Sieger von Helgoland und Lissa, vor nässender Sentimentalität für Benedek, den Geschlagenen von Königgrätz, vergaß? War diese Zeit ausgestorben von Größe? fragten wir bang. Aber nein, seht doch nur über die Grenze! Dort ist noch Größe genug! Dort ist Bismarck.dort ist Richard Wagner, dort drüben,dort draußen! Byrons I want a hero schrieb ich später als Motto vor mein zweites Schauspiel. Das wars: Verlangen nach Größe, Kraft und Heldentum hat uns, hat gerade die Besten von uns damals zu Verrätern an Osterreich gemacht, das sich selber verraten hatte.

Ich erinnere mich noch, wie stark mir das Herz schlug, als ich, April 1884, im Anhalter Bahnhof ausstieg, von der Seligkeit des Gedankens überwältigt, nun in derselben Stadt mit Bismarck zu sein, dieselbe Luft atmen zu dürfen wie Bismarck! Zum Essen bei Alexander dem Großen eingeladen zu sein wäre mir auch nicht merkwürdiger vorgekommen als das märchenhafte Gefühl, daß Bismarck, Bismarck! hier leibhaftig unter den Menschen herumging, die daran aber eigentlich offenbar nicht einmal gar so was Besonderes fanden! Ich wußte damals noch nicht, daß Größe zur vollen Wirkung Ferne braucht. Nach Jahren kam ich einmal in Marokko mit einem Beduinen ins Gespräch, das uns nicht eben leicht ward: er kannte kaum

ein Dutzend spanischer Worte. Befragt, woher ich sei, fand ich durchaus keinen ihm bekannten Namen für mein Volk. Deutscher, Österreicher, Wien, Berlin, Kaiser Franz Josef — er schüttelte nur verwundert das mächtige Haupt. Als ich aber sagte: Bismarck, da fing sein edles großes Antlitz zu leuchten an, und dem Landsmann Bismarcks gab er bewundernd die Hand. Die richtige Ferne gehört dazu: Beduinen und österreichische Burschenschafter hatten früher das Augenmaß für Bismarck als Berliner Eckensteher. Und so schlief ich die erste Nacht in Berlin vor Erregung kaum und konnte dann am nächsten Tag die Stunde kaum erwarten, beim Aufzug der Wachablösung den alten Kaiser im Eckfenster zu sehen, den Kaiser, der den alten Traum der Nation erfüllt, den Kaiser des einigen Reichs! Lange stand ich schon, mir indessen Friedrich den Großen betrachtend, immerhin noch mit einer Einmischung von Resten österreichischen Empfindens. Aber da scholl Trommelschlag, die Wache zog auf, der Kaiser zeigte sich und siehe da wars ein ganz einfacher alter Herr, unbeschreiblich rührend anzusehen. Ich verbiß die Lippen, nicht laut aufzuheulen. Darauf war ich nicht gefaßt gewesen: das war ganz was anderes als Größe, das war viel mehr. Fast verlegen stand der alte Herr am Fenster, und es war ihm anzusehen, daß er sein ganzes Pflichtgefühl aufbieten mußte, um ein Schicksal, das er als unverdient groß, ja vielleicht fast als Beschämung empfand, in der guten Haltung, die sein Stand von ihm forderte, tragen zu können. Nachdenklich ging ich weg, aber das Seltsame war, daß mich dieses Bild nun auf allen meinen Wegen durch die fremde Stadt begleitete, sie selber sclven ja, ganz wie der alte Kaiser, von allem was unversehens aus ihr geworden war, was sie notgedrungen noch alles werden mußte, nicht gerade freudig überrascht, wenn auch entschlossen, ihre Pflicht zu

zu tun und was sie sich als nunmehr Hauptstadt eines Reichs schuldig war, standesgemäß zu leisten, aber nicht ohne leisen Neid sich vergangener Zeiten erinnernd, von denen es jetzt endgültig scheiden hieß. Berlin war damals das gerade Gegenteil großstädtischen Schwindels: es wuchs und wuchs eilends empor, aber unwillig, sozusagen mit von sich selbst abgewendetem Blick; es hätte sich selber am liebsten nichts davon merken lassen wollen, zärtlich stolz gerade das hegend, was es eigentlich schon gar nicht mehr war, was nur aus Versehen vom Geist des alten Berlin noch stehen geblieben war Wien war doch viel älter, aber es tat ganz neu. Berlin war schon viel größer, aber es gab sich noch klein. Berlin war auch schon viel reicher, aber ich konnte noch einen alten General leibhaftig in einer humpelnden Droschke zweiter Güte zum Hofball fahren sehen: ein unvergeßliches Erlebnis für den Wiener, dem doch ein Leutnant in einem Einspänner damals etwas Unfaßliches gewesen wäre. Da war ich aus dem Ringstraßenwien ins Gegenteil geraten: in eine Stadt, die sich umgekehrt in der Pose der Enge, der Armut, ja fast eines alt-väterischen Idylls gefiel. Und sie hatte noch alte märkische Kraft genug bewahrt, um sich selber gar nicht merken zu lassen, daß dies alles im Grunde doch schon eigentlich zur Pose geworden war, daß in ihr schon der „Betrieb" lauernd verborgen lag, der zehn Jahre später in amerikanische Halme schoß.

Mir war angeboren, alles was mir begegnete, was mich umgab, Menschen wie Zustände, ganz unbewußt und unwillkürlich als Sinnbilder meines eigenen Lebens, als Stationen meines Inneren, als Zeichen, die mich zu mir selbst wiesen, 2u benützen und wenn ich mich allen äußeren Eindrücken willig überließ, wars in einem seltsamen stillen gläubigen Vorgefühl, mein eigener Genius stecke

dahinter; Schutzengel sagen wir Katholiken. So hat mir damals der Anblick Berlins Schichten meines Wesens entdeckt, die sich bisher nicht hervorgewagt hatten. In dieser kühleren Luft fand ich zum ersten Mal Mut zu dem, was Fontane, dessen Werke, den von Person ich erst viel später, als er schon eben siebzig geworden war, kennen gelernt, „Unfeierlichkeit" nennt. Das hat jeder Österreicher im Blut, aber er hält es für unerlaubt; man redet ihm ein, es gehöre zur guten Form, gleichsam immer in seiner Rolle zu bleiben. Die Vorliebe des Berliners für das „Rüde" tat mir, sobald ich mich vom ersten Schrecken meiner österreichischen Wehleidigkeit erholt hatte, merkwürdig wohl und ich gewöhnte mich rasch an die Sorglosigkeit, mit der einem der Berliner die Wahrheit oder was er dafür hält, sagt und sie sich aber auch selber sagen läßt. Er ist nicht, was wir unter „taktvoll" verstehen, aber ich fand bald, wie viel man von taktlosen Leuten über sich erfährt. Ja war hier Ja, Nein war Nein: das ist nicht immer angenehm, aber es erspart einem die Mühe, nun erst dem Ton, in dem bejaht wird, abzuhorchen, ob damit wirklich Ja gemeint oder ein Nein maskiert wird. Auch der in meiner Heimat unbekannte Begriff der Zeit wurde mir allmählich geläufig: ich bemerkte, daß es hier im Norden bei Verabredungen, sich um vier Uhr zu treffen, nicht Brauch war, erst gegen sieben zu kommen. Das Dasein verlor hier viel an Romantik, die Leute schienen mir arg pedantisch, aber an der Eile, mit der ich mich darein fand, ward ich gewahr, welcher Philister zu meinem Entsetzen offenbar in mir stak. Ähnlich erging es mir später in Paris: diese beiden Städte, so grundverschieden sonst, haben mich die bürgerlichen Tugenden, sie haben mich arbeiten, mein Inneres ordnen, Launen wehren, bei der Stange bleiben, Ungeduld zugein, mit der eigenen Kraft haushalten, mich nicht mehr an jeden neuen Reiz verschwenden, sie haben

mich Entsagung, Selbstbeherschung und damit erst die richtige Verwaltung meiner Gaben wenn auch nicht ausüben, so doch fortan immer von neuem wieder anstreben gelehrt. Vielleicht weil in Berlin der Achtziger und im Paris der Neunziger Jahre, dort noch aus alter Zeit her, hier nach überwundenem zweiten Empire wieder, das geistige Leben von derselben Menschenschicht beherrscht war: von Söhnen des noch ganz tief in festen sittlichen Überlieferungen wurzelnden, eben erst der ärgsten Not entwischten und halbwegs vor Hunger gesicherten, Entbehrung gewohnten, Leben überhaupt nur als Arbeit kennenden, sich jeden Groschen vom Mund absparenden, weil ihn zinstragend angelegt zu wissen mehr als alles was es sich dafür kaufen könnte, freut, mühsam Schritt um Schritt zu Wohlstand emporkeuchenden, nüchternen, harten, unnachgiebigen, zähen, leidenschaftlich ausdauernden mittleren oder kleinen Bürgertums- Spuren solcher Abkunft trug auch ich in mir- Sie waren in Wien verwischt worden, nun entsann ich mich ihrer wieder, ja so sehr, daß ich zu meiner höchsten Überraschung auf den Einfall kam, einmal den Versuch zu wagen und in Berlin die Kollegien nicht zu schwänzen. Ich schrieb sogar mit und habe mir manches Heft bis auf den heutigen Tag bewahrt.

Ich hatte mich entschlossen, Nationalökonomie zu studieren, eine Wissenschaft, von der ich zwei Jahre früher noch kaum den Namen kannte: plötzlich war sie die Leibspeise des neuen Geistes geworden. Auf alle Fragen, die wir jungen Leute vergebens an die ratlose Philosophie, an die durch ihr nüchternes Ignorabimus enttäuschende Naturwissenschaft stellten, schien hier Antwort; siewargewissermaßenderOkkul-tismus jener Zeit, von ihr hofften wir zaubern zu lernen, eine glücklichere, menschenwürdige Zukunft herbeizaubern. Auch hatte sie den Reiz, nicht bloß Erkenntnis zu verheißen, sondern

zur Tat aufzufordern: sie half uns das Leben meistern, die Gestalt einer neuen Welt entwerfen, alte Träume der Sehnsuchtverwirklichen. Sie war mehrals Wissenschaft, sie war auch noch Kunst, sie war die Wissenschaft einer geheimen Kunst, der Kunst, aus der Arbeit Gold zu machen. Wirklich als Alchimie der Zukunft sozusagen empfanden wir sie. Denn wie Jugend ja stets alles zunächst beim Ende anfängt, verstanden wir unter Nationalökonomie natürlich nicht die Lehre Adam Smiths, dieser englischen Krämerseele, sondern wir meinten damit die kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881, wir meinten Bismarck. Der erste Nationalökonom, den ich las, war Rodbertus, der Gutsherr von Jagetzow, und auch alle anderen kamen für mich nur als Vorarbeiter der bismarckischen Sozialreform in Betracht. Daß Adolf Wagner als ihr Berater galt, hatte mich so magisch nach Berlin gezogen: im Grunde war ich als Nationalökonom an die Berliner Universität gegangen, um bei Adolf Wagner Bismarck zu hören. Und die Vorlesungen genügten meiner Ungeduld schon im Voraus nicht, ich wollte mit einem Satz gleich mitten ins Geheimnis hinein, ich wollte gleich die letzten Weihen, ich wollte gleich in Wagners Seminar Einlaß, zu seiner Intimität. Mein ers er Weg ging also nach Charlottenburg, wo Wagner damals wohnte- Mai wars, das Gärtchen ums Haus in Blüten, ich auch. Man wie3 mich im Erdgeschoß in ein weites Gemach, da stand er in dem großen, ernsten Raum vor dem hohen Fenster am Pult, die Feder in der Hand, ohne sich durch meinen Eintritt stören zu lassen, schlank, die Schultern emporgezogen, der ganze Mann in Arbeit eingespannt, ja förmlich in ihr erstarrt, nur seine Brille glänzte geschwind zu mir herüber und ein kurzes Nicken, das ich eigentlich mehr bloß empfand als wahrnahm, hieß mich reden. Erst als ich meinen Wunsch aufgesagt hatte, ohne zu verhehlen, daß es mir an allen Vor-

