GERHART HAUPTMANN, ZÜGE ZU SEINEM PORTRÄT.
Von Moritz Heimann.
M s ist fast dreißig Jahre her, daß ein nicht unbedeutender literarischer Kritiker die Summe seiner Zeit zu ziehen unternahm und bei dieser Gelegenheit den grade erst etablierten Naturalismus „überwand". Damals glaubte er, damit auch Hauptmann zu überwinden, und hatte in dem betreffenden Kapitel seines Buches die schönsten, schlagendsten Einwände gegen ihn erhoben, dabei aber fast unversehens den Satz einfließen lassen, daß Hauptmann freilich die eine Gabe besitze: wohin seine Hand auch greife, dort entstehe Leben. Zu dieser Stelle schrieb Hauptmann an den Rand seines Exemplars: „So ungefähr könnte man auch über Gott urteilen." Wer nicht so töricht ist, in einer solchen Marginalie eine Lästerung zu erblicken, denke dem Worte nach, und er tut einen Blick ins Herz der Haupt-mannschen Idee-
Ihm nämlich ist die Kunst in sehr wörtlichem Sinne eine Schöpfung und der Natur auch darin ähnlich, daß sie sich nicht kommentiert. Unter den Kritikern seines ersten Jahr-
zehnts sind zwei Arten zu unterscheiden: die einen maßen ihn an der auch ihnen bekannten oder mindestens zugänglichen Wirklichkeit, entdeckten tausend Züge der Bestätigung und fanden ihn vortrefflich; die andern suchten in seinen Werken selbst einen Leitfaden von Gedanken, der unmittelbar zu seinem Verständnis führte, entdeckten keinen, und waren enttäuscht oder schadenfroh, in jedem Falle kurz resolviert, den Dichter — einen Dichter! — ungeistig zu nennen und nichts in ihm zu sehen als ein Talent, das heißt eine Tatsache, mit der weiter nichts anzufangen sei. Im Grunde haben beide Parteien geirrt; jene, die den Geist nicht brauchten, diese, die ihn nicht sahen; jene, die einen Kommentar, eben die Wirklichkeit, in ihren Händen glaubten, diese, die den Kommentar vergeblich suchten-
Inzwischen aber hat das Volk als Ganzes an Hauptmann ein Erlebnis der seltenen Art gehabt, die nicht durch Fachweisungen beschränkt, noch durch Gründe verkühlt wird; sogar jenseits des mehr oder minder großen Gefallens an jedem einzelnen seiner Werke hat es ihm Besseres und Edleres bereitet als den etwa doch bedenklichen Ruhm des Tages: es hat eine geistige Macht von ihm auf sich wirken lassen, herzhaft, herzlich, ja beglückt. I ragt man, woher sie stammt, so erhält man wohl die Antwort: von der Persönlichkeit; und so wäre denn die Persönlichkeit der Kommentar zum Werk. Will sie aber jemand definieren, so gerät er sofort in eine offenbare und irreführende Vereinfachung. Fast immer ist das erste und letzte Wort über ihn: der Preis seines Mitleids mit der Kreatur; man übersieht also die Züge von Grausamkeit, die überall bei ihm zu beobachten sind. Oder ist etwa nur die Natur grausam und er selbst doch mitleidig? Aber zu sehen, wie Hauptmann sieht, ist vielleicht ohne Mitleid nicht möglich, sicherlich aber nicht ohne Grausamkeit.
Und dennoch haben sie recht, die die Persönlichkeit des Mannes als eine Erschütterung ihrer eigenen erkennen und anerkennen. Niemand weiß das besser als die, welchen ein häufiger, oft intimer Umgang mit ihm vergönnt war; ihnen allen wurde er zu einer Leidenschaft ihres Lebens. Mochte er manchen von den anderen nur ein Schmuck, wenn auch vielleicht der köstlichste ihres äußeren, gesellschaftlichen Lebens sein, für jene wurde und blieb er ein Teil ihres eigenen Wesens. Ich selbst, seit fast dreißig Jahren, bin weder mit Brahm noch Fischer, weder mit Rittner noch Stehr noch Loerke noch Orlik zusammen gewesen, ohne daß das Gespräch sehr bald auf Hauptmann gekommen wäre und stundenlang nicht von ihm losgelassen hätte. Wir mochten uns beglückt oder unwillig, erfreut oder gekränkt fühlen, immer war es, als ob wir uns selbst ins Klare brächten, wenn wir das Verhältnis zu ihm durchdachten, durchfühlten, durchfreuten und durchlitten.
