© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
Rolf van Dick und Louisa FinkFührungsstile: Prominenten und Persönlichkeiten über die Schulter geschaut https://doi.org/10.1007/978-3-662-53321-5_4

4. Sport

Rolf van Dick1   und Louisa Fink2  
(1)
Institut für Psychologie, Goethe Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland
(2)
GUP GmbH, Wertach, Deutschland
 
 
Rolf van Dick (Korrespondenzautor)
 
Louisa Fink
4.1 Birgit Prinz – ehemalige Profifußballspielerin
4.2 Michael Groß – ehemaliger Olympiasieger und Schwimmweltmeister, Unternehmensberater
4.3 Sylvia Schenk – ehemalige Leichtathletin und Olympiateilnehmerin, Anwältin
4.4 Holger Geschwindner – ehemaliger Basketballnationalspieler und Berater von Dirk Nowitzki
Literaturempfehlungen

4.1 Birgit Prinz – ehemalige Profifußballspielerin

Als Führungskraft muss man es ertragen, nicht von allen geliebt zu werden.

In diesem Gespräch geht es um Führung, wie sie von Birgit Prinz, ehemalige Spielführerin der deutschen Frauenfußballnationalmannschaft sowohl auf dem Spielfeld, als auch außerhalb der weißen Spielfeldmarkierung erlebt wurde. Birgit Prinz zeigt am Beispiel ihres werteorientierten Führungsstils im Frauenfußball auf, dass man als Führungskraft die eigenen Werte authentisch vorleben sollte. Diese Herausforderung in der Führung, erzählt sie, mag unsichtbar für die Zuschauer am Spielfeldrand sein, für die Mannschaft ist es aber die Quelle erfolgreicher Führung. Manchmal, erzählt sie, kann man als Führungskraft nicht alle Interessen gleich vertreten und muss deshalb in der Führung auch ertragen, wenn man nicht von allen geliebt wird.

4.1.1 Biographie in Kürze

Birgit Prinz wurde am 25.10.1977 in Frankfurt am Main geboren. Von 1992 bis 1998 spielte sie beim FSV Frankfurt, anschließend beim 1. FFC Frankfurt im Angriff. Ihr erstes Länderspiel bestritt sie 1994 mit 16 Jahren gegen Kanada. 1995 stand sie als bisher jüngste Spielerin in einem Fußball-WM-Finale. Seit November 2003 war sie Spielführerin der Nationalmannschaft. Sie nahm insgesamt an 214 Länderspielen teil und ist, mit 128 Länderspieltoren, die erfolgreichste Torschützin des DFB. Birgit Prinz ist Weltfußballerin der Jahre 2003, 2004 und 2005 und Torschützenkönigin der Fußball-WM 2003. Außerdem wurde sie acht Mal, zuletzt 2008, zur Fußballerin des Jahres ernannt. Am 12.08.2011 erklärte Prinz das Ende ihrer Karriere im Profifußball.

4.1.2 Interview

„Heute bin ich gespannt, was Sie mir über das Thema Führung ganz allgemein und natürlich auch in Bezug auf Ihre konkreten Erfahrungen im Fußball erzählen“, beginne ich das Gespräch mit Birgit Prinz und stelle meine erste Frage: „Wie wichtig ist Führung im Fußball?“ Birgit Prinz antwortet mir mit einem selbstverständlichen Nicken: „Sicherlich braucht man Führung. Jede Gruppe muss koordiniert werden und dafür benötigt es Führung.“ Ich gehe auf ihre Antwort genauer ein: „Ist nicht gerade der Sport ein gutes Beispiel dafür, dass Hochleistungen, beispielsweise Ihrer Mannschaftskolleginnen, erbracht werden können, ohne dass jemand hinter Ihnen steht und Ihnen genau sagt, was Sie tun sollen?“ Daraufhin erzählt mir Birgit Prinz, dass sich die Führung im Fußball vor allem hinter der weiß markierten Linie abspielt. „Nicht nur Strategie, sondern auch Motivation, muss irgendwie koordiniert werden. Alle müssen in derselben Richtung motiviert sein und dafür benötigt es einfach eine gute Führung.“ Die Wissenschaft weist die Motivation als wesentlichen Dreh- und Angelpunkt der sportlichen Höchstleistung aus (Schneider, Bös und Rieder, 1993). Allerdings ist auch bekannt, dass neben der (externen) Motivierung ein gewisses Maß an Selbstregulation erforderlich ist (Kuhl, 1983). So bestätigt auch Birgit Prinz: „Die Motivation ist nicht nur die Aufgabe des Trainers, sondern auch die der Spieler.“

In meiner nächsten Frage, spreche ich ihr Idealbild von Führung im Leistungssport an: „Was ist für Sie effektive Führung? Was zeichnet Ihrer Meinung nach einen besonders guten Trainer aus?“ Sie erklärt: „Das ist schwer in einem Satz zu sagen. Es ist eine Mischung aus relativ vielen Dingen.“ Allerdings sei es vor allem wichtig, meint sie, als Führungskraft offen und ehrlich mit seinen Mitspielern zu kommunizieren. „Als Führungskraft sollte man eine Richtung vorgeben und diese klar begründen, damit die Leute auch verstehen, warum sie in diese Richtung mitgehen sollen.“ Birgit Prinz erklärt an folgendem Beispiel, dass die Qualität der Kommunikation einen entscheidenden Faktor für die Zufriedenheit der Spieler ist: „Wenn man als Spieler auf der Ersatzbank sitzt, ist man nicht automatisch enttäuscht oder unzufrieden. Den wesentlichen Unterschied im subjektiven Empfinden macht der Trainer aus, wie er die Situation begründet. Wenn der Trainer beispielsweise nichts sagt, dann kann man als Spieler schon einmal verärgert werden. Nimmt sich der Trainer allerdings Zeit, dem Spieler die Situation zu erklären, ist das etwas anderes. Die meisten Spielerinnen wünschen sich Ehrlichkeit und gedankliche Anregungen: Was können sie anders machen, was können sie ändern?“

Das regelmäßige Gespräch mit den Spielern sei vor allem im Leistungssport wichtig, fährt Prinz fort, weil es ein gegenseitiges Verständnis unter den Spielern fördere. Für sie spiele sich effektive Führung deshalb in der Wechselwirkung zwischen Fairness und Aussprachen im Umgang mit den Spielern ab. „Fairness ist aber nur dann möglich“, fährt sie fort, „wenn Leute nicht nur fair und gleich behandelt werden, sondern auch verständlich beurteilt werden.“ Birgit Prinz verweist auf die Wichtigkeit einer werteorientierten Führung im Sport, in dem sie Grundlagen für faires und respektvolles Verhalten in der Mannschaft auch in der Abwesenheit des Trainers vorgibt (Frey, Faulmüller, Winkler und Wendt, 2002). Werte stehen ihrer Meinung nach deshalb über den technischen Aspekten in der Führung.

Daraufhin frage ich sie: „Gibt es Führungspersönlichkeiten im Sport, die Sie begeistert haben?“ Sie erzählt von einer amerikanischen Trainerin, die sie und die Mannschaft damals mit ihrer positiven Ausstrahlung fasziniert habe. „In meinen Augen war es gar nicht ihre fachliche Kompetenz, sondern schlicht und einfach, wie sie die Mannschaft für sich begeistern konnte. Sie konnte irgendwie ein Feuer entfachen und die Leute mitnehmen.“ Diese Art der Führung kannte sie so aus Deutschland nicht. „In Deutschland ist das sehr viel strenger und faktenorientierter.“ Zu erleben, wie Führung in einer anderen Kultur erfolgreich am Prinzip der Begeisterung praktiziert wird, habe sie sehr beeindruckt und motiviert, diesen Ansatz in ihrer eigenen Führungsrolle umzusetzen.

