Der „Durch", zu dem es mich also zog, tagte damals in Alt-Berlin; zunächst in einem stillen Kneipenzimmer, wo vorgelesen oder vorgetragen wurde, hinterher in einem Nacht-Cafe, wo die heißköpfigen Poeten endlos über deutsche Poesie und moderne Kultur diskutierten.
Als ich die obskure Kneipe in der Alten Poststraße nach längerem Suchen gefunden hatte und also verspätet eintrat, störte ich eine dichterische Darbietung Julius Harts. Aus einem Romanfragmente hatte er vorgelesen, um sich ein Dutzend junger Männer, die vergrübelt aussahen. Ich bat um Entschuldigung, nannte meinen Namen und nahm Platz. Neben einem schmächtigen Jüngling, den die blonde Mähne und die Jägersche Reformtracht (poröse Wolle bis zum Hals geschlossen) extravagant erscheinen ließ. Während der Vorlesung, die ihren Fortgang nahm, starrte Ger hart Hauptmann — denn er wars — versunken auf sein Cognac-Glas, ohne auch nur ein einzigesmal davon zu nippen. Mir fiel an ihm zunächst das Goetheprofil auf und das seltsame Blicken der wasserblauen Augen: ein Gemisch von Beobachtung und melancholischer Träumerei — als ob eine Seele, die im Innersten daheim ist, von Zeit zu Zeit hinausspäht in die umgebende Wirklichkeit.
Nach Beendigung der Hartschen Vorlesung fand ich Gelegenheit, mit meinem Nachbar ein wenig zu plaudern. Er ließ durchblicken, daß er nur zerstreut zugehört habe, woraus ich folgerte: also bezog sich seine Versunkenheit auf die eigene Welt. Die Aussprache, die nun in geregelter
Form zwischen den Anwesenden stattfand, betrachtete das Vorgetragene bloß als Anregung, um verschiedene Fragen dichterischer Gestaltung zu erörtern. Was dabei herauskam, war dürftig — und so hätte mein Interesse am „Durch" kaum hingereicht, mich zu wiederholten Besuchen zu veranlassen, hätten nicht einzelne Persönlichkeiten fesselnd gewirkt.
Zu ihnen gehörte Adalbert von Hanstein, ein Feuerkopf, der durch seine Beredtsamkeit blendete, allerdings nicht so sehr in die Verhandlungsgegenstände hineinleuchtete, als an ihrer Oberfläche herumtastete. Immer sprach er in gehobenem Stile, fließend und im allgemeinen formschön, wenn auch sein nervöses Gesichtszucken und gelegentliches Stammeln beeinträchtigend wirkte- All diese jungen Männer wollten sich dem dichterischen Schaffen widmen oder der kritischen Aesthetik. Auch Max Kretzer, der sich für den deutschen Zola hielt, ließ sich im -Durch" sehen. Desgleichen Karl Bleibtreu; vor Arno Holz glaubte er den konsequenten Realismus zu verkörpern, war aber zu wenig Künstler, um zu sehen, daß es nicht darauf ankomme, Wirkliches wiederzugeben, sondern das Wesenhafte des Wirklichen. Paul Ernst, gleich mir Student, zerfallen mit der Theologie und durch meine Anregungen Sozialist, erstrebte eine Position als Schriftsteller. Seine Neigung zur sozialen Satire hätte sich fruchtbar entwickeln können, wäre sie mehr beschaulich als grimm gewesen. Später hat er einen neuklassischen Stil herangebildet. Und so zeigt sich überhaupt, daß die „Durch"-Poetenschaft eine buntgemischte Gesellschaft war, von verschiedenen Strömungen ergriffen — einig in gewissen Schlagworten wie in der Sehnsucht, aus moderner Wirklichkeit verborgene Innenschätze hervorzuholen und treu zu gestalten, damit sie treibende Kräfte seien einer geahnten höheren Kultur.
Intimere Züge der Persönlichkeiten stellten sich heraus,
als wir nach Schluß der offiziellen Sitzung noch ein Stündchen zusammensaßen Es war im Kaffee des Hotels „Alexanderplatz". Hier pflegte Gerhart Hauptmann zu übernachten, wenn er die nächtliche Fahrt nach seinem Wohnort Erkner vermeiden wollte. Weil dem Jägeraner das Hotelbett nicht genehm war, führte er dann einen wollenen Sack mit sich, in den er hineinkroch, um in dieser leichten Hülle, die doch hinreichend warm war, bei geöffnetem Fenster zu schlafen. Zur Rechtfertigung machte er geltend, er habe an Typhus gelitten und Gustav Jägers Methoden seien ebenso bekömmlich wie einleuchtend. — An solchen Lebensreformern macht sich zuweilen ein Zug von Hypochondrie bemerkbar; im vorliegenden Falle hing er mit Hauptmanns Stimmung zusammen, die damals zur Melancholie neigte, wenn sie auch umschlagen konnte in übermütige Ausgelassenheit.
Da meine Beziehung zu ihm, wie auch zu Hanstein bald eine Herzlichkeit angenommen hatte, zog es mich wieder und wieder zu den „Durch"-Leuten, und ich selber galt nun als einer ihrer Matadore, zumal ich mich an den Aussprachen beteiligte, auch etlichemal über ästhetische Fragen vortrug.
Von Personen, die zu unserem Kreise hielten, dauerhaft oder vorübergehend, nenne ich noch etliche: Als geschäftsführenden Vorstand betrachteten wir Leo Berg, einen Zwerg, der an einer Hüfte lahmte, so daß sein Gang hin und her schaukelte. Weniger an seine jüdische Herkunft als an Schiller gemahnte das Profil. Von der steilen, finstern Stirn starrten d.e Haare wie Schilfröhricht wüst empor. Obwohl der dramatischen Produktion verdächtig, betätigte er sich öffentlich bloß als Kritiker, und zwar mit einer grübelhaften Eigenbrödelei.
Ein literarhistorisches Element war Dr. Eugen Wolff, später Universitätsprofessor. Er eiferte für „die Moderne", wie er das neue Literaturideal nannte. Der Name sollte
Seitenstück zur „Antike" sein und zugleich eine Absage an das Klassische, an Romantik und Epigonentum.
Akademischen Geist wünschte neben Wolff zur Geltung zu bringen Dr. Conrad Küster, ein Arzt mit grauem Haar, der das Studententum in seinen Idealen und Praktiken zu reformieren suchte und für diesen Zweck eine Zeitschrift herausgab, an der „Durch"-Genossen mitwirkten. Seine Begeisterung für alles jung Aufstrebende machte, daß wir ihn als unsern Senior verehrten. Mehr als achtzig alt, lebt er noch immer rüstig als eine sehr bekannte und beliebte Berliner Persönlichkeit.
Daß es bei der „Moderne" nicht so sehr auf einen Kreis bestimmter neuzeitlicher Ideen ankomme als darauf, daß aus neuzeitlichem Erleben heraus echt gestaltet werde, war ein Standpunkt, den die Brüder Hart vertraten. Durch glühende Lyrik und geistvolle Polemik, besonders als Herausgeber des „Kritischen Jahrbuches", hatten sie sich schon damals ein gewisses Ansehen erworben und wirkten vorbildlich, insofern ihnen Schriftstellerei ein Schaffen aus reiner Begeisterung bedeutete und erst in zweiter Hinsicht materiellen Erwerb. Weil sie Mut hatten, als unbekümmerte Bo-hemiens zu leben und dabei immer noch etwas erübrigen konnten, um darbenden Genossen beizustehen, blickte man gläubig zu ihnen auf, wenn sie vom Poeten uneigennützige Hingabe an sein heiliges Amt verlangten. Jemand beklagte sich darüber, daß einem jungen Poeten, wenn er von Hause aus unbemittelt sei, nichts übrig bleibe, als Zugeständnisse an die Lohnschreiberei zu machen oder aber — zu hungern. Da sprang Heinrich Hart, sekundiert von seinem Bruder Julius, entrüstet auf: „Nun — dann wollen wir hungern!" Diese Losung haben die Genossen — ich darf es von fast allen behaupten — treu betätigt, wo es galt, Opfer für eigene Überzeugung und Edelart zu bringen.
4. Konsequenter Naturalismus.
Der damals emporstrebenden Dichtergeneration fehlte es nicht an Persönlichkeiten, die Harts Mahnung beherzigten. Zu ihnen gehören zwei Poeten, die jetzt das sechste Jahrzehnt überschritten haben: Holz und Schlaf. Arno Holz, ein knorriger Ostpreuße, verkehrte im „Durch"-Kreise > obwohl ihm dieser nicht konsequent genug schien.
An der proletarischen Peripherie von Berlin wohnhaft, beobachtete Holz den grellen Abstand der modernen Wirklichkeit von den Träumereien jenes falschen „Idealismus", der unter Kunst eine verlogene Schönfärberei versteht- Durch nordischen und französischen Naturalismus, sowohl in der Malerei wie in der Literatur, erhielt Holz entscheidende Anregung, ein Vertreter dieser Richtung zu werden. Da sein Temperament auf radikale Gründlichkeit bedacht war, suchte er Formeln einer absoluten Kunst ausfindig zu machen und pflegte seinen Standpunkt mit einem Eigensinn zu behaupten, der an die Schulmeisterei der mittelalterlichen Meistersinger erinnert. Er stellte den Satz auf, alle Kunst habe die Tendenz, Natur zu werden. Allerdings trifit er hiermit einen Zug im Verhältnis zwischen Kunst und Natur. Nicht minder freilich stimmen würde der Satz, es habe die Natur einen Trieb, Kunst zu werden, d. h. künstlerisch zu bilden. In Einseitigkeit verfiel Arno Holz, indem er übertrieb, sein Apercu zum Dogma erhob, und mit „Natur" verwechselte, was richtiger „platte Wir kl ichk ei t" zu nennen wäre. Von Goethes Dichtung darf man sagen, sie orientiere sich an der Natur. Aber was den waschechten Naturalisten Holz begeisterte, war oft die Natur, wie sie sich räuspert und schneuzt. Meine Kritik an Holz gilt hier lediglich seiner extremen Theorie. Was er als echter Dichter geleistet hat, ist so bedeutend, daß er etliche Abstriche
ruhig hinnehmen darf, die er als eifernder Prinzipienreiter verdient. Im übrigen bekenne ich mich gern als Verehrer der treuen und reinen Hingabe, mit der Arno Holz sich allezeit der Kunst gewidmet hat.
In der Tat wirkte so ähnlich diese und jene Szene aus dem naturalistischen Meister-Drama „Die Familie Selicke" von Holz und Schlaf. Als es in der Neuen freien Volksbühne zur Aufführung gelangte, fühlte sich das Berliner Publikum durch Vorführung des ihm sattsam bekannten Großstadt-Elends peinlich gelangweilt, so daß es den Spitznamen prägte: „Familie Heulicke". Ich erwähne das, um anzudeuten, daß der in Echtheit schwelgende Armeleute-Naturalismus durchaus nicht immer nach dem Geschmack der Berliner Arbeiter war.
Seelenvoller als die Produkte von Arno Holz, der einen Zug von Verständelei und Tüftelei kaum los wurde, ist das naturalistische Trauerspiel „Meister Olze" von Johannes Schlaf; doch wenig gelangt es hinaus über Szenen, die eher quälend als erhebend wirken. Ein Mangel, der manchem Bühnenwerke des Naturalismus eigen ist — ich nenne als Beispiel nur Zolas „ 1 herese Raquin". Für die genannten Werke und andere ähnliche brach ich damals in der naturalistischen Bewegung eine Lanze. Nicht lange bin ich dabei geblieben. Das Wesen des Tragischen ist keine naturalistische Wiedergabe von Seelenfolter, sondern Auflösung der Trauer in Erhabenheit, ein „Kampf mit dem gewaltigen Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt". Daß Kunst den Beruf hat, die gewöhnliche Welt verklärend zu überwölben durch eine höhere Welt, die von Lebenskünstlern, von Meistern der Innerlichkeit zu schaffen ist, davon spürten die Naturalisten kaum etwas, weil sie eben im Banne der äußeren Wirklichkeit standen. Ich bin mit dieser Richtung
zu Ende der achtziger Jahre gelaufen, weil ich in der damaligen Dichterei Deutschlands nicht viel mehrals schwächliches Epigonentum sah, Unterhaltungsmache und Tendenzliteratur für reichsdeutsche Bourgeoisie, während im Naturalismus immerhin ein leidenschaftliches Streben pulsierte im Sinne der Losung: „Die Wahrheit wird euch freimachen." Damals war mir noch nicht zu deutlichem Bewußtsein gelangt, daß ich mit meiner dichterischen Art eigentlich etwas Andres suche als den Naturalismus und diesen vorwiegend schätze, insofern er zum Höheren überleiten könne. Dies Höhere, nach dem ich mich sehnte, war Innenwelt- Aus dem Gemüte entsprang meine soziale Poesie, ebenso wie die Lyrik meiner Naturliebe und eremitischen Beschaulichkeit- Bezeichnend für diesen Charakter ist der Titel meines ersten Gedichtbuches „Einsiedler und Genosse," das Julias Hart mit einer Vorrede voll herzlicher Anerkennung in die Öffentlichkeit einführte. Die proletarische Bewegung brachte ihm — wie überhaupt der Lyrik — wenig entgegen — wenn auch nur daß von den sozialen Gedichten, die den Deklamator reizen, manche in Arbeitervereinen, besonders bei Festen, eine Rolle spielten, wobei aber kaum das dichterische Erlebnis, sondern eine Tendenz im Sinne des Sozialismus empfunden wurde. Jahrzehnte hindurch bin ich benachteiligt worden durch meine herzliche Berührung mit der Arbeiterbewegung. Vom Bürgertum wurde ich zu ihren Führern gerechnet, während die Sozialdemokraten mich mißtrauisch behandelten, weil ich ihrer Partei ebensowenig verschrieben war wie irgendeiner anderen. So blieb ich lange gewissermaßen ein Peter Schlemihl, ein Mann ohne Schatten, der sich weder hüben noch drüben heimisch finden kann. Und so erging es mir auch auf dem Gebiete der Weltanschauung. Mit der Kirche, an der ich vernunftwidrige Formelfexerei. überlebte Gefühlsphrase, Geistes-
V h . Mit
Federzeichnung von Wo Hauptmann
knechtung und Duckmäuserei gegenüber den Machthabern auszusetzen hatte, war ich zerfallen. Aber wohl wurde mir nicht bei den Antipfaffen, die gewöhnlich Materialisten ohne religiöses Erleben sind. So war ich stets ein Abseitiger.
Daß ich hier mein persönliches Wesen und Schicksal berührt habe, bedeutet keine Abschweifung, sondern einen organischen Bestandteil meiner Erinnerungen und Deutungen. Auch etwas Charakteristisches für die ganze Gruppe der Abseitigen. Besonders für Gerhart Hauptmann, dem ich mit meinen Ketzereien über die Gesellschaftszustände wohl nie etwas gesagt habe, was nicht seinem eigenen Erleben entsprochen hätte. Auf religiösem Gebiet quälte ihn ebenfalls der schroffe Abstand der öffentlichen Religion von seinem Innenleben. Frömmelei und Staatskirchentum, das den Glauben vorschreibt, waren ihm stets zuwider. Was er ersehnt, ist Hingabe an Ewiges, persönliche Andacht in freier Selbstbestimmung, das Walten jenes heiligen Geistes, der keinen Gedankenzwang duldet und Freier ist der Madonna „Gottnatur". Zwei Prachtgestalten Hauptmannscher Religiosität sind jener „Narr in Christo", der im heutigen Staatschristentum nach dem Evangelium zu leben sucht und im Gletscher erfrieren muß, und der naturtrunkene „Ketzer von Soana".
Zu den „Durch"-Genos8en, die sich in enger Gemeinschaft mit mir, Seite an Seite, entwickelt haben, gehört Wilhelm Bölsche. Geborener Rheinländer, Sohn eines Schriftleiters der „Kölnischen Zeitung", hatte er in Bonn klassische Philologie studiert und aus Liebhaberei Zweige der Naturwissenschaft; nicht dem Lehramte wollte er sich widmen, sondern ausschließlich dem Schriftstellerberufe. Seine Sporen hatte er sich verdient durch den historischen Roman „Paulus" und eine in studentischem Sinne „feuchtfröhliche" Fabulierung aus alter Germanenzeit: „Im Zauber
des Königs Arpus." Was ihm die besondere Eignung für den „Durch" gab, war eine Schrift „Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der modernen Poesie". In den „Durch" führte ich Bölsche ein, nachdem ich ihn kurz vorher kennen gelernt hatte. Das "war auf der „Bude" meines Bonner Universitätsfieundes Rudolf Lenz gewesen, den ich in Berlin wiedergefunden hatte. Bölsche kam aus Paris, wo er zu seiner Ausbildung geweilt hatte. In lebhafte Gespräche geriet ich mit ihm über Schopenhauer und naturphilosophische Fragen; und in dieser Hinsicht harmonierten wir, während das soziale Problem zunächst zu Meinungskämpfen Anlaß gab. Was uns innig verband, war Liebe zur Natur, beschauliche Hingabe an Bilder und Szenen der Weltstadt, sowie an die märkische Landschaft; ferner gemeinsames Suchen und Gestalten auf den Gebieten der Weltanschauung und des kulturellen Lebens, insonderheit der Dichtung und Philosophie.
Ähnlich wie es Murger in seinem Roman „Zigeunerleben" schildert, bildeten wir mit den Brüdern Hart, dem Lyriker Oskar Linke, Richard Dehmel, etlichen Schauspielern, auch Vertretern des Sozialismus, eine Gruppe, der das weibliche Element nicht fehlte. Es gab dichterische Vorlesungen, heißes Disputieren über Fragen der Kunst, Weltanschauung und Gesellschafts-Biologie, lärmende Kneipereien und endlose Schwatzereien im Nachtkaffee. Fast jeder lebte von der Hand in den Mund, und manchmal war Schmalhans Küchenmeister. Aber man half einander gern und ließ sich von keiner Bedrängnis einschüchtern. Mit Bölsche, eine Zeitlang auch mit einem dritten Kameraden, hatte ich gemeinsame Wohnung; humorvoll hat sie Bölsche beschrieben in seinem Buche „Hinter der Weltstadt".
Schulter an Schulter suchten Bölsche und ich unsere Anschauungen zu fördern — schriftstellerisch, wie durch Vor-
träge, auch in freien Konventikeln. Der -Durch" zog uns wenig mehr an; zu eng litererisch war er geworden. Ein Forum, wo wir uns auseinandersetzen konnten mit allerlei modernen Kulturfragen, war der „Ethische Klub"; ihm gehörten besonders Interessenten der sozialen Ethik an — wie die Nationalökonomen Franz Oppenheimer (später Bodenreformer undjetzt Universitätsprofessor in Frankfurt am Main) und Oser (später Reichstagsabgeordneter und Minister), Philosophen wie Martin Keibel und Paul von Gizycki, Dichter wie Wilhelm von Polenz, Hartleben, Hanstein, natürlich auch die Brüder Hart.
Unter den Problemen abseitiger Art, mit denen sich Bölsche und ich beschäftigten, wäre auch der Okkultismus zu nennen. Wir hatten spiritistische Sitzungen mit Frau Valeska Töpfer, einem Medium, dessen Erfolge damals Staunen erregten, während sie nach meinen Beobachtungen nicht frei von Schwindelei waren. Um Studien zu seinem Spiritisten-Roman „Die Mittagsgöttin" zu machen, reiste Bölsche in den Spreewald, der für seinen dichterischen Zweck eine passende „Traum- und Zaubersphäre" war, und ich begleitete ihn als Naturbummler. Während Bölsche nach Zolas Art landschaftlich in sein Notizbuch skizzierte, wurde wiederholt die Frage erwogen, ob dem Naturalismus eine objektive Wiedergabe der Natur entspreche, oder ob es mehr auf deren Spiegelung im Erlebenden ankomme. Solche Meinungsverschiedenheiten zeigten, wie wenig Einigkeit, Klarheit, Sicherheit in der naturalistischen Bewegung waltete. Sie bestand aus Persönlichkeiten, die sich unter einem Schlagwort zusammengefunden hatten, es aber so verschieden auslegten und anwendeten,daß sich damals bereits Gestaltungsweisen entschiedener Subjektivität bemerkbar machten, wie der Impressionismus, der phantastische Lyrismus und Expressionismus. Auch in Gerhart Hauptmann lagen Keime
auseinanderstrebender Richtungen beisammen, und wenn auch die ersten Dramen, mit denen er Aufsehen machte, eine Meisterschaft in naturalistischen Gestalten bekunden, bricht doch bald in anderen Werken — ich nenne nur „Hanneles Himmelfahrt" — eine Träumermystik hervor, für die der Naturalismus nur den Rahmen hergibt.
5. Sozialismus.
Nicht bloß auf dem Gebiete der Poetik gärte es in der damaligen Dichtergeneration, sondern in ihr drängte zugleich die moderne Zeit mit ihrer Fülle neuer Interessen und Ideen zum Ausdruck. Was man „poetisch" nennt, ist eine Erlebnisweise, die durchaus nicht an bestimmten Stoffen haftet. Die angeblich „poetischen" Stoffe machen sich von vornherein der Trivialität und Verlogenheit verdächtig, insofern sie das Fehlen ursprünglichen Erlebens verdecken möchten durch Einkleidungen nach berühmten Mustern. Der schöpferische Künstler bestrahlt magisch mit seiner Innerlichkeit all seine Außenwelt, auch neueste Gebiete seiner Zeit, Motive, die der Gewohnheitsmensch bis dahin für „unpoetisch" hielt. So war es von je die kulturelle Mission genial veranlagter Poeten, ihre Wirklichkeit, auch wo sie anfangs spröden Widerstand leistete, für Poesie zu erobern.