In alledem war ja nichts von landläufiger Anhängerschaft; wir verkehrten mit ihm, so wie er selbst mit Jedermann verkehrte, auf gleichem Fuß. Auch von Schülerschaft war leider wenig darin, schon deshalb, weil es schwer ist, von ihm zu lernen. Er war in nichts unser Führer, und jeder von uns bewahrte, nach den Gaben, die ihm geworden, seine eigene Tendenz mit der eifersüchtigen Selbständigkeit, die immer mehr zum elementaren Bedürfnis in allen Strebungen des Geistes geworden ist. Und dennoch in uns diese Zu-geschworenheit von unverkennbar besonderer Art, gegründet auf einer Liebe gleichfalls besonderer Art, — worin besteht das Besondre? Wir hätten sehr wohl Freiheit genug gehabt, sein Talent, seinen Geist, sogar sein Herz an andern Talenten, Geistern und Herzen zu messen; aber grade wenn wir etwa derartiges taten, fühlten wir doppelt klar, was nur er uns gab, was wir nur von ihm zu empfangen
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Er selbst hat Ahnliches — wie jedermann, doch nicht wie jedermann —- von sich empfunden. Wir sehen darum in seiner Menschengestaltung hie und da einen Widerspruch auftauchen, — denn auch dieser schauend gestaltende Geist spricht zuweilen unmittelbar von sich, oder, wie man es spießbürgerlich auszudrücken pflegt, nimmt sich zum Modell. Immer in diesen Fällen stellt er sich als einen Prototypus, Archetypus des Menschen hin; während er das andereModell in die engste Grenze der Persönlichkeit einzwängt, es förmlich in die Realität einklemmt, wenn auch mit einem Lichtschimmer an den Konturen. Vielleicht ist es ein gefährlicher Irrtum — von jedermann, auch von ihm — sich überfrei, den andern unfrei zu setzen. Aber wir mit ihm Verbundene mochten wohl die aus solchem Irrtum entspringenden Handlungen und Worte angreifen, niemals ihn selbst. Er blieb uns — der eine, der Mensch. Nicht jedem der dahinwirbelnden Geschlechter ist eine solche Erfüllung beschieden.
Es scheint, daß er schon sehr früh auf seine Umgebung eine Wirkung ähnlicher Art ausgeübt hat. Die Jugendfreunde nannten ihn „Lichtel". Von dem stillen und tiefen Glänzen seines Gesichts ging auf Leute, die ihn kennen lernten, etwas aus, was sie ahnungsvoll ergriff. Ich weiß von einer alten Frau, die sich der Tränen nicht erwehren konnte, als sie ihn zum erstenmal gesehen hatte. So zeichnet das Schicksal seine Lieblinge aus.
Und wirklich, wenn man Hauptmanns Leben und Laufbahn verfolgt, so sieht man, daß er von den Auserwählten ist, denen sich, bedeutungsvoll für die andern, die zufälligeren . Menschen, alles zum guten Gedeihen wendet; sogar Wider-
stand und Unverstand, Haß von Trägen und von Windigen, Neid und Kälte, von denen allen ihm die Wolke reichlich gespendet hat, waren früh dazu verurteilt, ihm zu dienen, indem sie seine Stellung in der Welt als wichtig und offiziell erwiesen. Dennoch, wenn man jetzt die Bilder des Dreißigjährigen und des Sechzigjährigen nebeneinander legt, wer könnte bei ihrer Betrachtung sich eines großen Ernstes entschlagen? Auch auf ihn muß man das Wort anwenden, jenes sonderbare, vielleicht gar apokryphe: voilä un homme, in der Übersetzung, die Goethe, auf den es gesagt wurde, selbst ihm gegeben hat: das ist auch wohl ein Mensch, der sich's hat sauer werden lassen. So sehr hat das Leben seinen Kopf gebildet, daß es den Bildnern, Malern und Plastikern, schwerer geworden ist, ihn nachzubilden als jeden andern; der auffallendste, siegreichste, bestimmteste Kopf unsrer ganzen Zeit ist zugleich der flüssigste. Viele Gesichter habe ich in auch fast dreißig Jahren durch dieses eine geliebte Gesicht wandeln sehen, und auch das gehört zu dem Typischen an ihm. Von einem Tage zum andern, von einer Abendstunde zur andern konnte er wie ein alter Mann aussehen und im selben schnellen Wechsel jugendlich — sehr jung und jugendlich, ohne dabei auch nur eine seiner schwer errungenen Falten zu verleugnen. Goethes Gesicht glitt durch das seine, das ist bekannt; doch auch Porträts von Frauen Schillerscher Verwandtschaft blinkten in seinen Zügen auf, und es gab Augenblicke, wo ich mich an Wilamowitz-Möllendorf erinnert fühlte; und alle diese Ähnlichkeiten hatten das Eigentümliche, daß sie durchaus nicht auf der Ähnlichkeit einzelner Formen und Züge beruhten. Eines Abends, während des Krieges, nahm sein jüngster Sohn, er war ungefähr sechzehn damals, zufällig eine Haltung ein, daß der Kopf durch Verkürzung und Beleuchtung mich frappierte, und ich das schmeichelhafte \X ort
nicht unterdrückte: er sieht aus wie ein Porträt vom jungen Moritz von Oranien. Hauptmann stutzte und erzählte folgendes: Als Knabe von etwa zwölf Jahren habe er sich einmal bei einer Streiferei in der Nähe seiner Vaterstadt an einem Weg- und Wiesenrain lang hingelegt. Da sei ein Herr herangekommen, der als ein vielgereister, mit einiger Altertümlichkeit eleganter Mann eine Figur in der Stadt machte, sei an ihm, dem daliegenden Knaben, stehen geblieben, habe ihn betrachtet und nichts weiter aus dem Gehege der Zähne entlassen als: Wilhelm von Oranien.