„In der Nationalmannschaft probiere ich deshalb die Leute wirklich einzubinden“, erzählt Birgit Prinz. Allerdings, fügt sie hinzu, liefe die Führung während dem Spiel anders ab, wie es die Zuschauer vielleicht meinten. „Im Endeffekt bin ich auf dem Spielfeld auch nur eine unter vielen. Die Armbinde, die die Zuschauer sehen, macht überhaupt keinen Unterschied. Die Spielführerin kann zwar ihre Leute auf dem Spielfeld nochmal motivieren und mitnehmen, aber sie ist in meinen Augen gar nicht so entscheidend für den Erfolg im Spiel“, erklärt sie und fährt fort: „Außerhalb des Spielfelds, wo es eine Reaktionsmöglichkeit gibt, da kann ich viel mehr beeinflussen, wie beibeispielsweise durch die Spieler-Trainer-Kommunikation.“ Ihre Rolle käme vor allem dann zum Tragen, wenn es hieße, in schwierigen Situationen gemeinsam nach Lösungen zu suchen. „Ich sehe meine Aufgabe als Spielführerin mehr in der Vermittlung zwischen Mannschaftsangelegenheiten intern und gegenüber Dritten außerhalb der Mannschaft. Zudem vertrete ich meine Leute und ihre Interessen auch vor dem Trainer.“ Hier betont Birgit Prinz, dass die Anpassungsfähigkeit der Führungskraft an verschiedene Situationen und Bedürfnisse ihrer Spieler ein wesentlicher Bestandteil guter Führung im Fußball ist.

Birgit Prinz weist darauf hin, dass sie in Problemsituationen aber auch die Unterstützung des Trainers in der eigenen Führung sucht. „Wenn es nicht gut läuft und wir zum Beispiel zu wenig Leistung im letzten Spiel gebracht haben, wünsche ich mir die Unterstützung vom Trainer, der mit mir und der Mannschaft gemeinsam schaut, woran es liegen könnte.“ Sie betont dabei eindringlich: „Man soll ja im Fußball nicht nur draufhauen, sondern strategisch mit Problemen umgehen.“ Diese Unterstützung führt Birgit Prinz auf einen ehrlichen und vertrauensvollen Umgang im Gespräch zurück. „Unterstützung heißt für mich konkret, dass man die Chance hat, mit dem Trainer über Schwächen zu sprechen, ohne dass er dabei die gesamte Leistung des Spielers in Frage stellt. Es geht darum, nach einem schlechten Spiel mit dem Trainer zu besprechen, was man nächstes Mal besser machen kann.“

Auf meine Frage, warum ihrer Meinung nach Führung im Sport oft schief ginge, erklärt Birgit Prinz: „Ich glaube, es ist nicht so einfach als Führungskraft dazustehen und seine eigenen Werte zu vertreten und dennoch offen für die der anderen zu sein.“ Sie fährt fort: „Als Führungskraft muss man es ertragen, nicht von allen geliebt zu werden und es trotzdem irgendwie schaffen, ein gutes Verhältnis zu den Kollegen und Mitspielern zu erhalten. Es ist nicht so einfach, wie es von außen vielleicht scheint. Man muss sehr viele Interessen koordinieren und da geht Führung manchmal schief.“ Daraufhin frage ich weiter: „Glauben Sie, dass ein einzelner Fußballtrainer 70–80 Prozent des Erfolgs oder der Niederlage ausmacht?“ „Nein, definitiv nicht“, antwortet sie und fügt hinzu, „darum geht es auch gar nicht. Im Fußball geht es nicht darum, dass ein Einzelner 70 oder 80 Prozent ausmacht.“

„Kann man gute Führung lernen oder wird man Ihrer Meinung nach zu einer guten Führungskraft geboren?“, frage ich im Anschluss. „Man kann auf jeden Fall viele Teile, die zu einer guten Führung dazugehören, erlernen“, erzählt Birgit Prinz und fügt hinzu: „Dazu braucht man aber die Unterstützung vom Trainer.“ Als Spielführerin ist für Birgit Prinz die Beziehung mit dem Trainer von entscheidender Bedeutung für die eigene Reflexion und Entwicklung ihrer Führungskompetenz. Zusammen, meint sie, könne man die Eindrücke von Erfolg und Misserfolg viel besser verarbeiten und erforderliche Veränderungen in die Tat umsetzen.

Darüber hinaus erklärt sie, dass Erfolg in der Führung ausschließlich damit zusammenhinge, ob die Führungsperson bereit sei, Verantwortung zu übernehmen. In der Praxis ist der Zusammenhang zwischen Führung und Verantwortung von Organisations- und Sozialwissenschaftlern wie beispielsweise Schmidt (2013) untersucht worden. Die Verantwortung einer Führungskraft umfasst demzufolge: Inspiration, Einbindung, Förderung und Koordination der Mitarbeiter. Birgit Prinz bezieht sich im Gespräch auf den Aspekt der Koordination, in dem sie erklärt, dass Werte eine wichtige Rolle für die Führungskraft spielen, um klare Richtlinien setzen zu können. Zum Schluss greift sie ein weiteres Mal ihren werteorientierten Führungsstil auf. Für sie seien „Werte“, wie beispielweise Fairness, eine Leitlinie für die Führungskraft, wie sie Verantwortung umsetzen könne. An Werten orientierte Führung, fährt sie fort, ermögliche einen größeren Freiraum sowohl für die Entwicklung der Spieler, als auch für die Führungskraft. „Regeln sorgen dafür, dass Leute nach links oder rechts schauen, aber bei Werten ist es Spielern möglich, die eigene Person zu entwickeln und ein besseres Verständnis für die Beziehung zwischen ihnen und der Führungskraft aufzubauen.“

4.2 Michael Groß – ehemaliger Olympiasieger und Schwimmweltmeister, Unternehmensberater

Man kann niemanden zum Jagen tragen.

In diesem Gespräch geht es darum, wie Führungskräfte im Unternehmen von den Erkenntnissen aus dem Coaching im Leistungssport profitieren können. Michael Groß zeigt auf, wie Führungskräfte durch die Entwicklung einer Vertrauenskultur, das Schaffen von konkreten Perspektiven und der Orientierung an ihren Stärken die Potenziale der Mitarbeiter mit den Zielen im Unternehmen zusammenführen können.

4.2.1 Biografie in Kürze

Michael Groß wurde am 17.06.1964 in Frankfurt am Main geboren und zählt zu Deutschlands erfolgreichsten Sportlern. Er gewann unzählige deutsche, europäische und Weltmeistertitel im Schmetterling- und Freistilschwimmen und war bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles und 1988 in Seoul ebenfalls mehrfacher Sieger. Er stellte 12 Weltrekorde auf und hält trotz Ende seiner Karriere als Schwimmsportler 1991 nach wie vor den deutschen Rekord über 200 Meter Schmetterling. 1983 und 1985 wurde Michael Groß jeweils zum Weltschwimmer des Jahres gewählt und er war viermal deutscher Sportler des Jahres. Innerhalb der deutschen Nationalmannschaft hatte er eine Führungsrolle inne. Neben dem Sport zeigt Michael Groß auch soziales Engagement. So ist er Mitglied des Vorstands der Deutschen Sporthilfe als auch Botschafter für die Initiative „Respekt! Kein Platz für Rassismus.“ Michael Groß studierte Philologie an der Goethe Universität in Frankfurt und promovierte 1994 zur Ästhetik und Öffentlichkeit der Weimarer Klassik. Seit vielen Jahren ist er als Unternehmensberater tätig und leitet eine eigene Beratungsfirma mit den Schwerpunkten Change und Talent Management. Er ist Autor mehrerer Bücher zum Thema Coaching, darunter, „Siegen kann jeder. Jeden Tag die richtigen Fragen stellen“ (2011), „Selbstcoaching. Eigenmotivation, Karriereplanung, Veränderung als Chance nutzen und den eigenen Erfolgsweg gehen“ (2013) und, sein Letztes, „Handbuch Change-Management“ (2014). In diesen Büchern gibt er Lesern bedeutende in Erfolgsprinzipien, die von seinen Erfahrungen als Leistungssportler und Unternehmensberater geprägt sind.