Der große Leserkreis, den ein so trivialer Literat wie Julius Wolff fand, hielt das romantische Theaterkostüm ohne weiteres für poetisch und beduselte sich mit zusammengelogenen; Eingebilden. Erst lernen mußte der moderne Mensch, daß Poesie nicht bloß im Posthorn spürbar ist und im wandernden Handwerksburschen, sondern auch im Pfiff der donnernden Eisenbahn und in Schicksalen der Fabrikarbeiter. Zu denen, die das innig empfanden und schaffend zu beherzigen suchten, gehörte schon der Verfasser des „Prome-thidenloses" und der lyrischen Versuche „Das bunte Buch",
hier schildert Gerhart Hauptmann beispielsweise, wie er nächtens im Eisenbahnzuge aus dem Rattern der Schienen und Lokomotivengeheul „Das Lied von unserm Jahrhundert" heraushört, „finster und doch so schön"; und in Versen, die ich, 1886 als Redakteur der „Demokratischen Blätter" (im Auftrage Georg Ledebours), aus Hauptmanns Feder veröffentlichte, bildet ein Nachtwächter, den er bei Berlin (wo Hauptmann etliche Jahre wohnte), mitfühlend beobachtet hatte, mit seinem elenden Hüsteln eine grimme Anklage gegen die Industrie, in deren Fron er sich die Schwindsucht zugezogen hat- Das gleiche Milieu vermittelte unserm Dichter die Bekanntschaft mit jenem Eisenbahner, den er mit einem nicht minder sozialen wie naturalistischen Sinne in seiner Novelle,,BahnwärterThiel" geschildert hat; dessen Wärterbude befand sich zwischen Erkner und Fangschleuse, und hier bin ich ihm zuweilen begegnet, wenn er dienstlich seine Strecke abschritt.
Hauptmanns Vater war zwar ein Hotelbesitzer, bei dem schlesische und polnische Magnaten verkehrten, so daß eine gewisse Üppigkeit an der Tagesordnung war; aber Großvater und Urgroßvater waren arme Weber gewesen, und grade weil Gerhart von Hause aus nicht gewöhnt war, empfand er besonders lebhaft die Dürftigkeit, wie er sie als junger Bildhauer der Breslauer Kunstschule, auch unter Jenenser Studenten und als Besucher Neapels kennen lernte.
Wie sish damals Fäden spinnen konnten von der proletarischen Sozialbewegung zu jungen Idealisten bürgerlicher Herkunft, läßt an meiner Lebensbahn sich beobachten. Durch meine Vorträge hatte ich in der sozialistischen Arbeiterschaft Berlins einen großen Anhang gewonnen. Nicht selten kam es vor, daß eine Versammlung, in der ich sprach, auf Grund des Sozialistengesetzes aufgelöst wurde. Wie ich durch einen Warner erfuhr, schwebte über mir das Damokles-
schwert polizeilicher Ausweisung. Aber ein Parteigänger war ich nicht und wollte ich nicht werden — wie ich denn Kandidaturen für den Reichstag, die mir in Berlin I und Magdeburg angetragen waren, ablehnte. Daß meine Ausweisung unterblieb, war ein Ergebnis des neuen Kurses, der sich in der Regierung vorbereitete im Sinne Wilhelms II., der auf das Sozialistengesetz verzichten wollte. Was dazu beitrug, mich der Sozialdemokratie fern zu halten, war ihre Staatsgläubigkeit, während ich ideell dem Anarchismus zuneigte und als Führer jener „Jungsozialisten" galt, deren Richtung in einer großen Redeschlacht durch Bebel abgetan, dann auf dem Parteitag sogar ausgeschlossen wurde und sich seitdem, auf meinen Rat, „unabhängige Sozialisten" nannte. Einer ihrer besten Köpfe war der Schustergeselle Max Baginski, mit dem mich auch persönliche Freundschaft verband. Er bereiste mit Gerhart Hauptmann, als dieser Studien zu seinen „Webern" machen wollte, Gegenden der schlesischen Weber-Industrie wie Kaschbach und Langenbie-lau, führte den Dichter von Hütte zu Hütte und vermittelte zwischen ihm und den Proletariern. Auch Aussprachen mit mir über meine Erfahrungen in der Arbeiterklasse konnten nicht umhin, den sozialen Dichter Hauptmann zu beeinflussen. Aber noch weniger als ich fühlte er sich zu irgendwelchem Parteigetriebe hingezogen, und keinem ethischen Dogma gab er recht, sondern dem Leben, wie es in bunter Vielgestaltigkeit, hinweg über dieSchablonen derTheoretiker, seinen Gang nimmt, getrieben von einem inneren Quellen, das sich fast unberechenbar erweist.
6. An der Oberspree.
Doch weg von Dogmen und Theoremen zu seinem Leben, wie er es damals lebte. Paul Schienther hat diese Zeit deut lieh genug festgehalten, sodaß ich mich darauf beschränken
kann herauszuheben, was sich mir aus persönlicher Beobachtung als entscheidend einprägte. Dahin gehört vor allem seine Ehe mit seiner ersten Frau Maria. Fünf lieb" liehe Töchter von edlem Gemüt und Geist hatte der Kaufherr Thienemann hinterlassen. Deren drei vermählten sich mit den drei Brüdern Hauptmann: mit Georg (dem Kaufmann), mit Carl (dem Dichterphilosophen) und mit unserem Gerhart. Dieser zählte erst 22 Jahre.
Man spricht: „Jung gefreit, hat niemanden gereut" — aber als Gerhart jener Jugendgefährtin, die ihm „Rautendelein" wurde, sein Herz zuwandte, klagte er mir einmal, er habe zu jung geheiratet und damals zu wenig Blick gehabt für das, was ihm zur Ergänzung fehle.
Dennoch — an Frau Marias Seite fand Gerhart damals treueste Hingabe, liebreiches Verständnis und eine gesicherte Häuslichkeit, die dem zur Unrast und Melancholie geneigten jungen Manne heitern Frieden gab und Ruhe zum Schaffen. Die Jahre hindurch, die mich Gerharts erste Ehe beobachten ließen, habe ich — objektiv betrachtet — es für ein großes Glück gehalten, daß er mit dieser seelenvollen, sehr anziehenden Frau, der Mutter prächtiger Kinder, leben durfte. Tatsächlich hatte sich in die Liebe zwischen Gerhart Hauptmann und Frau Maria eine Störung geschlichen, die für beide Teile quälend wurde. Frau Maria, zu schwermütigem Grübeln geneigt, sorgte sich, teils weil sie glaubte, Gerhaits Herz nicht ausfüllen zu können, teils auch weil sie fürchtete, ihr Vermögen, das schon einmal (durch die Un-zuverlässigkeit eines Bankiers) erheblich Schaden genommen, könne in etlichen Jahren aufgebraucht sein, ohne daß sich bis dahin ein auch materieller Erfolg eingestellt habe. Der empfindliche Dichter wurde durch diese Sorgenatmosphäre derart beunruhigt, daß er sich in Schlaflosigkeit quälte und seinen Untergang vor sich zu sehen glaubte. Und so
konnte ich verstehen, wie des Glockengießers Gattin mit all ihren heißen Zähren, die von den Kindern in dem gewichtigen Krug gesammelt wurden, ein Schicksal nicht aufzuhalten vermochte, das sieghaft wie Lenzknospen hervortrieb aus der Sonnenliebe eines „einsamen Menschen".
Des Glockengießers Schicksal begann in den schwermütigen Forsten der Mark. Gegenüber jenem „Schützenhügel" von Erkner, wo sich die Tragikomödie „Friedensfest" abspielt, und wo Gerhart Hauptmann eine Zeitlang vorhatte, sein Haus zu bauen. Auf einer sandigen Fläche, bei hochstämmigen Kiefern hat er nicht bloß mit Freund Schmidt, dem Maler, und mir Bumerang geworfen, sondern auch Federball geschlagen mit Grete Marschalk und ihren zwei Schwestern. Grete war damals voll sprühender Jugend, ein lebensfroh schwärmendes Mädchen, das köstlich plaudern konnte und durch ein Künstler-Temperament dionysischen Charakters dem oft melancholischen Dichter Ausblicke eröffnete zu heimlich ersehnten Gefilden. Die beiden Gattinnen, die das Schicksal ihm gewährt hat, entsprechen gewissermaßen zwei Landschaften, die in seinem Leben eine Hauptrolle gespielt haben. An die sinnende Melancholie märkischer Kiefernheide erinnert Frau Maria, an das lichttrunkene, frohsprühende Italien Frau Grete-
In der einsamen, grüblerischen Oberspree-Landschaft und der wuchtig arbeitenden Weltstadt, wo schon in den achtziger Jahren das soziale Leben stürmisch gärte, sind Hauptmann die ersten großen Werke gelungen. In meinem Gedenken sind sie verwachsen mit Bildern aus dem Kiefernwald, sowie aus dem Berliner Literatur- und Theatergetriebe.
Wo man vom hölzernen Aussichtsturme der föhrenbestandenen Kranichberge auf den Flakensee und das schilfige Löcknitztal, auf die blauenden Forste um Erkner schaut, gegrüßt von einer ganzen Gruppe großer Seen, dort am
moosigen Hügelhange unter hohen Kiefern feierte im Frühling 1887 die Dichtergruppe „Durch" ihr erstes Stiftungsfest. Mit einem Mittags-Picknik bei einer Tonne Bier. Statt zu reden, lauschte man lieber dem fernen Lachen des Spechtes und dem wogenden Sausen der Nadelwipfel. Nachmittagskaffee tranken wir bei Gerhart Hauptmann, der zugleich ein Familienfest feierte: die Geburt seines zweiten Sohnes Eckehart. Vor dem Abendessen, dessen Hummer-Mayonnaise und köstlicher Wein die Bohemiens erquickte, las Gerhart Hauptmann, den viele „Durch"-Genossen bisher für einen Amateur ohne sonderliche Eigenheit gehalten hatten, seinen „Bahnwärter Thiel" vor. Ich war davon überwältigt und wußte nun, dem Verfasser könne Bedeutendes gelingen — eine Prognose, die zu meiner Verwunderung von andern wenig geteilt wurde.
Den nächsten Sommer verlebte ich in Fangschleuse, einem damals einsamen Dorf am Werlsee, eine Meile von Erkner zwischen Kiefernforsten und schilfigen Moorfließen gelegen. Sonst mit Bölsche in Alt-Berlin (nahe dem Rathaus) wohnhaft, hatte ich's, als der liebliche Juni begann, in der steinernen Großstadt-Wüste nicht länger ausgehalten und war mit ihm in ein Schifferhäuschen am Werlsee übergesiedelt, wo wir idyllisch hausten, im See schwammen, auf dem Löcknitz-Fließ kahnten, durch die weiten Forste und Moorwiesen schweiften, schauend, sinnend, dichtend — gelegentlich auch mit Gerhart Hauptmann verkehrten und mit seinem bereits erwähnten Freunde, dem Maler Schmidt, der nahe bei uns mit seiner jungen Frau Sommerwohnung hatte.
Damals muß es gewesen sein und zwar auch im Walde bei Erkner, daß mir plötzlich ein Mann entgegentrat, den ich bisher nur literarisch kannte: Hermann Bahr, eine stattliche Erscheinung mit geistvollem Kopf, von Benehmen wienerisch verbindlich. Seltsamerweise haben wir nur zehn
Minuten miteinander sprechen können, obwohl wir doch schon damals starke Interessen gemeinsam und manche Berührung in unsrer Weltanschauung und Soziologie hatten. Es freut mich, das ich ein so edles Bild im Gedächtnis behielt von diesem tiefgründigen Sucher auf den Gebieten der Kunst, Lebenskunst und Kulturphilosophie.
Im Hochsommer wars, als Gerhart neben Bölsche und mir im Walde zwischen Wacholderbüschen lag und sein eben vollendetes Drama „Vor Sonnenaufgang" vorlas. Es wirkte auf uns hinreißend, und ich hatte den Eindruck, es bedeute der herandämmernde Morgen, den der Titel meint, eine neue, würdige Epoche der sittlichen Kultur und zugleich der Dichtung. Unsere begeisterte Zustimmung tat dem Dichter wohl, obgleich auch ohne sie sein Selbstvertrauen neuerdings gehoben war. Er sprach von Klärungen seiner Poetik, angeregt durch Gespräche, die er mit Holz und Schlaf gehabt habe und durch ihre Skizzen „Papa Hamlet". Sie erschienen unter dem Pseudonym „Bjarne P. Holmsen", das eine Verkappung von Arno Holz sein und das moderne Schwärmen des deutschen Michel für fremdländische Literatur ausnutzen sollte. Wohl stärker als die Doktrin der zwei „konsequenten Naturalisten" hat auf Hauptmann Tolstois „Macht der Finsternis" gewirkt. Auch die ethische Volkskultur, in deren Dienst Tolstoi sein Dichten gestellt hatte, insbesondere dessen Auftreten gegen Alkoholismus und sexuelle Unzucht. Zur Abstinenz war Gerhart bekehrt worden durch Bruder Carl, einem begeisterten Schüler des Züricher Psychiaters Forel, und durch seinen Freund Alfred Ploetz (Loth), den Fanatiker für Nüchternheit. Nur ein paar Jahre freilich währte Gerharts Feindschaft gegen den Alkohol. Sie wurde damals von manchen Freunden als ein unbequemer Zug empfunden. So in einer Nacht, die wir auf der „Liebesinsel" mitten auf dem Werlsee verlebten,
um zu begutachten, ob Hauptmanns Plan, sich dort ein Haus zu bauen, keinen klimatischen Bedenken begegne. Obwohl wir ein mächtiges Feuer entzündet hatten, war's unleidlich wegen des kalten Nebels und der vielen Mücken. So kam's, daß etliche Gefährten murrten, weil zwar reicher Proviant mitgenommen war, ein ganzer Kinderwagen voll, aber für durstige Kehlen bloß Wasser und Kaffee. Bis nachts 2 Uhr hielten die Unzufriedenen die aufgenötigte Enthaltsamkeit aus — dann erfolgte ihre Sezession mittels des Kahns nach einem Wirtshaus am Ufer drüben, und da wurde vom herausgetrommelten Wirt eine Flasche Cognac erstanden. Und der Dichter des Dramas „Vor Sonnenaufgang" erlebte, es sei die Zeit noch weit vor Sonnenaufgang.
Indessen nah war ihm der Aufgang einer andern Sonne, man nennt sie sonst literarischen Erfolg, Anerkennung auf jenen Brettern, die eine Welt bedeuten. Was die Schicksalswende begünstigte, war ein Zusammentreffen von Umständen: Nach dem Muster des „Theätre libre" in Paris hatte Otto Brahm, ein kluger Kritiker, den Verein „Freie Bühne" gegründet, der unter Umgehung der Polizeizensur Dramen modernsten Zeitgeistes in „geschlossener Gesellschaft" aufführen wollte. Ausländische Stücke fehlten nicht. Ibsens „Gespenster" wie Tolstois „Macht der Finsternis" konnten als eine würdige Einleitung gelten. Doch ratlos waren Brahm und Genossen, wenn sie die deutsche Dramatik musterten. Ein Stück wie Fitgers „Von Gottes Gnaden" hatte doch nur in seiner Tendenz etwas wie moderne Funken. In solche Verlegenheit drang ein Lichtstrahl. Das begeisterte Urteil, das Bölsche und ich in Gesprächen mit den Brüdern Hart gefällt hatten, war von diesen in der Sitzung der „Freien Bühne" geltend gemacht. In derselben Richtung wirkte ein Brief, den der alte Theodor Fontane mit seinem für aufstrebende Jugend empfänglichen Herzen
an Otto Brahm richtete. Dieser las das Stück und griff be= kanntlich zu.
Das wuchtigste Sozialstück, mit dem Gerhart Hauptmann dann seinen Ruhm auch international anbahnte, sind „Die Weber". Daß es von der Polizei verboten wurde, war das Werk jener Reaktion, die nach dem Fall des Sozialistengesetzes von der Bourgeoisie und den Junkern gegen die Arbeiterbewegung mobil gemacht wurde. Der Kaiser demonstrierte, indem er die Hofloge dem Deutschen Theater kündigte. Natürlich griffen die Sozialisten de» hingeworfenen Fehdehandschuh auf und betrieben die Aufführung der „Weber" in der „Neuen freien Volksbühne", wie auch in ihrer Vorgängerin, der „Freien Volksbühne". Diese Organisationen hatte ich begründet, um wertvolle Bühnenwerke, überhaupt erhebende Kunst, dem Volke, auch in seinen proletarischen Schichten, zugänglich zu machen. Die Bewegung umfaßte damals bereits Tausende von Proletariern, besonders natürlich deren geistige Elite. Eine Vorstellung, in der diese Elite wohl schwach vertreten war, hat Paul Schienther zu dem Urteil veranlaßt, das Arbeiterpublikum sei von den „Webern" mit wenig Unmittelbarkeit erregt und erst im dritten Akte sei die „lange vergeblich erhoffte Tendenz unter Heiterkeit leegrüßt worden". Aus meinen Erfahrungen heraus kann ich nur sagen: „Die Weber" und später Björnsons „Über unsere Kraft" (2. Teil) haben auf die Arbeiterschaft einen so gewaltigen Eindruck gemacht, wie ich ihn an keinem andern Sozialdrama erlebt habe.
7. Im Riesengebirge.
Durch Kunstkritik und Literaturgeschichte ist über die Leistungen Gerhart Hauptmanns ein reiches Material beigebracht, und so dürfen in dieser Hinsicht meine Erinnerungen und Deutungen zurückhaltend sein. Ich möchte aber noch
etliche Eindrücke wiedergeben, die ich von seinem Leben im Riesengebirge erhalten habe-
„Wer den Dichter will verstehen, muß in Dichters Lande gehen", und Hauptmanns Heimatland ist eben Rübezahls gewaltiges Reich. Die sandige Kiefernheide um Berlin mit ihrer Melancholie und Dürftigkeit war nicht geeignet, ein Heimweh nach Schlesiens Bergen zu beschwichtigen. Anfang der neunziger Jahre waren Gerhart und Carl Hauptmann zu den Eltern nach Warmbrunn gereist und machten von hier eine Wagenfahrt ins hohe Gebirge. In Mittel-schreiberhau am Gasthof zur „Sonne" ließ man Halt machen. Zu stillem Beschauen reizte die Landschaft. Lodernd von bunten Blumen geht hier da« Wiesental der „Siebenhäuser" niederwärts, von Murmelbächlein durchronnen. In halber Tiefe liegt eine Schleifmühle an einem Teiche, der emporlugt wie ein Auge. Kulissenhaft ragt links ein Bergwald, rechts der felsige Eulenstein mit der katholischen Kirche. Im Hintergrunde steigt zunächst ein Hang empor mit etlichen Waldarbeiter-Häuslein und jenem „Rettungshaus", das in ..Hanneles Himmelfahrt" eine Darstellung gefunden hat. Links davon nebelt es aus den Schluchten des Zackenflusses und Kochelfalles, und es wölbt sich der waldige Breite Berg. Dahinter ins Ferne gedehnt, steigt zu den Wolken die teils grünliche teils violette Wand des Gebirgskammes, zerrissen durch die Schneegruben, darin noch im Juni Winters Reste schimmern: der ..Weiße Stier" und „Rübezahls Unterhosen". Aus Tannenforstes Dunkelblau hebt sich feierlich die weißliche Rauchsäule einsamen Waldfeuers. Die Linie des Riesenkammes wogt empor zu einer Reihe von kahlen Felsgipfeln, überm Abgrund erkennt man die Schneegrubenbaude, ganz hinten pyramidenförmig die Schneekoppe mit ihrer Wetterwarte.
In dieser Aussicht schwelgend, meinte Gerhart: „Hier ist
gut sein" — und Karl spann das Zitat weiter: „Hier laßt uns Hütten bauen!" — „Nun ja, warum nicht?"' fuhr Vater Hauptmann fort — „eine Hütte wäre wohl zu haben. Seht, grade hier, wo sich der großartige Blick aufs Gebirge bietet, steht ja ein recht gediegenes Landhaus mit herrlichem Wiesen- und Waldgelände . . . Darf ich fragen" — wandte er sich an eine Frau, deren Blick interessiert auf den Insassen des Wagens ruhte — „ist das Ihr Haus? Und wärs vielleicht zu kaufen?" überrascht errötete die Frau und meinte unschlüssig: „Nu jo jo! nu nee nee!" Dann rief sie ihren Mann herbei — der nannte den Preis, und so wurde in temperamentvoller Entschlossenheit jenes gemütlich-schöne Haus erstanden, wo so viel Bedeutsames und Liebes erlebt und ersonnen wurde, daß dieser Schauplatz ein herzliches Interesse der Literaturgeschichte verdient. Ihr gemeinschaftliches Haus wollten die Brüder nebst ihren Familien gemeinschaftlich bewohnen. Um Raum dafür zu schaffen, ließen sie sofort ein Stockwerk mit fünf und ein Giebelgeschoß mit noch etlichen Zimmern aufsetzen. Die ganze Aussichtsfront entlang führt eine offene Galerie, und ein darunter befindlicher Bildhauerfries bildet ein humorvolles Wahrzeichen dafür, daß hier in ländlichem Frohsinn Künstler hausen. Durch riesenhafte Eschen wird das Haus flankiert. Seine wundervollste Beigabe ist das Hintergelände, teils von Natur, teils künstlich ein Park, wie er in diese Bergwelt paßt. Durch üppige Wiesen auf geschlängelten Wegen, hin und wieder zwischen Bäumen und Büschen, wandelt man die Halde hoch hinan, zu den weitesten Ausblicken. Oben bei Tannen kauert eine Blockhütte. Sie wurde von Gerhart als eine stimmungsvolle und ungestörte Stätte seines bildhauerischen Schaffens und dichterischen Sinnens geschätzt, Lieblich träumt es sich im Buchenhain, wo felsengrau die Stammriesen starren zwischen moosigen Granitblöcken.
während im grüngoldigen Laubwipfel der Buchfink schmettert oder bei Mondschein die Bergdrossel ihren wehmütigen Triller flötet.