Dieses Typische an Hauptmann ist indessen ein platonisch geistiges Element, kein soziales; und es gehört sogar mit zu seinen tiefsten Tendenzen, daß er sich jeder sozialen Typisierung entzieht.
Seine Haltung und seine Kleidung sind von jeher ebenso frei von vagabundierender Willkür wie von vorgeschriebener, durch bestimmte Einordnung zusammengefaßter Künstlichkeit gewesen. Er hat seinem ursprünglich zarten und, wie bekannt, einige Male durch schwere Krisen der Gesundheit erschütterten Körper das Äußerste an Gehorsam, Elastizität und Zähigkeit abgezwungen, ohne ihn je der anmaßlichen Zucht des Sports auszuliefern. Wenn er als junger Bildhauer im römischen Atelier mit drei, vier Tonkugeln jonglierte oder auf Pferdesrücken den Überschwang der Hoffnungen in die Campagna hinausbrausen ließ wenn er noch heute des Sprungs, des Laufes, des Wurfes sicher ist und seine beiden Pferde — Gift und Galle, den beiden Pferden Tills in seinem ungedruckten Epos, vergleichbar — vor dem Wagen rennen läßt, so ist das gewiß ein Training, doch niemals ein zum Selbstzweck gewordenes, ein Sport. Wer seine große körperliche Leistungsfähigkeit nicht kennt, wird sie wahrscheinlich unterschätzen oder doch nur aus seiner geistigen Unermüdlichkeit schließen, so sehr ver-
meidet sie es, sich in den simplen Charakteren zu erkennen zu geben, wie denen eines Tennisspielers, eines Turners, eines Jägers, Militärs oder dergleichen. Wie oft, wenn das Glas, das köstliche, und Gespräch, das köstlichere, den Abend bis lange nach Mitternacht hinausgedrängt haben, findet der früherwachte Gast, etwa auch der noch ein wenig benommene, ihn als erfrischten, mit dem neuen Tag erneuten Menschen, der schon ein paar Stunden Morgenlebensfreude, einen Ritt oder einen Spaziergang, genossen hat; kaum weiß ich einen andern Menschen, der sich so schnell und so völlig regenerierte. Dabei aber sind seine Nerven von größter Empfindlichkeit; es konnte etwa einmal vorkommen, daß ihm, dem auch unterwegs immer arbeitenden, der Vormittag nichts trug, dann durfte man sicher sein, daß am noch wolkenfreien Himmel nach ein paar Stunden ein Gewitter aufziehen würde, und zwei, drei Züge aus einer Zigarette reichten hin, ihm Kopfschmerzen zu machen und dadurch die ihm nötige kompromißlos vollständige und reine Konzentration zu verhindern. Diese Empfindlichkeit hat sich mit den Jahren gedämpft, ohne indessen ihre Bedeutung für seine physisch-moralische Komplexion zu verlieren. Niemals nämlich war sie ihm schädlich, und statt zu lähmen, beschwingte sie seine allgemeine Produktivität; und zwar deshalb, weil sie mit einer andern seiner Eigenschaften, vielleicht der schönsten Mitgabe von allen, verschwistert war: der vollständigen und energischen Heilung, in welcher seine Natur jeden störenden, verstörenden, geschweige zerstörenden Einfluß auflöste. Hauptmann, das ist der Mensch ohne Selbstvergiftung. In monatelangem engem Zusammensein konnte es nicht ausbleiben, trotzdem ich ein junger und wegloser Mensch war, und er von mir mit höchster Dankbarkeit veerhrt und doch auch schon so berühmt, daß wenigstens ein italienischer kleiner
Gastwirt schon im Jahre 1896 von ihm sagte: Jo so, e un autore classico — einen Gruß den Manen des braven della Porta aus Capolago, der seine zwei täglichen Liter Chianti jetzt im Paradiese trinkt und in dessen Haus die ersten Kapitel des Quint geschrieben wurden — bei vielen langen Unterhaltungen war es nicht zu vermeiden, daß doch einmal gegensätzige Urteile sich in erhitzten Wendungen entluden und es einen Zank gab. Wenn wir uns dann trennten, und ich dem Wiedersehen bei Tisch mit Scheu, Verstocktheit und Bangen entgegensah, jedes Mal war ich dann so betroffen wie befreit und darüber hinaus von einer Hoffnung auf das Menschenwesen beseligt, wenn er mir entgegentrat, nicht als ob nichts geschehen wäre, sondern es war nichts geschehen. Es war nichts ausgestrichen auf dem Blatt, sondern das Blatt war weiß und rein. Er liebte und zitierte oft aus dem Westöstlichen Divan, seinem damaligen Brevier, das Gedicht: „Zerbrach einmal eine schöne Schal'"; und wie es zum Schluß heißt: „Das jammerte Gott, er schuf es gleich so ganz als wie es gewesen", so war er, recht als sein eigner Schöpfer, imstande, sein Gemüt aus jeder Zertrümmerung zu sammeln, — treu und treulos gegen dieselbe Stunde.