4.2.2 Interview

Auf meine erste Frage: „Brauchen Sie jemanden der Ihnen sagt, was Sie zu tun haben?“, antwortet Michael Groß mit Bestimmtheit: „Führung ist ja eben gerade nicht darauf zu reduzieren, dass man einem sagt, was er zu tun hat.“ Für ihn käme es bei guter Führung darauf an, dass man es schaffen würde, andere durch „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu unterstützen. Er bezieht sich dabei auf den englischen Begriff „Coaching“ um zu verdeutlichen, in welcher Art ihm diese Führung wichtige Hinweise für die Selbstentwicklung im Leistungssport vermittelt hat. Sprachlich ist Coaching vor allem durch seine Anwendung im Sport bekannt (Eberspächer, 1983). In der Unternehmensberatung wird es inzwischen als effektives Modell zur Unterstützung von Führungskräften und Mitarbeitern in vielfältiger Weise verwendet (Rauen, 2003). So bestätigt auch Michael Groß, dass sowohl im Unternehmen als auch im Sport eine am Coaching orientierte Führung sehr bedeutsam für die Potenzialentfaltung der Mitarbeiter sei. Scherzend fügt Michael Groß hinzu: „Es gibt ja ganze Bibliotheken wie das funktionieren kann.“ Elementar sei seiner Erfahrung nach jedoch das gemeinsame Gespräch zwischen der Führungskraft und dem Mitarbeiter, was er auch schon im Sport als sehr wertvoll erlebt habe. Das Stellen von offenen Fragen während des Gesprächs ermögliche der Führungskraft die Stärken des Mitarbeiters anzusprechen und mit ihm gemeinsam die Art der Unterstützung zu besprechen, die er benötigt, um sein Potenzial auch angesichts von Hindernissen ausschöpfen zu können. Herausragende Führungskräfte schafften es, die Talente der Mitarbeiter mit den Zielen des Unternehmens zusammen zu führen, in dem sie Rahmenbedingungen definieren würden, sodass Mitarbeiter ihre Talente erfolgreich einbringen könnten. „Und das“, erläutert Michael Groß, „ist der große Unterscheid zwischen einem Vorgesetzten, der einem Mitarbeiter sagt, was er zu tun hat, und Führungskräften, die eben den Mitarbeiter erfolgreich machen.“

Obwohl er die Gespräche und das Training mit seinem Coach zu den wesentlichen Einflüssen seines Erfolgs im Leistungssport zählt, weist er auch auf Grenzen hin. „Man kann niemanden zum Jagen tragen.“ Aus seinen Erfahrungen berichtet Michael Groß, dass jeder Sportler, wenn es darauf ankäme, letztendlich seine Leistung allein abrufen müsse. „Der Coach hat keinen unmittelbaren Steuerungseinfluss mehr, weil einfach in der spezifischen Leistungssituation – sprich im Wettkampf – keine unmittelbare Beziehung mehr besteht.“ An dieser Stelle weist Michael Groß auf die Begriffe „Faszination“ und“ Emotion“ als Dreh- und Angelpunkt hin, um die Leistung im Wettkampf abrufen zu können. „Wenn sie [die Sportler] nicht brennen“, erklärt er, „dann werden sie rechts und links von anderen überholt.“ Dieses Phänomen der Passion und intrinsischer Motivation ist nicht nur im Sport, sondern auch im Unternehmen ein Kernbestandteil und Voraussetzung für erfolgreiches Coaching (Sprenger, 1999). Um Spitzenleistungen auch am Arbeitsplatz zu erzielen, strebt der Coach danach, einen beruflichen Kontext zu schaffen, in denen Mitarbeiter sowohl übergeordnete Motive als auch Grundbedürfnisse verwirklichen können (Fischer-Epe, 2017). Bezogen auf die Rolle des Coaches, fährt Michael Groß fort, „ist es wirklich wichtig, dass er über ‚Wir nehmen uns gemeinsam ein Ziel X vor‛ und ‚Welche Dinge sind notwendig, um dieses Ziel zu erreichen?‛ spricht.“ Dadurch werde ein Gestaltungsspielraum möglich, um die individuelle Faszination und Begeisterung an der Aufgabe einbringen zu können.

Das Thema Motivation spielt auch bei Michael Groß in seiner Antwort auf meine nächste Frage, warum er das Angebot des Sportmanagers Ion Tiriac damals verweigerte, eine wichtige Rolle. „Nur alles auf eine Karte zu setzen und Sport zu treiben“, erklärt er, „wäre schlicht und ergreifend langweilig geworden, perspektivlos.“ „Und Perspektivlosigkeit“, fährt er fort, „ist das Schlimmste … [denn] keiner will, wenn er mal ganz vorne ist, Letzter werden.“ Die Sozialpsychologie bestätigt diese Schlussfolgerung mit der Begründung, dass das Schaffen von Perspektiven im Leben dazu beiträgt, sich weiterentwickeln zu können, was ein wesentliches Grundbedürfnis des Menschen ist (Ryan und Deci, 1991). So erklärt Michael Groß: „Diese Möglichkeit, sich finanziell abzusichern, war ganz nett, aber die Perspektivlosigkeit, die damit verbunden gewesen wäre … nichts anderes mehr an Ideen für sich persönlich entwickelt haben zu können, wäre dann etwas armselig gewesen. Also reich an Geld, arm an Ideen.“ Er greift wieder das Thema von Führung auf und erläutert, dass es die Kunst einer guten Führung ist, neue Perspektiven im Unternehmen zu eröffnen. Besonders in Hochleistungsorganisationen, getrieben von Fortschritt, kommt es dadurch meist zu einer Art „Schneeballeffekt“, wobei die Ansprüche im Unternehmen immer höher gesetzt werden. Der Wandel als permanenter Prozess und die Selbstorganisation beschreiben zwei wesentliche Aspekte der „Lernenden Organisation“, wie sie in Theorie und Praxis der Organisationsentwicklung zu finden ist (Dr. Wieselhuber und Partner, 1997).

In meiner nächsten Frage gehe ich nochmal darauf ein, was Michael Groß über gute Führung erzählt hat und will wissen: „Wie versuchen Sie das umzusetzen, was Sie vorhin über gute Führung gesagt haben?“ Daraufhin antwortet er: „Ein ganz wichtiges Ziel von Führung ist, gemeinsam mit Mitarbeitern Ziele zu entwickeln, Ziele zu definieren und Ziele zu verfolgen.“ Enthusiastisch fährt er fort: „Wenn man ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hat, was elementar ist, ist übrigens die Eigeneinschätzung und die Fremdeinschätzung [solcher Ziele] häufig identisch.“ Insofern spricht Michael Groß die besondere Bedeutung von Vertrauen im Unternehmen an, was die Organisationspsychologie auch im Bereich von Führung untersucht hat. Harteis, Bauer und Heid (2006) weisen zum Beispiel darauf hin, dass ein gesundes Vertrauensverhältnis zwischen Mitarbeiter und Führungskraft für beide Parteien zum Vorteil ist. Wie auch Michael Groß betont, ist es wichtig, dass der Mitarbeiter der Führungskraft vertraut und beispielsweise weiß, dass Schwächen ihm nicht zu seinem Nachteil ausgelegt werden. Durch die Entstehung einer sogenannten positiven „Fehlerkultur“ (Osten, 2006), können Rückmeldungen über die Leistung und das Verhalten für den Einzelnen lernförderlich sein. Dirks und Ferrin (2001) stellen unter anderem fest, dass Mitarbeitervertrauen die Wahrscheinlichkeit erhöht, Informationen im Unternehmen weiterzugeben und eine Kooperation mit der Führungskraft anzustreben. Vertrauen ist somit auch eine Grundvoraussetzung für die Vereinbarung und Überprüfung von gemeinsamen Zielen (Sprenger, 2002).