Nahebei quillt ein Born, den Vater Hauptmann erschlossen hat. Er ist so ergiebig, daß sein Wasser in Röhren das ganze Haus durchströmt, zum Trinken wie zum Baden geeignet. Wie ein guter Hausgeist ist mir diese Quelle vorgekommen, so oft ich als Gast in der Schlafkammer ruhte und dem melodischen Murmeln der eingeschmiegten Wasserader lauschte. Aus meiner Seele sang dann ein Lied Carl Hauptmanns:
über mir und meinem Tal Blüht der dunkle Sternenbogen. In mir sind nun aufgezogen Sehnsuchtsbilder — all zumal.
Ferne Silberwasser ziehn Rauschend, und die Sterne kosen; All' die Queckbrünnlein, die losen Silberquellen, tosen hin.
Und ich weiß, ich bin wie sie Ewigkeit und flüchtig Gleiten; Ewig innen, doch im Weiten; Ewig flüchtig dort und hie.
Und ich fühls, ich bin es ganz; Atme Luft und trinke Quelle; Und ich dränge wie die Welle, Bin und webe in dem Glanz.
Dem Zauber dieses Quellenheims hat Carl Hauptmanns Sammlung „Aus meinem Tagebuche" reichen Ausdruck verliehen mit Nachtigallenton und tiefer Weisheit.
Nicht ohne tiefste Ergriffenheit kann ich an die Ströme von Erleben denken, die von der geschilderten Stätte ausgegangen sind — auch für mich persönlich, dessen Schicksal und Schaffen starke Wurzelstränge in Mittelschreiberhau fand. Alles spann sich hervor aus jener Wagenfahrt der Familie Hauptmann. Und aus der Einladung, die im Winter 1892 von den Brüdern Hauptmann an mich kam, sie zu besuchen undim hohenSchnee herumzustapfen. Schneeschuhsport gab es damals in Deutschland kaum, und Gerhart Hauptmann war dessen Pionier im Riesengebirge. Geschmeidig in seinem Wollanzug, ähnlich einem weißen Vogel, schmiegsamen Schwalbenfluges, glitt er schneebedeckte Hänge entlang, bald in der Nähe, bald auch schon fern.
Wir Gäste, darunter Felix Hollaender, dessen Freundschaft mit Hauptmanns damals begann, versuchten uns im Rodeln. „Wie macht mans?" hatte ich Carl Hauptmann gefragt und den Bescheid erhalten: „Ganz einfach! Auf den Schlitten gesetzt und dann — die Beine hoch!" Einen hohen Hang hinan war ich mit Felix Hollaender gestiegen, und jeder hatte am Bändel einen Schlitten, um sich darauf, gleich in erster Fahrt, die Meisterschaft zu verdienen. Oben an sehr steiler Steile setzte ich mich in Positur/ und als nun Hollaender fragte: „Wie macht mans?" wiederholte ich Carl Hauptmanns Antwort und fügte hinzu: „Ich zähle eins, zwei, drei — bei drei hebt jeder die Beine hoch." Kaum hatten wir nach diesem Rezept gehandelt, so sausten wir abwärts wie Lawinen. Dann auf einmal wars, als packe Rübezahl mich mit der einen Riesenfaust, Hollaendern mit der andern am Genick, wirbele jeden ein paar mal herum und schleudere ihn verächtlich in den Flockenwust. Ich raffte mich auf, meine Backe war geschunden — Hollaendern sah ich mit blutender Nase — unsere Schlitten waren wie scheue Pferdchen durchgebrannt und liefen den Hang hinab —
ganz unten waren zwei Figürchen, die sich krümmten, als hätten sie Leibschmerzen: die Brüder Hauptmann, belachend unsere Meisterfahrt.
So wurde burschikos herumgetollt — weglos durch Schnee gestapft, daß man zuweilen bis zur Brust einsank — hoch oben in der Baude zur Fiedel getanzt — durch die von Eis starrende Zackelklamm gekrochen — mit dem Pferdeschlitten über den Gebirgspaß ins Böhmerland gefahren — bei Stohns-dorfer Likör Billard gespielt — aber bei allen Gelegenheiten das Leben auch in tiefen Gründen erfaßt, in seinen geheimen Schätzen und innigsten Reizen. Die Tage im Riesengebirge reihten sich mir zu langer Kette. Manchen Winter- und manchen Sommermond hab ich dort verlebt, auch ein Eigen erworben, herrliches Wiesen- und Waldland mit Forellenbach — habe geträumt und gedichtet —, und all das geschah in herzlichem Verkehr mit den Brüdern Hauptmann und ihren lieben Frauen sowie Freunden. Aus dem Kreise Carl Hauptmanns nenne ich Anna Teichmüller, den Maler Schmidt, Alfred Plötz, Wilhelm Bölsche, Hermann Büttner (Meister Eckeharts Vermittler), den Worpsweder Maler Modersohn nebst seiner Frau Paula, den Maler Fidus, John Henry Mackay, der sein „Haus zur Freiheit"' nahebei, im Siebenhäusertal hatte, den Bildhauer Franz Metzner, den Maler Fechner, der blind wurde und seitdem mit dichterischen Mitteln weiter malt, den Dichter und langjährigen Berliner Bürgermeister Georg Reicke, Bernhard Wilm und den Nationalökonomen Professor Sombart. Lotte Hauptmann, die einzige Schwester der Brüder, ist eine Persönlichkeit, deren treue Hingabe und praktisches Wirken ihnen so viel bedeutet, daß der Nahestehende sie aus deren Leben, zumal au3 Carls Familie, kaum hinwegdenken kann.
Gerhart Hauptmanns Trennung von seiner Frau Maria, zugleich eine fortgesetzte Störung in seinem Verhältnis zum
Bruder Carl veranlaßte ihn, den Wohnsitz in Schreiberhau aufzugeben, zunächst in Berlin-Grunewald zu wohnen, dann als Frau Gretes Gatte ein neues Heim in Agnetendorf zu bauen, Haus „Wiesenstein", zwei Wegstunden von Schreiberhau auf einem felsigen Hügel unterhalb der „Schwarzen Schneegrube" gelegen. Auch hier habe ich eine Reihe gesegneter Stunden verlebt. Trautes Geplauder am prasselnden Kamin der Diele, mit Gerhart und seiner Frau Grete, die hinreißend zur Laute singt und eine seelenvolle Virtuosin auf der Geige ist; auch mit dem klugen Otto Brahm, der für Gerharts Bühnenschaffen ein ebenso warmes Gemüt, wie scharf kritisches Urteil hatte; oder mit Rittner, dem feurigen Darsteller mancher Hauptmannschen Glanzrolle. Auch Spaziergänge durch die Agnetendorfer Landschaft leben mir im Herzen — besonders schön ein Ausflug mit Gerhart und Frau Grete in die Schneegruben, wo wir zwischen Felsblöcken eine grüne Matte mit Anemonen fanden, auf der hingelagert wir im Ausblick schwelgten, auch noch ein mitgebrachtes Gabelfrühstück genießen durften, dazu köstlichen Moselwein, den der Schneegrubenteich gekühlt hatte-
Die innigsten Werte von Agnetendorf gingen mir auf, wenn Gerhart sein Herz wie in Jugendjahren erschloß, besonders auch wenn er ein neues Werk vorlas oder ein Bruchstück. Er liest nicht theatralisch, sondern mit verhaltener Innigkeit, tief versunken in sein Schauen und meisterhaft charakterisierend. Wie ein berückender Traum baut sich im Zuhörer auf, was der Dichter ersonnen hat. Nein, nicht ersonnen, sondern aus erlebter Wirklichkeit geschöpft und künstlerisch verklärt. Wer in Gerhart Hauptmanns Schicksalen Bescheid weiß, findet in seinen Dichtungen eine Menge Menschen, die dem Dichter Eindruck gemacht haben. Sie figurieren nun verewigt in einer Traumwelt hohen Ranges. Daß sie sich derart umwandeln ließen, macht das liebevolle Beobach-
ten, das unser Dichter allen halbwegs interessanten Menschen entgegenbringt, besonders seinen Freunden und Allernächsten.
Nicht minder bedeutsam war für Gerhart Hauptmann, was ihm die Natur und Bevölkerung des Riesengebirges gab. In Dichtungen, wie „die versunkene Glocke" und „Pippa" leben Stimmungen der Landschaft und Motive aus dem Volksleben. Die innige Versenkung in sein Schlesiervolk hat dem Dramatiker herrliche Gestalten vermittelt. Ich nenne das deutsche Mägdlein Hannele mit seiner knospenden Liebe und seiner kindlichen Märchenträumerei, auch den halbwilden Waldarbeiter Mattern, den jungen Schulmeister, die Barmherzige Schwester und das gezierte Dorfschneiderlein. Aus dem Milieu der Josefinenhütte erwuchs das Glashüttenmärchen von Pippa. Ich kann nicht umhin, mit Pippa einen Traum in Verbindung zu bringen, den mir früher mal — es war 1893 — Gerhart Hauptmann erzählt hat: Von einem Mädchen, das mit anmutigen Tanzgebärden rings alle Männer bezauberte, und es waren ruppige Kerle und Greise sowohl wie Lebemänner, bis sie schließlich einander die Hände reichten zum „Schunkelwalzer", rings einen Kreis bildeten um die Angebetete und in schaurigem Liebeswahnsinn nach der Weise: „Im Grunewald, im Grunewald ist Holzauktion" die Worte sangen: „Das ist das schöne Mädchen mit dem Himbeerhaar, dem Himbeerhaar. . . ."
Wie leibhaftig im Riesengebirge Gestalten aus Hauptmanns Dichtungen herumlaufen, zeigte eine Dilettantenaufführung vom „Fuhrmann Henschel" in Schreiberhau — schlichte Einheimische spielten die Rollen, und zwar, wie Gerhart Hauptmann versicherte, zum Teil mit einer Echtheit, wie sie kaum einer Meisterbühne Berlins gelingt.
Der Idee des Dichters, eine Hauptmann-Bühne im Riesengebirge zu schaffen, wünschte ich mit Dringlichkeit, sie möge
Verwirklichung finden und möge Darsteller aus dem Volke heranbilden, ähnlich wies in Oberammergau möglich war. In diesem Plane sehe ich noch einen besonderen Kulturwert: Die Kunst soll ins Volk eindringen; doch nicht bloß aufnehmend soll es sich verhalten, sondern zum Mitwirken hingerissen werden. Dem antiken Griechentum bedeutete das Drama einen Kult, eine Art religiösen Erlebens. Die moderne Bühne steht dem Publikum wie ein Bild gegenüber, gewissermaßen durch eine Kluft getrennt, so daß hier Faustens bedauerndes Wort am Platze wäre: „Ein Schauspiel, aber ach, ein Schauspiel nur!" Soll die Kunst tiefstes Erleben werden, so muß sie den ganzen Menschen ergreifen, auch seine Betätigung, indem er mitwirkt: chorhaft, liturgisch, kultisch.
Die Bühne in der Landschaft von Schreiberhau sollte den kultischen Charakter der Volksfeier haben, religiös-künstlerischer Ausdruck des ewigen Schicksals sein, wie es im deutschen Gemüte auftritt, besonders in dieser Natur, unter diesen Leuten. Sie könnte wirken als ein Altar der Heimatkunst in dem die Natur des Riesengebirges all ihre Seele zusammenschließt und gipfeln läßt. Außer Gerhart Hauptmanns Stücken könnte auch das Schaffen seines Bruders Carl berücksichtigt werden — ebenfalls hin und wieder ein altes Stück, wie die „Dornrose" von Gryphius.
Auf eine baldige Durchführung dieses Planes läßt sich nicht hoffen in diesen Jahren der Not. Doch ich bitte das deutsche Volk, diese Idee nicht zu vergessen. Wenn Gerhart Hauptmann Aussicht auf Verwirklichung erhielte, so wäre das eines der würdigsten Dankeszeichen, die Deutschland seinem Dichter zum sechzigsten Geburtstage darbringen kann. Feiern wir ihn nicht bloß in Worten, sondern im Sinne Goethes: „Was fruchtbar ist, allein ist wahr!"
VON BRAHM ZU HAUPTMANN.
Erinnerungen
Von
Georg Hirschfeld.
Es ist ein eigentümliches Zeichen unserer Zeit, daß man in der ungeheuren Vitalität ihrer Entwicklungsprobleme auf eine bange Sehnsucht nach einstigen Kräften stößt Besonders in den Werdekämpfen der Kunst macht sich diese Bewegung geltend. Man sollte meinen, daß die Katastrophe des Weltkrieges auch den Dichtern einen Acker hinterlassen, so umgewühlt im Tiefsten und Innersten, daß man nur dort stehen mag, wo man steht, und den Pflug nur in die täglich sichtbar werdenden Furchen lenkt. Es hat sich freilich in den Kriegsjahren und bis heute ganz toll und bunt geregt, es regt sich noch immer von kühnen und seltsamen Kräften, aber während das Auge so gesättigt wird, daß Überdruß es trübt, und das Ohr soviel vernimmt, daß es Schmerz empfindet, bleibt der Sitz aller Sinne unbefriedigt. In dem vielgestaltigen Werden erblickt die Seele nicht, was sie braucht, die Stimme ihrer Not und das Feuer ihres Blutes.
Talente bringen uns nicht weiter. Sie wollen sich von der Zeit beschenken lassen — nur der Genius schenkt sich selbst der Zeit. Der Prozeß seiner Geburt mag jetzt erschwerter sein, als je, denn die Erbschaft, die er antritt, ist zu groß, und wir wissen, daß das Genie jede Erbschaft
bewältigt, indem es sie umformt- Dies scheint in unserer Zeit der Einzelgestalt nicht mehr gegeben zu sein. Schon trübt sich der alte Glaube, den Goethe noch gepriesen, der Glaube an die einzig rettende Persönlichkeit. Unentwirrbar wogt durcheinander, was Freiheit braucht und Freiheit verdirbt — unsere Jugend weiß nicht, wo die Persönlichkeit im Recht bleibt, und wo die Allgemeinheit entscheidet. Wir haben noch keine Gesellschaft, die falsche Stützen verlieren, echte gewinnen soll. Man haftet und stürzt sich doch mit verzweifelter Wonne in den leeren Raum. Ein Chaos fühlt der künstlerische Mensch, während der unkünstlerische, materielle, der Bauer dumpf seine Scholle gräbt.
So kommt es, daß aus einer Trächtigkeit ohnegleichen blasse und vergängliche Pflanzen erstehen. Eine wundersame Buntheit, ein berauschender Duft, aber die Wurzeln liegen nicht tief. Was überraschen will, ist schließlich nie das Überraschende. Auf den Präsentierteller drängt sich alles, Mode wird, was eben noch Seelendrang gewesen, und die Kunst, die nicht nach Brot zu gehen behauptet, geht sicherlich nach dem Dollar.
Aber die Stillen und die Reinen, die wissen, was das Volk braucht, weil sie selbst es brauchen, sterben nicht aus. Sie stehen in schmerzlichem Erstaunen vor dem Wirrsal der Zeit und suchen Halt in festen Erinnerungen. Noch wissen sie, woher ihnen die Gabe kommt, sich den Blick nicht trüben zu lassen. Ihre Wurzel ruht in einer Zeit, deren Bewegtheit sich mit den wilden Sprüngen der Gegenwart nicht messen kann. Es war das letzte Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, das Deutschland vielleicht den einzig echten Sozialismus gab und deutscher Kunst den leidenschaftlichen Kampf des Einzelnen mit der Gesellschaft.
Dort glaubt man jetzt wieder Klarheit zu sehen. Man
greift zurück, ohne zu verkennen, daß nicht hinter uns liegen kann, was uns vorwärtsbringen soll. Das Unwiderlegliche, das uns aus der Vergangenheit grüßt, ist das Echte. Wir wissen, daß es damals wirklich um Ideen ging, und daß die Jugend litt, um zu siegen. Die Kunst erblühte im reinen Dienst des Naturgeheimnisses. Nur wer ehrlich vor sich selbst und den Anderen war, konnte ihren Tempel finden.
Die Scheelsucht derer, die das Echte nie erkennen, weil sie es nicht in sich tragen, hat jenen Naturdienst als „Naturalismus" verdächtigt. Niemals hat es einen Naturalismus gegeben, als bei den wenigen Doctrinären, denen es auf schulmeisterliche Prinzipien ankam. Die Schöpferischen ließen sich immer nur von ihrem Temperament tragen, sie kannten und kennen nur die Richtung ihres seelischen Gesetzes. Wenn sie diesem folgen, finden sie auch ihre Entwicklung. Naturalismus, Impressionismus, Expressionismus — den ganzen Schlagwortzauber lassen sie kritischen Systematikern, die sich in der Schatzkammer „auskennen" wollen. Sie selbst kannten sich vom ersten Tage aus, auch wenn sie vom Stoff des Seins überwältigt waren. Gerade dann fühlten sie sich als Dichter.
Hierin mag das Zeichen der Periode liegen, an die man jetzt so gern zurückdenkt. Sie kann uns d irch Beschwörung nicht helfen nur durch das Vermächtnis ihrer Echtheit. Aus dieser Empfindung erklärt es sich, daß schon in der Zeit, die das deutsche Chaos noch national zusammenhielt, eine echte, ach so seltene Liebe auf einen Dichter sich sammelte. Man fühlte nun erst, was man an Gerhart Hauptmann hatte. Der Genius, der unserem Drama am Abend des neunzehnten Jahrhunderts erschien, ist er am Morgen des zwanzigsten geblieben, kein gleichwertiger folgte ihm. So schritt er, ein Führer durch Bestimmung, nicht durch Willen, mit uns in Deutschlands Not. Wer ihm Treue
hält, weiß um Treue. Es ist ein gutes Zeichen jedes Bacca-laureus, wenn er schließlich doch Respekt vor Hauptmann hat. Aus solchem Most wird Wein werden. Man darf für den kommenden Herbst auf ein schönes Bild hoffen: zu Gerhart Hauptmanns sechzigstem Geburtstage werden ihm die Jünger deutscher Kunst aus allen Lagern huldigen.
Doch was er ist, offenbart sich am tiefsten in dem, was er war. Die Sehnsucht unserer Tage nach der Zeit, die seine besten Werke werden ließ, ist die Sehnsucht nach einem echten Dichtergenius. Es kommt immer nur darauf an, daß es einem Manne um Alles geht. Gerhart Hauptmann und seinen Gefährten war die Kunst dieses Alles. Heute könnten noch größere Werte solche Banner sein. Doch wenn unsere Jugend umherblickt, will sie die bange Ahnung beschleichen, daß sie gegen die große Ausschließlichkeit der Väter zurücksteht. Die Fülle ist unendlich, aber es gibt bisher nur ein Niveau, keinen Gipfel. Mag die Zeit vor 30 Jahren an sich „kleiner" gewesen sein, aber sie hat ein Profil gehabt, und das ist größer, als das ungeheuer Verschwimmende. Es galt etwas, geistige Werte zu schaffen. Es war eine Seligkeit, jung zu sein.
Ich gehöre zu der Generation, die Gerhart Hauptmann erstehen sah. Er führte mich erkennend an seine Quelle. Sein Schüler bin ich nie gewesen, denn es gibt keine Schule, wo Finden und Fühlen strebende Menschen bindet. Hauptmann sah sich selbst immer als Schüler in der Gotteshalle, wo meine Sehnsucht neben ihm stand. Es ist die große Seligkeit der Künstler, gemeinsam und anders zu sein. Das Gemeinsame ist die ehrlich ringende Zeit, das Trennende die Wege ihrer Wanderer-
So führte auch mich ein eigener Drang auf den meinigen, aber ich denke jetzt mit allen Verstehenden dankbar an Hauptmann zurück. In diesen Blättern möchte ich auf-
zeichnen, was der Südwind der Vergangenheit mir an Erinnerungen zuträgt. Indem ich mich erinnere, kann ich immer besser verstehen, warum die Sehnsucht unserer Zeit nach Hauptmann anschwillt Ich danke ihr diese Sehnsucht, denn sie gibt auch mir in dunklen Nöten Recht und ermutigt mich, um des Unverlierbaren willen weiterzukämpfen.