Hauptmanns geistige Grunddisposition läßt Analogieen zu seiner körperlichen erkennen; vor allem die eine, daß auch sie, von Natur aus und danach planmäßig, sich gegen ein methodisches Typisieren fremd, ja feindlich verhält. Nichts wäre darum verkehrter, als ihn in seiner geistigen Art Goethe ähnlich zu finden, er ist vielmehr gradezu sein Widerpart; und mir scheint es nötig, sich das einmal klar zu machen, um Hauptmanns geistige Art nur erst sehen zu können. Goethe duldet vor seinem schauenden Auge keine bloß individuelle Erscheinung der Natur, sondern sogleich fühlt er den Zwang und schöpferischen Drang, sie
unter ein Gesetz, eine Ordnung, einen Typus zu stellen; Hauptmann glaubt nur von der individuellen Erscheinung das hören zu können, was er zu hören fähig und willens ist. Goethes wunderbare Konzeptionen machen ihn für immer zu einem Großen auch der Wissenschaft; Hauptmann ist nicht nur unwissenschaftlich, sondern sogar gegenwissenschaftlich. An Eigentümlichkeiten ihres dichterischen Arbeitens wird das ganz deutlich: was Goethe als das bewährteste Mittel immer mehr ausbildete, mit einem Schema anzufangen, mit einem Schema fortzufahren, wäre für Hauptmann unmöglich; er beginnt sogleich mit einer besonderen Stimmung und einem besonderen Lebensgefühl, und ein Fragment durch logische oder ideelle Entwicklung weiterzuführen, ist er nicht versucht. Er ist, um es noch einmal zu sagen, unwissenschaftlich; aber man versuche, dieses Wort nicht als etwas Negatives, sondern als etwas Positives zu verstehen. Er ist vergegenwärtigend. Das extrem Gegenwärtige und das Individuelle sind identisch. Das, was man Beobachtung nennt, ist nur das Mittel dieser Geistesanlage, das Instrument. Hauptmann sieht an der Erscheinung geflissentlich, was Goethe geflissentlich übersehen hätte.
In der unbedingten Konsequenz dieser Hauptmannschen Anschauungsweise würde ihre Selbstvernichtung liegen, eine Atomisierung würde eintreten, der Triumph des Zufalls, die völlige Unzugänglichkeit jeder Erscheinung gegenüber dem menschlichen Streben, sich mit ihr in einen Einklang zu setzen. Da dieses Resultat indessen nicht eintritt — denn sonst hätten wir einen radikal Wahnsinnigen, aber keinen Dichter vor uns —, so ist es von Wert, zuzusehen, auf welche Weise die äußerste Individualisierung mit dem Bestand der Welt und seiner künstlerischen Deutung überhaupt verträglich ist. Dieser nicht typisierende Hauptmann, so haben wir festgestellt, ist selbst in hohem Sinne ein
Typus und empfindet sich als solchen; — das ist der Grundbestand, die Grundnötigung, der das schauende Auge sich von selbst fügt. Alles Individuelle wird darum, ohne zwischendringende Absicht, auf etwas Typisches bezogen. Wenn er liebt, wenn er haßt, wenn er stolz ist oder demütig, so tut er es in einem Gefühl, das sich folgendermaßen deutlich machen läßt: nicht ich liebe, sondern dieses ist die über den Menschen verhängte Liebe, und ich fühle sie; nicht ich hasse, sondern dieses ist der Haß, und ich fühle ihn; und dieses der Stolz, und dieses die Demut. Indem er aber auch seine Gestalten am derart Elementaren teilhaben läßt, sind sie vor dem Gesetzlosen gerettet. Bis zum höchsten Reichtum an Einzelheiten ausgestattet, behalten sie eine Struktur von Einfachheit; ihre Individualisierung läßt sie vom Typus nicht los, sondern beide Anschauungsformen, die äußere und die innere, durchdringen sich wechselseitig bis zur Einheit der Natur selbst. Und mehr aus einer solchen geistigen Verfassung als aus persönlichem Wohlwollen, persönlicher Nachsicht, persönlichem Mitleid stammt das Moralinfreie seiner Menschenbetrachtung.