kenntnissen gebrach, gab er einen Laut von sich, einen eigentümlichen Zungenschlag oder Gaumenknall, halb ein Schnalzen, halb ein Kauen, das seine Gewohnheit war. Es begann ein Verhör, rasch, ungeduldig, nicht angenehm. Der viel geschäftige, von so vielen Pflichten umdrängte, bald aus dem Seminar zur Vorlesung, bald wieder von der Wissenschaft in die Politik, nach atemloser Tagesarbeit abends noch zu Volksversammlungen weit draußen irgendwo, mit Stöcker zusammen, eilende, für sein eigenes Werk: die „Grundlegung" und den neuen Band der „Finanzwissenschaft" nur die Hast abgesparter Viertelstunden erübrigende, gleichsam auf dem Sprung lebende Mann hatte seine Zeit so haarscharf eingeteilt, daß sich da wirklich nirgends eine der behaglichverweilendenArtigkeiten einschieben ließ.mitdenen der Österreicher sein Leben verbringt. Bevor ich mich recht besann, war ich schon wieder draußen und staunte nur, daß er mich, nach einem letzten musternden Blick achselzuckend und wieder mit jenem gaumig abschnalzenden Laut, als wenn ich ein Pferd wäre, schließlich doch in sein Seminar aufgenommen hatte. Das war nun einer von den unverdienten Glücksfällen meines Lebens. Denn ich trafs gut, Wagner selber hat nach Jahren noch gern immer wieder von diesem Jahrgang erzählt: die „Mischung" sei niemals besser gewesen. Da war vor allem Heinrich Dietzel, jetzt in Bonn, längst Geheimrat, von uns allen Wagners eigener innerer Art der Nächste, knapp, klug, kühl, selbstbeherrscht und selbstverwahrt, Distanz haltend und Distanz nehmend zu Menschen wie zu Dingen, immer eher geneigt, zu wenig als zu viel zu sagen, ein Spötter voll Mißtrauen, auch gegen sich selbst, nicht gerade hochmütig, doch hochsinnig, nicht herablassend, sondern ruhig auf seiner Höhe bleibend, den anderen höflich seine Fläche zukehrend, schamhaft seine Tiefe verbergend, und einer von den ganz seltenen

Menschen, deren Tugenden der Schatten fehlt, schärfsten Verstandes, doch nicht ohne Gemüt, ein fast harter, aber zarter Mann, verhalten, doch nicht verschlossen, eigenartig ohne Eigensinn, entschieden ohne Rechthaberei, sarkastisch, aber gutmütig, die Schwächen anderer auf den ersten Blick durchschauend, aber nachsichtig, bei starken inneren Impulsen äußerlich die Ruhe selbst, so wohlgeboren und wohlerzogen als wohlabgewogen und wohlausgegoren, ganz aus einem Stück völlig aufgebaut ohne jeden Anbau, so zusammenhängend, daß man sich schon damals nicht vorstellen konnte, er wäre jemals unreif gewesen, wie man sich wieder heute nicht vorstellen kann, daß er jemals altern wird, aber dieses Wunder von einem Menschen, damals schon und heute noch, nun seit je so behutsam und unscheinbar gebrauchend, daß es die meisten gar nicht bemerken, wodurch ihm nun freilich seine gelehrte Carriere sehr erleichtert worden ist. Ihm nicht unähnlich Wolfgang Heine, mein bester Freund, damals eben vor dem Referendarexamen, Stockpreuße, doch von der zu jener Zeit nicht seltenen weimarisch angehauchten Art (sein Vater war Rektor in Weimar gewesen, bevor er das Gymnasium in Brandenburg übernahm), und Stockprotestant, nicht im konfessionellen, aber in Goethes Sinn („der Prediger steht zur Wache . . . und will in Kunst und Wissenschaft wie immer protestieren"), und dazu nun dann auch noch stockernst, von jenem grimmigen Ernst der Norddeutschen, der sich mit der reinsten Herzensheiterkeit sehr gut und allenfalls auch gelegentlich noch mit Berserkeranfällen einer wilden Ausgelassenheit verträgt, aber vor jeder Art Ironie, gar meiner zuletzt dann immer auch noch sich selbst ironisierenden, fassungslos steht, für mich das erste Beispiel einer mir bis dahin ganz unbekannten, zunächst fast unbegreiflichen inneren Mischung, zu der man wohl blond geboren

sein muß, Mischung nämlich von unverlierbarer Unschuld eines ganz unmittelbaren, mit instinktiver Sicherheit, ja fast automatisch wirkenden sittlichen Empfindens mit einer bei solcher angeborener innerer Entschiedenheit ganz unbegreiflichen, jedenfalls unnötigen Lust an Abenteuern des Intellekts, um durch immer stärkere Belastung gleichsam die Tragkraft jenes Empiindens, die Standhaftigkeit des Gewissens immer von neuem wieder zu prüfen, wie denn eben damals der Sohn des Brandenburger Domherrn, zum preußischen Offizier oder Beamten vorbestimmt, Vertrauensmann der in den antisemitischen „Vereinen Deutscher Studenten" versammelten extremsten Nationalen, Redakteur des „Kyffhäuser", unbedingter Bismärcker, gerade, zunächst bloß aus intellektueller Rechtschaffenheit, bloß um in voller Kenntnis des Gegners über ihn urteilen und sich gegen ihn für Kaiser und Reich einsetzen zu können, allmählig Schritt für Schritt unversehens so tief in den radikalen Sozialismus, in das was durch die Sozialreform Bismarcks überwunden werden sollte, geriet, daß er dann schließlich, schon weil es unter dem Sozialistengesetz feig ausgesehen hätte, wie Furcht vor der Polizei, plötzlich nicht mehr einhalten, nicht mehr abschwenken und nicht Reservelieutenant werden konnte, sondern sich für den Beruf eines Rechtsanwalts entschied, was damals richtiger altpreußischer Empfindung nach eine capitis deminutio schien. Er war der erste durch und durch blonde Mensch, den ich näher kennen lernte; Zuverlässigkeit, Arglosigkeit, intellektuelle Rechtschaffenheit und was ich nicht anders als Herzensreinheit des Verstandes zu nennen weiß, traten mir zum ersten Mal in Person entgegen. Ich hatte bei größter Regsamkeit des Geistes, bei stärkstem Interesse für alle Fragen, doch bisher keine rechte Vorstellung, daß einem etwas zum inneren Problem werden kann. Für ihn gab es eigentlich überhaupt nichts, was ihm

nicht zum Problem geworden wäre. Ich hätte, rings mit so drohenden Problemen besetzt, kein Auge mehr zudrücken können; ihn ließen sie ruhig schlafen. Ich empfand an ihm zum ersten Mal einen ganz tiefen und unaussprechlichen Gegensatz zwischen norddeutschem und süddeutschem Wesen: sie nehmen alles ernst, wir eigentlich meistens gar nichts; aber dabei haben wir das Gefühl, daß wenn wir jemals etwas ernst zu nehmen genötigt wären, es unser Leben kosten würde, während wir mit Verwunderung gegewahren, daß sie dabei ruhig weiter leben können, und nicht bloß dabei, sondern geradezu davon. Wir bewundern an ihnen vor allem, wie leicht es ihnen wird, alles schwer zu nehmen. Sie finden uns oberflächlich, sie tauchen in Tiefen, aus welchen wir, einmal unten, nicht mehr empor könnten; die Behendigkeit, mit der sie gleich aus der Tiefe wieder zurückkehren und, als wäre nichts geschehen, weiterleben, bewundern wir sehr; aber wir bleiben schon lieber, was wir sind.

In jenem Seminar saß unter uns auch ein hochgewachsener, stiller, fast eher schüchterner Student, Werner Sombart, damals noch gar nicht aggressiv und den Sturm seiner Intuitionen entweder selber noch nicht ahnend oder jedenfalls gut vor uns verbergend, heute Wagners Nachfolger auf seiner Berliner Lehrkanzel. Ferner war ein streitbarer junger Böhme da, Karel Kramaf, schon Doktor, von stupendem Wissen und uns allen an Willenskraft, gerader Richtung auf sein Ziel und entschiedenem Schritt weit überlegen, was er uns auch gelegentlich zu verstehen gab, ein glänzender Debatter, unübertrefflich gar in der Repartee, katzenhaf t, bald schnurrend, bald wieder unversehens losfahrend, zuweilen seinen Spott über unser Treiben, das ihm kindisch genug vorkommen mochte, kaum verbergend, als der Einzige von uns, der der Wissenschaft nicht bloß um ihrer schönen Augen willen

diente, sondern ganz genau schon seinen Weg wußte, einen Weg dicht am Galgen gerade noch vorüber ins Prytanern seiner befreiten Nation. Er war damals mein ewiger Widerpart, er ein geborener Hussit mit einer auf Rußland placierten Romantik, ich ein fanatischer Bismärcker und noch mit Eierschalen des Schönerianers. Wir lauerten nur, auf einander loszufahren, zur größten Freude Wagners, der diese richtigen Austriaca, die wir im Grunde doch beide waren und, unser Vaterland überlebend, blieben, mit stillem Behagen genoß. Darin lag recht eigentlich die Kraft, die viel mehr als einen Lehrer, die aus ihm den großen Erzieher einer ganzen Generation gemacht hat: seine Kraft, das Geheimnis des Schülers aufzuspüren, seine Passion an einer wahren Treibjagd auf das Geheimnis, bis es sich ihm ergab, bis an diesem Schüler alles bloß Angelernte, bloß Angeflogene, bloß Vermeintliche, Gesuchte. Gewollte, jede bloße Denkgewohnheit, aller Drill, alier Schein weg und nur das ganz Wurzelechte, das ganz Hieb- und Stichfeste, wofern er überhaupt derlei hatte, noch übrig, aber damit nun auch seine Begabung entdeckt war; an den echten Stellen ist nämlich Jedermann begabt. In der sokratischen Methode des Herausholens junger Menschen aus ihrem inneren Versteck war er ein Meister ohne gleichen. Er hatte darum auch noch eine Schule, während, womit sich Schmoller umgab, eher nach einer Klientel aussah.