Im Jahre 1892 begegnete ich Gerhart Hauptmann zum ersten Mal. Aber es war für unser Verhältnis charakteristisch, daß das Schicksal mich nicht unmittelbar vor ihm auftauchen ließ, sondern durch den kritischen Mittler, der aus seinem wahren Bilde nicht fortzudenken ist: durch Otto Brahm. Dieser seltsame, kluge und gütige Mensch könnte unseren zerrissenen Tagen nahezu ebensoviel harmonischen Halt geben, wie der Dichter, den er kämpfend geliebt hat. Otto Brahm erlebte die deutsche Katastrophe nicht — ihm zum Heil, denn er, der „Spötter", der „Kalte", hätte namenlos unter ihr gelitten. Doch sein Geist war ein Wert, den wir nicht verlieren dürfen, und deshalb begleitet er uns alle auf dunklen Wegen. Auch Gerhart Hauptmann, über dem nun ein großes Licht steht. Seltsame Wandlung der Zeiten — der alte Goethe trauerte sehnsüchtig um den jung entschwundenen Schiller. Der alte Hauptmann wird sich nach dem zu früh gestorbenen Brahm sehnen. Eigentlich müßte der Kritiker den Dichter überleben — hier war es anders gewollt. Aber die kritische Kraft Brahms ist im Grunde das überlebende. Sie blieb in Hauptmann, und wenn ich ihm jetzt begegne, bindet sie mich noch immer mit ihm.
Ich kämpfte als Zwanzigjähriger den alten Kampf um Selbstrecht, um den intuitiv erkannten Beruf. Mein Vater versuchte mich, wie viele Väter tun, zu knebeln — meine Mutter half mir. Wenn ich meine Jugend jetzt überblicke, erscheint mir nichts so bezeichnend wie die Tatsache, daß
ich auf dem Wege von Brahm zu Hauptmann war und in Wildenbruch meinen ersten Freund gefunden hatte. Dieser Kontrast hätte in den neunziger Jahren gegen mich stimmen können — bei Brahm, dem echten Kritikus, war es nicht der Fall, er nahm es mit gütiger Ironie und wartete — aber in unseren Tagen, die vor allem den Ausbruch dichterischer Temperamente preisen, mag mein erster Konflikt tieferes Verständnis finden. Ich war sehr jung, jünger als alle Mitstrebenden — auf dem ungeheuren Arbeitsfelde, das ich vor mir sah, kam es mir nur auf den reinen Drang der Seele an, und den fand ich bei Wildenbruch ebenso, wie bei Hauptmann. Nicht den Hohenzollern-, nicht den Weberdichter sah ich zunächst, sondern zwei Führer, die sagen mußten, was Gott ihnen aufgetragen. Künstlerisch unterlag dann Wildenbruch. Ich war über ein blühendes Feld getaumelt und stand vor der Tiefe sozialer Fragen, in die auch ich nun niedersteigen mußte.
Dem Rechtsanwalt Paul Jonas, einem Verwandten, dem ich selten begegnet war, wurden meine jungen Kämpfe bekannt. Er war einer der frischen Begründer der freien Bühne, ein Typ des guten Publikums der Zeit — er witterte in mir einen von denen, die sein Freund Otto Brahm suchte. Brahm war nicht nur Leiter der Freien Bühne, sondern trug sich damals schon — mir und vielen anderen unbekannt — mit dem Gedanken, das Deutsche Theater zu übernehmen. Jonas, in seiner schnellen, hilfreichen Art, nahm dem zögernden „Jungen" sein neues Manuskript fort, ein besonderes Schmerzenskind, und schickte es an einem Sommertage anno 1892 an Dr. Otto Brahm, per Adresse Gerhart Hauptmann, Schreiberhau im Riesengebirge. Es war in der schönen Ferienzeit, die ich als Lehrling im Fabrikkontor meines Vaters verseufzte. Sehnsüchtige Gedanken folgten meinem Drama in die große Ferne. Ich
lebte damals in einem Zustande der Zerrissenheit, so arg, daß ich dem guten Jonas davon nichts sagen konnte. Jenes Schmerzenskind nämlich, das Drama „Verloren", ein Vorläufer der „Mütter", war auch bei Ernst von Wildenbruch gewesen und hatte meinen latenten Konflikt mit dem begrenzten Prachtmenschen zu Tage gefördert. Wildenbruch sah mich auf dem Wege zu Hauptmann, Sudermann und — er hätte wohl fast „Konsorten" gesagt. Er zürnte mir nicht, aber er war enttäuscht und erhob seine rührende Warnerstimme. Er wollte mich nicht der lauernden Freien Bühne verfallen lassen.
Ich stand erstaunt vor dieser leidenschaftlichen Abneigung gegen eine Arbeil, die für mein Gefühl nicht anderen Geistes war, als meine früheren, von meiner Beziehung zu Wildenbruch nichts verleugnete. Wie ich schon zuvor erwähnte, sah ich in Hauptmann und Wildenbruch verschiedene, aber nicht feinliche Lager. Vor Sudermann brauchte Wildenbruch mich noch weniger zu „warnen", denn dessen Kunst stand mir ziemlich fern, während ich mich Hauptmann sogleich mit inniger Liebe hingegeben hatte. Das schlimme, fast zerstörende Ergebnis für mich war, daß ich nun in meinem Berliner Gefängnis ganz allein saß, von dem einzigen Verstehenden mich auch nicht mehr verstanden fühlte. In meiner Verzweiflung glaubte ich nun auch bei Brahm und Hauptmann keine Hilfe zu finden. Aber es kam anders, und nun winkte wirklich die Befreiung.
Nach einigen Wochen rief Paul Jonas mich zu sich und zeigte mit einen Brief Otto Brahms aus Schreiberhau. Brahm hatte dort mein Drama „Verloren" gelesen. Er erklärte in seiner kargen, scheinbar kühlen Art, daß er an mir festhalten wolle. Ein Anfang, der ihm wertvoll erschien, war ihm entgegengetreten. Meine glückliche Überraschung steigerte sich noch, als ich bald darauf auch ein Schreiben Ger-
hart Hauptmanns an Jonas erhielt. Auch er hatte mein Opus gelesen, da Brahm es ihm gegeben hatte, und seine jüngere, dichterisch heißblütige Art trat noch entschlossener zu dem unbekannten Kaufmannslehrling.
Es fügte sich wunderbar. Meine Mutter verbrachte in demselben Sommer einige Wochen in Bad Warmbrunn. Ich durfte sie begleiten, denn mein Vater ahnte noch nicht welcher Löwenhöhle ich näherrückte. Hauptmann erwartete mich, und an einem schönen Julimorgen machte ich mich auf den Weg nach Schreiberhau.
Es gibt wohl nichts Herrlicheres für den Mannesbeginn, als von den Flügeln schuldloser Ahnung getragen zu einem Meister zu wandern. Noch heute schnürt es mir die Kehle zu, wenn ich mich der Erinnerung an jenen Morgen hingebe. Um mich herum blühten die schlesischen Wiesen, alles schien leise zu fragen: warum kommst Du so spät? Du weißt doch auch von unserer Art? — alles schien auch zu lächeln und zu nicken: Willkommen! Du hast Dir in tiefer Unterdrückung das Gute bewahrt.
Ich lief in einem Taumel über die Hügel von Schreiberhau. Ein kleiner Junge zeigte mir das Haus des Herrn Hauptmann. Ich kam in meiner Aufregung vom Wege ab, ich stampfte querfeldein, ich versank in feuchten Erdschollen. Nur auf das Dach des alten Bauernhauses war mein Blick gerichtet-
Endlich stand ich vor der Tür. Es war das Haus, in dem die Brüder Hauptmann damals noch gemeinsam wohnten. Aber nur Gerhart war daheim, und ich wurde zu ihm hinauf geführt. Noch sehe ich ihn vor mir in seinem hellen Arbeitszimmer, wie er ein Dreißigjähriger war vor dreißig Jahren-Hell — das weiß ich noch heute — war vor allem der überraschende Gesamteindruck. Ich trug die schweren, wühlenden Bilder seiner Werke in mir, ich sollte den Schöpfer
von „Vor Sonnenaufgang";, ,, Friedensfest", ..Einsame Menschen", „Die Weber" sehen — und nicht der Träger solcher Lasten trat vor mich hin, kein blasser, gerunzelter Mann, sondern ein beweglicher Jüngling, rosig, mit leuchtenden blauen Augen und geschorenem Blondkopf. Erst als ich ihm gegenüber saß und ihn still betrachten konnte, sah ich die tiefen Züge des unbeirrbaren Kämpfers. Aus seinen Augen sandte ein verborgenes Leidenslicht seine Strahlen. Güte und Durchdringen, letzte Bereitschaft kennzeichneten den Mann.
Er löste meine Schüchternheit, nicht weil er beredt war, sondern weil meine Arbeit in seinem Bewußtsein lebte. Merkwürdig haftete der erste Eindruck von einem heiteren Kämpfer in mir. Viel später erst erschien es mir als Hauptmanns natürliches Gesetz, daß der deutsche Gestalter bei den Griechen landen mußte- Während ich mit ihm sprach, verschwanden mir die „Weber" wie eine heilige Selbstverständlichkeit, ,,Einsame Menschen" und „Friedensfest" sah ich nur noch als Schöpfungen des Miterlebenden. Den Hauptmann, den ich kennen gelernt, verkörperte mir die Welt des „College Crampton". Dabei wusste ich damals noch nicht, daß der Dichter eben von den Spottgeistern des „Biberpelzes" umtanzt war.
Er offenbarte sich mir als Mensch. Er nahm mir jedes Meister- und Schülergefühl. Ich fühlte mich bei einem Freunde, als ich auf dem breiten Balkon seines Landhauses ihm und Frau Marie, der dunklen, herrlich zwischen Glauben und Schwermut lebenden, gegenüber saß. Drüben lag das Riesengebirge — das Bild war von Goethe'scher Weite, nicht die „Wiege des Naturalismus' , Herz schlug zum Herzen — die Welt lag allen Künstlerhänden bereit.
Dann zeigte mir Hauptmann noch das Schreiberhauer Tal. Wichtel, der treue Hund, lief uns nach, und an Spiel-
kindern kamen wir vorbei, blond und blauäugig, dem Vater gleichend. Nur Ivo, der Älteste, hat den dunklen Blick der Mutter.
Schon lange hatte ich einen spitzen, roten Giebel gesehen, ein abseits und hoch gelegenes Tempelchen, das mich neugierig machte. Jetzt steuerte Hauptmann über das geschwungene Wiesenland darauf zu: ,,lch muß Ihnen doch auch meine Baude zeigen" sagte er — das ist „meine Baude" wo ich am ruhigsten arbeiten kann. Aber da schreibe ich nicht nur — da kommt auch noch was Anderes zu Stande."
Es klang fast, als ob er besseres darin sähe. Er schloß die schwere Tür auf, und ich sah kein Schreibzimmer, sondern ein Bildhaueratelier. Fertige Arbeiten und Torsen standen umher. Ich konnte es dem Dichter der „Weber" nachfühlen, wieviel ihm diese gegenständliche Plastik gab. Hier knüpfte er an Breslauer Anfänge an, hier war auch er noch Schüler Cramptons.
Doch von dem Schreibtisch der Dichterbaude hatte man einen Blick auf Gebirge und Tal, dessen Erhabenheit mir unvergeßlich blieb. Schmerz und auch Stolz durchzuckten mich — ich gehörte nicht hierher, ich mußte dem Berliner Fabrikhof seine Zauber abgewinnen.
Aber diese Erkenntnis stützte mich nicht lange- Als ich von Hauptmann Abschied nahm, sah ich ihn im Abendglanz des Erreichten verschwinden — ich selbst war noch der unbekannte, zerrissene Sucher. Je tiefer ich nun um Hauptmanns Wert wußte, desto tiefer auch glaubte ich meinen Unwert zu erkennen. So kam ich, als ich in das untere Dorf Schreiberhau niederstieg, in eine kritische Stimmung. Noch einmal wollte mich Versagen packen. Ererbtes Dunkel zog mich nieder. Es fehlte nicht viel, und ich hätte mich damals von der Zackenbrücke in das tiefe Geröll gestürzt. Solches Ende
hätte einen Hauch von Ewigkeit gehabt. Aber ich gedachte meiner Mutter und kehrte nach Warmbrunn zurück.
Auch die Verzweiflung ist ein köstlich Ding der Jugend. Unter ihren dunklen Flügeln gedeihen starke Dinge. Stärker war ich seit meiner persönlichen Bekanntschaft mit Gerhart Hauptmann sicherlich geworden. Ich wehrte die lauernden Dämonen ab, ich überlistete mich selbst, indem ich mit neuer Zuversicht arbeitete. Segensreich für diese Verfassung war mein erster Besuch bei Otto Brahm.
,,Es war Dir nicht gesungen an der Wiege — Man kam zu Dir auf einer Hühnerstiege!" schrieb Ludwig Fulda später dem Direktor des Deutschen Theaters ins Gästebuch. Auch ich kam noch auf der Hühner-stiere zu dem Schriftsteller Otto Brahm, Wilhelmstraße 43, Hof, 2 Treppen. Wieviel Licht wurde damals in dieses dämmerige Mietshaus getragen! Hier rief Gerhart Hauptmann, als Brahm ihn bat, sich noch einmal zu ihm zu bemühen: „Für ,Vor Sonnenaufgang' laufe ich Ihnen um ganz Berlin 'rum!" Hier entwickelte der junge Bauernsohn Rudolf Rittner im Vollgefühl der besten Kunstpraxis seine unermüdlichen Theorien, und Brahm hörte mit geduldigem Schalkslächeln zu.
Ich aber machte bei Doktor Brahm eine starke Kur durch. Er festigte mein Selbstgefühl auf dem ungeheuren Felde der Kunst. Er zeigte mir, daß man nicht überschätzen solle, sondern schätzen, und daß der sich verlor, der allzuviel gewann. So ließ er mich bei Hauptmann und führte mich doch höher, zu dem Genius seines Bekenntnisses, zu Kleist. Er stimmte mir zu, als ich das Glück aussprach, Hauptmann zu besitzen, aber er enthüllte mir auch, wie Hauptmann geworden, und wie Henrik Ibsen sein Ahnherr war.
Auch zu Hauptmanns menschlicher Persönlichkeit führte Brahm mich in ein klareres Verhältnis. Niemand hat Haupt-
mann besser gekannt als er, denn er kannte ihn aus der reinen Hingabe männlichen Geistes, Wenn er über Wunderlichkeiten des Genies lächelte und Vergängliches hinnahm um des Unvergänglichen willen, wuchs sein granitener Ernst vor ihm. Wo Brahm sich bekannte, war reicher Boden.
Durch ihn blieb meine Beziehung zu Hauptmann lebendig. Ich schrieb in drei Nächten das einaktige Drama „Zu Hause", das Hauptmann noch positiver anerkannte. Als Charakteristikum seiner impulsiven Art zu lesen, erwähne ich hier eine Randbemerkung, die er in das Manuskript schrieb. Sie kennzeichnet auch, worauf es seinem Kunstgefühl ankam. In dem kleinen Stück hört der alte, abgerackerte Kaufmann Doergens seinem Sohne zu, wie dieser der eitlen Mutter von seiner Heidelberger Studienzeit erzählt. Der Sohn spricht von der Empfehlung, die ein großer Arzt ihm mitgegeben, und er meint: „Das kann von kolossalem Nutzen für mich sein." Da vergißt der Vater seine Knechtung, die sich sonst vor der Mutter keine Meinung erlaubte — er versteht noch weniger als sie von dem Gewinn des Sohnes, aber sein naiver Stolz, seine sehnsüchtige Genugtuung gehen mit ihm durch. Er wiederholt des Sohnes Wort und ruft dazwischen: „Kolossal!" Hier schrieb Hauptmann an den Rand: „Wunderbar! ! "
Im Herbst 92 sah ich ihn wieder. Er wohnte damals bei Brahm, und ich kam vormittags, um auch ihn zu begrüßen. Da lag er aber noch im Bett und schlief seinen kerngesunden Schlaf. Ich saß bei Brahm und wartete, und wir sprachen von dem Gastspiel der Eleonora Düse, das damals Berlin entflammte. Brahm erzählte mir auch, wie Hauptmann von der Italienerin gepackt worden sei. Er wolle sie nun jeden Abend sehen — ein Entschluß, den Brahm noch anzweifelte. In diesem Augenblick krachte nebenan das Bett, es war, als ob ein großer, ungestümer Junge sich darin warf, und
Sigwin Statu. hart Hauptmann zu seiner geplanten Dichtung „Germanen und Römer"/
ich hörte eine singende, langgezogene Stimme: „Heute Abend gehn wir bei die Düse". Es war bezwingend lustig, diese junge, sich räkelnde Seligkeit zu hören, es war so lustig, weil es aus dem innersten Ernst kam. —
Mein Schicksal entschied sich, als das Jahr 1893 begann. Brahm überzeugte mit Jonas' Assistenz meinen Vater, daß es besser in jeder Hinsicht sei, mich freizulassen. Auch Hauptmann sprach für mich. Mein Vater, der mir einst das „Friedensfest" aus der Hand gerissen und in Fetzen fortgeschleudert hatte, spürte nun doch, daß etwas unheimlich Bedeutungsvolles mit mir vorging. Auch für das Berliner Bürgertum, dem er angehörte, war Hauptmann damals schon ein Faktor — man mußte auf ihn hören. So resignierte denn mein Vater mit der Bemerkung: „Es gibt ja weiße Raben", und beschlossen wurde, daß ich zum Herbst als Student nach München ziehen sollte. Aus dem Kontor wurde ich schon im Frühling entlassen, und die erste Arbeit, die ich freiheittrunken schrieb, war die Novelle /rDamon Kleist". Sie nahm ich im Sommer mit, als ich meine Mutter nach Warmbrunn begleitete.
Nun sollte eine rege Gemeinsamkeit mit Hauptmann für mich kommen, die reichste wohl, die ich erlebt habe. Meine Mutter siedelte mit mir nach Schreiberhau über und ich kam fast täglich in Hauptmanns Haus. Es war eine bedeutsame Zeit des Dichters. Er nahm alle Kraft für sein Bestes zusammen, und das Beste der ersten Schaffensperiode entstand: „Hanneles Himmelfahrt". Außer mir waren damals Felix Holländer und Max Marschalk oft seine Gäste. Der Letztgenannte schrieb die Musik der entstehenden Traumdichtung, und von ihm hörte ich Andeutungen, die mich mit sehnsüchtiger Spannung erfüllten. Lange konnte Hauptmann sich nicht entschließen, das vollendete Werk vorzulesen. Es war ihm heilig einsamer Besitz. Auf Wanderungen
über den Gebirgskamm, durch Wald und Feld ließ seine starke, scheue, indirekte Art nur hervorblitzen, was mit dem Hannele gewollt war. Er begeisterte sich für Fritz von Uhde, zu dem er mich später in München sandte, und aus den Bildern dieses Meisters wehte mich schon der Duft des schlesischen Weihespieles an.
Dann, eines schönen Tages — wir saßen alle im Garten, auch meine Mutter war zugegen — sprang Hauptmann plötzlich auf und rief: „Na, Hirschfeld, möchtest Du's hören?!"
Er brach auf, und wir folgten ihm schleunig, damit die schwer erreichte Stimmung nicht wieder verflog. Oben im Arbeitszimmer saßen wir tief gespannten Freunde, und Bruder Karl, dessen menschliche Pracht ich nun auch kennen gelernt, sorgte für Ruhe. Das war nicht so einfach, denn er selbst war eigentlich der Unruhigste, und der liebe Wichtel bellte unten so beharrlich, als ob ihn Hanneles Himmelfahrt gar nichts anginge. Karl tobte zu dem Hund hinunter — wir dachten, um den armen Wichtel sei es geschehen, aber gewiß wuide er sehr milde stumm gemacht, denn Karl Hauptmann, der weise Stürmer, bezwang sich immer im rechten Augenblick.
Max Marschalk saß am Klavier — auch die Hannele-Musik sollten wir jetzt vernehmen. Frau Marie blieb unsichtbar. Ihr war die Dichtung gewidmet. Sie mußte allein sein, während sie lauschte und in ihre eigene Ferne sah.
Hauptmann las. Es war einer jener Eindrücke, die das ganze Leben begleiten. Noch heute und für immer wohl wird „Hanneles Himmelfahrt" aus dieser allerersten Vorlesung in mir klingen. Ich sah das Werk später oft auf der Bühne, ich habe wohl die besten Darstellerinnen des Hannele (ich denke an Paula Conrad, Stella Hohenfels, Lia Rosen) gesehen — was der Dichter gegeben, war unerreichbar. Hauptmann offenbart sich ganz als Vorleser
— freilich nur im intimen Raum, vor Menschen, deren Eindruck ihm persönlich wert ist — in großen Sälen verfliegt vor seiner Künstlerscheu das Beste. Damals aber gab er uns den Hochgesang der Heimat. Er öffnete die Quelle, die wir zuerst genießen durften. Erschüttert und glückselig traten wir mit ihm auf den Balkon hinaus und blickten auf die abendlichen Berge. Auch ihnen gehörte das Hannele.
Eine zweite Vorlesung des Dichters noch hörte ich in jenen Schreiberhauer Tagen. Als Brahm aus Berlin zu uns hinaufkam, ergab es sich, daß außer dem „Hannele" auch eine Komödie entstanden war, eine Diebskomödie, wie Hauptmann sie auf seiner eigenwilligen Untertitelsuche nannte. Es wirkte zunächst auf mich, als ob das heitere Werk nur „nebenher" geschrieben worden sei, doch als der Dichter es vorlas, sah ich ein Hauptwerk vor mir. Die Vorlesung des „Biberpelzes" blieb mir auch insofern eine merkwürdige, graziöse Erinnerung, als Hauptmann sie besonders für seine Kinder veranstaltete. Ivo und Eckart, die beiden Altesten, waren dabei. Ich höre noch ihr mitreißendes Lachen. Entgegen dem eigentlichen Element des späteren Bühnenerfolges entfesselte aber nicht der gottgesandte Amtsvorsteher die größte Heiterkeit, sondern der alte Rentier Krüger, dessen groteske Aufregung mit Mutter Wolffens Welt nicht fertig wurde.