Auch hier ist Philosophie, wie mir scheint, und es steigert ihren Wert, daß sie sich nicht in einem logischen Kursus vernehmen läßt; wahrste Philosophie auch deshalb, weil sie zwar im Verlauf der Reife durchgebildet wurde, aber doch von Haus aus als ein Geschenk und Auftrag der Natur in ihm war. Es sei mir erlaubt, an dieser Stelle Worte zu wiederholen, die ich vor zwanzig Jahren über ihn geschrieben habe; es ist mir, als ob sie, wiewohl ohne genügende Absicht und noch wie unter einem Schleier, seine Gestalt, seine unabwandelbare Identität schon erkennen lassen müßten.
— „Hauptmann hat mir einmal erzählt, es sei für ihn die Möglichkeit, die ihm eigentümlichen Kunstwerke zu schaffen,
erst dann eingetreten, als er zwei Dinge erfahren habe: den Sinn und Wert der Illusion, und den Wert und die Wahrheit des Widerspruchs im menschlichen Charakter. Soweit dieser zweite Gedanke ihn persönlich angeht, drückte er ihn mit den Worten aus: „Ich stehe auf meinem Widerspruch wie auf meinen zwei Beinen". Mehr als einmal habe ich sehen dürfen, wie fest er auf diesen Beinen, wie fest auf jenem Widerspruch steht.
Es wird nicht viele Menschen geben, die von fremdem Schmerz unmittelbarer berührt würden als er. Als er einmal mit entschiedener Ablehnung über einen ihm antipathi-schen Menschen sprach, wurde beiläufig erwähnt, daß dieser Mann von einem schweren körperlichen Übel geplagt sei, und mit einem Schlage veränderte sich Hauptmanns Gesicht, so daß nicht mehr die mindeste Härte in den Minen zurückblieb, und er sprach fortan ernst und liebreich über ihn. Bei alledem aber verweichlicht nicht das Mitleid die Konturen seines Wesens, schwächt nicht seinen Willen und verwirrt und beschwichtigt nicht seine Einsicht in den Wert oder Unwert menschlicher Verhältnisse. Unbedingtes Mitleid und unbedingter Egoismus bilden in ihm eine kühne und reine Harmonie — von der ich noch zuweilen wünsche, daß Nietzsche sie möchte eingesehen haben. — In meiner Heimat gab es einmal im Herbst eine schlimme Mäuseplage; die Felder waren so zerwühlt, daß der Fuß in den mürben Boden wie in Mehl einsank, und unter jedem Schritte stäubte es. Indessen setzte frühzeitig der Winter ein, mit Güssen von hartem, kaltem Regen und weichen Flocken Schnee. Als ich eines Abends im Krug mit einem Landmann die Lage besprach, versicherte er mir mit behaglicher Genugtuung, daß dieses Wetter keinesfalls von den Mäusen würde überstanden werden. So gut das nun war, so fiel es mir doch, als ich schlaflos im Bett lag,
unerfreulich ein. Ich mußte, während das böse Wetter an die Fenster klirrte und sogar durch die Mauerwand des Hauses kalt hindurchatmete, daran denken, wie es in diesem Augenblick, in welchem ich geschützt im Bette lag, auf den Feldern aussehen mochte — wie die Fluten, nachdem sie längst den pulverigen Boden festgebacken, in die Gänge der Mäuse brachen und alles überschwemmten. Es kam eine Angst der Kreatur über mich, die mich so stark verschleierte, daß ich noch Jahre darauf, mit Hauptmann auf der Insel Wollin spazierend, von der Sache redete. Kaum hatte ich mein letztes Wort gesprochen, so gab er mir die Antwort: „Millionen Mäuse sterben nicht Millionen Tode, sondern nur einen Tod". Mit einem Ruck zerriß mir der Schleier, und ich konnte, um dem Trug des Mitleids vollends zu entgehen, das Wort fortsetzen und mir sagen, daß ich die Erfahrung dieses einen Todes ja an mir selber machen werde. Leider muß ich bekennen, daß ich Hauptmanns Ausspruch nur nach seinem Sinne, nicht aber die spontane Kraft und etwas Eigentümliches in der Formulierung wiederzugeben weiß, welches so stark war, daß seine sittliche Wirkung nie ganz in mir erloschen ist.
Ich empfinde nicht nur in diesem Fall die Schwierigkeit, Aussprüche von Hauptmann in ihrer mitgeborenen Form zu bewahren. Sie haben eine Einfachheit, die, wie sie sofort überzeugt, eben darum auch überrascht. Denn da wir, infolge eines allzu ausgedehnten Verkehrs mit den gedruckten Meinungen über das Leben, leider gewohnt sind, uns weniger an die wirkliche, innerliche Erfahrung zu halten, als mit den jähen Abkürzungen einer falschen Philosophie zufrieden zu sein, so sind wir immer im Gemüt betroffen, wenn wir, statt auf die landläufigen Formeln, auf die Erfahrung in ihrer Ursprünglichkeit und Souveränität stoßen. Wie jedem originalen Menschen Erfahrung als
die oberste Lehr- und Zuchtmeisterin vertraut ist, so läßt Hauptmann einzig von ihr sich führen. Wer das kann und darf, dessen Persönlichkeit muß fest in sich ruhen und darf keinem Geheiß folgen als dem eigenen.