Ich war als leidenschaftlicher Adolfwagnerianer von vornherein mißtrauisch gegen Schmoller, und er erwiderte das. Sein Seminar schien mir von einer unerträglichen Langweile. Ich merkte nicht, daß hier insgeheim schon ein Verfahren vorbereitet wurde, das zehn Jahre später an den Universitäten zur Vorherrschaft kam: bei Schmoller kündigte sich behutsam der Einzug des .Betriebs" in die Wissenschaft an, der Ersatz des Gelehrten durch den Zettelkatalog. Das

konnte ganz unbemerkt geschehen, weil Schmoller selber noch durchaus eine Gelehrtennatur alten Schlags war, eine zwar stille, doch starke, wenn auch auf Schwabenart verkniffene, doch durch seinen verhaltenen Ehrgeiz ganz hohen Stils unablässig gesteigerte Persönlichkeit. Wagner verschwendete sich mit beiden Händen, Schmoller sammelte die Brosamen seiner Begabung, er war erfinderisch im Sparen; ihm verdanken wir einen ganz neuen Begriff wissenschaftlicher Organisation, die dadurch allmählich demokratisiert und auch den Unbegabten zugänglich gemacht worden ist; Talent wird als Störung empfunden. Ich hatte zu Schmoller von vornherein einen schlechten Stand. Sein zögerndes, nichts geradezu bejahendes noch geradezu verneinendes, abwägendes, berechnendes, auf den Krücken von Einerseits und Andererseits schleichendes Wesen, in dem die Vorsicht überwog, war mir, gar an dem glänzenden, unaufhörlich blitzenden und in seiner Pedanterie doch fast ritterlichen Wagner gemessen, unleidlich. Wie viel Reife des Urteils, welche Weite nicht bloß, sondern doch auch fast Größe des Überblicks, ja wie viel ruhig gestaltende Kraft aber doch im Grunde seiner behutsamen Mäßigung verborgen lag und daß alles Listige, fast Arglistige, Bauernschlaue, das schwäbisch Faustdicke hinter den Ohren, wie wir Studenten damals sagten, vielleicht nur ein Stacheldraht war, der ihm das Gefühl von Sicherheit geben sollte, das er, um. ungestört und unbedroht ein freier furchtloser Geist zu sein, nun einmal brauchte, dies ist mir nach vielen Jahren erst allmählich aufgegangen. Daß er Feudalen wie Radikalen als Kompromißmensch gleich verdächtig war, nahm er mit seinem gewohnten lauernden Schmunzeln hin, aber gerade diese mir damals so verhaßte Neigung zu Kompromissen kam vielleicht aus einer Erkenntnis, zu der seine Zeit noch nicht reif, durch die er uns allen voraus war, der Erkenntnis, daß die

Grundlage gar nicht, wie wir alle meinten, „Individualismus oder Sozialismus" hieß, sondern höher lag, über beiden und für beide von derselben entscheidenden Bedeutung, von beiden noch ungelöst, daß es die Frage war. wie die Menschheit, sie sei sozialistisch oder individualistisch geformt, sei monarchisch oder demokratisch regiert, sich über den Klassen und den Parteien eine den ruhigen Gang des gemeinsamen Lebens hütende, dem Tagesstreit entrückte Macht sichern kann. Er war in Zeitfragen vielleicht darum so geneigt, sich abfinden zu lassen, weil er, über sie hinweg, seinen geschichtlichen Blick auf Sorgen gerichtet hielt, die damals noch wie blauer Dunst in weiter Ferne schwammen. Auch für den eigentümlichen Reiz seines Stils fand mein Ohr erst später Geduld. Auch sein Stil ist ein Leisetreter. Er hat weder das wuchtige Pathos Treitschkes noch Adolf Wagners aggressive Sachlichkeit noch Rankes incognito reisende Hoheit, aber dafür, was damals schon selten war und seitdem ganz ausgestorben ist: Diskretion. Ich war damals in meinen Urteilen über Menschen noch viel zu rasch, um zu gewahren, zu welcher inneren Höhe sich dieser mit so vielen kleinen Tücken und Winkelzügen gespickte Spießbürger doch allmählig gesteigert hatte, so ließ ich e3 an dem Weihrauch fehlen, den er von seinen Schülern gewohnt war, unser gegenseitiges Mißtrauen wuchs und schließlich fand sich auch noch ein Zwischenträger, durch den ich erfuhr, Schmoller habe vorsichtig den Verdacht angedeutet, ich hätte gar kein Abiturientenexamen, sondern sei sogar urspünglich Kaufmann gewesen. Es gelang mir, Gott sei dank, mich von der Schmach dieser entsetzlichen Verleumdung glänzend zu reinigen. So Heb verzopft war damals noch unser akademisches Leben !

Auch in Vorlesungen anderer Fächer war ich g rn zu Gast. Am liebsten beim ehrwürdigen greisen Zeller. Schon sein

bloßer Anblick, allem Niedrigen Schweigen gebietend, ist mir unvergeßlich geblieben: durch seine Gegenwart allein schien die Wirklichkeit einer idealen Welt vebürgt, er war selber ihr leibhaftiger Beweis. Auf seiner Würde, fast der eines alten Benediktinermönchs, lag ein Hauch heller attischer Anmut, sein hoher Ernst verlor nie das stille Lächeln aller am Baum des eigenen Lebens gereiften Weisheit und eine Luft von solcher Reinheit umgab ihn. daß ich unwillkürlich wieder an meinen geliebten Salzburger Lehrer Josef Steger erinnert wurde; alle diese nachgeborenen Griechen, welchen Stammes und welcher Konfession immer, sehen einander ähnlich. Gemeinsam ist ihnen auch ein merkwürdiger Stolz auf Armut: sie zeigen sich entschlossen, nur vom Geiste Freuden anzunehmen, jedes andere Glück aber, welcher Art immer, von vornherein höflich dankend abzulehnen. Zeller hatte das offenbar schon aus Tübingen mitgebracht, doch ein Berliner Zuwachs war daran unverkennbar, wie denn süddeutsche Tugenden oft in der härteren Berliner Zucht erst zur vollen Besinnung kommen, schon dadurch daß sie hier erst gewissermaßen auf sich pochen lernen. Und Berlin ist ja dieser alten deutschen Sitte, daß geistiger Adel irdischen Wohlstand, wenn er ihn nicht geradezu verachtet, jedenfalls als etwas höchst Gleichgültiges und eher Störendes empfindet, lange treu geblieben, bis in die Mitte der neunziger Jahre hinein.

Treitschke war damals schon völlig taub, sein eigenes Wort nicht mehr hörend und also unfähig, die Rede zu meistern, die nur wie ein qualmiger Erdbrand aus seinen bellenden Lippen brach, aber mit welcher Wildheit in den einwärts starrenden, von inneren Gesichten kochenden Augen, mit welchem Paroxysmus einer fast verruchten Willenskraft, aus seinem Glauben Gott und die Welt zu gestalten, und sozusagen furor teutonicus, aber zugleich auch altes Testa-

ment in einer Person! Und daß wir seinem rauchenden Enthusiasmus insgeheim etwas Gewaltsames, ja fast etwas Unreines vielleicht die Todesseufzt r seines eigenen erstickten Heimwehs nach einer verblühten stilleren Zeit, in der die Deutschen noch ein leidendes Volk gewesen, anzuhören glaubten, gab ihm nur noch mehr Macht über ein Geschlecht, das dumpf voraus empfand, daß ihm bestimmt war, Abschied von vielem zu nehmen, um unb schwert in die Zukunft zu stürmen Zwischen Zeller und Treitschke, jenem sinnenden Benediktiner und diesem keuchenden Archiiochus, zwischen dem lieben alten Tübinger Deutschland der inneren Freiheit durch Entsagung und dem neuen Preußen der erobernden Tat war uns die Wahl gestellt. Ich aber widerstrebe jeder Wahl, ich bin ein so starker Jasager, daß ich immer auch jedes Nein bejahen und auch das Nein, das durch ein Ja weggewiesen wird, irgenwie noch mit in dieses Ja wieder hineinnehmen möchte: lange bevor ich den Namen des Cusaners zum ersten Mal hörte, war ich mit seiner oppositorum coincidentia vertraut. Ob also nicht über jenem Tübinger und diesem preußischen Deutschtum noch ein drittes möglich und recht eigentlich dieses gerade das meiner Generation vorbestimmte Werk wäre? Da traf mich, als ich eines Tags, aus dem Colleg, in solchen Gedanken durch den Vorgarten schritt, dort wo die Humboldts sitzen, unversehens der Strahl eines blauen Blicks von solcher Reinheit, daß ich der hohen Gestalt des Jünglings mit diesem un-vergesslichen Seelenbück wie gebannt nachging. Ich erfuhr, es sei Heinrich von Stein, ein junger Dozent, Schüler Düh-rings, Erzieher Siegfried Wagners; er ist später die letzte von den „großen Hoffnungen" Nietzsches geworden. Ich war entschlossen, sein Schüler zu werden. Es kam nur in den nächsten Tagen immer wieder irgend etwas dazwischen, ich vergaß zunächst, und als mir, nach Monaten,

mein Entschluß wieder einfiel, war Stein nicht mehr in Berlin. Er hätte mir den Umweg abgekürzt. Denn in ihm war ja schon jenes dritte Deutschland; und zu seiner Coincidenz solcher Oppositen wie Dühring, Wagner und Nietzsche gehörte noch eine ganz andere Spannkraft! So ging ich im Leben noch einige Male an entscheidenden Begegnungen vorbei, sie sogleich erkennend, aber dann verbummelnd. Ich habs meinem guten Genius nicht leicht gemacht.

Indessen hatte sich allmählich eine streitbare Freundschaft mit Wolfgang Heine hergestellt, vielleicht eben aus dem polaren Gegensatz unserer Naturen: mein hoher Flatterflug ließ ihn erstaunen, ich nahm an ihm wahr, was Ernst, Sachlichkeit und Bedürfnis innerer Ordnung, geistiger Rechtschaffenheit und standhafter Treue gegen sich selbst sind; ich fing zu bemerken an, daß es ein Gewissen des Intellekts gibt. Er zürnte mir oft, ich mußte zuweilen über ihn lachen, und als ich aus meiner ersten Behausung in der Zimmerstraße nun, um ihm näher zu sein, in den Norden zog, in die Kalkscheunenstraße hinter der Kaserne des zweiten Garderegiments, waren wir bald unzertrennlich. Unsere heftigen Debatten, meistens auf seiner Bude in der Luisenstraße beginnend, dann die halbe Nacht hindurch im ersten Stock des Cafe Bauer, wo wir sämtliche Zeitungen verschlangen, fortgeführt, bei Morgengrauen, indem wir einander immer wieder durch die Karlstraße noch einmal hin und her begleiteten, noch immer nicht erschöpft, hatten zunächst immer wieder dasselbe Thema, für das er einen neuen Namen fand: er wars, soviel ich weiß, der, in dem von ihm redigierten Kyffhäuser, zuerst das Wort „nationalsozial" geprägt hat. Gemeint war, die Hohenzollern zu sozialen Kaisern, das Deutschland Bismarcks auch für den Arbeiterstand bereit zu machen. Wir fingen damit an, es gelte jetzt auch den Arbeiter für das deutsche Vaterland zu „gewinnen", ohne

daß uns zunächst auffiel, wie merkwürdig doch eigentlich ein Vaterland war, für das ein ganzer Stand,'ein so großer, so breiter, täglich mächtiger empordrohender Stand, erst gewonnen werden mußte. Wir schwärmten für Bismarck und hatten den Zürcher „Sozialdemokrat" abonniert, den eben unseres geliebten Bismarcks Polizei so streng verboten hatte, daß man ihn jedes Mal, nachdem er über die Schweizer Grenze geschmuggelt worden, aus einer anderen unverdächtigen kleinen deutschen Stadt in einem jedes Mal die Handschrift, das Format und die Farbe wechselnden Couvert erhalten mußte. Ich zog noch am siebzigsten Geburtstag des eisernen Kanzlers in den Farben meiner Wiener Burschenschaft durch die Wilhelmstraße mit, schwang begeistert meine Fackel zum Fenster, in dem der Gewaltige stand, hielt auf dem Commers die rituell .flammende" Rede und war wenige Monate später schon bei der Polizei ,.notiert", weil ich an verbotenen Zusammenkünften mit Bebel, Liebknecht und Vollmar teilnahm. Ich wunderte mich damals arglos, warum denn nicht auch Bismarck einmal bei diesen verbotenen Zusammenkünften erschien; ihm hätte Vollmar, der ihm an inneren und äußeren Wuchs glich, eigentlich gefallen müssen. „Man muß seinem Vaterlande nach den Umständen dienen, nicht nach seinen Meinungen": wäre Bismarck noch jung genug gewesen, auch auf sein Verhältnis zur Sozialdemokratie diesen Grundsatz anzuwenden, so wären wir Nationalsozialisten nicht eines Tages plötzlich als Sozialdemokraten aufgewacht. Wir empfanden das gar nicht als Untreue gegen ihn; wir meinten eher, er sei sich selber untreu worden. Wir ließen nicht ab, ihn ehrfürchtig zu lieben, nur freilich anders, wir hätten mit Othello sagen können:

„Cassio, I love thee:

But never more be officer of mine." In seinen Anfängen warunserSozialismus zunächst humaner