Bald animierte Hauptmann auch mich zu einer Vorlesung, und ich wagte mich nun mit meiner Novelle „Dämon Kleist" hervor. Auf dem Balkon, dem meine erste Erinnerung galt, las ich sie. Die Wirkung blieb lange eine Stütze meines Arbeitsmutes. Ebenso charakteristisch, wie seine Vorlesergabe, ist wohl die Zuhörergabe Hauptmanns. Wer ihn im Theater vor Szenen, die ihn packen, gesehen, wer ihn bei Proben sei;.er Werke beobachtet hat, weiß
das. Er hat sich die naive Hingabe des Empfangenden bewahrt. So konnte er sich vor der weisen Selbstgefälligkeit meines Gymnasialtyrannen Arnold nicht enthalten, kichernd und gebückt aufs Knie zu schlagen, wie ein junger Mensch, der ein inniges Vergnügen empfindet.
Seltsam wechselte in Hauptmann überhaupt das Jugendliche mit dem Alten, ja mit dem ganz Alten. Bei einer Gebirgswanderung war er der blonde Jüngling, der frische, rastlose Kamerad. Aber es ist mir auch begegnet, daß Fremde, die mit ihm an einem Wirtshaustisch saßen, sich zuflüsterten: „Dieser alte Mann ist Hauptmann?" Sein wirkliches Altern hat die Gegensätze dann verlöscht und das ewig Junge hervorgehoben — damals aber kehrte zuweilen sichtbar die Webernot der Vorfahren in seine Züge zurück, und den beflügelten Romantiker schien der Wirk" lichkeitsfluch zu lähmen.
So wechselte auch erstaunlich und erschreckend der Ausdruck seiner Gemütsbewegungen. Wir sind jetzt an ein mildes, abgeklärtes Hauptmannantlitz gewöhnt — vor Jahrzehnten aber, als die „Weber" ein „verbotenes" Drama waren, konnten diese Augen anders blicken. Ich wohnte damals mit Otto Brahm und Felix Holländer der entscheidenden Sitzung des Oberverwaltungsgerichtes bei, Hauptmann hatte keine Hoffnung mehr, daß die alten Beamten sich gegen Kaiser Wilhelms autokratischen Dilettantismus auflehnen würden. Wir Freunde kamen auch sehr skeptisch zur Verhandlung. Aber die große Überraschung geschah: Preußens höchster Gerichtshof bewahrte seine Selbständigkeit sogar dem Herrscher gegenüber. »Die Weber" wurden zur öffentlichen Aufführung freigegeben. Nun liefen wir sozusagen spornstreichs zu Hauptmann, um ihm die glück-hafte Kunde zu bringen. Noch sehe ich ihn vor mir — er öffnete uns selbst die Tür, er kam von der Arbeit, und sein
Blondhaar sträubte sich über dem gefurchten Gesicht. Als er unsere Kunde hörte, kam die zweite Überraschung: er glaubte sie uns nicht. In einer später kaum begreiflichen Ideenverbindung hielt er es für möglich, daß wir ihn „aufsitzen" lassen wollten. Sein Verdacht währte nur einen Augenblick, aber er genügte, daß er mit einer Miene auf uns losfuhr, so drohend und empört, daß ich sie mir heute noch vergegenwärtigen kann. Gleich darauf glaubte er dann die große Freude, umschlang uns und jubelte- Aber der wirre, düstere Augenblick offenbarte, was das eigentliche Geheimnis des Hauptmannantlitzes ist: neben der Priestermilde lebt der Zorn des Empörers, neben der Anmut das Furchtbare —.
Meine Münchener Freiheit kam. Ein Jahr lang, vom Herbst 93 bis zum Herbst 94, sah ich Hauptmann nicht. In München kam ich zu dauernden Kunsterkenntnissen, im stillen Schliersee schrieb ich die wilde Beichte vom ,,Berg-see". Dann wieder in Berlin, als zielbewusster Student, entwarf ich „Die Mütter". Es zeigte sich nun doch, daß Hauptmann zehn Jahre älter war als ich. Als Kamerad fand ich mich zu Gleichalterigen — Christian Morgenstern, Friedrich Kayßler und mein Bruder, durch dessen frühen Tod Deutschland einen Musiker verlor, schlössen den Kreis. Später trat noch Max Reinhardt dazu. Aber Otto Brahm hielt die Brücke, über die ich immer wieder zu Hauptmann kam. Das Deutsche Theater Brahms siegte nach schweren Anfangskämpfen. Mein eigener Erfolg gab mir die Sicherheit, zu den Männern, die nun führten, zu treten. Ich kam in Theodor Fontanes wohltätige Alterssonne, ich wurde Moritz Heimanns und Rudolf Rittners Freund, und andächtig ließ ich mich von den schönen Genien einer anderen Welt, von Josef Kainz und Agnes Sorma berühren.
Hauptmann fand das alte Verstehen mit mir auf Wände-
rungen nun auch in Berlin. Er brachte mich zu Walter Leistikow und ich hatte die Empfindung, als zeigte er mir hier die beste Arbeitsstille. Leistikow war Michael Kramer verwandt, und Arnold Kramer lebte auch in seiner Seele. Sehr wertvoll wurde mir ein Gang mit Hauptmann durch den Berliner Tiergarten, wo er freier als sonst auf den künstlerischen Schaffensprozeß kam. Hier prägte er das schöne Wort vom Schmücken der Braut. Er erklärte mir glücklich erregt, daß ihm jede entstehende Arbeit einer Braut gliche, die zu schmücken der Liebende nicht enden könne. Was war der Schmuck, den Hauptmann meinte? Nicht etwa die „Einzelzüge", die man dem ,.Naturalismus" vorgeworfen hat, sondern Blüten, die aus dem Organismus des Ganzen kamen und als Schmuck des Baumes wirkten, den der Schöpfer befestigt hatte.
Das stärkste Band mit Hauptmann aber, das, so lange ich leben werde, meiner Erinnerung bleibt, sind die Vorlesungen seiner Werke aus der zweiten Periode, denen ich in Berlin beiwohnte. Auch sie fanden bei dem treuen Mittler Otto Brahm statt. Es liegt in Hauptmanns Natur, und man darf diese Entwicklung nur ernst, nicht tragisch nehmen, daß seine Werke schließlich das Bindeglied der Freundschaft sind. Hauptmann lebt so in seinem Schaffenskreise, daß er allmählich nicht mehr nach Gefährten ruft-sondern sie zu sich kommen läßt. Das Mißverhältnis liegt in seiner abgeschlossenen Kraft und der Gefährten Werde, Sehnsucht. Auch sie brauchen Dichtereinsamkeit, aber sie können den Meister nicht entbehren und müssen sich, wenn sie ihn wieder haben wollen, zu ihm auf den Weg machen. Dies aber ist mir nicht gegeben. Ich lebe auch in körperlicher Ferne mit einem Geist, den ich liebe, aber ich baue auf die Sympathie der Seelen und lasse mich lieber rufen, als daß ich nachlaufe. An Hauptmanns Ruf nach mir glaube
ich auch jetzt. Hieran kann die reizvollste Verführung der Stunde nichts ändern. Wir bleiben durch das goldene Eisen der Jugend verbunden- Wenn mich aber Trauer um Versäumtes beschleichen will, sage ich mir: Ein großer Bauer bleibt auf seinem Hof. Wenn man bei ihm anpocht, öffnet er freundlich — wenn man fernbleibt, beirrt ihn das auch nicht. Er lebt in seinen Interessen. —
Aber ich wollte noch von Hauptmanns Vorlesungen erzählen. Die erste und für mich merkwürdigste war die des „Florian Geyer". Es mag 1895 gewesen sein — da wohnte Hauptmann in der Rankestraße, der Kaiser Wilhelm-Gedächtnis-Kirche benachbart, deren Glocken dann auch in sein Rautendelein-Märchen hineinklangen. Er führte mich in ein hastig gemietetes Zimmer, das gewiß nicht für das größte Werk des ersten deutschen Dramatikers bestimmt war. Hier türmte sich das Manuskript der Bauernkriegstragödie. Überwältigend zeigte sich mir die Stofffülle, bewundernswert das treue Studium. Hauptmann las mir Szenen aus „Florian Geyer" vor, die später nicht in das Buch aufgenommen wurden. Sie blieben mir als dem Gedruckten ebenbürtig in Erinnerung. Noch war der Plan des Dichters uferlos. Er wollte einen Zyklus von zehn Stücken aus der Bauernkriegszeit schreiben. Nur eines ist daraus geworden, und das gilt für zehn. Die endlich gewonnene Fassung las Hauptmann dann bei Brahm vor. Auch jetzt blieben die Hörer noch in ahnungsvoller Wirrnis. Dieser Eindruck auf Gegenwärtige verstärkte sich verhängnisvoll bei der ersten Aufführung im Deutschen Theater. „Sassa, der Florian Geyer ist tot!" riefen die Schäferhanse des Premierenpublikums. Aber sie kündeten damit nur sein ewiges Leben.
Die Gespenster des häßlichen Streites umhockten Hauptmann noch, als er ein Jahr darauf sein nächstes Werk zu Brahm brachte. Er las uns das Märchen von der „ver-
sunkenen Glocke" vor. Wir fühlten mit freudigem Herzen, daß ihm hier Genugtuung winkte, daß die Radauflöten von damals sich in süße Schalmeien wandeln würden, aber er starrte nur auf sein geheimes Bekenntnis. Nicht der Menge, sondern seiner kämpfenden Liebe gab er die „versunkene Glocke". Ich kannte die persönliche Bedeutung des Werkes, ohne daß natürlich ein Wort zwischen Hauptmann und mir darüber gefallen war. Als ich ihn aber nach der Vorlesung in die Berliner Stadt begleitete, spürte ich, daß sein Weg zu dem lichten Elfengeist ging, und daß er stärker als je auf die Hemmung der alten Moral stieß. Der Schöpfer eines leuchtenden Werkes sah mich traurig an und sagte plötzlich: „Es sind ja doch nur Surrogate".
Ein wundersames Nachspiel hatte die Aufführung der „versunkenen Glocke" für mich. Sie brachte Hauptmann einen stürmischen Erfolg, aber als der Erfolg gefeiert wurde, saß er mir still und abseitig gegenüber. Ich sah ihn an, und tiefe Magie des Blickes verständigte uns. Am nächsten Tage schrieb er mir, ich möchte doch mit ihm und Brahm nach Schreiberhau fahren. Es trieb ihn aus Berlin fort. Nun hatten wir wieder einmal ein paar gemeinsame Riesengebirgs-tage- Weihnachtsstimmung umhüllte die verschneite Heimat. Es war unsagbar schön und still. Eines Abends spielte ich eine Beethovensonate — nur Hauptmann hörte zu. Er hatte mich um das Spiel gebeten. Ich wußte, daß seine leidenschaftliche Musikliebe eigenes Spiel bitter entbehrte, und wagte mich mit meinem Dilettantismus heraus, weil ja sonst nichts erklungen wäre. Hauptmann aber dankte es mir mit der bezeichnenden Äußerung: „Weißt Du, Hirschfeld, gib mir Dein Klavierspiel, und ich gebe Dir dafür ,Vor Sonnenuntergang'!"
Ein echtes Winteridyll, zwischen Licht und Dunkel, waren diese Schreiberhauer Tage. Als Brahm und ich mit Haupt-
mann still beisammen saßen, brachte eine späte Post noch eine Buchsendung aus der Welt herauf. Sie entpuppte sich als Henrik Ibsens soeben erschienenes Schauspiel „John Gabriel Borkman", Wir lasen es gemeinsam, Hauptmann, Brahm und ich — wahrlich eine kostbare Wintererinnerung.
Draußen aber, in der blitzenden Sonne des Tages, riß Hauptmann wieder das heiße Leben an sich. Sein junger Elfengeist war gekommen, und wir wanderten, von ihrem Frohsinn befeuert, zum Kamm hinauf. Nun war alles wieder sieghafte Hoffnung. Hauptmann zeigte sich jünger als ich und rodelte mit mir bis zum Zackenfall hinunter. Fern und nahe bist Du, schöne Sausefahrt ....
Zuletzt sei noch eine gewaltige Leistung genannt, nicht nur des Dichters, sondern auch des Vorlesers, und da der Mensch gerecht sein soll, auch des Zuhörers. Es fügte sich, daß zwei Werke Hauptmanns, die tief verschieden geartet und doch als Offenbarungen seiner Kraft tief verwandt sind, zu derselben Zeit die Form des Abschlusses fanden. „Michael Kramer" und „Der arme Heinrich" brachte der Dichter nach Berlin mit. Brahm lud die Freunde, deren Anwesenheit Hauptmann wünschte, ein, aber der Tag der Vorlesung sollte nur „Michael Kramer" gelten. Hauptmann las dieses Drama am Vormittag. Wir blieben, von der Dichtung vereint, beisammen, wir wußten, daß wir eines der reinsten Güter deutscher Kunst empfangen hatten. Dann aber, nachmittags, kam die Rede auch auf den „Armen Heinrich". Hauptmann hatte uns die Gegenwart erweitert, Kreuzträger, die mit uns lebten, trugen wir in der Seele — nun lockte es farbig und groß, aus Orient und Okzident gewebt, was seiner Dichterphantasie in Vergangenheitsferne vorüber gezogen- Er war so frisch, und wir waren wieder so frisch — das Wagnis wurde unternommen, Hauptmann las uns an dem einen Tage auch den „armen Heinrich" vor!
Es stand anders um diesen Eindruck, als zum Beispiel um die Wirkung eines Massenprogramms der Musik. Ich erinnere mich eines Berliner Konzertes, wo die Menschen, von Genuß gedunsen, das Deutsche Requiem von Brahms und Beethovens Neunte Symphonie hörten. Dort erstarrte die Kunst in sich selbst. Die beiden Hauptmannwerke folgten einander wie Tag und Abend, sie bildeten eine übermächtige, aber vollkommene Erinnerung. Das Licht des Dichters zog dann weiter zu „Michael Kramers" Generalprobe im Deutschen Theater und zum „Armen Heinrich", den Josef Kainz im Wiener Burgtheater gespielt. Hier saßen holde Mädchen, die nur Blüten und Früchte gekannt, erschüttert vor dem Winter des Mannes- Dort ging die Gemeinde einer wahrhaft christlichen Kunst zu einer stillen Tafel, die mit glühenden Rosen geschmückt war.
Aber ein Künstler ist immer noch reicher, als seine Gaben verwirklichen. Hieran denke man, wenn dem sechzigjährigen Gerhart Hauptmann gehuldigt wird. Ich trage einen Beweis dafür in meiner Erinnerung, den nur noch Rudolf Rittner mit mir teilt. Vor Jahren gingen wir mit Hauptmann durch den dunklen Grunewald. Es war die Zeit des „Fuhrmann Henschel". Da riß er sich plötzlich wieder los vom festen Pflock der Realität, sein Pegasos, Hauptmann bestieg ihn und tummelte ihn vor unsern erstaunten Augen. Von einem ungeschriebenen Werke erzählte er, und Ibsens Skalde hatte wieder einmal Recht: Die ungeschriebenen Lieder sind die schönsten. Für mich besteht das Drama „Wieland der Schmied", das Hauptmann damals erzählte. Fertig, wie ein makelloser Waldbaum, entstand es vor uns. Schade gewiß, daß es kein Buch geworden, aber gesegnet sei der Reichtum, der sich noch verschwenden kann. Es heißt ja sogar, daßBeethovens Phantasien seine geschriebenen Werke übertrafen. Unser Bestes bleibt Staunen und Sehnsucht.
„ATLANTIS" IN DICHTUNG UND WAHRHEIT.
Von
Dr. Howard W. Church, Philipps Academy, Andover, Massachusetts.
Eine Stadt von fünfundzwanzigtausend Einwohnern im Osten Amerikas ist schwerlich gar so verschieden von einer der jüngeren deutschen Städte gleichen Umfangs. Man genießt einige Vorteile des Stadtlebens und hat dennoch die Schönheiten des Landes in unmittelbarer Nähe. Zudem hat man die angenehme Gewißheit, daß man nicht bloß eine Zahl darstellt wie in der großen Stadt, sondern eine Persönlichkeit, die unter den Mitbürgern bekannt ist, wie sie ihrerseits fast jeden kennt- Die Ankunft irgend eines hervorragenden Fremden kann daher nicht unbemerkt bleiben. Vor achtundzwanzig Jahren sahen denn auch die Bürger Meridens im Staate Connecticut, einer typisch gebauten amerikanischen Stadt zwei Stunden östlich von New York, einen hochgewachsenen, vornehm aussehenden Fremden mit hoher Stirn, blassem intellektuellem Gesicht, in sorgfältiger Kleidung in Begleitung des dort ansäßigen deutschen Arztes Dr. Alfred Ploetz über die Hauptstraße schreiten.
Am 4. Februar 1894 war Gerhart Hauptmann — denn das war der Fremde — am Dampfer in New York von Dr. Ploetz abgeholt worden. Er war an der amerikanischen Küste so unauffällig gelandet, daß selbst die Deutschen New Yorks eine Zeitlang von seinem Besuch garnichts wußten. Nach einigen Tagen des Aufenthalts in dem alten „Hoffmann-House"-Hotel, von wo aus er die Stadt besichtigte, dabei aber den Lärm und das fieberhafte Treiben abstoßend fand, ging er nach Meriden, um sich mit seiner Frau und Familie dort zu treffen, die schon früher angekommen waren und sich im Hause des Dr. Ploetz besuchsweise aufhielten. In jene Zeit reichen auch meine eigenen Erinnerungen zurück- Noch kann ich mich genau entsinnen, wie ich im Februar 1894 eines Tages die Zufahrt zur deutschen Schule mit Hauptmanns beiden ältesten Söhnen Ivo und Eckait entlang ging. An der Straßenkreuzung stand eine Dame mit anziehendem Gesicht, in dunklem Mantel und mit einer runden schwarzen Pelzmütze, zu der einer der Knaben sagte: „Mama, hier ist unser neuer Schulfreund". Nur habe ich es seitdem oft bedauert, daß ich damals zu jung war, um die Bedeutung dieser interessanten Familie zu erkennen.
Hauptmanns Freunde in Meriden waren naturgemäß an Zahl gering. Durch seinen alten Schulfreund Dr- Alfred Ploetz — den Peter Schmidt in „Atlantis" — kam er in Lerührung mit Herrn und Frau Adolf Gerecke, die ähnliche Interessen hatten wie er; darüber hinaus aber hinderte seine kühle und reservierte Art eine Erweiterung seines Bekanntenkreises- Die mangelnde Beherrschung der englischen Sprache schloß ihn vom Verkehr mit einheimischen amerikanischen Familien aus. Aus Lokalpatriotismus bedauere ich, daß Gerhart Hauptmann nicht eine genauere Kenntnis vom Familienleben gebildeter amerikanischer Kreise erworben hat, wie es sich damals in Meriden in den neunziger Jahren
abspielte. Wäre dies geschehen, so wäre vielleicht die Tendenz des letzten Teiles von „Atlantis" ganz anders ausgefallen.
Es ist eine bekannte und feststehende Tatsache, daß Friedrich von Kammacher, der Held seines Romans „Atlantis", Hauptmann selber ist, und daß einige seiner bekannten sozialen Anschauungen hier und da in der Dichtung zum Ausdruck kommen. Der allgemeine Ton des Buches ist überraschend pessimistisch. Friedrich schifft sich mitten im Winter nach Amerika ein, nachdem sein Leben im Vaterland zerrüttet worden ist. Eine Reise über den Ozean zu dieser Jahreszeit ist keine ungemischte Freude, aber voll eigenartiger Schönheit durch die Majestät der stürmenden See, die nur für Friedrich leider nicht vorhanden, trotzdem er von der Seekrankheit verschont bleibt. Er sieht weiter nichts als die furchtbare Gewalt des Ozeans und ebenso düster urteilt er über seine Mitreisenden. Die einzigen Ausnahmen sind Kapitän von Kessel und ein armes überarbeitetes Dienstmädchen, das später die Heldin des Schiffbruches wird. Das wenig Anziehende der europäischen und amerikanischen Passagiere ist so konsequent geschildert, daß es amüsant wirkt. Diese lärmende und unfeine internationale Gesellschaft mit dem Hintergrund des Rauchsalon-Klatsches und der unglücklichen Zwischendeckspassagiere bildet seine Gesellschaft auf der überfahrt. Der Schiffbruch ist für Friedrich ein weiterer Beweis für die „Urtragik des Menschengeschlechts" und die „unabirrbare Grausamkeit der Mächte". Der Mensch ist nur „dieses insektenhafte Gebilde, dessen Sinnesapparat und dessen Geist ihn gerade nur zur Erkenntnis seiner ungeheuren Verlassenheit im Weltall befähigt".