Wenn man Goethes Welt der moralischen Erscheinungen auf das knappste und erschöpfendste ausdrücken will, so mag man sie durch seine zwei Lieblingsworte scheiden: Gegenwart und Sehnsucht; jene das Klassische, diese das Romantische; jene das Gesunde, diese das Kranke. So vom Gegenwärtigen ergriffen, so das Gegenwärtige ergreifend ist Hauptmann. Darum kann er mitleidig sein, und doch sich unvergeudet treu bewahren. Darum gehen ihn die Dinge an, nicht die Meinungen über die Dinge. Darum ist es eine seiner Freuden, im Montaigne zu lesen — von dem wir wissen, daß auch Shakespeare ihn gelesen hat, sein Exemplar der Essays wird noch heute aufbewahrt. Es ist, obgleich ein Rätsel, doch die Durchschnittstatsache, daß Leute imstande sind, Vieles — ja, zuweilen Gutes — über Kant zu reden und zu sagen, über Spinoza, Plato und Pythagoras, ohne in ihrem ganzen, zufriedenen Leben einmal das Schrecken vor der Ungeheuerlichkeit der Konzeptionen solcher Männer zu verspüren. Für Hauptmann ist die Schulphilosophie nichts, die Erleuchtung alles; das Dogma nichts, Religion alles. Er kann nicht Bibliotheken schlucken. In der Entwicklung und Erfahrung seines unmittelbaren Lebens muß er dem fremden Geiste nahe gekommen sein, den er als geehrten Gast zu sich aufnimmt; dann geht er eine Weile mit ihm zusammen, bis die Wege sich scheiden. So hat er lange Zeit in einer innig bewegten Gemeinschaft mit Jakob Böhme zugebracht, bis es ihm nötig wurde, die Mystik des Gefühls auszugleichen, und er zu der Mystik des Schauens, zu Plato, sich wandte. Immer aber geht die Gestalt des Führers als ein lebendiges Menschliches, Per-
sönliches zu seiner Seite, nicht als Schemen und Golem der Literatur. Dasselbe wahre, ursprüngliche Verhalten zur Kunst. Er strebt nicht nach Kennerschaft. Ein Werk schlägt in ihn ein und wird, während alles andere zum Schweigen kommt, nach seinem eigenen Wort: ein Kanon für Weile und Zeit. So sah ich es ihm ergehen, als er Hildebrands Böcklinbüste zum ersten Male erblickte; und wer ihn kennt, weiß, welche Bedeutung in diesem Sinne Peter Vischers Sebaldusgrab für ihn hat: mich hat er im Winterfrühjahr 1896 in die Nürnberger Kirche geführt, mit wenigen Worten begeisternd und belehrend; es wurde das Jahr der „Versunkenen Glocke", und das Bildnis Vischers hängt in des Glockengießers Haus — wie es im Erzguß, der handfeste Meister mit Schurzfell und Hammer, in Hauptmanns Arbeitszimmer steht. Noch im „Armen Heinrich" sind wohl zwei Verse, zwar mit verändertem Sinn, aus der Anschauung des über Lebenswerk und Tod mit seiner höchsten Kuppel ein Knäblein emporhebenden Tabernakels geflossen: „Ein Kindl — Welt, Helden: alles dorrt zusammen, und auf der Schädelwüste steht ein Kind. —"
In alledem drückt sein natürlicher Trieb sich aus, der durch den bewußten Willen unterstützt wird: sein Weltbild rein als Künstler aufzubauen. Er will die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen nicht durch Begriffe verarmt, nicht durch Wünsche verbogen wissen. Daß sie nicht zur Anarchie ausarte sondern zur Ordnung gezwungen werde, das wirkt sein Genie, die wenigen einfachen Urbeziehungen des Menschenlebens — sind es viele mehr als Geburt und Liebe und Tod? — zu fühlen und das Gefühlte in der süßen Kraft des Wortes zu entfalten. So lebt in ihm die Welt, als eine ewig fließend bewegte Melodie über einer strengen und einfachen Harmonie. Klar ist sie, durchschaut — und doch im Zauber. Und er steht in seiner Gesundheit des
Leibes und der Seele vor dem Leben, braucht nicht anzugreifen, braucht nicht sich zu verteidigen, wird nicht betrogen und hat es nicht nötig, sich zu rächen. Weil er gerade auf alles sieht, so erkennt er es: die Sprache der Menschen wie die der Tiere. Und diese Kenntnis, die oft sein Mitleid ist, ist oft sein Humor. —