Herkunft, bald mit nationaler Bestätigung. Engels hatte mit seiner ,,Lage der arbeitenden Klassen in England" das Gewissen des Bürgers aufgeschreckt, der, schon um seinen Reichtum behaglich genießen zu können, ihn von den ärgsten Blutspuien gereinigt sehen wollte. Rodbertus hatte mit dem Gespenst neuer Barbaren, deren Sturm unsere ganze Gesittung hinwegfegen würde, gedroht. Scham und Furcht wirkten zusammen, Menschlichkeit und Berechnung stimmten überein, dem Herzen nickte der Kopf zu. Bismarck hatte die Gelegenheit, den verhaßten „Freisinn" um den letzten Rest seiner nur noch aus achtundvierziger Erinnerungen aufgewärmten Popularität zu bringen, und einem Preußen, das zum sozialen Staat wurde, hätten es die Arbeiter an Staatstreue nicht fehlen lassen. Ich weiß heute noch nicht ob das wiiklich so utopistisch gedacht war, als man der kleinen Schrift, in der ich es damals aussprach, vorwarf. Der alte Schäffle war ihr Anlaß, mit seinem nicht sehr klugen Buch über ,,cie Aussichtslosigkeit der Sozialdemokratie", dem ich mit meiner , Einsichtslusigkeit des Herrn Schäffle" witzig, wenn auch ungezogen antwortete. Sie hat damals eigentlich nur im böhmischen Hochadel gewirkt, auf dessen Seh össern man sich gerade zu jener Zeit von Schäffle seufzend sozialpolitisch belehren ließ; die jungen Herren rächten sich für diese Pein, indem er bei ihnen fortan nur „Der Einsichtslose" hieß. Mein? Schrift kam also doch eigentl cli an die falsche Adresse. In Berlin aber galt ich seitdem für „verdächtig", und während ich eher erwartet hätte, zu Bismarck berufen und sein vortragender Rat für Hohenzollern-sozialismus zu werden, rieten mir Freunde zum Abschied von Berlin, bevor er zur Ausweisung würde. So ward der Doktor der Staatswissenschaft zunichte; sonst wäre ich jetzt längst preußischer Geheimrat und heute vielleicht, wer weiß? Reichskanzler.

Aber nicht bloß Enttäuschung über die kaiserliche Botschaft von 1881 ließ uns an dem alten Preußen, von dem wir uns die Kraft zur sozialen Erneuerung der Welt erhofften, irre werden, sondern wir entdeckten nun auch noch, daß es gar nicht mehr das alte Preußen war. Das alte Berlin, das Berlin Schadows und der Rahel, wo sich, wenn er am Brandenburger Tor die Wache kommandierte, der Leutnant Chamisso die Zeit mit griechischer Grammatik vertrieb, das Berlin E- T. A. Hoffmanns, das Berlin Zelters, das Berlin Lessings, gab es denn das überhaupt noch? An gewissen, märkisch wehenden Märztagen schien es noch in der Luft zu liegen. Und wo jetzt die Kammerspiele sind, war damals ein unpassendes Lokal, dasEmberg hieß, aber Stemmberg genanntwurde: dort tanzten Mädchen von einer ungeschlachten bäurischen Schönheit, sie hatten etwas Dumpfes, ja Tierisches, tierisch in ihrer willenlosen Ergebung, tierisch aber auch in ihrer plötzlich ausschlagenden Wildheit, die jedoch gleich immer wieder in einen unwillkürlichen, man möchte sagen: kasernierten Rhythmus fiel, der Hohenfriedbergermarsch fuhr ihnen, wenn sie heiß wurden, in die Hüften, und man glaubte gewissermaßen auf einem Exerzierfelde von Mänaden zu sein. Diese Habtachtstellung auch der Schamlosigkeit noch, diese Mischung von Unzucht mit Drill war schon, wenn auch bloß als Karikatur, noch sehr Berlin, altes Berlin, in das nun aber etwas Neues, etwas Fremdes drang, ein häßlicher Geruch nach wesenloser Großstadt, ein Geruch von Elend und Laster, nicht der Armut, sondern frech bewußter, höhnisch zur Schau getragener Schande: in die Roheit drang allmählich immer mehr Gemeinheit ein, und diese Gemeinheit wurde zum Geschäft, sie machte sich bezahlt, denn sie diente bald zur unentbehrlichen Belustigung, zur abendlichen Erholung der anständigen Leute von ihrer Tagesanstandig-

keit. Das erste Zeichen, wodurch sich die beginnende Verwandlung eines Bürgertums in Bourgeoisie verrät, ist das Bedürfnis, für die Befriedigung der nostalgie de la boue vorzusorgen. Das deutsche Bürgertum, das Gustav Freytag an der Arbeit aufgesucht hat, fing allmählich zu bemerken an, daß ihm Geibel, Roquette und Baumbach, von denen ihm an Feiertagen seine Frauen vorschwärmten, nicht mehr ganz genügten. Es wäre sehr beleidigt gewesen, das was es sich eigentlich wünschte, beim rechten Namen zu hören. Es wollte sich nicht encanaillieren, aber es hatte nichts dagegen, in die Nähe davon zu kommen. Wo ein Wille ist, ist immer auch ein Weg, und so entstand eine neue Industrie zur Bedienung dieser noch unaufrichtigen Gelüste. Typisch dafür war das kleine Cafe Chantant des Berliner Nordens mit den Büsten des alten Kaisers, Bismarcks und Moltkes unter grellen bunten Lampen, mit Heil Dir im Siegerkranz und verlogenen Schmachtfetzen aus lustverseuchten Kehlen, mit Loreley, Zoten und Suff, ein patriotisch sentimentaler Bordellersatz, zur Abendandacht für Studenten, Referendare und Offiziere, für die Blüte der Nation, so daß der schüchterne junge Kaufmann in den hinteren Reihen sein Gewissen durch einen Blick auf diese vorbildliche Gesellschaft beruhigen konnte- Das war sozusagen die andere Seite der Butzenscheibenlyrik, ihre Nachtseite.

Jeden innerlich nicht ganz verdreckten Jüngling überwältigte der Ekel. In der Studentenschaft waren nicht viele geborene Berliner. Die meisten von uns kamen aus kleinen Familien kleiner Städte, Großvater war noch Bauer oder Handwerker gewesen, Vater hatte sich am'Rande des Mittelstandes emporgehungert, in ein kleines Geschäft oder in ein kleines Amt hinein. Das Einzige, was solchen Existenzen Halt und Trost gibt, ist das Gefühl ihrer Anständigkeit. Es ist auch das Einzige, was sie den Kindern zu bieten haben.

Gerade weil man den Kindern nichts anderes ins Leben mitzugeben hat, wird auf ihre sittliche Bildung so gedrungen. Zur Erleichterung bedient man sich im sittlichen Unterricht gern eines abgekürzten Verfahrens, man erzieht das Kind in der Fiktion, der Mensch sei gut von Geburt, es selber wünsche sich im Grunde nichts mehr als Recht zu tun, es merke das nur noch nicht, es verstehe seinen eigenen inneren Wunsch noch nicht, Laster beruhe nur auf einem Mißverständnis, Tugend rentiere sich viel besser, nicht etwa bloß dereinst drüben, sondern auch hier auf Erden schon, ihr Weg sei der zu Wohlstand, Reichtum und Ansehen, so decke sich die sittliche Pflicht durchaus mit dem Gebot des eigenen Vorteils; in der kleinbürgerlichen Moral jener Zeit stak ein verschrobener Calvinismus; im Vater, der, bettelarm vom Dorf zugewandert, es allmählich in der kleinen Stadt durch Fleiß, Rechtschaffenheit und Sparsamkeit zu knappem Wohlstand gebracht hatte, verehrte der Sohn eben darum schon ein sittliches Vorbild. Und war nun der Bub in der strengen Hut vorsorgender Eltern endlich so weit, daß er, nochmals mit tausend Warnungen, Mahnungen und Erinnerungen gesegnet, endlich das Vaterhaus verließ, um nach Berlin studieren zu gehen, ist es ein Wunder, daß ihn hier nach ein paar Wochen das Gefühl überkam, sein ganzes Leben lang bisher von Eltern und Lehrern nur immer infam belogen worden zu sein? Nichts als Lug und Trug zur Äffung der Dummen, um Kulis des Kapitals aus ihnen zu machen, war diese ganze „Sittlichkeit" doch sichtlich: man mußte den ehrenwerten Bürger nur einmal erst im Chantant gesehen haben, da zeigte sie sich, da ward ihr Geheimnis offenbar! Wir schwelgten damals in Offenbarungen der bürgerlichen Sittlichkeit und merkten in unserer höhnischen Erbitterung gar nicht, wie viel selbst an diesem Wahrheitsfanatismus doch auch wieder nur maskierter Cant war.

Das kleine Bürgertum päppelte damals seine Kinder gern mit des braven Augsburger Domherrn Christoph von Schmid und des eifrigen Dresdner Jugendfreundes Franz Hoffmann veilchenblauen Erzählungen optimistisch auf. Aus so sanften Träumen durch den unerwarteten Anblick der Großstadt aufgeschreckt, hatte sie nun das Bedürfnis nach einem Vomitiv. Zola bot es an, zur Genesung von Paul Heyse. Welcher Stolz aber war es gar für uns, als sich dann auch noch unser eigener Zola fand, ein Berliner Zola: Max Kretzer, in dessen „Betrogenen" und „Verkommenen" unser tiefes menschliches Mitleid mit den Enterbten ebenso auf seine Rechnung kam wie der schadenfrohe Hohn, in menschlicher Gemeinheit zu wühlen. So sanken wir unmerklich in Nihilismus ein, und in den gefährlichsten, einen salonfähigen mit den besten Manieren, den Nihilismus, mit dem Ibsen nur immer höflich fragt: „Ist es wirklich groß, das Große?", so lange freundlich, ja mit einem Anschein von Zärtlichkeit an jedem Ding klopfend, bis es hohl klingt. Für Ibsen, nicht den damals noch verborgenen mystischen, sondern den in Handschuhen sozialkritischen Ibsen mit dem unanstößig spöttischen Skeptizismus, zu dem man Orden tragen kann, schlug jetzt bei der deutschen Jugend die große Stunde. Gleich mein erster Aufsatz, den der Abiturient für eine Salzburger Zeitung schrieb, mein Debüt als Journalist, vor einundviezig Jahren, war eine Verteidigung der von Hugo Wittmann inderNeuen freienPressespöttischzerzausten Nora gewesen, nun blies ich in Pernerstorfers „Deutschen Worten" Alarm für Ibsen, und mit so vollen Backen, daß ich ihn dabei fast schon wieder wegblies. Es ist charakteristisch, nicht bloß für mich, sondern für das Tempo der ganzen Jugend damals, d^ß mein Aufsatz Ibsen „einen literarischen Johannes" nennt, „der die Abkehr predigt von der Gegenwart und den Pfad weist, den der Erlöser der Zukunft

wandeln wird", und daß ich seine Bedeutung „in der Geschichte der Weltliteratur" (billiger gab ich es schon damals nicht!) in „seinem unvergeßlichen Verdienst" zu sehen meinte, „die literarische Gegenwart gründlich abgetan, das Gefühl ihrer Unerträglichkeit zur äußersten Leidenschaft gesteigert und ihm das Mittel ihrer Überwindung gereicht zu haben: bringen wird diese Überwindung erst ein Größerer". So herrlich eilig hatten wirs damals in der schnaubenden Ungeduld unseres Glaubens an uns selbst! Und während mir in meinen fünf Berliner Semestern kein einziges Mal einfiel, ins Deutsche Theater zu gehen (das doch in meiner nächsten Nähe lag, bloß um die Ecke, doch unsere Verachtung des Theaters war zu groß!), saß ich mit Wolfgang und Wilhelm Heine bebend vor andächtiger Erregung im Residenztheater Annos draußen bei Rosmersholm, mit einem so gewaltigen Eindruck, daß ich mir bis zum heutigen Tage noch jeden Blick, jeden Schritt Emanuel Reichers und der unvergeßlichen Charlotte Frohn bewahrt habe.