Obwohl die Lage des Helden die Stimmung der Erzählung teilweise rechtfertigt, erklärt sie doch nicht völlig die
Verzweiflung, welche in dem Werk so ganz und gar überwiegt. Ohne Frage spielt des Verfassers wohlbekanntes soziales Mitgefühl eine große Rolle bei der Abfassung des Buches. Vielleicht auch schrieb er zu einer unglücklichen Zeit, und wahrscheinlich waren seine amerikanischen Erfahrungen so unbefriedigend, daß sie seine Einstellung selbst achtzehn Jahre nach der Reise beeinflußten. Philisterei und Bigotterie hemmten seine Schritte, und er gewann nur ungünstige Eindrücke.
In Meriden also hat er die meiste Zeit seines amerikanischen Aufenthaltes verbracht. Seine Freunde aus der alten Heimat hatten sich kurz zuvor in Springfield in Massachusetts — nicht in Connecticut wie in „Atlantis" angegeben — niedergelassen, aber genau wie es im Roman beschrieben ist, waren sie im Jahre 1894 mühsam kämpfende Landärzte, die unter den widrigsten Umständen schwer arbeiteten und kaum ihren Lebensunterhalt verdienten. Dr. Ploetz, der jetzt in Herrsching am Ammersee wohnt, lebt noch heute vollkommen seinen Ideen über Eugenik und ist noch immer derselbe wundervolle Idealist, den Hauptmann beschreibt. Zweifellos ist er auch der Prototyp für den Helden von Grete Meisel-Hess' „Die Intellektuellen". Frau Dr. Pauline Ploetz-Rüdin, einer entzückenden und gebildeten Frau, widerfährt als der Gemahlin von Dr. Schmidt in „Atlantis" nicht ganz die gleiche Gerechtigkeit.
Die andern beiden intimen Freunde der Meridener Tage waren die Gereckes. Herr Gerecke, der vor einigen Jahren gestorben ist, war von Beruf Xylograph und aus Neigung Schriftsteller. Dr. Rosenberg aus Ramsey, New Jersey, bereitet eine interessante Abhandlung über Gereckes Anschauungen vor.
Wenn Hauptmann, Ploetz und Gerecke zusammen waren, fanden lange Erörterungen über Philosophie und
Soziologie statt. Dann gab auch Hauptmann seine Zurückhaltung auf und nahm eifrig an der Unterhaltung gebend und nehmend teil. Nicht gern dagegen erwähnte er persönliche Angelegenheiten, und nur wenig äußerte er über seine Fahrten nach New-York, höchstens, daß ihm die Stadt interessant und er mit dem künstlerischen Teil der „Hannele"-Aufführung zufrieden sei. Ein New- Yorker Theater-Agent kam nach Meriden, um Hauptmann zu veranlassen, aus seinen Werken im Madison Square Garden vorzulesen, aber niemand hat erfahren, warum das nicht zu Stande kam.
In der „Atlantis" mietet Friedrich ein Sommerhaus am Ufer des Hanover Sees von dem Apotheker Lamping. Dieser lebte tatsächlich, aber die ganze Geschichte von dem Landhaus und Friedrichs Krankheit ist dichterische Erfindung. 1894 wohnte die Familie Ploetz in einem kleinen Fachwerkhaus auf der West Main Street gegenüber North Sebond Street. Hauptmanns bewohnten mit ihren Kindern einige Zimmer der Ploetz'schen Wohnung im ersten Stockwerk. Außerdem hatte der Dichter ein besonderes Zimmer im obersten, dritten Stockwerk, welches als Studierzimmer diente. Diese Mansarde soll nur dürftig möbliert gewesen sein, mit einem Ausziehtisch, einem Lehnstuhl, dem Holz-brand-Ofchen, das in „Atlantis'" auf das erfundene Sommerhaus übertragen ist. Durch Frau Gerecke verhandelte Hauptmann wegen eines besseren Studierzimmers im Hause einer der bekannten amerikanischen Familien. Da diese Leute es jedoch zur Bedingung machten, daß es s. hr ruhig sein müsse, keine Möbel gerückt, keine Schuhe auf den Fußboden geworfen werden dürften und um 10 Uhr abends das Haus verlassen sein sollte, so zog er seine Dachkammer natürlich vor. Über seine literarischen Arbeiten während dieser Tage wird verschiedenes erzählt. Damals offenbarte
Hauptmann mit der ihm eigenen Zurückhaltung nur seinen Freunden, daß er an einem Märchenspiel arbeite. Das mag das dramatische Fragment „Helios" oder das darauf folgende Werk ,,die versunkene Glocke" gewesen sein, wie ich annehmen möchte. Aus seinem Fenster hatte der Dichter einen wundervollen Blick auf die untergehende Sonne und die unregelmäßige Linie fantastisch amoipher Zacken des Westgebirges am Horizont- Gerade diese Art Landschaft war dazu geeignet, die Geisterwelt des Dramas anzuregen. Hauptmann unternahm gern Spaziergänge nach dieser Richtung, und in „Atlantis" beschreibt er die Weinberge der Italiener und ihr Leben im allgemeinen an dem Westrande der Stadt.
Drei Monate lang lebte die Familie Hauptmann bei den Ploetzens und nahm ihre Mahlzeiten in einer Pension in der Cook Avenue ein, die in „Atlantis" erwähnt ist. Die beiden ältesten Knaben Ivo und Eckart besuchten die Deutsch-amerikanische Schule mit gutem Erfolg. Der jüngste Sohn Klaus muß ein besonders famoser kleiner Kerl gewesen sein. Er schlug sich tapfer mit den jungen Amerikanern herum und war bei den Polizisten und Ladeninhabern besonders beliebt; diese gaben ihm Geschenke und hatten es gern, wenn er zu ihnen zu einem kleinen Schwatz hereinkam. Frau Hauptmann war sehr glücklich in Meriden, da sie ihren Mann anbetete und nach der durch seinen Aufenthalt in Paris notwendig gewordenen Trennung wieder mit ihm zusammen sein konnte. Wenn Hauptmann nicht anderweitig beschäftigt war, verbrachte er viel Zeit damit, Dr. Ploetz bei seinen ärztlichen Besuchen zu begleiten. Während dieser bei dem Patienten weilte, wanderte sein Freund gewöhnlich vor dem Hause auf und ab. Sie erregten allgemeine Aufmerksamkeit durch ih>e Gewohnheit, unter-
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gefaßt durch die Stadt zu gehen, was dort durchaus ungewöhnlich war.
Das Sprechzimmer des Arztes war nicht im Parterre, wie es in der „Atlantis" heißt, sondern im ersten Stock des City Mission Building, mit der Aussicht auf einen dunklen, engen, seitlichen Hof. Das in „Atlantis" erwähnte Straßengepolter kann nicht sehr ohrenbetäubend gewesen sein. Es scheint vielmehr, als ob Hauptmann das Leben und Treiben der Stadt übertreibt, um so eine mehr traditionelle amerikanische Atmosphäre für seine Leser zu schaffen. Das Leben in Meriden hat ihm nicht besonders aufregend erscheinen können, nachdem er gerade zuvor in Paris und New York gewesen war. Eine andere amüsante Ungenauig-keit ist seine Beschreibung des Boston-New Yorker Expreßzuges, der durch die Main Street hindurch saust, ohne daß das Publikum durch Barrieren geschützt sei. „Donnerwetter", sagte Friedrich schnaufend „hier merk ich zum ersten Male etwas von der Tollheit, die spezifisch amerikanisch ist: kommst du unter die Räder, kommst du unter die Räder!" Das ist entweder Vergeßlichkeit oder wiederum ein bißchen amerikanischeUbertreibung von Seiten Gerhart Hauptmanns, da ich mich dieser Barrieren sehr wohl erinnere, die beim Herannahen eines Zuges herabgelassen wurden. Von der eigentlichen Stadt war nach des Dichters Meinung das Winthrop Hotel das Charakteristischste, welches als sehr komfortabel mit einem hübschen Eßzimmer dargestellt wird. Noch heute, nach 39 Jahren, ist es ein sehr gutes Hotel und muß 1894 geradezu als elegant gegolten haben, über das Leben in der Stadt sagt Hauptmann: „Wenn man hier lebte, so lebte man hier, um zu arbeiten; wenn man hier arbeitete, so tat man es um des Dollars willen, der die Kraft in sich hatte, schließlich von dieser Umgebung zu befreien und eine Epoche des Lebensgenusses einzu-
leiten. Die meisten Menschen, besonders die deutschen und polnischen Arbeiter und Geschäftsleute, sahen in dem Leben, das sie hier führen mußten, nur etwas Vorlaufes. Eine Ansicht, die bei denen sich gallig verbitterte, denen die Rückkehr in die Heimat durch begangene Delikte abgeschnitten war."
Von den Ploetzens spricht Hauptmann folgendermaßen: „Das Ehepaar Schmidt stand in einem entsagungsreichen und schweren Dienst, ohne andere Entlohnung, als die, gerade so weit Nahrung und Behausung zu haben, um eben diesen Dienst fortsetzen zu können: es behandelte arme, eingewanderte Arbeiter, die sich durch den Verdienst in den Christophel-Fabriken des Orts mühselig über Wasser hielten. Das ärztliche Honorar blieb äußerst gering und wurde bei Peters Sinnesart in vielen Fällen nicht eingezogen." Die Ploetzens wurden in Menden wegen ihrer Freundlichkeit hoch geschätzt. Dr. Ploetz erinnert sich r.och mit einigem Ergötzen, wie er die Juden behandelt hat, die zu ihm kamen, weil er ihr Jiddisch verstand, und er amüsiert sich noch heute über ihre wiederholten Versuche, ihn mit falschem Geld zu bezahlen. Die Freunde sollen in Menden nicht so unglücklich gewesen sein, wie es in „Atlantis" dargestellt ist, obwohl es nicht an Momenten des Heimwehs gefehlt hat. Was die Lage der Arbeiter in den Britannia-Fabriken angeht, so war ihr Los keineswegs unerträglich. Der Lohn gestattete ein verhältnismäßig angenehmes Leben. Eine hübsche Turnhalle gewährte einen angenehmen gesellschaftlichen Mittelpunkt für die Deutschen. Ich selbst war dort Mitglied der Turnerklasse und besuchte die Deutschamerikanische Schule mit den Kindern, von denen ich noch heute viele zu meinen Freunden zähle. Ohne Zweifel wurde Hauptmann durch Dr. Ploetz häufig Zeuge von unglücklichen Krankheitsfällen. Kranke sind zum Klagen geneigt, und
diese Klagen_ mögen, emen allzu großen Eindruck auf des Dichters feinfuhhge Natur gemacht haben. Auch muß man sich gegenwartig halten, daß er nicht einen historischen sondern einen Poetischen Bericht seiner Erfahrungen gibt D,e Umgegend Mendens ist außerordentlich malerisch. EineFulle von Felsenhöhen, schimmernden Seen mit Wäldern, Übst- und Gemusefarmen bilden eine Landschaft, die dem berühmten englischen Seengebiet nicht unähnlich ist Die hreunde unternahmen gern Spaziergänge in die Umgegend nach interessanten Punkten. Wie in „Atlantis" erzählt wird: „Er (Peter Schmidt) liebt es, gewisse Punkte der hügeligen Landschaft aufzusuchen, an die sich sagenhafte Ereignisse aus den Kämpfen der ersten weißen Kolonisten und Indianer knüpften. An solchen Stellen hielt er sich lange auf, durchlebte im Geiste die Abenteuer der Pelz-jager und das zähe Ringen der Ansiedler und zog nicht selten einen Revolver hervor, um sich, in einer Anwandlung kriegerischen Geistes, im Schießen nach irgend einem Ziel zu üben. Der Friese schoß gut, und Friedrich vermochte es ihm nicht gle.chzutun." - Hier ist wiederum des Dichters Phantasie zu erkennen, da man nichts davon weiß, daß einer der Freunde je einen Revolver getragen habe, aber Amerika ohne Indianer und Schießen würde nicht Amerika sein. Drüben, am sudöstlichen Rande der Stadt, ungefähr eine Meile vom Hause der Gereckes, erhebt sich der alte „Meeting-House -Hügel mit seinen bis m das Jahr 1741 zurückreichenden Grabsteinen. Eines Sonntags nachmittags nach dem Kaffee bei Gereckes besuchten Hauptmanns und Ploetzens diese Höhe und genossen die Atissicht nach den Bergen gen Osten und über die Hügel zum glitzernden Long Island Sund, der 20 Meilen südhch liegt. Diese alten verfallenen braunen Grabsteine mußten der Gesellschaft jene frühere Zeit der Kolonisten ins Gedächtnis rufen, als
Menden noch ein Jagdgrund für die Indianer war- In „Atlantis" gibt es einen Bericht von einer Schlittschuhpartie den Quinni piac hinauf, einen kleinen Fluß, der den Hanover-See durchfließt. Diese Partie hat stattgefunden; zwar nicht allein und nicht auf Schlittschuhen, aber mit denselben Freunden in zwei Ruderbooten. Ostlich von Hanover auf einer leichten Erhebung liegt der in „Atlantis" erwähnte Kirchhof, wo der Vater von Dr. Ploetz begraben liegt. Andere Stätten, zu denen die Hauptmanns pilgerten, waren West-Peak und seine anschließenden Hügelketten, ferner Spruce-Glen mit seinem hübschen Wasserfall nach Süden hin. Hauptmanns Bemerkung, daß es in Hanover keine Singvögel gibt, ist wiederum ein Stück dichterischer Freiheit. Ein halb Dutzend verschiedener Singvögel kommen zum I. Mai an. Nun sind Hauptmanns am 3. Mai von New-Jork abgefahren und Gerhart Hauptmann und Dr. Ploetz haben Meriden einige Tage vorher verlassen, um der Premiere des „Hannele" im Fifth-Avenue-Theatre am 1. Mai beizuwohnen. So gab es denn wenig Gelegenheiten, Vögel zu dieser frühen Jahreszeit zu hören-Hauptmann war wahrscheinlich zum Teil die Veranlassung, daß die Ploetzens nach Deutschland zurückkehrten. Ohne Zweifel waren die von ihm ins Feld geführten Gründe seinem ungünstigen Kommentar über amerikanische Zustände auf den letzten Seiten der „Atlantis" ähnlich. Will man seine kritische Einstellung verstehen, muß man in Betracht ziehen, daß Hauptmann seinen Besuch in der unerfreulichsten Jahreszeit machte, daß seine künstlerischen Bestrebungen in New-Jork törichten und verstimmenden Widerspruch erfuhren, daß er in Meriden häufig mit Kranken und Entmutigten unter Fremdgeborenen in Berührung kam, und nicht solche gebildeten und weit gereisten Amerikaner kennen lernte, an deren Gesellschaft er einen Genuß gefunden
hätte. Alle Reisenden erkennen, daß die hervorstechenden Eigenschaften einer fremden Nationalität gewisse unausgeglichene Seiten sind. Im ganzen scheint es nicht ungerecht zu hoffen, daß wir nicht so schwarz sind, wie uns Gerhart Hauptmann malt, und daß er selber glaubt, daß etwas Wahrheit in den Worten enthalten sein mag, die er Peter Schmidt über die allgemeine Erlösung der Menschheit in den Mund legt: „Wir müssen erst alle amerikanisiert und dann zu Neu-Europäern werden."
EIN ERINNERUNGSBLATT.
Von Hermann Stehr.
Die merkwürdigste und folgenschwerste Täuschung und Verwechselung, der auch manche geistige Menschen teils im Prinzip, teils unter dem Ansturm geballter Ereignisse, verfallen sind, besteht in der Gleichsetzung der Begriffe Gedächtnis und Erinnerung.
Alles, was der Mensch, sei es durch seine Sinne, sei es durch seinen Geist, also von außen oder innen, erfährt, schreibt sich auf einer geheimnisvollen Tafel unverlierbar ein, und zwar nicht nach dem Bedürfnis seines jeweiligen Zustandes also subjektiv, parteiisch, sondern nach den Gesetzen einer Wesenheit, die der Wandelbarkeit der Grundsätze seines empirischen Wesens überlegen, voll einer göttlichen, rätselhaften Objektivität ist. Dieses unbestechliche Archiv, diese wohlgeordnete Bibliothek der Lebensereignisse nennen wir Gedächtnis. Niemand hat die Tafel gesehen, niemand die Hand beobachtet, die darauf schreibt, niemand, auch der stärkste Menschengeist und das umfassendste Weltanschauungssystem vermögen vollkommen den Sinn und die Absicht dieser Hieroglyphensammlung zu überschauen, zu verstehen und restlos für ihre Lebensfahrt zu nützen, obwohl wir die furchtvolle, sicherste Ahnung
besitzen, daß sie sich in unser Leben restlos auswirkt. Sie liegt in einem jenseitigen Licht, das für unsern Verstand als Dunkelheit wirkt, ist so ausgebreitet, daß unsere Bewußtheit, unsere Erinnerung sie nie vollständig zu schauen vermag, mit Ausnahme der grellen Klarheit letzter Augenblicke vor unserm Tode. Sonst, in allen anderen Zeiten unseres Lebens, huschen Bewußtsein und Erinnerung wie ein Scheinwurf über diese weiten Gebiete und heben bald das eine, bald das andere in das Licht unseres Daseins. Allein wie dasjenige der nächtlichen Erde, was außerhalb der Helle des Scheinwerfers liegt, dadurch nicht etwa nicht vorhanden ist, so können wir auch nicht im Ernst behaupten, daß jenes verschwunden und nicht mehr in unserm Gedächtnis ist, dessen wir uns nicht mehr erinnern oder bewußt werden. Plötzlich stehen Dinge und Vorgänge deut lieh vor uns, die scheinbar nie in unserm Leben waren, so weit liegen sie in der Zeit zurück; Fertigkeiten, geistige Fähigkeiten sind sicher unser eigen, von denen wir nicht wissen, wann und daß wir sie jemals erworben und besessen haben. Wir werden von einer an Schrecken grenzenden Verwunderung ergriffen, weil wir in solchen Momenten die Größe. Tiefe und Abgründigkeit unseres wahren Wesens erkennen, von dem wir durch unser Bewußtsein und unsere Erinnerungen sehr wenig und nur ausschnittweise manches wieder erfahren-
Wenn ich darangehe, den Scheinwerfer meiner Erinnerung auf die weitzurückliegenden Zeiten des Bekanntwerdens mit Gerhart Hauptmann zu stellen, so tue ich es in dem klaren Wissen des Unterschiedes von Gedächtnis und Erinnerung und verhehle mir nicht, daß gar manches aus dem Lebenskomplex, in dem ich jetzt befangen bin, mit hineinspielen wird- Allein jede Erinnerung ist zugleich Wahrheit und Dichtung. Die Liebe, aus der diese Rück-
schau fließt, verleiht ihr den Wert, sogar eigenen Zweifeln gegenüber, ob alles sich wirklich so ereignet hat, wie ich es jetzt sehe. Aber wir gehen ja immer zwischen Schatten hin und sind selbst nichts mehr, da unser eigenes Wesen uns immer ein Geheimnis bleiben wird vor den Augen, mit denen wir sehen, und dem Verstände, mit dem wir es denken.
Das Eintreten Gerhart Hauptmanns in mein Leben bedeutet für mich eine Epoche und kann in seinem Umfang und der Tiefe der Wirkung nur aus der Lage meines damaligen Daseins voll erkannt werden. Deswegen bin ich gezwungen, darüber ausführlicher zu sprechen.
Ich war, wenn ich es mir recht überlege, eigentlich aus einem jugendlichen Mißverständnis in den Beruf des Volksschullehrers geraten. Dieser Stand, der damals noch mehr als heut ein staatliches und kirchliches Zwitterwesen bedeutete, hatte seine Enge schon in der Ausbildungszeit auf das drückendste auf mein Wesen wirken lassen, so daß ich auf Grund meiner hartnäckigen, leidenschaftlichsten Gegenwehr gegen dieses Mucker- und Pedantentum schon in meinem ersten Posten eine Strafstellung erhielt. Meine Zweifel an den Glaubenssätzen der katholischen Kirche hatten mich in einen Konflikt mit dem geistlichen Religionslehrer des Seminars gebracht, meine Lebensunruhe stieß alle knöchernen Lehrer feindselig ab und meine freie politische Gesinnung hatte mich sogar in die Anfangsstadien eines Majestätsbe-leidigungsprozesses verwickelt. In dem kleinen polnischen Nest auf der rechten Oderseite in Mittelschlesien sollte ich geduckt und zur Raison geführt werden. Die Gewaltkur dauerte 5 Monate und nutzte nichts, sondern vertiefte nur meinen Widerstand gegen das Pfaffentum und die lebensleere Verfügungsmaschinerie. Da ich meine Berufspflicht mit eiserner Konsequenz erfüllte, konnte man mich nicht
entlassen, sondern schleppte mich von einem kleinen Dorf ins andere, bedrückte, maßregelte, mißachtete mich und gab mir endlich eine feste Anstellung in dem kleinen, weltverlorenen Pohldorf im Kreise Habelschwerdt, meiner Vaterstadt, hoch oben im Gebirge, einen Büchsenschuß weit von unabsehbaren Wäldern, in einem Schulhaus zwischen zwei Dörfern, todeinsam, verlassen, unter dem kirchlichen Patro-nat zweier Pfarrer.