Einmal mit seinen Söhnen im Freien, sah er, wie sie sich vergeblich bemühten, mit dem Kescher Schmetterlinge zu fangen. Er trieb sie mit freundlichem Spott an und vermaß sich, mit den zwei ausgestreckten Mittel- und Zeigefingern einen solchen Sommervogel zu greifen; und da sich eben einer auf einem Steine niederließ, nahmen sie ihn beim Wort. Er ging leise hinzu und erfaßte wirklich, zum Staunen der Knaben, den Schmetterling. Das war Zufall und Glück. Aber wer einiges von der Runenschrift des Glückes ahnt, weiß, daß es nicht bloß Glück, nicht bloß Zufall war." —
Die inzwischen verflossene Zeit hat dieser Betrachtung keine wesentlichen Korrekturen aufgezwungen; nur daß der Betrachter einige Linien stärker und beherrschender ziehen lernte, und der Betrachtete auf den breiteren Lebensstufen sich ins Breitere erging und sein eigenes Gesetz in größerer Freiheit erfüllte. Die bewußte Sprödigkeit gegen das Lesen und die Bücher in Hauptmann machte einer Willigkeit zur Lektüre und schließlich einem Bedürfnis nach ihr Platz. Aber er blieb ein Leser auf seine Art und für seine Art. Worum es ihm dabei immer am meisten, ja fast allein zu tun war, das waren Erscheinungen und Komplexe des Lebens nach ihrem vollen, gegenwärtlichen Gewicht, niemals nach ihrer Einordnung in ein historisches, kulturelles Schema, von welchem er nur die Vergewaltigung, die Aushöhlung des lebendigen Vorgangs und des lebendigen Menschen verspürte. Ob er einen Geographen studiert
oder einen Philosophen, sein Zugang zu einem fremden animalischen Klima wie zu einem fremden geistigen ist immer das Bewußtsein seiner und aller unbewundener Menschen Identität mit allen andern unbewundenen Menschen. Er, der Schlesier von 1862, getraut sich, ein Grieche auf griechischen Wegen und ein Inder im Gespräche mit Buddha zu sein. Wo irgend in einer Art der Professor anfängt, dort hört Hauptmann auf; wo jener erst Material erblickt, sieht er Wesen. Darum sind ihm Bücher über ein Buch zuwider, aber auch alle die Bücher, die es mit Längsschnitten, Querschnitten durch eine oder mehrere Kulturen unternehmen wollen, selbst Kultur zu schaffen. Ich hatte ihm von Spenglers berühmtem erstem Bande erzählt, und als er sich damit bekannt gemacht hatte, kam er an den Abendtisch in einer Stimmung, die sich in einer Weise ausließ, daß ich mit den Worten protestierte: er irrte sich, ich hätte das Buch nicht geschrieben; worauf er seinen Einwand auseinander setzte: Spengler nähere sich den Gegenständen oder entferne sich von ihnen mit Willkür; er behalte nicht die notwendige immer gleiche Distanz. Ohne Zweifel ein interessanter und bedeutender Tadel; aber unterliegt ihm nicht jede geistige Betrachtung außer der künstlerischen, und nicht oft auch die künstlerische, nicht jedes Erzählen, ja das Sprechen selbst? Ich glaube, daß Hauptmanns wahrer Grund zu seiner Abwehr sehr weit hinter seinen Gründen lag, nämlich in dem Instinkt gegen den Scheckverkehr der Ideen. Positiver drückte sich dieses Verlangen nach unmittelbarem, nach Naturalverkehr in seiner gelegentlichen Bemerkung über Nietzsches „Geburt der Tragödie" aus: was sei das doch für ein sonderbares Buch, in welchem so unendlich viel vorn Dionysischen und von Dionysos die Rede sei und das Wort „Wein" nicht vorkomme. Ein anderes Mal wendete er sich mit Entschiedenheit gegen
den bekannten Satz Nietzsches, daß Goethe ein versetzter Maler und Wagner ein versetzter Schauspieler sei; — und mit diesem Beispiel sind wir im Zentrum seiner Denkweise.
Nietzsche will mit seinem Wort ein jähes, schnell vorübereilendes, aber nachwirkendes Licht auf Goethe, Wagner und ein paar andere Heroen werfen; Hauptmann glaubt, daß damit die Einmaligkeit der Gestalt verletzt werde. Es ist der Künstler in ihm, der nicht nur sich selbst dagegen wehrt, sondern der auch überzeugt ist, daß durch ein solches Verfahren die trotz aller Vielfältigkeit eindeutige Wahrheit in ein interessantes, aber natur- und schicksalwidriges Schwanken gerate.