1885 erschien ein Band Gedichte, der nannte sich mit Fug ein „Buch der Zeit". Jede Stimmung unserer Jugend stand darin, ihr Leid, ihr Zorn, der Hohn, ihr Trotz, ihr Gram, ihr Grimm, aber auch ihr Ungestüm ihres zukunftssicheren Glaubens an ihre Sendung. Merkwürdig war dieser ganz neue Klang der alten Leier: denn dies konnten wir uns nicht verhehlen, daß hier die wilde verwegene Jagd nach Revolution noch den bravsten Geibeltrab ritt. Unser eigenes Pathos hörten wir hier zum ersten Mal, aber wie mit verstellter Stimme.

„Schon seh ich fern am Horizont

Des neuen Tages neuen Schein,

O laßt in seiner Frühe mich

Der ersten Lerchen eine sein!" Wir waren bereit mitzuschmettern, mußten aber gestehen,

daß uns eigentlich die Lerche doch ein schon ziemlich verbrauchtes lyrisches Requisit schien. Aber nach all den langweiligen Klagen stillen Heimwehs nach dem Posthorn wie herrlich, daß endlich einer sich mutig zur Schönheit der verleumdeten Großstadt bekannte, wenn er freilich ihren Ruhm gleich selber auch noch wieder auf dem Posthorn blies I

„Denn süß klingt mir die Melodie

Aus diesen zukunftsschwangern Tönen;

Die Hämmer senken sich und dröhnen:

Schau her, auch dies ist Poesie!" Uns schlug das Herz, denn hier war etwas ganz Neues, da wurde-das Unpoetische für die Poesie entdeckt, nun saß sie nicht mehr in stillen Winkeln des Lebens, sie zog auf breiten Straßen einher, ihr gehörte die Welt in allen Weiten und allen Engen! Daß dieser junge Wein freilich aus alten Schläuchen floß, was lag daran? Arno Holz hat später einmal lustig erzählt, für ihn sei damals das Höchste, das „Entzückendste" eine Zeile gewesen, ,,die wie eine Kuhglocke läutete'*. Nun, im „Buch der Zeit" läuteten noch alle Kuhglocken der alten Lyrik mit, aber sie läuteten Sturm, sie läuteten eine neue Jugend ein, solcher Glocken wollten wir mit Vergnügen die Kühe sein! Mit der unerbittlichen Selbstkritik, die seinem grandiosen Selbstgefühl beigefügt ist, hat er später seine „ganze damalige Lyrik keinen Pfifferling wert" erklärt. Er kann so freigebig sein, weil er ja, so bald er einer Revolution ihr Stichwort gebracht hat, sich immer gleich nicht mehr um sie kümmert, sondern schon wieder zur nächsten wendet. Er hat 1885 mit dem „Buch der Zeit" den Aufstand des „jüngsten" Deutschland eröffnet, er schuf 1890 in der „Familie Selicke" (eine „Tierlautkomödie, für das Affentheater zu schlecht" nannte sie ein führender Kritiker) die Sprache des jungen Gerhart Hauptmann, ja

die Sprache des deutschen Theaters für die nächsten fünfzehn Jahre, und er schuf noch ein drittes Mal Entsetzen, 1899, durch seine „Revolution der Lyrik", über den „freien" Rhythmus hinweg zum „notwendigen" Rhythmus empor; diese Revolution ist noch immer nicht aus, sie wirkt noch immer fort, es könnte sein, daß sie damit schließt, die Königsmacht der alten strengen Form wieder aufzurichten. Bis dahin hockt er vorderhand selber noch immer in einer Dachbude. Er ist die reinste Gestalt seiner Generation; die Tugenden, durch die Preußen einst groß war, hat er sich bewahrt.

Wir lernten ihn im Cafe Bauer kennen. Da haben wir uns manche Nacht heiß geredet, tief in die Zukunft hinein; hell klingt mir bis heute noch sein schnoddriger Enthusiasmus nach. Und unvergeßlich ist mir, wie wir dann einmal f Wolf Heine und ich, im knisternden Schnee zu ihm nach Niederschönhausen hinaus durch die Heide wanderten, in das „Idyll", in dem er mit Johannes Schlaf hauste. Sie hatten nämlich einen Maecen gefunden, der ihnen, um den Hausmeister zu ersparen, für den Winter seine Sommerwohnung überließ. Da saßen die beiden Gefährten, in dicke rote Decken bis an die Nasen vermummt, vor den beißenden Eiswinden und heizten sich mit braunen Wolken aus ihren qualmenden Pfeifen ein, und mit ihrem „simsonstarken" Glauben an die Sendung unserer Generation.

Holz rief mich, der 1887 von Berlin schied, 1890 aus Paris wieder nach Berlin zurück, an die „Freie Bühne", die von ihm und Brahm mit S. Fischer gegründete Wochenschrift, aus der später die Neue Rundschau wurde. Holz, als geborener Agitator, während ich es nur in Anfällen war und dann immer auf einmal wieder ganz vergaß, hatte sich indessen für sein Programm, die „Sprache des Theaters" durch die „Sprache des Lebens" von der Bühne zu ver-

jagen und „statt des bisher überliefert gewesenen posierten Lebens mehr und mehr das nahezu Wirkliche zu setzen, mit einem Woit: aus dem Theater allmählich, das „Theater" zu drängen", ein wachsendes Gefolge kampfbereiter Jünger angeworben, und so kam eines Tages auch ein ratloser Schlesier zu ihm, der sich zuerst als Bildhauer versucht, dann in Jena Naturwissenschaften und Philosophie gehört, gelegentlich auch schon gedichtet hatte, doch noch immer nicht recht zu sich finden konnte. Der brachte ihm ein Stück, zu dem ihn erst Holz, der „konsequenteste Realist", durch „Papa Hamlet" ermutigt hatte. Das Stück hieß „Der Saemann", aber es wurde von Holz umgetauft und, vielleicht leise symbolisch, „Vor Sonnenaufgang" genannt. Am 20. Oktober 1889 im Lessin^theater aufgeführt, als zweite Vorstellung der „Freien Bühne", die am 5. April begründet und am 20. September mit den „Gespenstern" eröffnet worden war, erregte dieses „Schnaps- und Zangenstück" einen Sturm sittlicher Empörung, in dem der arglose Dichter dann so harmlos und unschuldig erstaunt vor dem Vorhang erschien, daß der alte Fontane am nächsten Tag in der „Vossischen" wohlgelaunt schrieb, er habe sich unwillkürlich der Worte erinnert, mit denen der verstorbene Geheime Medizinalrat Caspar sein berühmtes Buch über seine Physikats-und gerichtsärztlichen Erfahrungen begann: Meine Mörder sahen alle aus wie junge Mädchen.

Es war eine ganze Generation, die Generation der in den sechziger Jahren Geborenen, die Generation der jetzt in Jubiläen Bestatteten, die damals aus Hauptmanns erstaunten Mädchenaugen lächelnd auf das Toben herabsah.

DER BRESLAUER S0Z1ALISTENPR0ZESS.

Auch eine Hauptmann-Erinnerung

Von

Heinz Lux.

/\}s die Weber zum ersten Male über die Bretter ge-1 V gangen waren, quittierte der Kladderadatsch den starken Eindruck dieses elementarsten aller Hauptmann-schen Bühnenwerke mit einer Karikatur: „Gerhart Hauptmann mit der Ballonmütze". Der Witz war billig und denunziatorisch zu gleicher Zeit. Denn wenn auch im Jahre 1892 das Sozialistengesetz bereits gefallen war, sowar darum der Sozialist noch lange nicht gesellschaftsfähig geworden. Und vor den „destruktiven Tendenzen" der Sozialdemokratie mußten so oder so Staat und Gesellschaft doch geschützt werden. Also war es Aufgabe aller „staatserhaltenden Elemente", die Einflußsphäre sozialistischer Ideen vor dem harmlosen Bürgertume sicher abzuschirmen- Das war damals nicht so schwer. Es war nur nötig, die Machtmittel des alten Obrigkeitsstaates aufzubieten, um das Publikum vor der Wirkung zu schützen, die allein schon die nackte Vorführung des Elend-Milieus und der Hunger-Verzweiflung ausüben mußte. Die polizeiliche Aktion gegen das Drama, das durch seine innere Gewalt das Mitleiden

aufwühlte, war zwar durch ein Urteil des Oberverwaltungsgerichtes zum Scheitern gebracht. Die Bretter konnten ihm also nicht mehr gut verschlossen werden: aber das Publikum konnte man immerhin vor der gefährlichen Auswirkung des Dramas bewahren, indem man den Verfasser als Tendenzdichter und Sozialdemokraten bemäkelte.

Es ist überaus bezeichnend, daß es Paul Schienther noch 1898 für notwendig halten konnte, dem Dichter das gleiche Recht wie dem Forscher zu vindicieren: „einen historisch beglaubigten Vorgang historisch treu darzustellen". Denn nur so ist es zu verstehen, daß Schienther aus der großen, 1885 erschienenen Arbeit Alfred Zimmermanns über „Blüte und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien" die Stellen herausschreibt, die sich mit dem Weberaufstande von 1844 befassen, um den Nachweis der historischen Objektivität Hauptmanns zu erbringen. Trotzdem konnte es Schlen-ther nicht verhindern, daß der Dichter in gewissen Kreisen auch heute noch als „Sozialdemokrat" verdächtig angesehen wird.

Viel mag dazu der leidenschaftliche Pressekampf aus der Zeit der ersten Weber-Aufführung und der Aufführung von Hanneles Himmelfahrt beigetragen haben. Galt damals doch schon allein die Kritik sozialer Zustände als aufwieglerische Tendenz. Und der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, daß irgend ein Officiosus die Tatsache von dem roten Kreuze in Gerhart Hauptmanns Polizeiakten in die unterirdischen Kanäle der Presse geleitet haben mochte.

Dieses rote Kreuz aber schleppt Hauptmann seit dem großen Breslauer Sozialistenprozeß von 1887 mit sich herum. In diesem Prozesse trat Gerhart Hauptmann zwar nur als Zeuge auf, aber es lag nicht an mangelndem guten Willen des damaligen Untersuchungsrichters v. Reitzenstein, wenn die von ihm mit viel Phantasie zusammengeklitterte An-

klageschrift sich bloß auf 38 Angeklagte beschränken, die Brüder Carl und Gerhart Hauptmann, sowie deren Freunde Alfred Ploetz, Ferdinand Simon, Hugo Ernst Schmidt u. a.m. außer Betracht lassen mußte. Den Schlingen der Anklage war Gerhart Hauptmann damals mit knapper Not entgangen; aber von den Vorsitzenden der Breslauer Strafkammer, dem Landgerichtsdirektor Freytag, wurde der Zeuge Hauptmann doch auch nur als Schacher behandelt, dem im Grunde ein Platz auf der Anklagebank gebührte. Und die rachsüchtige Breslauer Polizei und ihre verächtlichen Spitzel, zu denen, wie leider erst infolge der November-Umwälzung von 1918 bekannt geworden ist, auch der damalige sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Bruno Geiser gehört hatte, vergaßen auf Jahrzehnte hinaus niemanden, der in dem an Justiz-Skandalosa so überreichen Breslauer Sozialisten Prozesse irgend eine passive Rolle gespielt hatte.

Fünfundreißig Jahre sind seit diesem Prozesse vergangen, der kein Ruhmesblatt in der Geschichte der politischen Prozesse Deutschlands gewesen ist; bei den Überlebenden steigt noch heute tiefer Groll gegen die Akteure auf, die in ihm als Richter, Kriminalisten und Spitzel eine Rolle gespielt hatten.