Ich dichtete seit dem 19. Jahre, und zwar heimlich, um dem Spott aus dem Wege zu gehen, der sich in bitterster Geringschätzung gegen die aufmachte, die so eitel oder unvorsichtig waren, auch nur ein Zipfelchen von dem sehen zu lassen, was alle Welt Narrheit oder wenigstens kindische Alfanzerei nannte. Ich dichtete und hatte mich mit einer ins Sonnenhafte, Menschenhohe und Unvergängliche hinaufstürmenden Zukunft so sicher getröstet, daß ich meine ganze Selbstbeherrschung gewaltsam zusammenreißen mußte, als man mich gleichsam auf einem Steinhaufen am Walde anschmiedete-Ich kann mich der ersten Nacht in dem alten lieben Holzhause unter der Kapuzinerplatte noch wohl erinnern. Der Oktoberregen prasselte durch die schwärzeste Nacht an die Bretter der Wandverschalung, die Zweige der beiden mächtigen Linden fegten im Sturm über das Schindeldach und das Wasser des großen Steintroges vor der Tür verfing sich in dem engen, hölzernen Abflußrohr mit gurgelnden, ja so todesängstlichen Lauten, als ob ein Kind erwürgt würde. „Das bin ich, das ist meine Seele, die man hier in der Ode erdrosselt", sagte ich fast verzweifelt in mich hinein, wühlte mein Gesicht in die Kissen und schluchzte los, bis mich der Nachhall meines lauten Weinens in dem leeren Raum zur Besinnung brachte, daß ich die Zähne ingrimmig aufeinanderbiß, mich wegen Memmenhaftigkeit ausreichend beschimpfte und trotzig und trockenen Auges einschlief.
Als ich mich des anderen Morgens erhob, hatte sich meine Widerstandskraft vertieft, war in ihrem wertvollsten Teil aus der Umklammerung meiner peinvollen Lage entrückt und ich betrachtete die Situation, in der ich mich befand, als eine geheimnisvolle Fügung des Schicksals, das die Widersacher meiner Welt gleich Hämmern benutzte, um mein Wesen und mein Werk —■ an beides glaubte ich mit der ganzen Inbrunst meiner siebenundzwanzigjährigen Jugend — von allen Schlacken rein zu schmieden. Schön, habt ihr mir einen Stein zwischen die Zähne gehauen, so will ich anfangen, ihn zu zermalmen und zu kauen und nicht aufhören, bis er zu süßem Brot geworden ist! Genau so dem Sinn nach, wenn auch wohl mit anderen Worten, redete ich zu mir und verstieg mich sogar im Überschwang, diesen damals ganz weltverlorenen Weltwinkel mein Patmos zu nennen und zu meinen, habe man mich dieser Ehre für würdig erachtet, so sei ich verpilichtet, mich auch als ein neuer Johannes zu erweisen und den Menschen eine neue Offenbarung zu bringen. Und ich tat gut und klug daran, mich so gleichsam außenirdisch zu festigen und mein Leben auf glänzende Wolken der Einbildung zu gründen; denn die Umstände meines Daseins waren hart und unbarmherzig und die Menschen waren es nicht minder.
Mein jährliches Gehalt betrug 810 Mark, für das Vierteljahr also 202.50 Mark, den Monat 66.70 Mark und den Tag 2-23 Mark. Dafür hatte ich als einziger Lehrer 135 Kinder aller Jahrgänge zu unterrichten, weil man kurz vor meinem Antritt die zweite Lehrerstelle aufgehoben hatte, weil sie nicht genügend ausgenutzt werden konnte. Da ich noch unverheiratet war, mußte ich einen eigenen Hausstand gründen; denn die Wirtshausexistenz haßte ich und wegen der Abgelegenheit des Schulhauses war im Winter eine Verpflegung aus dem Gasthaus unmöglich. Mit 120 Mark ge-
borgten Geldes kaufte ich eine Wohnstuben- und Küchen einrichtung und mietete für 8 Mark den Monat eine ältliche Witwe als Wirtschafterin- Aus Stolz verzichtete ich auf die Hilfe meines Vaters, der sie hätte wohl leisten können, und ließ es mir nur gefallen, daß man mit einigen abgelegten Möbelstücken meinen Hausrat ergänzte. Ich war genötigt, meine Pfennige bis zum Heißwerden zu wenden, brachte es aber fertig, wie, ist mir heut noch ein Rätsel, im ersten Jahr meinen Gläubiger zu befriedigen und mich frei und ohne neue Verbindlichkeiten zu erhalten, denn nichts haßte und fürchtete ich so sehr als Schulden.
Als mein Gehalt durch die erste fällig gewordene Besoldungszulage auf etwa 1000 Mark erhöht worden war, heiratete ich das Wesen meiner Wahl und meines Schicksals, die mir die tiefste Liebe ins Haus brachte, aber außer der Bereitwilligkeit und Eignung zu tätiger Arbeit mit keinen Reichtümern gesegnet war. Neue, größere Sorgen zogen in mein einsames Heim, der Tod und nie abreißende Krankheit der Kinder und meiner Frau So mußte das Geschäft der raffiniertesten Division meines Einkommens noch weiter vervollkommnet werden, und da ich von der Art war, mein Wohlergehen nach dem Maße des Wohlergehens der mir anvertrauten Menschen zu bewerten, blieben mir als Taschengeld für das Vierteljahr meistens nur fünf Mark übrig, so daß ich lange Wochen ohne einen Pfennig im Beutel mich tummelte. Und ich tat das rüstig und unverzagt. Die Schwere meiner Existenz drückte, aber erdrückte mich nicht. Ich war zuversichtlich und heiter und verschacherte mich nie um des Erwerbes halber an irgend eine Art der Unwürdigkeit. Ja, je härter das Leben wurde, desto härter, kühner, freier packte ich es an und höite auf keinen anderen Richter als den in meiner Brust. Bäuerliche Dumpfheit und Enge umgaben mich, kümmerliche
Dienerseelenhaftigkeit meiner Amtskollegen, Überheblichkeit und Geringschätzung der sogenannten Respektspersonen meiner Umwelt und stetes Mißtrauen, ja Feindseligkeit meiner Vorgesetzten, zu denen sich auch die Geistlichen rechneten. Politisch und kirchlich war ich weit nach links orientiert und machte aus den wohl verarbeiteten Maximen meiner Gesinnung nicht nur kein Hehl, sondern trat überall am rechten und unrechten Orte leidenschaftlich für meine Überzeugung ein, ohne je zu fragen, ob es mir nütze oder schade. Sicher überschritt ich im Dienst dieser Wahrhaftigkeitssucht oft die Grenzen der Freimütigkeit, ging in meiner brausenden, kecken Art von der Verteidigung zum Angriff über und verletzte unnötig manchen Wohldenkenden, der wie ich, nur im stillen Kämmerlein und vorsichtig, das hohe Menschenideal liebte, für das ich offen und ohne Visier kämpfte. Ich war in jener Zeit überzeugter Dar-winianer, heftiger Gegner des Offenbarungsglaubens, richtete meine Widersacherschaft gegen alle politische Bevormundung durch staatliche Behörden und trat für die reine Staatsschule und ihre Trennung von der Kirche ein. Es galt für mich, ein neues, hohes, selbstverantwortliches Menschentum heraufführen zu helfen.
Kurz gesagt, ich war mit meinen 30 Jahren, als verheirateter Mann noch ein Jüngling, und die leise Ahnung, die mich manchmal nicht bloß im Traum, sondern in wachsten Momenten beschlich, die Ideen, für die ich mich kämpfend einsetzte, seien nur Kulissen, die einmal verschwinden würden, unvollkommene Symptome einer noch zu erringenden tieferen Wahrheit, diese leise Ahnung schmälerte in nichts meine Kampfbereitschaft. Vielleicht würden meine Gegner sich und mir genützt und manchen Fehler, manchen Übergriff, viel Bitterkeit und viele tiefen Wunden verhütet haben, wenn sie meinem Geist ihren Geist entgegengesetzt
hätten, so aber griffen sie zu den untauglichsten Waffen, die es im Streit der Meinungen geben kann, zu Verdächtigungen und Verdrehungen, zu Gewaltmaßregeln und Unterdrückungen.
Ich wurde der sozialistischen Gesinnung von meiner Be hörde bezichtigt und sah mich genötigt, die Disziplinaruntersuchung gegen mich zu beantragen. Die Kirche kämpfte erst durch den Beichtstuhl gegen mich, dann streute sie aus, ich verkündige Irrlehren im Religionsunterricht, meine Kollegen leisteten Zuträgerdienste in den behördlichen Amtsstuben und auf den Pfarrhöfen, die Kinder meiner Schule wurden von den Geistlichen zu Spionagediensten gegen meine Häresie abgerichtet, auf den Kanzeln wurde ich als Gottesleugner so gebrandmarkt, daß mir das liebe, kindhafte Volk aus dem Wege ging, und endlich war die Regierung durch den jahrelangen Verleumdungsfeldzug so weit gebracht worden, über mich auf ein halbes Jahr die geheime Polizeiaufsicht zu verhängen. All das spielte sich drastisch, dramatisch ab und meine Gegenwehr war nicht minder eindrücklich, voll Ironie und schärfstem Zugreifen; aber den Roman jener Zeit schreibe ich ausführlich an anderer Stelle. Hier berühre ich alles nur, soweit es die Situation beleuchtet, daß das Eintreten Gerhart Hauptmanns in meinen Lebenskreis als so bedeutsam auch anderen erscheinen kann, wie es mir in der Tat gewesen ist. Hatte die Kirche anfangs nur auf meine Verdrängung von der Stelle, an der ich wirkte, hingearbeitet, war mein Fall anfangs nur eine Angelegenheit meiner beiden Pfarrer gewesen, nun hatte sich alles so entwickelt, zugespitzt und vertieft, daß die Pfarrkonferenz der ganzen Grafschaft das Anathema über mich aussprach, daß auf die Vernichtung meiner Existenz hingearbeitet wurde. Freunde verließen und verrieten mich, nirgends war ein Mensch, der mir Verständnis und Wohl-
wollen entgegenbrachte, und ich suchte auch keinen mehr. Der Wald, die Einsamkeit, das waren meine einzigen Freunde. Indessen gingen Sorge und Tod um das graue, verlorene Holzhaus am Bergeshang, klinkten an der Tür und trugen manchen Traum, manchen schönen Menschenglauben und ein Kind um das andere hinaus. Wie in einem Käfig mit unsichtbaren, aber engen Gitterstäben saß ich gefangen. Wenn ich mich nur bewegte, so stieß ich an und verwundete mich.
Wohl alle Menschen, mit denen ich damals durch Kampf oder freundhafte Neugier in Berührung kam, mögen in mir einen Unbegreiflichen, aus den Angeln Gehobenen, Streitsüchtigen, wohl gar Verrückten gesehen haben; denn all diesen Leuten verwahrte ich den Zugang zu der Atmosphäre, in der mein Wesen einsam, verborgen recht eigentlich lebte. Je unbarmherziger das Leben auf mich einschlug, desto unverbrüchlicher, inbrünstiger verschrieb ich mich den Himmeln, die ich in mir trug, und alle Anklagen, alle Unrast, alle Enttäuschungen legte ich zur Entscheidung dem jenseitigen Gericht der Göttin vor, der ich diente, der Dichtkunst, und rang um ihren Segen, um die Bestätigung und das Recht für ein Dasein, das mir die Ahnungen als möglich, meine Sehnsucht als notwendig und meine Hoffnung als gewiß vor ein inneres Auge stellte. Das Rätsel des Lebens, das Geheimnis des Menschenwesens galt es zu entziffern. Den Schleier von dem verhüllten Bild mußte ich wegziehen. Ich mußte es und sollte ich darüber zugrunde gehen, wie tausende vor mir. Aber ich dünkte mich aus Stahl. Mich würde es nicht zerschmettern. So jagte ich nach der geheimnisvollsten Lebensgestalt unter den Menschen, nach allen Regungen meines Innern. Alle Nächte saß ich bis gegen den Morgen, verbrannte Stöße von Gedichten, häufte neue an und ließ sie nach einiger Zeit wieder lachend in
Feuer aufgehen. Daneben las und studierte ich alles, was sich erreichen ließ, Geschichte, Pädagogik Philosophie, Religionsgeschichte, Englisch, Literatur und wieder Literatur, wähl- aber nicht ziellos, obwohl ich meinem Weg nur wie einem geheimnisvollen Führer im Dunkeln nachgin? und die Berührung mit der Öffentlichkeit mit fast mimosenhafter Ängstlichkeit mied. Die Verbindung mit einer kleinen literarischen Vereinigung Breslaus war jahrelang das einzige, enge Guckfenster in eine ferne, große, hohe Welt aus meiner Abgeschiedenheit. Meine Kenntnis der Literatur reichte eigentlich nur bis 1860. Von Gerhart Hauptmann hatte ich nur wenig aus dem „Magazin für die Literatur des In- und Auslandes" gehört, das damals von Karl Bleibtreu geleitet wurde. Durch dieses Blatt erfuhr ich von der „Revolution der Literatur". Kaufen konnte ich mir nicht eines der Werke, weil ich zu arm war. Wilhelm Walloth, Karl Bleibtreu, Conrad Alberti, Sudermann, Gerhart Hauptmann, Detlev von Liliencron, alles waren mir nur leuchtende Namen, die mir aber das Recht zu dichten gaben, eben weil sie ja noch lebten wie ich selber, wenn auch von meiner Einbildung in königliche Höhen gehoben. Und ich fuhr fort, meine Geheimnisse so wichtig zu nehmen, wie meine Erkenntnisse, mich mit einem Maß zu messen, das nur von mir entlehnt, doch mitleidsloser war, als irgend ein abgegucktes und das mich Stufen trieb, die ich nur sah, in Daseinsgegenden führte, die nach meinem Dafürhalten noch unbetreten waren. Und keinen fand ich, der mich in diesem geistigen und dichterischen Abenteuerleben beraten hätte, weil ich aus Stolz und Scheu mich niemand anvertraute.
Indessen verknoteten sich meine äußeren Lebensverhältnisse fast bis zur Unerträglichkeit, und weil alle Bewerbungen um eine andere Stelle erfolglos blieben, drang ich mit um so
gespannterer Hartnäckigkeit auf die Befreiung aus denFesseln durch mein dichterisches Talent. Ich kehrte mich von dem Gedichtemachen ab und unternahm es, die Geheimnisse des Menschenlebens, die mich Erfahrung und Beobachtung gelehrt hatten, durch zwei Erzählungen darzustellen. Dann ließ ich mir vom Breslauer Generalanzeiger ein Verzeichnis der bedeutendsten Verlagsanstalten Deutschlands senden. Die Verhandlungen mit W. Friedrich in Leipzig zerschlugen sich, J. P. Lehmann-Berlin, der zweite in der Reihe der elf Verleger, war eingegangen. So strich ich die beiden Namen auf dem Zettel und sandte mein sauber geschriebenes Manuskript an den dritten, den Verlag S. Fischer in Berlin, von dem ich auch nicht mehr wußte als von Patagonien, nämlich nichts, außer daß Gerhart Hauptmann dort seine Bücher herausbrachte. Im Mai 1896 sandte ich es ein. Fünf qualvolle Monate vergingen. Je länger ein Bescheid ausblieb, desto mehr hoffte ich nur noch aus Furcht und wagte kein Erinnerungsschreiben, um die immer blasser werdende Chimäre nicht vollends zu zerstören. In dieser höchsten inneren Not erhielt ich von S. Fischer einen Brief, der mir in solch anerkennenden, ja bewundernden Ausdrücken die Annahme des Buches anzeigte, daß ich, aus der Tiefe und schwärzesten Nacht in die Höhe und ans Licht hinaufgeschleudert, nach dem überfliegen der ersten Worte vor Glück nicht mehr sprechen konnte, die Stube verließ, weil ich fürchtete, das Haus müsse einfallen, und drunten im Schulhofe unter dem hohen Herbsthimmel das Schreiben zu Ende las, das mich verfolgten, lebenslangen Häftling in Freiheit, Ehre und Sonne brachte und meinem Selbstglauben Recht gab. Seit jener Stunde weiß ich, daß Glück so furchtbar erschüttern kann als Schmerz; denn die Welt drehte sich vor meinen Augen, der Himmel tanzte über mir und erst nach einer halben Stunde war ich fähig.
wieder zusammenhängend und verständlich zu meiner Umgebung zu sprechen, die nun wirklich geglaubt hatte, ich sei verrückt geworden. Nun wohl, ich war es auch, wenngleich in der seligsten Weise, weil alle verschwiegenen zurückgedämmten, durch Unterdrückung um so hartnäckiger gewordenen Hoffnungen erfüllt worden waren und mich mit einem glänzenden Stoß der hämischen engen Lebensmisere der anderen entzogen hatten. Zu Moritz Heimann, dem damaligen Lektor S. Fischers, der mein Buch dem Verlage empfohlen hatte, trat ich in nähere Beziehungen, die sich bald in eine lebensvolle, noch unvermindert andauernde Freundschaft entwickelten. Durch seine Vermittelung wurde ich auch Gerhart Hauptmann nahegebracht.
1897 veröffentlichte die „Neue Rundschau" meine Erzählung „Der Graveur". Sie schlug die Brücke zu dem Dichter, der nach der Auszeichnung durch den Grillparzerpreis und dem beispiellosen Erfolg der „Versunkenen Glocke" auf dem Gipfel seines Ruhmes stand. Für mich war mein schlesischer großer Landsmann nicht mehr bloß ein leuchtender Name. Der Verlag, meine Büchernot ahnend, hatte mir sämtliche bei sich erschienenen Werke zur freien Verfügung gestellt-Ich las alles, was von ihm bis dahin erschienen war, von „Vor Sonnenaufgang" bis zur „Versunkenen Glocke"; ich las die Werke in einer solchen Spannung meiner reizfähigen Sinne, einem solchen Erstaunen vor der göttlichen Bildnerhand eines großen Künstlers, einem solchen Glück an der Heiligsprechung zu den tiefsten und höchsten Geheimnis-und Himmelswerten eines Lebens, von Menschen, die noch Goethe „gemein" genannt hatte, daß auf diesen Werken aus jener Zeit ein besonderer Schimmer und Zauber für mich liegt. Was ich in vollkommener Abgeschiedenheit für mich allein in meinen Erzählungen erstrebt hatte, hier sah ich es wunderbar, fertig gestaltet, so, daß die Freude und Begeisterung über
das Werk eines anderen zugleich eine Rechtsprechung des eigenen Anfanges, der eigenen Art und Absicht und meiner Pläne war, die energischer, schärfer sich in mir formten. Durch Moritz Heimann, zu dem ich in jener Zeit im Vorfrühling der Freundschaft stand, wurde diese rein geistige Dichterbeglückung über Gerhart Hauptmann auf die liebenswürdigste Art zu dem Beginn einer lebensvollen Beziehung gefördert. Ich selbst würde aus Bescheidenheit nicht gewagt haben, mich dem Dichter zu nähern, der damals mit seiner nachmaligen zweiten Frau und Moritz Heimann sich an den oberitalienischen Seen aufhielt. Der Vorgang, durch den der gefeierte Dichter zu dem ersten Erzeugnis eines Menschen geführt wurde, der, wohl nach den Aufschlüssen des lieben Heimann, hoch in den Bergen, ungekannt und verborgen als Schulmeister lebte, ist nicht nur für mich merkwürdig und bedeutsam, sondern gibt von dem menschlichen Wesen Gerhart Hauptmanns einen so lebensvollen Ausschnittt, daß ich es mir nicht versagen kann, davon einen deutlichen Bericht nach der Erzählung Moritz Heimanns zu geben.
Die Drei hielten sich zu der Zeit in Tremezzo auf. Die „Neue Rundschau" mit meiner Erzählung war eben in die Hand Heimanns gelangt, und er wartete auf einen günstigen Augenblick, sie Hauptmann zur Lektüre zu überreichen, um ihm den Beweis zu liefern, daß er seine Wertschätzung an keinen Unwürdigen verschwendet habe. Ein heiteres Mittagsmahl im Garten des Landhauses war vorüber und Gerhart Hauptmann schien durch den sonnigen Augenblick der Arbeit an seinem „Fuhrmann Hentschel" entrückt und in der rechten Verfassung zur Lesung meines „Graveurs" zu sein. Er stand auf, um sich zur Mittagsruhe zurückzuziehen, nahm das Heft der Rundschau zur Hand, blätterte, las den Titel meiner Erzählung, schüttelte den Kopf, bewegte zwe felnd die Schultern. Damit entfernte er sich über die Terrasse ins Innere
des Hauses und ließ den guten Heimann in Unruhe über den Eindruck eines Erstlingswerkleins zurück, das ihn tief berührt hatte und dem er dieselbe Ergriffenheit in dem hochverehrten Manne von Herzen wünschte- Die Zeit der mittäglichen Siesta dauerte diesmal länger als sonst und erleichterte nicht die Sorge meines Freundes, sondern vermehrte seine Furcht, Unvollkommenheiten und Ungelenkheiten dichterischer AnfängeTschaft könnten sich dem ästhetisch reizbaren Meister so schwer aufdrängen, daß er, Heimann, mit seinem kritischen Spürsinn eine empfindliche Niederlage und der von ihm betreute Schützling die Abweisung durch einen Berufenen in dem Augenblicke erfahren könne, da er sich anschickte, aus seiner einsamen Dunkelheit den Weg in die Öffentlichkeit zu suchen. Und wovor Heimann gebangt hatte das schien sich zu erfüllen. Hauptmann trat mit allen Anzeichen lächelnden Spottes auf den Wartenden zu und begann sofort, das eben gelesene Opus so kritisch zu zerpflücken und herunterzusetzen, es so vollkommen in die Kategorie des blutigen Dilettantismus zu verweisen, daß Heimann anfing, traurig und ratlos zu werden, obwohl manch schalkhaftes Aufblitzen in den Augen des Entrüsteten, manch allzu straffes Wort darauf hindeuteten, daß seine leidenschaftliche Ablehnung nur eine Maske sei. Aber kaum hatte Heimann begonnen, Hauptmanns Verurteilung als ein lustiges Versteckspiel auch nur heiter und spielend zu entkräften, so versteifte sich jener um so unversöhnlicher in fast feindseligen Ernst. Keine Gegengründe vermochten das Urteil bedingungsloser Verwerfung zu erschüttern, bis endlich das unbändige Gelächter Hauptmanns den Niedergeschlagenen belehrte, daß er doch das Opfer eines gelungenen Aufsitzers geworden sei. Dennnunwendete sichdieSzene, undHauptmann sprach mit Ausdrücken lebendiger Freude und großer Anerkennung über das eben noch so verlästerte Werk. Ein
Kartengruß mit Hauptmanns eigenhändiger Unterschrift war zunächst das Einzige, was ich von diesem für mich glückvollen Ereignis erfuhr. Die Nebel wichen um mich, die Sonne Italiens funkte als dämmernde Ahnung in meine Verlassenheit und meinem Herzen wurde die selige Berückung beschert, als höre es undeutlich die Stimme eines Gottes aus der Ferne für sich aufklingen, und ich baute emsiger und kühner meine leuchtenden Wolkenschlösser in die Zukunft hinein, einsam wie immer, ohne einen anderen Genossen als meine liebe Frau, die mit mir glückhaft und erschüttert bis ins tiefste Herz für den Großen glühte, der mich eines Grußes gewürdigt hatte.