„Was Zielsetzungen und Strategien angeht“, fährt Michael Groß fort, „erwarten Mitarbeiter aber auch von Führungskräften, dass sie wesentliche Entscheidungen treffen. Für bestimmte Dinge gibt es dann nun mal Vorstände und Geschäftsführer … die die Marschrichtung, zumindest aber die wesentlichen Rahmenbedingungen, definieren.“ Michael Groß erklärt weiterhin, dass „Mitarbeiter dann wissen, in welchem Rahmen sie sich bewegen und welche Rolle sie entwickeln können.“ Er nennt ein Beispiel aus dem strukturellen Umbau seines eigenen Unternehmens, in dem er entschieden hat, einen Geschäftsbereich abzustoßen, um sich fokussieren zu können. Solche Entscheidungen zu treffen und diese im Unternehmen zu kommunizieren, schließt Michael Groß daraus, würden Mitarbeiter von ihren Führungskräften erwarten. „Beispielsweise hatten wir einen Beratungsfall bei einem Kunden, wo die Entscheidung der Geschäftsführung völlig missverstanden wurde“, erklärt er und fährt fort: „Dass ihr das [die Entscheidung] im Kopf seit Monaten vorbereitet und verinnerlicht habt, das ist das eine. Nur die Mitarbeiter hören das zum ersten Mal.“ Die Lösung, so Michael Groß, läge darin, dass Führungskräfte die Mitarbeiter an die Hand nehmen, Transparenz schaffen und eine Brücke bauen würden. Führungskräfte müssten sicherstellen, dass ihre Entscheidungen von den Betroffenen auch verstanden würden. Bildlich erklärt er, dass durch solche Transparenz Vertrauen im Unternehmen aufgebaut würde – der grundlegende „Klebstoff“, der Mitarbeiter und Führungskraft zusammenschweiße.

Auf meine nächste Frage: „Warum geht Führung so oft schief?“, spricht Michael Groß eine weitere Herausforderung für Führungskräfte an, die sich auf das klassische Stufenmodell bezieht. Darin kommt zum Ausdruck, dass Führungskräfte in ihrer Funktion aufsteigen, in dem sie sogenannte Etappen der fachlichen Kompetenz erklimmen. Michael Groß bezieht sich auf ein Beispiel, in dem ein Mitarbeiter auf Grund seiner fachlichen Expertise zum Vertriebsleiter mit einer Verantwortung für 200 Personen ernannt wurde. „Das Problem ist, Verkaufen und Führen sind zwei unterschiedliche Dinge“, erklärt Michael Groß, das heißt: „Wenn jemand ein guter Verkäufer ist, muss er noch lange nicht führen können.“ Das bedeutet für ihn, dass es eine Kunst in der Führung ist, die fachliche Brillanz für andere im Unternehmen nutzbar zu machen. In seiner Funktion als Unternehmensberater, nimmt er diesbezüglich oft die Rolle des Coaches ein, um die Führungskräfte bei der Bewältigung dieser Herausforderung zu unterstützen.

Im Gespräch über seine Erfahrungen als Führungskraft interessiert mich auch, wer Michael Groß persönlich inspiriert habe. „Also, im Prinzip viele“, antwortet er. Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker beispielsweise sei ihm damals ein Vorbild gewesen. Nicht zuletzt, weil er jeden Tag seine ein- bis zweitausend Meter mit Begeisterung geschwommen sei. „Was mich aber auch beeindruckt hat, war diese breite Aufstellung“, erklärt Michael Groß. „Er hat mir gezeigt, dass ein Allgemeinwissen und ein breites Fundament befruchtend sein können.“ Ihn würden generell Führungskräfte aus der Politik und der Wirtschaft begeistern, die eine Kernkompetenz des Vermittelns auswiesen, weil dadurch Ziele und Erkenntnisse in nutzbare Energien umgesetzt werden könnten. Das seien für ihn die sogenannten „Möglichmacher“ in Gesellschaft und Wirtschaft.

4.3 Sylvia Schenk – ehemalige Leichtathletin und Olympiateilnehmerin, Anwältin

Ich war permanent in Situationen, in denen ich als erste Frau irgendwas gemacht habe.

In diesem Gespräch geht es darum, aufzuzeigen, dass sich Führung dem jeweiligen Kontext anpassen muss und die Führungskraft ein gelungenes Gleichgewicht zwischen Freiraum und Regeln schaffen sollte. Dabei stellt der Dialog für Silvia Schenk das Bindeglied zwischen den Menschen, die sie führt, dar. Außerdem berichtet sie aus eigener Erfahrung, wie wichtig weibliche Vorbilder für die Entwicklung eines Rollenverständnisses der Frau in Führungspositionen sind.

4.3.1 Biografie in Kürze

Sylvia Schenk wurde am 01.06.1952 geboren. Sie studierte Rechtswissenschaften und war 10 Jahre als Arbeitsrichterin tätig sowie danach 12 Jahre hauptamtliche Dezernentin zum Beispiel für die Themen Sport, Recht, Frauen und Wohnen in Frankfurt von 1989 bis 2001. Sie war als Leichtathletin 1972 Teilnehmerin an den Olympischen Spielen in München und wurde dort Neunte, nachdem sie zuvor 1971 in Lübeck an einem Weltrekord im 4×800-Meter-Staffellauf beteiligt war. Ebenfalls 1971 und 1974 nahm sie an den Europameisterschaften teil. Von 2001 bis 2004 war sie Präsidentin des Radsportverbands Bund Deutscher Radfahrer. Von 2007 bis 2010 war sie Vorsitzende von Transparency International Deutschland, wo sie seit 2010 Mitglied des Vorstands ist. Sie hat sich während ihres aktiven Sportlerlebens und in der Zeit danach für die Gleichberechtigung von Frauen, gegen Korruption und Doping im Leistungssport eingesetzt und arbeitet heute als Anwältin in einer Frankfurter Kanzlei. Für ihr Engagement gegen Doping bekam Sylvia Schenk 2018 den Verdienstorden der Bundesrepublik.

4.3.2 Interview

In diesem Gespräch interessieren mich ganz besonders die persönlichen Erfahrungen von Sylvia Schenk, wie sie Führung an sich selbst und bei anderen wahrgenommen hat. Ich bin sehr gespannt, da sie eine Vielfalt an Führungsrollen in ihrer Laufbahn innehatte. So war Sylvia Schenk beispielsweise aktive Politikerin und Dezernentin der Stadt Frankfurt, Mitglied des Vorstands der Antikorruptionsvereinigung „Transparency International“, Präsidentin des Radsportsverbands und Richterin. „Wenn sie sich in die verschiedenen Rollen, die Sie als Führungsperson ausgeübt haben hineinversetzen“, frage ich sie zuerst, „brauchten Sie selber Führung?“ Daraufhin antwortet Sylvia Schenk: „Also, es kommt ja immer darauf an, was man unter Führung versteht.“ Manchmal sei Führung nur Orientierung geben, so Schenk, manchmal aber auch das „Abstecken eines Rahmens“. Was sie damit meint, erklärt sie mir an folgendem Beispiel: Das Ausmaß an Vorschriften und die Orientierung für ihre Führung als Arbeitsrichterin wurde Sylvia Schenk von den Präsidenten des Landesarbeitsgerichts vorgegeben. „Die den Rahmen abgesteckt haben für das, was wir Richterinnen und Richter gemacht haben.“ Als Richterin sei sie unabhängig, doch an bestimmte Anweisungen und Regelungen gebunden, von der sie sich in ihrer Arbeit führen ließ. Mit dem „Rahmen“ in der Führung, von dem Sylvia Schenk spricht, meint sie dadurch den Raum, der die Möglichkeiten und Grenzen für das Auszuüben ihrer Führungsrolle absteckt.