Von der Zeit dieses Prozesses will ich auf diesen Blättern einen Bildausschnitt geben, war doch diese Zeit in mancher Hinsicht bestimmend für die gesamte geschichtliche Entwicklung Deutschlands und vielleicht auch bestimmend für die Katastrophe, die jetzt über unser Vaterland hereingebrochen ist. Sie ist auch bestimmend gewesen für den Werdegang des Dichters Gerhart Hauptmann. \X ir haben sie gemeinsam durchlebt, wenn auch nicht in enger persönlicher Gemeinschaft und Freundschaft, so doch durrh gemeinsame Freunde und gemeinsames Erleben mit einander verbunden.

Es war die Zeit der großen Probleme in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaftsleben, als ich im Jahre 1883 die Univertität Breslau bezog. In dem ehemaligen Jesuiten-Colleg an der Oder kämpften sie einen lautlosen aber erbitterten Kampf mit den alten Traditionen- Kam man aus dem geistvollen und formschönen Colleg Ferdinand Cohns und stand man noch ganz im Banne Darwinscher Gedankengänge, so schlugen einem sofort die Schwaden mittelalterlicher Scholastik entgegen, wenn man dann das Pflicht-colleg Theodor Webers, des altkatholischen Bischofs, über Psychologie, über sich ergehen lassen mußte. Heyse und Dostojewski, Dahn und Ibsen, Julius Wolff und Zola kennzeichneten die Pole der literarischen Interessen von Vätern und Söhnen. Der nach den Gründerjahren sich zu üppiger Blüte entfaltende industrielle Kapitalismus, der dem ehrsamen Handwerke so mitleidslos den Garaus machte, schuf eine Atmosphäre der Spannung zwischen Unternehmern und Industrieproletariat von heute ganz unverständlicher Schärfe.

In dem sich mächtig reckenden alten Breslau, das einen fast jahrhundertelangen Dornröschen-Schlaf hinter sich hatte, wurde das Neue und Ungewohnte immer noch um einige Grade feindseliger aufgenommen als in dem regeren Westen. Immerhin durfte man doch auch in guter Gesellschaft über die neue Kunst wenigstens sprechen, ohne gleich als Verlorener angesehen zu werden.

Worüber man aber keinesfalls mit persönlicher Anteilnahme sprechen durfte, das waren die Probleme des Sozialismus. In der Heimatstadt Lassalles war der Sozialismus verfemt, und selbst in den Kreisen der Industriearbeiter bekannte sich so leicht niemand offen zur Sozialdemokratie, da er sonst Gefahr lief, Arbeit und Brot zu verlieren. Nicht einmal in der akademischen „Freien Wissenschaftlichen Vereinigung" durften die Fragen des Sozialismus zur Dis-

kussion gestellt werden. Und es war nicht nur der Druck des Sozialistengesetzes, das diese bleischwere Atmosphäre schuf, viel mehr war es die eigene persönliche Einstellung der studierenden Jugend und der akademischen Kreise, denen es ihre Herkunft verbot, einer Frage näher zu treten, die nur für die politische Einstellung des Industrieproletariats Interesse haben dürfte, und gegen die deshalb a priori Stellung genommen werden mußte. Galt doch schon der Versuch sachlichen Eingehens auf die Probleme des Sozialismus als Verrat an der eigenen Gesellschaftsklasse. Wie engstirnig allgemein die Auffassung des Gesellschaftspro-blemes war, das unsere Zeit so vollständig beherrscht, habe ich an meinem eigenen Leibe erfahren müssen. Ausschlaggebender Grund für meine Relegation von der Breslauer Universität war nicht etwa meine Beschäftigung mit dem Sozialismus, ja nicht einmal dieTatsache. daß ich wegen Vergehens gegen das Sozialistengesetz rechtskräftig zu langer Gefängnistrafe verurteilt war, sondern allein die Tatsache, daß ich als Student an einer sozialdemokratischen Versammlung teilgenommen hatte, auf der es angeblich Freibier gab. Nach der Auffassung des akademischen Senates war es eine Verletzung der Standesehre, wenn ein Akademiker mit Handarbeitern kameradschaftlich verkehrte! Natürlich war das nur der publizierte Grund für die Relegation. Der wahre Grung war der Wunsch Sozialdemokraten als soche von der alma mater fernzuhalten. Diesen Grund zu publizieren wäre freilich für eine auf die „freie Forschung" abgestellte Universität denn doch zu blamabel gewesen. Die Betonung des Standesdünkels dagegen konnte im Lande des preußischen Kastengeistes kaum Anstoß erregen. Und das galt nicht nur für Breslau und Preußen! Als mein väterlicher Freund, der verstorbene Physiker O. E. Meyer mich nach erfolgter Relegation an seinen Bruder,

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den Chemiker Lothar Meyer in Tübingen zur Immatrikulation empfahl, mußte er die Antwort einheimsen, daß ein Sozialdemokrat ein Mensch mit einem moralischen Defekt sei, der nicht auf die Universität gehöre.

Und doch hatte trotz alledem der Sozialismus auch in der akademischen Jugend schon Wurzel zu fassen vermocht- In Breslau war es allerdings nur ein sehr kleiner Kreis, der sich in zunächt noch recht unklarer Schwärmerei zusammengeschlossen hatte. Er ging wurzelhaft auf eine Gruppe von Schulfreunden des Realgymnasiums „zum Zwinger ' zurück, die sich ursprünglich in die Rollen der Helden aus Dahns Kampf um Rom hineinversponnen hatten. Carl Hauptmann, Alfred Ploetz, der bekannte Rassenhygieniker, Ferdinand Simon, der aufopferungsvolle Züricher Arzt und nachmalige Schwiegersohn August Bebeis, waren die Hauptstützen dieses Freundschaftsbundes, dem die erheblich jüngeren Gerhart Hauptmann und der farbenfrohe Landschafter und feinsinnige Kunstkritiker Hugo Ernst Schmidt eng verbunden in persönlicher Freundschaft und Weltanschauung gleichfalls angehörten. Als ich nach Breslau kam war der Kreis hier nicht mehr vereint. Carl Hauptmann, und Ferdinand Simon saßen zu Füßen Haeckels in Jena, Alfred Ploetz studierte in Zürich, Gerhart Hauptmann befand sich auf einer Seereise um die Westküste von Europa, die in dem „Promethidenlos" ihre dichterische Auswirkung erhalten hatte, und Hugo Ernst Schmidt machte mit Palette und Pinsel die Berliner Löcknitz-Gegend, das Riesengebirge und Rügen unsicher. Ploetz, durch den ich Eingang in diesen Kreis fand, war sein Kopf und Sauerteig zugleich. Er hatte die frisierte Ideenwelt Dahns, in der sich der Freundeskreis ursprünglich zusammengefunden hatte, durch die Weltanschauung des Sozialismus verdrängt und damit den Kreis vor ein Ziel und vor Aufgaben gestellt, die über-

raschend neu waren und in ihrer weittragenden Bedeutung unerschöpflichen Stoff für die gegenseitige Förderung und geistige Befruchtung gaben. Wie von einem Blitzlichte erhellt, sah man auf einmal das andere Gesicht der Welt und der Gesellschaft. Und nicht zuletzt die Brutalität dieser Beleuchtung gab dem weichen, sensitiven, mit den Leidenden und Bedrängten mitfühlenden Gerhart Hauptmann, der damals zwischen zwei Künsten schwankte, den entscheidenden Anstoß, den Meißel mit der Feder zu vertauschen. Mit Ploetz kam ich durch die Freie Wissenschaftliche Vereinigung zusammen. Als ich in diese damals freieste Corporation der Breslauer Universität eintrat, klang noch der Ruhm ihres verflossenen ersten Chargierten Alfred Ploetz nach, der grade nach Zürich gegangen war, um bei Platter Nationalökonomie zu hören. Er wurde laut bewundert, nicht zuletzt deshalb, weil er in einer schweren Säbel-Mensur die Ehre der F. W. V. gegen verläumderische Beleidigungen durch ein ehemaliges Mitglied in Schutz genommen hatte. Leise fügte mein Leibbursch in Gesprächen über Ploetz freilich immer warnend hinzu: ,,Aber er ist Sozialdemokrat!" Für mich allerdings Grund genug, mit Spannung den großen Ferien entgegenzusehen, wo Ploetz auftauchen sollte- Endlich kam er. E^ne strahlende Reckengestalt, elastisch, kühn, verwegen bis zur letzten Konsequenz Alfred Loth in „Vor Sonnenaufgang"). Ein glänzender Debatter auf allen Wissensgebieten; in den Naturwissenschaften, in Nationalökonomie und Politik gründlich beschlagen. Künstlerisch und literarisch freilich ein arger Banause; aber damals empfand man das noch nicht so bewußt. In der gärenden Jugendzeit imponierte schon jede Kraft-und Genie-Anmaßung als solche, und der „Kampf um Rom" wurde eben nur als Kraftäußerung gewertet. Dazu war Ploetz noch ein fanatischer Doktrinär, der seine konstruierten

Theorien post hoc mit „Gründen" stützte, die dem krassen Fuchs schlechthin unwiderleglich schienen- Im eignen Sturm und Drange zog der unentwegte Stürmer und Projektemacher unwiderstehlich an, und er wurde Freund und Lehrer zugleich. Unbezwinglich war er in seinem Streben, die eigne, frisch gewonnene Erkenntnis zu propagieren, das dämonische Feuer, das in ihm brannte, auch über seine Freunde auszugießen und mit Hilfe seiner Freunde gleich die ganze Welt in den Bannkreis seiner Idee zu ziehen. In seiner Gebelaune war es ihm selbstverständlich, daß der junge Freund auch sogleich in seinen alten Freundeskreis aufgenommen werde. So kam ich mit Carl und Gerhart Hauptmann in Berührung, mit Ferdinand Simon (Dr. Schimmelpfennig in „Vor Sonnenaufgang"), dem Maler Hugo Ernst Schmidt (Gabriel Schilling) und Otto Prings-heim, gleichfalls Nationalökonom wie Ploetz selbst. Was diesen Kreis zusammenschweißte, war mehr als Jugendfreundschaft von der Schulbank her; es war der zielbewußte Zusammenschluß für ein Lebensproblem, und das Problem bestand in nicht mehr und nicht weniger als in der praktischen Verwirklichung des Sozialismus.

Unsere Bibel war damals ein heute schon fast verschollenes Buch Karl Kautskys: „Der Einfluß der Volksvermehrung auf den Fortschritt der Gesellschaft", durch das uns zum ersten Male Klarheit über die Theorien des Sozialismus wurde. Wer die Zeiten des Sozialistengesetzes nicht selbst durchgemacht hat, der hat heute gar keine Vorstellung mehr davon, wie hermetisch damals die studierende Jugend von allen sozialistischen Schriften abgeschlossen war. Das ernste, gelehrte Buch Kautskys stand zwar auch auf dem Index der verbotenen Bücher, trotzdem war es durch den regulären Buchhandel erhältlich, und mit wahrem Heißhunger warfen wir uns auf diese Schrift, die

fast wie eine Offenbarung auf uns wirkte, indem sie uns die Augen öffnete.

Über Kautsky kamen wir zu Marx. Aber der langsame Gang der Entwicklung, wie er aus den Marx'schen Theorien folgte, wollte uns jungen Brauseköpfen so ganz und gar nicht gefallen. Wir konnten das Ziel drs Sozialismus nicht erwarten. Die alte Welt schien uns abgetan, sie mochte ohne uns fertig werden, wir wollten eine neue Gesellschaft auf der Basis des wissenschaftlichen Sozialismus auf freier Erde begründen. Marx hatte uns nur aufgerüttelt, aber nicht belehrt, und so gründeten wir allen Ernstes eine „Gesellschaft Pacific", die die Bedingungen für die praktische Durchführung des Sozialismus in den Vereinigten Staaten von Amerika untersuchen sollte- An der Spitze der Gesellschaft stan J natürlich Alfred Ploetz. Die Kerntruppe war der Freundeskreis um ihn und die Brüder Hauptmann, daneben gliederten wir noch Praktiker an, einen Forstmann, einen gebildeten Landwirt, einen Botaniker und einen Geo-meter. Keiner von uns gehörte damals der sozialdemokratischen Partei an, und so sicher waren wir, mit unseren utopistischen Bestrebungen dem Sozialistengesetze nicht ins Gehege zu kommen, daß wir unsere Gesellschaft sogar der Polizei anmeldeten. Eine Vorsichtsmaßnahme, die in dem späteren Breslauer Sozialistenprozesse freilich als ganz besondere Perfidie ausgelegt wurde.