Nicht lange danach erhielt ich einen eigenhändigen langen Brief von Gerhart Hauptmann selbst, und als ich ihn geöffnet und an der Unterschrift gesehen hatte, von wem er sei, schloß ich ihn wieder in den Umschlag und steckte ihn ungelesen zu mir, denn mein Haus dünkte mir zu eng und klein, das Große ganz und erhaben zu genießen, das mir widerfahren war. Nach Schluß der Schule machte ich mich auf den Weg nach meinem geliebten Träumerplatz, zwei Stunden tief im Walde, unter einer breitästigen, überhängenden Fichte, an einem verwunschenen Waldteich. Dort, die vertrauten Stimmen meiner geliebten Bäume über, den beglänzten dunkeln Teichspiegel vor mir und das lautlose, nur in der Seele hörbare Brausen der weißen Wolken in der unendlichen Höhenferne, dort, ganz losgelöst von meiner bedrängten Erdenexistenz, in der Feier meines höchsten, reinsten Wesens versunken, genoß ich den Brief Gerhart Hauptmanns und in ihm eine so tiefe von Eitelkeit freie Beglückung, die, wenn ich die Wirkung auf eine seitdem verflossene, lange Lebensstrecke abschätze, fast einer Weihe gleichkam, daß alles Schöne und Erfreuliche, was mir seither nicht karg beschieden
war, gegen diese Licht- und Glanzerschütterung nicht aufkommen kann.
Im Abendgrauen kehrte ich heim, und nun genoß ich meine Freude ein zweites Mal, indem ich den Brief meiner Frau zu lesen gab. Im Jahre 1898 erfreute mich Moritz Heimann durch seinen Besuch in meinem einsamen Schulhaus. Seine Erzählungen bildeten meine Vorstellung von Gerhart Hauptmann klarer, sie nahm eine festumrissene Gestalt an und vertiefte sich lebenskräftiger vor allem infolge seines in sichere Aussicht gestellten Besuches bei mir. Damit begann eine lange Periode freudevoller Erwartung, Spannung und glück-hafter Unruhe, die sich endlich in eine Art Erschöpfung verwandelte, weil einigemal, bald brieflich, bald telegraphisch seine Ankunft gemeldet wurde, um dann im letzten Augenblicke wieder abgesagt zu werden. Ja, das eine Mal lag gar der Festwein schon im Keller und der Kuchen auf den Strohmatten. Der Erwartete blieb immer wieder aus. Teils war seine Wesensart daran schuld, die, von steter Produktion vielfach beschäftigt, das Leben im Dienst seiner dichterischen Tätigkeit vergewaltigt und so Stimmungen leicht das Gewicht von Grundsätzen einräumt; teils bedrängte ihn damals der Kampf und das Ringen von seiner sterbenden ersten zu seine blühenden zweiten Liebe mit soviel bedeutsamer Unruhe, daß das schnell gegebene Versprechen an einen lastvoll Unbekannten als eine Belanglosigkeit, ja als Laune erscheinen mochte und in dieser ereignisreich inneren Zwiespältigkeit sich nicht Gehör verschaffen konnte. Aber wir übertreiben ja sogar in reiferen, grauen Jahren noch oft, indem wir die Dinge der Welt und der Menschen nach dem Wert bemessen, den unser Zustand für uns selber hat. Wenn ich d .mrls den tiefen persönlichen Sinn der „Versunkenen Glocke und des „Fuhrmann Hentschel" so genau verstanden hätte wie es heute der Fall ist, wären meine Anfälle von Enttäuschung
bei den angesagten und immer wieder aufgegebenen Besuchen nicht so heftig gewesen. Doch dauerten sie nie länger als ein dunkler, bitterer Ruck, der mich wohl auf Augenblicke erschütterte, aber mich nicht einmal verwandelnd anhauchte, im Gegenteil einen vertieften, gesteigerten Glauben der Bewunderung seiner Größe hinterließ, der gegenüber meine Existenz, mein Schicksal und mein Glück, als eine Nebensächlichkeit nicht in Betracht kam. Ein labiles Herz, das schwächlicher mit seinem Vertrauen auf sich zusammenhängt, hätte wohl leicht durch eine erste Verbitterung Schaden nehmen können; für mich ergab sich die Notwendigkeit, das Peinvolle meiner damaligen Lebensverhältnisse auch nicht mehr so tragisch zu nehmen, sondern als eine bald überwundene Unannehmlichkeit anzusehen. Zudem brachte mir zu Weihnachten die Post eine Kiste mit zehn Flaschen französischen Sekts ins Haus, und ich nahm den Wein, der mir bisher nur dem Namen nach bekannt gewesen war, als einen Beweis seiner unverminderten Zuneigung und Wertschätzung an. Obwohl auf dem Postabschnittt kein Absender als die Firma einer Berliner Weinhandlung angegeben war, konnte für mich als Spender niemand anders als Gerhart Hauptmann in Betracht kommen. Die vorübergehenden Verdunkelungen aus schmerzlichem Kleinmut waren ganz verschwunden in einem Schwelgen dankbaren Glückes und schwärmender Zukunftssicherheit, als ich in der Silvesternacht von 98 zu 99 mit meiner Frau die erste Flasche des kostbaren Weines auf das dauernde Wohl des Spenders trank. Draußen donnerte der tollste Sturm und das alte Holzhaus ächzte und knackte in den Fugen. Ich hörte in dem Lärmen der wilden Bergwinternacht die machtlose Wut meines überwundenen bösen Schicksals nur noch wie traumhaft gegen mich anrennen und trat lachend vor die Tür hinaus, als der Uhrzeiger auf zwölf gerückt war, um zwischen den Stößen des
Sturmes dem Geläute der Glocken aus den Tälern drunten zu lauschen, die mir von einem neuen glücklichen Leben sangen. Am folgenden Tage lag ich unter furchtbaren Schmerzen im Fieber, und eine Krankheit begann, die als Folge eines allzuharten Lebens mich durch mehr als ein halbes Jahrzehnt, kurze Gnadenfristen abgerechnet, peinigen sollte. Das ist zu übergehen, zu übergehen ist auch die Aufregung in der Gegend über mein erstes Buch, die durch die Geistlichkeit angefacht war und oft lächerliche, groteske Formen annahm. Nur erwähnen will ich auch die Beschwerde eines Theologieprofessors der Breslauer Universität über mein „gotteslästerliches, unmoralisches Buch" an das Ministerium oder die Regierung und sein Verlangen einer amtlichen Maßregelung des Autors- Nicht anders als im Vorbeigehen soll des Prozesses gedacht werden, den ein Mann der Umgegend wegen Beleidigung gegen mich anstrengte, da er sich in der Hauptperson der Erzählung „Meicke, der Teufel" getroffen fühlte, von einem meiner ungetreuen Freunde angestiftet, durch die Geistlichen gefördert und meine Kollegen tätig unterstützt, die alle darauf brannten, den Unbequemen zu verderben, der zur Empörung und Verwirrung aller Wohldenkenden sich nun gar erkühnt hatte, seine Hand nach dem Autorenlorbeer auszustrecken. Ich wurde in der ersten und zweiten Instanz verurteilt. Gerhart Hauptmann, der verhindert war, als Zeuge zu erscheinen, schwebte in Gefahr, zu einer Strafe verurteilt zu werden. Sein schriftliches Gutachten, das die strafbare Erzählung als Kunstwerk bewertete, wurde von dem kirchlich befangenen Gerichtshof als belanglos abgelehnt und der größte Teil meine» Honorars wurde von den Kosten und der empfindlichen Geldstrafe aufgesogen. Ich aber, angeekelt durch diesen unablässigen Krieg gegen böswillige Feindseligkeit, durch meine Krankheit getroffen und herausgehoben zugleich,
wieder von dem Tod eines Kindes erschüttert, erlebte dieses ganze Treiben wie etwas Entfremdetes und blieb dem Vorsatz treu, meine Kraft diesem katzbalgerischen Lebenskampf zu entziehen und auf das hohe Ziel meines dichterischen Werkes zu richten. Während der immer zunehmenden körperlichen Unterhöhlung durch Krankheit, schrieb ich in einem Jahre die Novelle „Der Schindelmacher" und die drei Romane „Leonore Griebel", „Drei Nächte" und „Der begrabene Gott". Neben dem Ringen um religiöse Fragen, nach den letzten Lebens- und Jenseitsdingen, hielt mich das Bild Gerhart Hauptmanns nicht nur aufrecht, sondern fieberhaft produktiv, hatte er mir doch, wenn auch erfolglos, in dem Kampfe beigestanden und war damit zu einer fühlbaren lebendigen Kraft, nicht allein mehr in meiner Seele, sondern in den Tagen meiner Erde geworden. Die hohe Verehrung und tiefe Liebe, die ich ihm entgegenbrachte, ohne ihn je gesehen und gesprochen zu haben, duldeten es einfach nicht mehr, mich, wie in den langen Jahren vorher, mit dem gemeinen Leben und dem Leben der Gemeinheit so herumzuschlagen. Dazu sah ich Tore der Erkenntnisse aufgehen, die zwar noch fern, nur in undeutlichen Ahnungsweiten lagen, deren Licht mich gleichwohl so erfaßte, daß ich darauf loszumarschieren begann.
Aus meinem bisherigen Leben herausgehoben, eine neue Welt vor mir, aber erst noch gleich einem Gebirge am fernen Horizont, das auch nur Gewölk sein konnte, war ich ein Geschlagener und Sieger zugleich, einer, der kein anderes Mittel der Lebensneubildung sah, als einen großen Teil der Form und des Inhaltes des alten aufzugeben. Denn wir Menschen schwinden immerfort unter uns weg, einem Ziele zu, das wir erahnen und ersehnen, und das im Augenblick seines Erreichens uns statt der Freude der Erfüllung die Unruhe eines neuen Sinnes ins Haus trägt,
den wir noch nicht begreifen. Dem Fortschritt dieses Wachstums kommen wir nur sehr unvollkommen auf die Spur durch die Erforschung der kausalen Kette der äußeren Lebensvorgänge, da sich uns aus ernster Betrachtung die Einsicht aufdrängt, daß der Sinn der Ereignisse nicht in ihnen selbst und ihrer vielverknüpften Bewegung liegt, sondern von jenem einzig wahren Selbst in uns kommt, das jenseits aller äußeren Relativität und sogar der Denkrelationen in uns stammt.
Mit dieser Bemerkung berühre ich schon die Grenzen des Landes, zu dem hin mein Leben sich zu bewegen begonnen hatte, als endlich meine persönliche Bekanntschaft mit Gerhart Hauptmann sich ereignete.
Ich war den unhaltbaren Verhältnissen in Pohldorf entrückt und nach Dittersbach versetzt worden, unter Lebensbedingungen, die freier, weiter, äußerlich vielfältiger, materiell günstiger, wenn auch nicht schöner waren.
Der Dichter hatte sich wieder einmal zum Besuch angemeldet und war dann wegen des Ankaufs einer Besitzung in Agnetendorf ausgeblieben, auf der heut sein schönes, schloßähnliches Haus steht. Wie bei mir das innere Leben eine entscheidende Wendung genommen hatte, so war sein Dasein durch die Geburt eines Sohnes von seiner zweiten Frau in eine bedeutsame Entwicklung getreten. Es war die Periode, in der Gerhart Hauptmann von allen Sittlichkeitsrichtern und -riechern die schwersten, oft unflätigen Angriffe zu erdulden hatte, die zudem durch den Mißerfolg von „Schluck und Jau" verdunkelt war-
Durch meinen neuen Wohnort, der nur IVa Eisenbahnstunden von Hirschberg entfernt lag, waren wir uns räumlich näher gerückt, und so folgte ich eines Sonnabends im späten Frühjahr 1900 seiner Einladung, obwohl mein körperlicher Zustand nicht erfreulich war. Der Bruder seiner
zweiten Frau, der Musiker Max Marschalk, war mit seiner jungen Gemahlin zu Hilfe und Beistand aus Berlin eingetroffen und wohnte in Hain im Riesengebirge, während Gerhart Hauptmann mit seinem Diener in einer kleinen, bäuerlichen Wirtschaft in Agnetendorf hauste.
Ich war nach Hain in ein der Waldmühle benachbartes bäuerliches Logierhaus geladen worden, wo Max Marschalk mit seiner Frau Wohnung genommen hatte. Weil ich in Hain nicht Bescheid wußte, verlor ich Stunden mit immer vergeblichem Suchen in diesem auf vielen Berghängen und in Tälern zerstreuten Orte. Ich wurde auch irregeführt von der Freude an den Schönheiten der Bergwelt, die in der Sonne des späten Frühlingstages besonders reizend lockten, daß ich manche Anhöhe erstieg, zu manchem Winkel hinkroch, nur eines seltenen Ausblicks, eines putzigen alten Häusleins halber, meiner Absicht in manchen Augenblicken nur wie eines Traumzieles sicher, das sich ebensowohl wieder verflüchtigen konnte wie so oft vorher. Wie auch sollte ich dem Verehrten entgegentreten, wie zu ihm reden? Da Hauptmann für mich eigentlich nirgendwo anders auf der Welt als im heiligsten Räume meines Wesens wohnte, war mein Suchen nach ihm in Hain mehr das Geschäft eines launischen, etwas phantastischen Abenteurers. Dazu lag wohl auch über mir das leise Fiebergewölk meines krankhaften Zustandes. und nun ich meinen Blick auf jene Stunden der weitzurückliegenden Vergangenheit richte, vermag ich die Vorgänge nicht genau zu unterscheiden. Ich sehe alles undeutlich, ahnungsvoll, wie uns ferne Gegenstände durch das Lichtzittern eines Sommertages erscheinen, alle jene Einzelheiten, bis ich in der engen Sommerlaube mit Max Marschalk und seiner Frau am Tische saß und Gerhart Hauptmann, von Agnetendorf herübergekommen, hereintrat. Wir reichten uns die Hand
und waren beide voneinander so betroffen, daß es kaum zu den bei dieser Gelegenheit üblichen WortHoskeln langte, dann saßen wir schweigend, und der liebe Marschalk bot umsonst allen Sarkasmus, allen Witz und heiteren Spott seines vielfältigen, beweglichen Geistes auf, ein lebendiges Gespräch zwischen Hauptmann und mir zu entzünden. Ich war übervoll von jahrelang aufgestauter Bewegtheit, meine leidenschaftliche Innenarbeit hatte so viel geheime geistige Erlebnisse mit ihm geschaffen, daß ich über diese verborgene innere Vielfältigkeit nicht zu der Einfachheit des gegenwärtigen Erlebnisses durchdrang. Ich konnte vor mir nicht zu Worte kommen aus der Unmöglichkeit, alles auf einmal zu sagen. So schleppte sich der Abend lange hin, immer auf dem Umwege über Max Marschalk. Es mußten schon Windlichter aufgetragen werden. Die Wälder hüben und drüben, vom Saalberg und vom Mädelkamm her, rauschten schon lauter in der vertieften Nacht, und das Eis des Schweigens zwischen uns war noch nicht aufgebrochen. Endlich erschien der Wein, öffnete die Schleusen und brachte die lange verhinderte Kommunikation von ihm zu mir in einem lebhaften Austausch in Gang. Ich hatte Hauptmann durch Moritz Heimann und in mir so gründlich in allen Zügen kennen gelernt — und alles Kennen ist ja immer eine Vergewaltigung des einen durch den anderen —, daß ich in seiner Gestalt, seinem Gesicht, seinem Wesen vor der Hand nur wahrmachen, was ich schon wußte.
So brausten wir an diesem improvisierten Abend eigentlich mehr aufeinander zu als uns tiefer kennen zu lernen und überließen dem guten Wein einen reichlichen Teil des Geschäftes der gegenseitigen Anfreundung und des Vermeidens heikler Schlingen, die sich in der Luft jener Lebensspanne umhertrieben. Leider war es derselbe Wein, dessen erste
Bekanntschaft in der Silvesternacht zu Pohldorf den Beginn meines Leidens herbeigeführt hatte. Im Genuß der seltenen Freude dachte ich aber dessen nicht und kam, einige Regungen meines Leidens ungerechnet, auf beseligten, etwas unsicheren Füßen wohlbehalten durch den Wald mit Gerhart Hauptmann in Agnetendorf an, wo ich in dem von ihm gemieteten Hause schlief.
Wir waren so gegen ein Uhr früh ins Bett gekommen und der folgende Tag wurde durch eine verlängerte Nachtruhe stark gekürzt. Dennoch drängte sich in die wenigen Stunden bis zu meiner nachmittäglichen Abreise die eigentliche Feier der Bekanntschaft mit dem so oft Erwarteten. Er las mir aus dem Manuskript den eben vollendeten „Michael Kramer" vor. Gerhart Hauptmann ist der beste Interpret seiner Werke. Ihre Aufführung durch seine Vorlesung ist eine solche Vollkommenheit, daß sie von der besten Darstellung auf dem Theater nicht erreicht wird. Seine Kunst gibt nicht nur die vollkommene Charaktergestaltung der handelnden Personen, sondern noch den ganzen Habitus ihrer sinnlichen Gegenwart mit einer solch selbstverständlichen, mühlosen Sicherheit, daß sich der Gestus der Situationen und des ganzen Werkes rein und unverlierbar einprägt. Für mich gab es damals und noch lange, lange Zeit nachher nicht das, was man das kritische, ästhetische Verstehen nennt, vor allem beim ersten Genuß eines Werkes. Mochte es Malerei, Skulptur, Musik oder Dichtung sein, ich bemächtigte mich seiner mit meiner ganzen, durchgeturnten Lebenskraft und schuf mir alles durch meine Phantasie sinnlich so bis in alle Einzelheiten deutlich, daß ich die Empfindung meiner selbst vollkommen verlor. So saß ich auch in den Stunden seiner Vorlesung des „Michael Kramer" nicht einen Augenblick in der kleinen, niedrigen Sommerstube neben dem Waldbach, den wir durch das geöffnete Fenster hereinrauschen hörten, sondern von
dem Kramerschen Frühstückszimmer an, in dem der grämlich erwachte Tag mit dem roten Licht einer Petroleumlampe so kämpft wie ein sterbendes mit einem großen verdunkelten Dasein, durchlebte ich alle Leidensstationen dieser Todessymphonie, daß meine Spannung Grad um Grad bis zu einer kaum mehr zu ertragenden Erschütterung wuchs. Hauptmann hatte geendet. Ich saß wie erdrückt auf meinem Stuhle, und als ich zu mir kam und sah, wo ich sei, stand ich auf, trat ans Fenster der Hinterwand, sah in den ansteigenden Grasgarten und mußte es geschehen lassen, daß mir die Tränen das Gesicht überströmten. Die Tür ging ein paar mal hinter mir behutsam, und als ich mich umdrehte, stand Gerhart Hauptmann hinter mir und sah mir mit glückhaft strahlenden Augen ins noch immer bebende Gesicht. Da fanden sich unsere beiden Hände zu stummem Druck.
Auf der Nachhausefahrt in der Bahn packte mich meine Krankheit. Bald loderte mein Körper im Fieber, bald schlugen meine Zähne vor Frost aufeinander, und ich hatte vor unerträglichen Schmerzen Mühe, mich auf dem Sitz zu erhalten. Mit aller Willenskraft wiederholte ich mir das erfahrene Wissen, daß Glück Schmerz sein kann. Aber der Anfall marterte mich weiter. Als ich in Dittersbach ankam, war ich wie ausgeblasen und ging taumelnd und so unsicher nach Hause, als tastete ich mich über der Erde auf weichendem Gewölk durch Nebel. Nun ist alles lange, lange vorbei, das Glück und das Leiden jener Zeit. Aber so ist die Seele des Menschen. Das Glückhafte und Freudvolle jener Stunden glänzt und bewegt mein Inneres noch lebensvoll. Der Schmerz wird mehr und mehr ein ohnmächtiger Schatten, der nicht mehr schmerzt.