Frau Schenk beschreibt, dass gute Führung sich geschickt an den Kontext ihrer Führungsrolle anpasst. „Es ist etwas völlig anderes, ob ich als Präsidentin ein ehrenamtliches Gremium leite oder als Richterin tätig bin“, erzählt sie. Führungskräfte sollten aber nicht nur im Stande sein, sich ihrem Kontext gut anzupassen, sondern auch selbst den Rahmen vorzugeben für diejenigen, die sie führen. Die Kunst dabei sei, ein geregeltes Maß an Führungsautorität und Mitbestimmung zu finden. „Ich muss bei bestimmten politischen Themen ganz andere Vorgaben machen – das wird erwartet – muss aber auch gleichzeitig schauen, dass ich in den Ämtern oder in den einzelnen Institutionen den Führungskräften ihrerseits auch genügend Freiraum gebe, den sie brauchen, um ihre eigenen Führungsmöglichkeiten zu entfalten.“ Sylvia Schenk greift auf eine scheinbare Paradoxie in der Führung zurück, die auch in der Literatur von dem Organisationspsychologen Hugh Willmott angesprochen wird. Für Willmott macht sich erfolgreiche Führung und Kultur im Unternehmen fest an einer „wunderbaren Kombination“ von Sicherheit (klare Vorgaben eines Rahmens; Regeln und Vorschriften) und Autonomie (Gestaltungsfreiheit der Mitarbeiter) (Willmott, 1993). Sylvia Schenk erklärt, wie sie in ihrer damaligen Führungsrolle als Dezernentin ein gesundes Maß an Sicherheit und Autonomie anstrebte, in dem sie auch in hierarchisch strukturierten Gremien versuchte, „den Personen so viel Mitbestimmung wie möglich zu gewähren, damit sie ihre Vorstellungen einbringen können. Dann kann man diskutierten und es wird nicht einfach von oben herab entschieden.“

An ihrem eigenen Führungsstil beschreibt Sylvia Schenk, wie sie dieses Maß an Sicherheit und Autonomie durch den täglichen Dialog mit ihren Mitarbeitern pflegt. „Man muss regelmäßig ins Gespräch miteinander kommen, dass jeder seine Arbeit entsprechend einteilen und planen kann“, erzählt sie und fährt lächelnd fort: „Also ich begrüße alle morgens in meiner Etage mit einem ‚Guten Morgen‛.“ Daraufhin frage ich sie: „Machen Sie durch diese Kommunikation ihre Mitarbeiter auf Ihren persönlichen Führungsstil aufmerksam?“ Diese Art der Führung würde sie nicht als ihren persönlichen Führungsstil betrachten, so Sylvia Schenk, denn menschlich miteinander umgehen, sollte ihrer Meinung nach eine unbestrittene Voraussetzung in der Führung sein. In der Literatur deutete von Rosenstiel (1992, S. 55) darauf hin, dass erfolgreiche Führung „zum einen in einem zweckrationalen Sinne instrumentell, zum anderen durch Symbolisierung, das heißt durch die Verleihung von Bedeutung“ zum Ausdruck kommt. Das bedeutet hier, dass die Handlung des regelmäßigen Dialogs mit den Mitarbeitern nicht nur dazu dient, wichtige Informationen weiter zu geben, sondern auch der Zusammenarbeit Bedeutung zu verleihen.

Aus ihren Antworten kann ich schließen, dass Sylvia Schenk mit ihrer Art der transparenten Führung ihrer Zeit voraus war. „Ich habe zum Beispiel immer sehr intensiv rückgekoppelt, sodass alle Ämter auf dem neuesten Stand waren. Ich habe im Laufe meiner zwölfjährigen Dezernentinnenzeit immer auch mal Ämter bekommen und habe dann festgestellt, dass sie ganz verwundert waren, was ich an Informationen aus dem Dezernatsbüro bekam und was bei ihnen abgefragt wurde.“ Sie fährt fort: „Als ich bei der Stadt Frankfurt 1989 angefangen habe, da hatten wir weit und breit noch gar keinen Computer. … Handys gab es noch nicht … und Mitarbeitergespräche, so wie das jetzt in bestimmten Systemen üblich ist, waren auch noch ein Fremdwort. Was ich eingeführt habe, waren regelmäßige Amtsgespräche mit dem Sport- und Badeamt und einmal wöchentlich mit dem Rechtsamt.“ Sylvia Schenk war es wichtig, dass bei derartigen Gesprächen nicht nur die Amtsleitung und der stellvertretende Amtsleiter präsent waren, sondern auch Mitarbeiter, die für die jeweils relevanten Themen zuständig waren. „Ich habe immer versucht, und das ist auch heute noch mein Stil, so weit wie möglich zu informieren und zu erklären, warum wir in die eine oder andere Richtung gehen sollten, warum ich dieses oder jenes Thema aufgreife – weil es wichtig ist, dass die Leute es verstehen und nachvollziehen können. Dann ist die Zusammenarbeit auch einfach besser.“

„Kann man diese Art der Führung erlernen?“, frage ich im Anschluss. „Also, ich bin eine Autodidaktin, würde ich sagen. Ich habe nie Führungsseminare besucht, sondern mache vieles intuitiv“, erklärt sie und fährt fort: „Dass ich Leute informiere, damit sie wissen worum es geht, ist für mich von Anfang an logisch gewesen.“ Allerdings habe sie von ihren Erfahrungen im Hinblick auf den gegenseitigen Austausch von Informationen in den verschiedenen Gremien im Deutschen Sportbund und dem Nationalen Olympischen Komitee dazugelernt und diese Erkenntnisse auf die anderen Ämter in ihrer Führung übertragen. Die Weitergabe von Informationen und das Berichten an die Kollegen durch kurze Gesprächsnotizen sei für Sylvia Schenk dabei immer selbstverständlicher geworden. „Grundsätzlich kann man das aber natürlich auch lernen“, meint sie und weist darauf hin: „Ich lerne immer noch und mache jetzt noch Fehler.“ Um einen Führungsstil anzustreben, der Transparenz im Unternehmen schafft, so Sylvia Schenk, ist das Zuhören von großer Bedeutung. Am Beispiel ihrer Zusammenarbeit mit der Daimler AG erklärt sie, wie sie bei mehreren Veranstaltungen zum Thema Integrität durch das Stellen von offenen Fragen zu wichtigen Erkenntnissen kam. „Ich bin einfach an einen Tisch gegangen, habe die Leute direkt gefragt und konnte im Anschluss im Führungsbereich von Daimler aktuelle Innenansichten geben.“ Sie schmunzelt und fährt fort: „Ich wurde darauf angesprochen ‚Wie kommen Sie jetzt darauf?‛ und ich habe gesagt ‚Ich habe einfach einmal ein paar Leute gefragt.‛“ So ging Sylvia Schenk auch in den offenen Fragemodus als Sportdezernentin in Frankfurt, in dem sie in die Ortsbeiräte ging und nicht nur den Vorsitzenden, sondern auch die Vereinsmitglieder, angesprochen hat. „Manchmal ist es wichtiger, mit einer Übungsleiterin oder mit einem Sportvereinsmitglied zu sprechen. Da bekommt man oft eine ganz andere Rückmeldung.“

In meiner nächsten Frage will ich wissen, warum diese Erwartungshaltung von transparenter und kooperativer Führung oft nicht gelebt wird: „Diese Art der Führung ist nicht für alle selbstverständlich – an was könnte das liegen?“ Hier kommt Sylvia Schenk auf einen Wandel in der Führung zu sprechen, den sie sich für unsere heutige Gesellschaft wünscht. „Die Einsicht, dass die Ergebnisse inhaltlich-qualitativ besser sind und die Akzeptanz eines ablehnenden Bescheids größer ist, wenn vorher breiter informiert und mehr Leute einbezogen wurden, setzt sich erst sehr langsam durch.“ Oft würden Führungskräfte derartige Handlungen meiden, erklärt sie, weil sie glaubten, dadurch Zeit zu sparen und den Arbeitsaufwand zu verringern. Das ist geradezu eine Ironie, denn die Kooperation und der gegenseitige Austausch von Informationen führen in der Regel zu verbesserten Entscheidungsprozessen und Lösungsvorschlägen (Rogers und Rogers, 1976; Neher, 1997). „Aber das müssen die Leute zunehmend lernen, vor allem auch im Sport. Gerade in den Verbänden, wo es oft noch zu wenig passiert und wo selbst die Beteiligung der eigenen Mitglieder oft nur auf dem Papier steht.“