Mit unseren kärglichen Mitteln, zu denen Carl Hauptmann und Otto Pringsheim den Löwenanteil beisteuerten, rüsteten wir den damals unabhängigsten unseres Kreises, eben Alfred Ploetz, aus und sandten ihn über das große Wasser. Ich selbst war das Verbindungsglied zwischen Ploetz und den übrigen Gesellschaftern. Obwohl der Plan für unsere Koloniegründung bereits fix und fertig war und Ploetz alles vorgesehen hatte bis zu dem Detail des Zu-

sammenbaues von je vier Cottages zu einem gemeinsamen Baublock, sollte Ploetz doch zunächst den Rest der übrig gebliebenen Ikarier Cabet'scher Gründung in Iowa aufsuchen, um dort seine praktisch-ökonomischen Studien zu beginnen. Dann wollten wir anderen, die inzwischen eine eifrige Werbetätigkeit entfalteten und noch eifriger Wissensschätze aufspeicherten, um als fertige Männer den Urboden eines freien Landes beackern zu können, alle unserem Pionier folgen.

Die neue Gesellschaft sollte erstehen, ohne die Schlacken der alten als unnützen Ballast mit sich zu schleppen. Die chinesische Mauer, die den Kapitalismus und die alte Gesellschaft umgab, machte uns wenig Sorge. Wir würden sie schon einreißen oder überspringen. An Elan fehlte es uns ja nicht und auch nicht an hoffnungsmutiger Zuversicht.

Die ersten Berichte unseres Pioniers lauteten auch ermutigend. Land würden wir an einer der großen transamerikanischen Bahnen schon unentgeltlich erhalten; mit seinen Erträgnissen würden wir weiter bauen; an den Erträgnissen könnte es aber nicht fehlen bei der Zusammensetzung unserer Gesellschaft! Woran könnte es uns dann sonst noch fehlen?

Die späteren Berichte unseres Freundes lauteten schon weniger optimistisch. Er war inzwischen bei den Ikariern angelangt. Er sah mit eigenen Augen das klägliche Leben, das die Adepten Cabets zu führen gezwungen waren. Er sah, wie die harte Arbeit für das Morgen ihnen das Heute verkümmerte, wie sie in der grauen Altagssorge weder Freude kannten noch die Freiheit empfanden, unter deren Fahne sie sich zusammengeschlossen hatten.

Und dann kam lange kein weiterer Bericht; auf einmal aber ein Telegramm aus Antwerpen: „Bin Sonntag in Breslau". Wie wirkte damals das nüchterne Telegramm auf uns! Simon fluchte auf den „feigen Kneifer". Sofort

sollten nach seinem Wunsch neue Mittel zusammengebracht werden, und ich sollte die verlassene Arbeit energisch wieder aufnehmen- Es war eine trübselige Sitzung, als unser Pionier uns dann persönlich Bericht erstattete. Die eigene Erfahrung hatte ihm Dia'ektik eingepaukt, und nun paukte er sie uns ein. Aus der Lektüre des „Kommunistischen Manifestes" hätten wir um einen geringeren Kaufpreis die gleiche Weisheit schöpfen können- Aber was gilt der Jugend die Erfahrung des Alters! Wie käme ihr auch anders die eigene Kraft zum Bewußtsein, wenn sie nicht selbst jedesmal erst Mauern einreißen müßte. Aber unbelehrbar waren wir nicht, und die Logik der Tatsachen sprach doch auch eine zu beredte Sprache gegen jedes utopistische Streben.

Also vorwärts an die Arbeit. Der Sozialismus war uns über dem Scheitern unseres heiligen Planes nicht verloren gegangen. Lnd die Losung lautete: „In Reih und Glied", um auch an der bescheidensten Stelle, die uns das Leben bieten sollte, für unsere Ideale zu wirken.

Bei Gerhart Hauptmann war der ikarische Plan wohl nie ganz tief in das Innere gedrungen. Die zu leistende praktische Arbeit, wohl gar Handarbeit, war ihm physisch unangenehm, und Sozialist im Sinne des Partei-Sozialdemokraten war er nie. Er hat deshalb wohl befriedigt aufgeatmet, als ich ihm von dem Scheitern unseres Planes berichten mußte; er war aus dem Konflikte, zwischen Freundestreue und künstlerischer Betätigung wählen zu müssen, glücklich befreit, und er konnte sich ganz dem Glücke seiner jungen Ehe hingeben, die ihm künstlerische Freiheit gebracht hatte.

Auf seiner Hochzeitsreise führte er seine junge Frau dem Kreis seiner Breslauer Freunde zu. Plötz hatte sich nach seiner Amerika-Irrfahrt mit Eifer auf das Studium der Medizin geworfen, Simon diente sein Militärjahr ab und Hugo

Schmidt malte zur Abwechslung Oellandschaften und war deshalb wieder einmal in Breslau zu erreichen.

In einem damals sehr vornehmen Breslauer Hotel am Tauentzienplatze residierte das junge Ehepaar. Wir alle standen im Banne der dunklen Schönheit von Marie Hauptmann, eigentlich der ersten Dame, der wir fast kameradschaftlich näher treten durften. Gerhart Hauptmann aber las uns in den stillen Teestunden aus seinen Dichtungen, vergessene und verschollene Verse aus seinem lyrischen Bändchen, das nie das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat, Verse, wie sie eben nur Gerhart Hauptmann sprechen konnte; denn erst seine kultivierte und modulationsfähige Sprache gaben den Gedanken jene eindringliche Kraft und Verständlichkeit, die dem nur gelesenen Worte manchmal fehlt. „Das Märchen vom Steinbild" mit seiner dunklen Symbolik des Mannesstrebens, das „Märchen von den verwunschenen sieben Mäusen", das mystische Lied von der Koralle und dem Bernstein las er in die aufhorchende Stille der Freunde hinein. Und wir hörten auch den Entwurf des Germanen-Dramas und den ersten Akt des Tiberius. — Beim Lesen des zweiten Aktes aber brach er jäh ab. Störte ihn der falsche Ton Dahn'scher Diktion, störte ihn die skeptische Miene Ferdinand Simons oder Hugo Schmidts, der ein empfindliches Organfür alles nur Anempfundene hatte . . ., kurzum er klappte das Manuskript mit einem schlesischen Kraftworte zu und las in dieser Zeit nichts mehr vor uns

Wie eine anonyme Gabe erschien dann plötzlich das Promethidenloos auf meinem Schreibtische. Es mutete mich seltsam an in seiner Mischung von Byron und Christus; ganz fremd erschien mir dieser Geist, denn inzwischen war ich nach dem ikarischen Irrwege in die sozialdemokratische Paitai eingetreten und verfolgte neue Ziele, die fernab lagen von aller Weichheit und Empfindsamkeit. Da Plötz und Simon

nach Zürich gegangen waren, um Medizin zu studieren Hugo Ernst Schmidt aber nach Berlin übergesiedelt war, wo auch Gerhart Hauptmann seinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte, so zerfielen auch die kaum angeknüpften persönlichen Beziehungen zwischen Hauptmann und mir, und ich sah ihn erst wieder, als er als Zeuge über unsere ikarischen Pläne peinlich inquiriert wurde. — Seine Aussage, in der er der Wahrheit gemäß bekunden mußte, daß das geplante Neu-Ikarien absolut nichts mit der sozialdemokratischen Partei zu tun gehabt hatte, gefiel dem Strafkammer-Vorsitzenden ganz und gar nicht. Der Zeuge war deshalb auch „unglaubwürdig", und er mußte wehrlos die ganze Unteroffizier-Brutalität des Vorsitzenden Richters über sich ergehen lassen. Denn nach der Anklage hatte der Verein „Pazific" „unzweifelhaft" lediglich die Förderung von auf den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen zum Zwecke; eine anders gerichtete Zeugenaussage konnte also wenigstens in diesem Punkte die Anklage unterhöhlen, und das durfte im Interesse des Anklage-Erfolges doch nicht zugelassen werden.

Das waren die wirklichen Beziehungen Gerhart Hauptmanns zur Sozialdemokratie, auf die der Kladderadatsch seine pöbelhafte Karikatur begründen konnte! Freilich konnten sich der Kladderadatsch und die anderen Presse-Reptilien auch noch auf Indizien stützen, und ein solches Indizium war vor allem „Vor Sonnenaufgang", dessen soziale Tendenz doch nur von einem sozialistisch gerichteten Verfasser herrühren konnte, und in dessen Exposition er mit unzweifelhafter Wärme und persönlicher Anteilnahme die Geschichte der ikarischen Bestrebungen von Alfred Loth vortragen läßt.

Daß man sozial empfinden könne, ohne Parteigänger der Sozialdemokratie zu sein, daß man mit den Enterbten und

Bedrückten mitleiden könne, ohne auf ein Parteiprogramm eingeschworen zu sein, das war in jener Zeit erst noch recht wenigen aufgegangen. Dieses tiefe Mitleiden Hauptmanns aber ist der Schlüssel grade für die Werke des Dichters, die am nachhaltigsten gewirkt haben, und das nicht bloß zu der Zeit, wo sie lebendig mitgelebt wurden, sondern auch heute noch, wo die angeschnittenen Probleme kaum noch als solche empfunden werden.

ERINNERUNGEN AN GERHART HAUPTMANN

UND SEINE DICHTERGENERATION

Von Bruno Wille.

1. Vom Zeitgeist der achtziger Jahre.

Wer Bahn brechen will für etwas Neues, das zunächst nur als Idee lebt, gilt den Anhängern des Alten gewöhnlich als ein schrullenhafter Nörgler oder gar gemeingefährlicher Umstürzler. Und nimmt er schon durch Selbstbestimmung eine Stellung abseits ein, so wird er dorthin erst recht gedrängt durch das Mißtrauen der herrschenden Gesellschaftskreise. Eine gewisse Veranlagung, solch ein abseitiger Revolutionär zu werden, hat wohl jeder Sinnierer, der aus seinem Innern heraus sein Leben gestalten möchte. Zu allen Zeiten war und ist es so, daß in der neuen Generation zwei entgegengesetzte Typen bemerkbar werden. Die einen lassen sich willig prägen von hergebrachten Einrichtungen und Anschauungen, gehen die ausgetretenen Wege ihrer Vorläufer und erstreben die Stellungen derer, die in ihren Augen beneidenswerte Würdenträger sind. Die anderen treten gegen ihren Umkreis mit dem Anspruch auf, er solle sich nach ihren Lieblingsideen richten. Jenes sind die „Schulköpfe", die „Normalen"; von den andern sagen

die Schablonenmeister, s e seien unbrauchbar fuis wirkliche Leben, gewissermaßen verloreneExistenzen. Häufigkommen sie auf der Schule nicht vorwärts, werden gerüffelt oder davongejagt — und durchs Leben irren sie als Träumer, vielleicht gar als verbummelte Schwärmer. Sie finden entweder niemals einen passenden Beruf oder aber -- steigen auf einmal als Sterne am geistigen Himmel empor und werden nun anerkannt als Künstler oder sonstige kulturelle Schöpfer.

Ein Typus dieser Abseitigen ist Gerhart Hauptmann von Hause aus. Ihre entscheidende Richtung nimmt seine Lebensbahn zwischen jenen Gegensätzen, die ich knapp bezeichnet habe — wie denn übe haupt die Innerlichkeit der Generation, der er angehört, erschüttert wurde durch Kämpfe zwischen Extremen.