In wie hohem Grade er Künstler ist, wird meistens doch übersehen. Er ist kein Schlesier, wie Fritz Reuter ein Mecklenburger oder Jeremias Gotthelf ein Schweizer ist; er ist auch kein Realist, wie diese beiden es sind. Sondern er spielt auf dem Schlesiertum und auf der Realität, wie ein Meister auf dem Klavier spielt. Und keineswegs ist das eine bloß naive Künstlerschaft, sondern eine ihrer selbst, ihrer Aufgabe und Auszeichnung, ihrer prinzipiellen Bedeutung klar bewußte. Wir hatten einmal ein Gespräch über Lionardos Abendmahl, und es wurde der Versuch unternommen, die Komposition des Bildes aus dem Grundeinfall, dass Christus vor ein helles Fenster zu setzen und vor allen Tischgenossen durch die lichte Umfassung auszuzeichnen sei, so logisch zu entwickeln, wie etwa Poe die Entstehung seines „Raben" aufbaut. Hauptmann bemerkte dabei mit großer Lebhaftigkeit, die Leute wüßten nicht, wieviel ähnlich ununterbrochener Überlegung, in der Art eines ewigen Kettenbruches, der Dramatiker brauchte. In einer Zeit, wo seine Produktion zwar nicht stockte, aber unsicher in ihren Zielen war, er manches aufgriff und wieder verwarf, sich satyrisch zu entladen begann und eine
aristophanische Komödie bitterlich und unlustig ein paar Bogen Papier verdarb, erinnerte ich ihn an den Plan eines Dramas, den er mir einmal erzählt ha'te: es sollte auf einem Bahnhof spielen und den ganzen Komplex dieser romantischen Realität inähnlicher Weise umschreiben, wie der „Henschel" das Haus Siebenhaars und später die „Ratten" die Stadt Berlin. Hauptmann lehnte sofort ab, mit den Worten: „nein, das mache ich nicht; das kann ich". So ist denn auch fast jedes seiner Dramen eine eigene und besondere Art von Dramen, eine eigene und besondere Form-
Den künstlerischen, ja artistischen Einschlag, und mehr als Einschlag, in einem Dichter der Realität, sogar der vermeintlich durch das Auge des Mitleids angeschauten Realität wird man vielleicht nirgends mit so großer Überraschung gewahr als an Stellen, wo man die Erfindung schon im rein Stofflichen zu erblicken glaubt und später entdeckt, daß sie erst in der Umbildung, Umschmelzung, daß sie erst in der Form triumphiert. Keine Gestalt Hauptmanns macht so sehr den Eindruck, als habe sie sich selbst nur einfach hingeschrieben, wie Hannele, als hätten in der Jugend des Dichters die Weiber aus der Nachbargasse das Geschehnis herumgetragen. Wem würde es einfallen, zu diesem Hannele, das seinen Namen aus einem schlesischen Volkslied hat, einen literarischen Ursprung zu suchen? Und doch stammt Hannele, ich weiß allerdings nicht, ob mit Bewußtsein des Dichters, und will ihn nicht danach fragen, von Mignon ab. Die Dunkelheit der Geburt bei beiden Kindern, die Verklärung beider, die Mißhandlung durch einen rohen Pfleger/ die das Kindliche verzehrende, allzu frühe Liebe zu dem Wohltäter, aber sogar der ausdrucksvolle Lakonismus, bei Mignon eine gewohnte, bei Hannele eine in den feierlichen Augenblicken anklingende Redeweise, das sind
nicht zu übersehende Ähnlichkeiten, und es würde sich lohnen, sie bis ins Einzelne zu untersuchen. Es würde sich auch deshalb lohnen, weil die Verschiedenheit beider Gestalten erst dann ins rechte Interesse gerückt würde; und obenein würden wir einen klareren Begriff von der Originalität eines Dichters bekommen als den landläufigen, der es sich zu einfach macht. Es ist bekanntlich festgestellt worden, daß Manets „Frühstück im Grünen" eine italienische Komposition wiederholt. Rembrandts Dresdener Bild „Die Hochzeit Simsons" hat seinen Urkeim in Lionar-dos „Abendmah ", und ein Selbstporträt von ihm geht auf Rafaels „Castiglione" zurück. Ein Künstler, der solches wagt, weiß, was er will, und vergißt darüber nicht, was er ist. Der Strom der Überlieferung aber fließt oftmals unterirdisch, und man soll weder triumphieren noch verzagen, wenn er für eine Weile den Augen entrückt ist.
Im „Indipohdi" hat Hauptmann, indem er den Namen Prospero beibehielt, es offen ausgesprochen, woher ihm der erste Impuls zu seinem Werk gekommen sei. Für viele Dichter und Künstler gibt es eine Epoche ihres Lebens, daß sie die Subtilität aufgeben und in ungeheuer direkten, unbekümmert verkürzten Worten sprechen. Bei Hauptmann deutet sich diese Epoche schon lange an und ist vielleicht im „Indipohdi" entschieden. Möge dann aus seinem Altersgesicht so oft ein jugendliches zurückleuchten, wie aus dem jungen das alte vorahnend heraussah. Denn es gibt keine Zeit.
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