Sylvia Schenk spricht ein weiteres Ignorieren der transparenten Führung an, bei der die offene Kommunikation im Unternehmen in Bezug auf Macht in der Führung scheitert. Es ist ein Irrtum zu meinen, dass Kontrolle die Führungskraft ans Ziel bringe, meint sie. „Ich glaube, wenn ich alles versuchen würde zu kontrollieren, hätte ich letztendlich weniger Kontrolle, als wenn ich den Menschen auch ein Stück selbständig arbeiten ließe.“ Dies deckt sich perfekt mit der Forschung des Wirtschaftsnobelpreisträgers George Akerlof (Akerlof und Kranton, 2008), der sagt, dass Kontrolle erstens Kosten verursacht und zweitens den Mitarbeitern ein Misstrauen signalisiert, was diese demotiviert. Wenn dagegen alle eine gemeinsame Identität teilen, die Vorstellung über die Ziele beinhaltet, arbeiten die Mitarbeiter „automatisch“ auf diese Ziele hin – ohne kontrolliert werden zu müssen. „Und wenn ich Informationen für mich behalte“, fährt sie fort, „wie sollen die anderen dann ihre Aufgaben erfüllen? Also das kann vielleicht nur bis zu einem gewissen Grad funktionieren“, erklärt sie am Beispiel ihrer Führungsrolle als Dezernentin in Frankfurt, als sie vertrauliche Informationen in einer Verhandlung der Presse vorenthalten hatte. „Mein kleines Team von Personen, die mir die nötigen Informationen geben und die Termine kontrollieren - das war natürlich informiert.“ Sie fährt fort: „Ich glaube, das kann auf Dauer gar nicht anders funktionieren, wenn man alles für sich behält. Auch im Sport sehen wir, dass der Versuch ‚Alleinherrscher‘ zu sein, an Grenzen stößt.“

Ich frage sie dann, ob sie sich an weiblichen Führungspersonen ein Vorbild nehmen konnte. „Ein richtiges Vorbild hatte ich eigentlich nicht. Ich war permanent in Situationen, in denen ich als erste Frau irgendwas gemacht habe“, erzählt sie. „Ich gehörte zu denen, die als erste Frau hauptamtliche Dezernentin in der Stadt Frankfurt wurde, zudem in einem Amtsbereich und dem Sport – der eben durch und durch männlich war.“ Im Sport-und Badeamt war die Leitungsfunktion ausschließlich mit Männern besetzt, die wiederum ihresgleichen rekrutiert haben. „Ende der achtziger Jahre bis Anfang der neunziger Jahre war die Frau im Sport auf Führungsebenen noch etwas ganz Seltenes“, erzählt sie ernst, fügt dann aber lachend hinzu: „Ich erinnere mich noch an eine Sitzung mit dem Nationalen Olympischen Komitee und mit den Vertretern der verschiedenen Städte im Jahre 1990. Da waren ungefähr 60 Personen und ich war die einzige Frau. Das Nationale Olympische Komitee hatte als Gastgeschenk Krawatten vorgesehen und der Generalssekretär verteilte diese dann an alle – inklusive mir.“ Das habe gezeigt, meint Sylvia Schenk, dass in der damaligen Gesellschaft das Thema „Frauen in der Führung“ ein Tabu gewesen sei. „Insofern war ich immer in der Situation, zu wissen, dass es leider kein weibliches Rollenmodell für mich gab.“ Das diese Problematik noch heute in den Führungsetagen der Wirtschaft weltweit verbreitet ist, beschreibt Sheryl Sandberg, die rechte Hand von Mark Zuckerberg dem Facebook-Chef. In ihren Büchern und öffentlichen Auftritten betont diese immer wieder die Wichtigkeit weiblicher Rollenmodelle in der Führung um zukünftige Führungsnachwuchskräfte zu ermutigen (Sandberg, 2013).

Als eine der ersten weiblichen Führungsfiguren der damaligen Zeit, versuchte Sylvia Schenk in ihrer Führung den Anspruch, mit der eigenen Vorstellung ernst genommen zu werden, durchzusetzen. „Mein Führungsstil ist an Situationen gewachsen, an denen ich selber erlebt habe, dass ich als Frau nicht ernst genommen wurde.“ So kommt sie auf Lücken in der Kommunikation zu sprechen, die sie in der Rolle als Frau erfahren habe. Als sie damals ihr erstes Kind bekam, erfuhr sie im Krankenhaus, dass man im Amt, ohne sie zur Abstimmung zu rufen oder sie zu informieren, die „Wahl der Miss Rebstockbad“ für das städtische Schwimmbad ausgeschrieben habe. „Wir hatten damals eine Rot-Grüne-Koalition, eine Frau als Dezernentin im Amt und dadurch eindeutig eine andere Politik“, erzählt sie, „und nun sollte es eine städtische Miss Rebstockbad geben?“ Entsetzt habe sie damals ihre Referentin im Büro angerufen, doch diese sei ebenso wenig informiert gewesen. „Das ist mit mir auch nicht abgesprochen“, meinte diese, „das haben die einfach gemacht.“ Sylvia Schenk habe es schließlich geschafft, die „Miss-Rebstockbad-Wahl“ zu widerrufen. Die Männer im Amt, so Schenk, waren damals nicht vorbereitet gewesen auf eine weibliche Führung in ihrem Regiment, „dass sich Männer, die immer nur mit anderen Männern zu tun hatten, sich auf einmal mit einer Frau in der Führung auseinandersetzen mussten … das war eine schwierige Situation für alle.“

Wir kommen anschließend darauf zu sprechen, dass der gemeinschaftliche Dialog nicht nur im Arbeitsleben, sondern auch in Krisensituationen, wie beispielsweise der Geiselnahme während der Olympischen Spiele 1972 von ausschlaggebender Bedeutung ist. Sylvia Schenk war als Olympiateilnehmerin Zeugin des traumatischen Attentats auf die israelischen Sportler und berichtet wie sie die Führung damals wahrgenommen habe. „Es war so eine Extrem- und Schocksituation für alle Beteiligten, dass man von vornherein eigentlich an niemanden zu hohe Ansprüche stellen durfte“, sagt sie. „Was macht man als Führungsperson in so einer Situation, wo man 1.000 Athletinnen und Athleten betreut, die man nicht in die absolute Verzweiflung stürzen will?“ Sylvia Schenk zeigt auf, dass die Führungskraft, genau wie alle anderen, „erst mal mit der Situation für sich selber klarkommen muss.“ Dabei spielt die Kommunikation zwischen allen Betroffenen eine wichtige Rolle, um das traumatische Erlebnis rückwirkend zu verarbeiten und die nächsten Handlungsschritte zu planen (Weick, Sutcliffe und Obstfeld, 2005). Der Dialog ermöglicht, gemeinsam Eindrücke zu sammeln, um das Ausmaß des Geschehens und die Bedeutung der Situation für den Einzelnen herauszuarbeiten (Weick, 1993). Sylvia Schenk betont, dass dieser soziale Prozess des Dialogs nicht nur während der Krisensituation, sondern auch im Anschluss von der Führungsperson begleitet werden sollte. „Wenn das hinterher nicht passiert“, sagt sie, „ist das ein Zeichen von mangelnder Führung.“ Sie fährt fort: „Was mir im Nachhinein gefehlt hat, war, dass man überhaupt noch einmal miteinander darüber gesprochen hat. Wir haben miteinander eine Krise erlebt und jeder hat versucht, damit irgendwie selber klarzukommen. Manche schieben so etwas weg, verpacken es und wollen es nicht mehr anrühren.“ Oft sei das aber keine Lösung, meint Schenk, und sagt, solche Dinge sollten in der Gemeinschaft verarbeitet werden. „Damit war man eigentlich völlig alleine gelassen. Es gab keine Nacharbeit. Ich hätte mir gewünscht, dass auch im Bereich der Funktionärinnen und der Funktionäre mehr Unterstützung stattgefunden hätte.“

Zum Abschluss erzählt mir Sylvia Schenk von ethischer Führung im Sport, die anstrebe, Krisen, wie beispielsweise Wettskandale und Korruption, zu vermeiden. Gute Führung im Sport, so Sylvia Schenk, hänge eng damit zusammen, welche Prävention und Aufklärungsmaßnahmen die Führung trifft, um eine klare „Null-Toleranz-Haltung“ aufrecht zu erhalten. Auch in der Wirtschaft erzählt sie, „haben wir zunehmend eine Wertedebatte in der Gesellschaft. Nicht nur in Deutschland, sondern auch international hat es eine Entwicklung gegeben: Lehrstühle für Wirtschaftsethik werden neu eingerichtet und dem Thema Ethik wird eine größere Rolle zu geschrieben“, sagt sie mit Zuversicht: „Das ist ein gutes Zeichen.“ Erneut kommt sie auf die Rolle des Dialogs zu sprechen und erklärt, wie wichtig dieser auch für den Austausch von Werten sei, um ethisches Handeln sowohl im Sportverband, wie auch in Unternehmen, zu fördern.