Besonders auch in Deutschland vor vier Jahrzehnten. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein auf Sparsamkeit angewiesener Agrarstaat, war seit dem siegreichen Kriege gegen Frankreich unser Vaterland in einen starken Aufstieg eingetreten. Seine Militärmacht wurde gefürchtet, Handel und Industrie arbeitet n fieberhaft und unter dem freien Wahlrecht des neuen Reiches schoß das politische Interesse des Volkes üppig ins Kraut. Militärischer Geist beherrschte das Ganze, Kommando und Unterordnung. Mit Hurrah - Patriotismus gestempelt, wurden die Zöglinge mancher Schulen gemäß dem obrigkeitlichen Reglement gedrillt und mit dem Klassenpensum derart traktiert, daß mancher von jenen „Abseitigen" in seiner Schule kaum etwas erziehlich Wohltuendes sah, eher ein Mittelding zwischen Fabrik, Kaserne und Strafanstalt. Solche Rebellen bildeten gerne Konventikel, einander bestärkend in Widerspruch gegen schablonenhafte Vergewaltigung der Menschennatur, die sich zu Persönlichkeiten und Sondertalenten aus-

bilden möchte. Die „geheimen Schülerverbind ungen", die damals nicht selten zutage traten und von den Lehrern exemplarisch bestraft wurden, als gelte es eine Pest auszurotten, waren nicht bloß Nachäffungen studentischen Kneipwesens, sondern zuweilen Anzeichen einer ernsthaften Auflehnung der Geister.

„Da draußen, stets betrogen, saust die geschäft'ge Welt" — grollt der Romantiker und flüchtet an den Busen der Natur. Da nun jene Abseitigen, die ich hier skizzenhaft zeichne, etwas vom romantischen Eremiten haben, gehört zu ihrem Wesen, daß sie die Einsamkeit lieben und in den Tiefen ihres Gemüts suchen, was man „Sinn des Daseins" nennt. Stets grüblerisch, hören sie sogar im Getümmel der Straßen, im Tosen der Maschinen und im Geschwätz der Restaurants die Frage raunen: „Was soll das alles? Wohin zielt diese angebliche Kultur? Welchen Sinn hat ihr Getriebe? Verfolgt denn mein Leben und das Weltall überhaupt einen Sinn? Oder ist's ein ungeheuerlicher Unsinn?"

Eine Müdigkeit und Dekadence trat auf in den letzten Jahrzehnten des 19- Jahrhunderts. Je mehr Reichtum und Macht die modernen Großen anhäu ten, desto deutlicher zeigte es sich, daß hierdurch weder ihr eigenes Glück noch das Wohl der Menschheit gesteigert werden konnte, da jedes Riesenvermögen die Tendenz hat, seinen Eigentümer ähnlich dem Rädchen einer Maschine zu versklaven, während zugleich Übersättigung die käuflichen Genüsse abstumpft. Was aber die besitzlosen Massen betrifft, die im Kaiserlichen Deutschland zehn bis vierzehn Stunden täglich in Einförmigkeit zu arbeiten hatten, ohne dabei gegen Arbeitslosigkeit gesichert zu sein, und ohne ausreichenden Anteil an den höheren Lebensgütern zu genießen, so erwachte in ihn' n, besonders seit den siebziger Jahren, grollend das Bewußtsein, unzulänglich sei eine „Kultur", die dem Proletariat

hauptsächlich die Rolle zuweist, als Dünger verbraucht zu werden von den vornehmen Gewächsen des sozialen Treibhauses, so daß im Verbrauchten die Menschenwürde verkümmert.

2. Eine Gruppe abseitiger Poeten.

Der Mittelstand fühlte sich leidlich wohl; er war gebildet und voll Hoffnung, da ihm ein soziales Aufsteigen vergönnt war. Doch diese Art von Vorwärtskommen war kaum nach dem Geschmack jener Abseitigen. Sie verschmähten die Mittelstraße der Bourgeoisie, die gepflastert war mit schuftender Geschäftigkeit und Streberei, mit Langweiligkeit und Philistertum.

Die Abseitigen suchten etwas Innerliches, und dafür hatte die Zeit noch kein Verständnis. Zerfallen mit fast ihrer ganzen Umwelt brachten sie charakteristische Gestalten hervor, wie den schmerzenreichen Satiriker Hermann Conrady, dem lyrische Klänge ergreifender Eigenart gelungen sind; oder wie den unseligen, im Irrenhaus jung verstorbenen Franz Held, der als Lyriker, Epiker und Dramatiker nach bombastischen Donnerkeilen griff, um für seine Empörung angemessenen Ausdruck zu finden. Solches Grollen kam aus einer Zerrissenheit, wie sie im einsamen Idealisten kaum ausbleiben konnte, wenn er die Kluft erlebte zwischen seinen Sehnsuchtsträumen und den wirklichen Zuständen der Zeit. Die Bourgeoisie konnte er nicht als seine Heimat betrachten, fühlte sich vielmehr abgestoßen von ihrem Ausbeuter-Egoismus und mitfühlend, wie der Poet nun einmal ist, an die Seite der sozial „Enterbten" gedrängt.

Als Beispiele solcher Abseitigen nenne ich soziale Lyriker wie den in Zürich hausenden Ostpreußen Leopold Jacoby mit seinen prophetenhaften Hymnen und einen anderen Flüchtling aus Deutschland: Karl Henckell, der

die Spottgeißel wie das Flammenschwert schwang. Ferner Richard Dehmel, dem ergreifende Expressionen der Proletarier-Seele gelungen sind. Sogar der sonst eigensüchtige Spötter Otto Erich Hartleben wäre hier zu erwähnen.

Von einer anderen Seite ging die Revolution aus, die in seinen leidenschaftlichen Dichtungen John Henry Mackay betrieb, in Deutschland geboren und erzogen, Sohn einer deutschen Mutter und eines Schotten. Ihn begeisterte die egoistische Philosophie Max Stirners. In der Opposition gegen Fundamente der bestehenden Sozialordnung fanden sich all diese Abseitigen zusammen, vielfach auch durch persönliche Freundschaft verbunden.

Mit dem bereits erwähnten Franz Held (Bruder des U. S.-Parlamentariers Herz fei d) hatte ich 1882 als Bonner Student Kameradschaft geschlossen und fröhliche Karnevalstage am Rhein verlebt, dann 1887 in Berlin den Verkehr fortgesetzt.

Um diese Zeit war ich auch mit Hermann Conrady bekannt geworden. Der Zufall wollte es, daß ich Gast im Akademisch-Literarischen Verein war, als Conrady, frisch vom Pennal gekommen, daselbst seine Fuchstaufe erhielt. Ein unscheinbarer, schmalbrüstiger Jüngling, in dessen bleichem, sommersprossigem Gesichte, das von roten Locken umlodert wurde, fortwährend Unzufriedenheit und Gereiztheit zuckte. Sein Profil sah aus wie eine zusammengekniffene Faust — unter der steilen Stirn und düsteren Augenbrauen rollten die wasserblauen Augen, als ob sie darüber klagten, daß ihr Besitzer sich verirrt habe in diese Welt. Daß er unverstanden sei und schmerzlich einsam bleiben werde, sah ich ihm bei Gelegenheit jener Fuchstaufe an. Im Unterschied zu den sonst üblichen „Bierpauken" hielt er eine feierliche Rede, deren pathetische Verstiegenheit mit Lachsalven begleitet wurde. „Sie haben mich gefragt, werte Kommilitonen,

wen ich für den größten Dichter halte? Ich weiß keinen andern zu nennen als Grabbe!" — „Ah! Hört, hört!" — „Jawohl! und hört auch mein Gelübde: Mit dem großen Grabbe will ich wetteifern!" — Stutzen und Gelächter: „Gut gebrüllt, Löwe! Hoffentlich kannst du auch mit Grabbe um die Wette zechen, he?" Doch abwehrend hob Conrady die Hand und versicherte mit treuherziger Ernsthaftigkeit: „Nur im Dichten will ich mit Grabbe wetteifern — den Alkohol vertrag' ich nicht!" In ein Prusten und Wiehern platzt die Korona aus, während der Musenjünger mit dem geschwollenen Selbstbewußtsein fast erschreckt um sich blickt. Der Präses des Kommerses, ein Witzbold, taufte nun den Fuchsen, indem er Bier auf seine Locken goß, „wegen seines urwüchsigen Tiefsinnes und seiner Vorliebe für Wasser auf den Namen des uralten Wasserphilosophen Thaies."

Vermutlich war dieser Studentenverein für Conrady nur eine jener Stationen, an denen er flüchtigen Aufenthalt nahm, übrigens verstarb er fünf Jahre später an der Schwindsucht, nachdem seine „Lieder eines Sünders", in denen zarte Schönheiten mit Brutalitäten gemischt sind, in Kennerkreisen Eindruck gemacht hatten, während seine schwülstig größenwahnsinnigen Romane ähnlich behandelt wurden wie ihr Verfasser bei der Fuchstaufe. Etwas von einem Meteor hat Conrady — ein Sternbrocken ist er, chaotisch durch das All geschleudert — in irdischen Dunstkreisen flammt er auf, um gleich darauf Schlacke zu sein.

Natürlich hat auch Gerhart Hauptmann sich damals für Conrady interessiert, und in Conrady treten Züge auf, die dem literarischen Jungdeutschland von damals charakteristisch sind; so das trotzige Zerfallensein mit normalen Anschauungen und den sozialen Verhältnissen. Aber ein Gerhart Hauptmann schaute zu sehr als Künstler in die Welt — gemessen, klar und mit echtem Sinn für das Wirkliche —, um

sich hinreißen zu lassen von Conradys Maßlosigkeit und größenwahnsinniger Bombastik. über die „Lieder eines Sünders" hat, bald nach ihrem Erscheinen, Hauptmann das Lrteil gefällt, sie seien hervorgetrieben von einer „Cber-kraft", die sich in phantastische „Zügellosigkeit" verliere und mitunter in „Roheiten", deren „oft nicht einmal witzige Brutalität künstlerische Wirkungen nicht aufkommen lasse"-Die „Poesie" im Sinne Conradys ist es wohl, was den Dichter der „Versunkenen Glocke" abschreckte, den Weg des graulichen Naturalismus konsequent zu gehn; doch kennen gelernt hat er ihn, und es ist, als habe ihm grade Conrady vorgeschwebt, wenn er, sehnsüchtig nach Schönheit und Reinheit, seufzt:

„Durch abgelegene Gassen muß ich schleichen, In Keller kriechen, die nach Fusel duften. Muß Speise schlingen, die mich ekelt, muß Gestank, verdorbene Dünste in mich atmen. Dort, wo die Pest des Lasters ewig frißt, Verworfenheit Gott schändet, wo der Mensch, Ein viehisch Zerrbild, sich im Schlamme wälzt, Ist meine Wohnung: Dorthin führt mein Weg."

3. Hauptmann im Dichterverein ,,Durch".

Ein biographischer Faden spann sich mir von Conrady zu Gerhart Hauptmann, insofern ich bei Gelegenheit der Conradyschen Fuchstaufe von einem Berliner Poeten-Kon-ventikel erfuhr, das sich „Verein Durch" nenne, weil seine Mitglieder der Welt erweisen würden, daß sie sich durchsetzen, und zwar als Bahnbrecher naturalistischer Dichtung. Das schien auch für mich etwas zu sein. Zwar in meiner Lyrik, die ich mit dem Selbstgefühl der Abseitigen seit meinem fünfzehnten Jahre heimlich als das wichtigste Gebiet meiner Betätigung ansah, war ich zunächst noch Ro-

mantiker. Aber neben Romanen von Dostojewski und Tolstoi, Zola und Kjelland, sowie den naturalistischen und sozialkritischen Dramen Ibsens hatte mich jene Sphinx in Bann geschlagen, die „Soziale Frage" hieß und adjutantisch begleitet wurde von der freigeistigen Naturwissenschaft Darwins, Haeckels, Moleschotts und Büchners.