4.4 Holger Geschwindner – ehemaliger Basketballnationalspieler und Berater von Dirk Nowitzki

Da gab es einen Bub, der hatte einen Haufen Talent.

Holger Geschwindner und Dirk Nowitzki hatten stets ein großes Ziel vor Augen: Nowitzki wollte in die amerikanische Basketballliga. In diesem Gespräch spielt daher die Zielsetzungstheorie eine wichtige Rolle. Außerdem sprachen wir darüber, dass Führungskräfte diese Ziele nicht nur deutlich machen, sondern auch zeigen müssen, wie man sie erreichen kann (die sogenannte path-goal theory). In diesem Sinne bedeutet Führung, dass man den Mitarbeitern Angebote macht und Hindernisse aus dem Weg räumt.

4.4.1 Biographie in Kürze

Holger Geschwindner wurde am 09.12.1945 in Bad Nauheim geboren. Er spielte bis zum Alter von 47 Jahren aktiv Basketball und wurde mit dem MTV Gießen mehrfach Deutscher Meister. Er spielte für Bundesligateams in München, Bamberg, Göttingen und Köln in über 600 Spielen in der ersten und zweiten Bundesliga mit. Holger Geschwindner absolvierte 150 Länderspiele mit der deutschen Nationalmannschaft und kam unter anderem bei der Europameisterschaft 1971 zum Einsatz. Bei den olympischen Spielen in München 1972 war er Kapitän der Nationalmannschaft. Neben der sportlichen Karriere studierte Geschwindner Mathematik, Physik und Philosophie und arbeitete unter anderem am Max-Planck-Institut für Psychiatrie. Geschwindner war als Berater und Trainer für den Bundesligisten Würzburg tätig. Er gilt als der Entdecker von NBA-Superstar Dirk Nowitzki und ist seit 1995 sein Berater und persönlicher Trainer.

4.4.2 Interview

Über mehrere Ecken gelang es mir, eine Zusage für das Gespräch mit Holger Geschwindner zu bekommen. Anschließend habe ich ihn mehrfach zur Terminabstimmung angerufen. Jedes Mal meldete er sich dabei mit „Bei der Arbeit“. Er kam zu Fuß mit einem Rucksack über der Schulter in die Uni und machte im Gespräch einen sehr bescheidenen, fast zurückhaltenden Eindruck.

Das erscheint mir charakteristisch für Geschwindner. Er ist stets aktiv und dabei sehr pragmatisch. Mit Dirk Nowitzki trainierte er auf sehr undogmatische Art und dabei war es stets das große Ziel, es in die NBA zu schaffen. Diesem Ziel wurde alles andere untergeordnet, aber dabei durften Spaß und Motivation nicht zu kurz kommen. Mit mathematischen Modellen berechnete er optimale Wurfwinkel, die Nowitzki dann Stunde um Stunde erfolgreich übte. Und sein gesunder Menschenverstand brachte ihn dazu, mit den Spielern rudern zu gehen, anstatt im Fitnessstudio Gewichte zu stemmen. Ein „geht nicht“ scheint es für Holger Geschwindner nicht zu geben.

So antwortete er auch auf meine erste Frage, wie er sich selbst sehen würde: „Ach, darüber habe ich mir eigentlich keine großen Gedanken gemacht, sondern das müssen andere beurteilen. Da gab es einen Bub, der hatte einen Haufen Talent. Ich habe ihn übrigens nicht entdeckt – er hat schon Basketball gespielt, als wir uns das erste Mal gesehen haben. Seine Mutter war damals Nationalspielerin und etwa in meinem Alter und hat mich gefragt, ob das mit dem Training funktionieren könnte und dann haben wir das versucht. Ich hatte nie eine Ausbildung als Trainer oder Pädagoge. Ich wusste selber überhaupt nicht, ob ich eine Chance habe, irgendetwas, was man weiß über den Sport, den ich mit großer Liebe gespielt habe, zu vermitteln. Und dann haben wir das einfach probiert. So haben wir angefangen und das hat sich relativ schnell im Fluidum entwickelt. Er hat zugehört, ich habe vermittelt. Wenn Fragen kamen und ich die Antwort nicht wusste, waren wir gefordert und mussten wieder Neues lernen. Ich habe mindestens so viel von ihm gelernt, wie er von mir. Und so haben wir uns gegenseitig hochgeschaukelt. Das war eigentlich der Anfang des Ganzen. Aber was die Außenwelt da zu bemängeln hatte oder zu meckern hatte, konnte uns nicht viel interessieren, denn im Sport gibt es ein Kriterium, das überzeugend ist: der Erfolg. Und er hatte relativ schnell früh Erfolg durch die Methoden, die wir angewandt haben. Und so mussten auch die größten Kritiker es zumindest als Glück darstellen. Das kann man so interpretieren, da haben wir uns auch nie dagegen verwehrt. Das Entscheidende ist aber, man kann dem Glück auch Fallen stellen oder – vielleicht besser: Angebote machen. Und das haben wir, glaube ich, gemacht mit mathematischen Kenntnissen und dem ganzen Vorwissen, das man sich erarbeitet hat.“

Auf die Frage, was gute Führung ausmache, sagte er, dass Führungskräfte Hindernisse aus dem Weg räumen sollten und dabei den Geführten vor allem das Gefühl geben sollten, selbst etwas zu schaffen. Dabei sollten Führungskräfte selbst aber in den Hintergrund treten. Wörtlich und auf den Sport bezogen sagt er: „Ja, man kann vielleicht kein Rezept daraus machen, aber ich denke schon, dass es einfacher ist, wenn man die Probleme, die vorliegen, zumindest ahnt, charakterisiert und versucht, sie aus dem Weg zu räumen für die Jugendlichen. Wenn die Jugendlichen selber die Idee hatten und etwas durchsetzen wollen und das mit Intensität betreiben und man ahnt, in welche Probleme sie hereinrennen können und man rennt voraus und räumt die Probleme weg, dann haben die Jugendlichen natürlich ein unglaubliches Erfolgserlebnis und sie merken ‚was ich gemacht habe, funktioniert‘. In unserer individuell-ausgerichteten Gesellschaft ist das für die Kids natürlich ein ungeheurer Bonus. Dass es dabei einzelne Menschen im Hintergrund gegeben hat, ist ja nicht so wichtig. Da muss man sich, glaube ich, auch nicht in den Vordergrund drängen.“

Basketball ist eine Mannschaftssportart und Geschwindner zieht einen interessanten Vergleich zur Jazzmusik: „Basketball ist zufällig gleichzeitig entstanden, als der Jazz sich entwickelt hat. Und was mir immer gut gefallen hat, war, dass es im Sport, besonders im Basketball und in Mannschaftssportarten, mehrere zusammen ein Ziel verfolgen müssen und trotzdem jeder hochgradig seine individuellen Fähigkeiten einzubringen hat. Und im Jazz ist es ja im Prinzip so: Jeder ist Solist, jeder ist extrem gut und jeder kann seine Zirkusnummern abziehen oder seine intellektuellen Geländespiele vorführen und am Ende müssen sie, wenn sie zusammen Musik machen wollen, zusammen etwas hinbringen, selbst wenn es im Dialog oder kontrovers oder wie auch immer läuft. Und das ist eigentlich ganz gut gelaufen in der Entwicklung des Basketballs, bis die Leichtathleten übernommen haben und dann waren im Basketball größere Körper gefragt und man musste stärker und schneller sein. Dabei ist das Spielerische verloren gegangen. Wir sind jetzt gerade dabei in Pilotprojekten zu versuchen, den Kids wieder mehr das Spielerische beizubringen. Und soweit man das sehen kann – wir machen das jetzt seit zwei Jahren – ist das ganz erfolgreich.“ Es kommt also darauf an, dass jeder für sich im Team seine Stärken einbringen kann, dabei aber der Spaß nicht verloren geht.

Dies bekräftigt er auch auf meine Frage, wie er aktuell Jugendliche trainiere: „Ich biete ein freiwilliges Training an, da kann jeder kommen. Alter, Geschlecht oder Hautfarbe spielen keine Rolle. Wir bieten denjenigen, die Basketball spielen wollen, die technischen Grundwerkzeuge an. Und wenn sie die ordentlich können, werden sie natürlich automatisch besser. Wir legen dabei großen Wert auf die Schule, sodass dort alle ordentlich arbeiten. Damit erreichen sie, was praktisch alle Jugendlichen wollen: Irgendetwas besser zu können als die Anderen. So versuchen wir ihnen zu helfen, ihr Talent auszureizen. Ob das dann für Weltniveau reicht, ist eine andere Frage, aber ich glaube schon, dass wir hinkriegen können, jedem an die Stelle zu verhelfen, die sein Talent hergibt, wenn er das möchte.“

Aufgabe von Führung ist es also, Angebote zu machen, dabei nicht zu diskriminieren und dann jedem Mitarbeiter zu helfen, sein Talent zu entdecken und gemäß sich seiner Fähigkeiten zu entwickeln. Dabei muss aber die Motivation etwas erreichen zu wollen, aus dem Mitarbeiter selber kommen. Das veranschaulicht er auch noch einmal an seiner Arbeit mit Nowitzki: „Die Idee beim Dirk war ja von vornherein, dass er in die NBA soll. Er hat als Bub schon Poster in seinem Zimmer gehabt von den NBA-Größen. Man hat sofort gemerkt, der meint das ernst. Deswegen hatten wir auch nie Trainingstermine mit einem ‚Du musst kommen‛, sondern ich habe gefragt: ‚Und, wollen wir trainieren?‛ Meistens hat sogar er gefragt: ‚Können wir nicht trainieren?‘ Das heißt, das war immer auf freiwilliger Basis und er sagt ‚Ja‘ in vielen seiner Interviews, er habe sein Hobby oder seine Leidenschaft zum Beruf machen können, was natürlich eine tolle Sache ist.“

Aber noch einmal: Das Ziel stand bei Nowitzki stets im Vordergrund. Dazu passt auch die Anekdote, dass Geschwindner ihn bei seiner ersten Einladung zur Nationalmannschaft gleich wieder aus dem Trainingslager abholte, als er hörte, Nowitzki sei nicht für das Spiel aufgestellt. Ich fragte ihn, ob diese Anekdote so passiert sei und er sagte: „Ja, natürlich stimmt das. Die Sache war die: Wir hatten regelmäßig trainiert, wir hatten einen Plan, eine Idee, wie man das schaffen kann. Und dann wurde er eingeladen in die Nationalmannschaft. Das war aber ausgerechnet am Faschingswochenende, wo die Buben in Würzburg ordentlich feiern wollten. Ich sagte: ‚Jetzt bist du das erste Mal in die Nationalmannschaft eingeladen, da musst du auch hinfahren.‛ Und dann haben wir telefoniert, wie das Training gelaufen ist und ich fragte, was sein Job im Länderspiel sein sollte. Als er sagte, dass er nicht spielen würde, fragte ich: ‚Wie, du spielst nicht?‛ Da sagte er: ‚Ja, in drei Jahren könnte ich einmal der Nachfolger von einem der Nationalspieler werden.‛ Und da war mein Kanal voll, weil das war genau nicht unsere Philosophie. Da bin ich von Bamberg hochgefahren und habe gesagt: ‚Hole deine Sachen, wir fahren heim! Pass auf, wir stehen nicht jeden Tag in der Turnhalle, damit du in drei Jahren ein Nachfolger von irgendeinem Dings wirst. Das ist nicht unser Ziel. Da brauchen wir keine Zeit zu verschwenden. Und wenn die Nationalmannschaft dich da ausbremsen möchte, dann ist das nicht das Ding. Es geht auch ohne.‘‛“

Der Erfolg hat ihm Recht gegeben und Nowitzki wurde über viele Jahre nicht nur ein Leistungsträger der Dallas Mavericks sondern auch der deutschen Nationalmannschaft.

In diesem Gespräch kommen vor allem zwei Theorien zum Ausdruck, die Geschwindner vorlebt, zum einen die Zielsetzungstheorie von Bob Locke und Gary Latham, zum anderen die Weg-Ziel-Theorie (im Original: „Path-goal theory“) von Bob House.

Die Zielsetzungstheorie ist eine der einflussreichsten, und empirisch in vielen Kontexten am besten bestätigte, Theorie der (Arbeits)psychologie. Sie besagt, dass spezifische, schwierige Ziele in aller Regel die Leistung erhöhen. Dies tun sie deshalb, weil:
  1. 1.

    Das Setzen des Ziels allein schon das Selbstvertrauen erhöhen kann und weil

     
  2. 2.

    das Ziel bei der Planung hilft, bei der Aufrechthaltung der Motivation und bei der Überwindung von Hindernissen.

     

Allerdings gibt es auch einige Faktoren (die sogenannten Moderatoren), die erklären, warum Ziele manchmal mehr und manchmal weniger zu erhöhter Leistung führen. Dazu gehört zum Beispiel das Zielcommitment: Nur wenn man sich dem Ziel auch wirklich verpflichtet fühlt und es verinnerlicht, wird man sich auch nach ihm richten. Dies ist bei Dirk Nowitzki sicherlich der Fall gewesen. Andere Moderatoren sind die Fähigkeiten – Geschwindner hat bei Nowitzki ja nicht bei null angefangen, sondern traf bereits auf ein trainiertes Talent oder auch das Feedback, das ich auf dem Weg zum Ziel bekomme.

Robert (Bob) House (1930–2011), einer der Begründer der Theorien charismatischer Führung und der GLOBE-Leadership-Studie, hatte selbst ein charismatisches Auftreten und erinnerte mit seiner Augenklappe und tiefen Stimme an Westernhelden wie John Wayne. House entwickelte in den 1970er Jahren die Weg-Ziel-Theorie der Führung. Diese besagt kurzgefasst, dass Führungskräfte die Aufgabe haben, stets den besten Weg zu wählen, sodass die Mitarbeiter ihre Ziele erreichen können. Sie müssen dabei den Mitarbeitern die Pfade zur Zielerreichung gut erklären können und müssen frustrierende Hindernisse auf dem Weg zum Ziel beseitigen („Erwartung“).

Dabei können Führungskräfte je nach Situation und Persönlichkeit der Mitarbeiter vier unterschiedliche Stile zeigen:
  • Direktives Verhalten („directive behavior“),

  • unterstützendes Verhalten („supportive behavior“),

  • leistungsorientiertes Verhalten („achievement-oriented behavior“),

  • partizipatives Verhalten („participative behavior“).

Holger Geschwindner hat in seiner Karriere sicherlich alle vier Stile benutzt und war damit in der Zusammenarbeit mit Dirk Nowitzki offensichtlich sehr erfolgreich.