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Während der nächsten drei Wochen genieße ich mein normales Leben als Ferne Resnik, Drehbuchstudentin, große Schwester, Tochter, Freundin. Es fühlt sich an wie die Ruhe vor dem Sturm, aber ich schiebe alles, was auf mich zukommen wird, einfach weit von mir, um mir nicht die Nächte mit dieser einen Frage um die Ohren zu schlagen: Warum? Warum habe ich das gemacht? Warum habe ich nicht einfach meine Sachen gepackt? Weil du einen Traum zu erfüllen hast, sage ich mir. Weil man Netflix in deiner Situation nicht anpisst. Weil sie dir zwanzigtausend Dollar pro Folge zahlen. Was vermutlich lächerlich wenig im Vergleich zu Rio McQuoids Gage ist, aber es ist genug Geld, um auszuziehen. Um erst mal auf eigenen Beinen zu stehen. Um meine Studiengebühren zu bezahlen.

Ich bringe Chloe, Marcello und Leia bei Iced Coffees in unserem Lieblings-Hipster-Café in der Nähe der UCLA auf den neuesten Stand. Marcello und Leia sind erst überrascht, dann beeindruckt und schließlich ziemlich euphorisch, was mir einerseits Mut macht, andererseits aber auch die Tatsache unterstreicht, dass ich verflucht noch mal keine Schauspielerin bin. Chloe, meine älteste Freundin, mit der ich bereits seit der Highschool die Leidenschaft für Filme teile, reagiert seltsam, schickt mir aber am selben Abend eine entschuldigende Sprachnachricht.

Sorry, Süße, beginnt sie. Ich habe mich vorhin richtig blöd benommen, ich weiß. Das ist eine große Sache für dich, und auch wenn du es noch nicht siehst, ist das alles echt ziemlich toll. Ich glaube, ich bin ein bisschen neidisch, dass dir das passiert ist, und habe deswegen so reagiert. Ich meine, Rio McQuoid … In einer deutlich höheren Tonlage wiederholt sie noch mal lauter: RIO McQUOID ! Ferne, dieser Typ ist so hot. Sie kichert. Ich glaub, ich habe dir nie erzählt, dass ich in meinem alten Kinderzimmer einen Pappaufsteller von ihm habe. Das klingt jetzt super peinlich. Haha. Erzähl ihm das bloß nicht. Wie auch immer. Das wird ein großartiges Abenteuer, und ich will bitte nicht die Freundin sein, die aus Eifersucht oder was auch immer diese coole Sache verpasst, okay? Hab dich lieb.

Danach sitze ich lächelnd auf meinem Bett, froh, so großartige Freundinnen zu haben. Großartige Freundinnen mit nachvollziehbaren Reaktionen auf diese bescheuerte Sache.

Auf Instagram bekomme ich täglich Follower-Anfragen. Manche Namen kenne ich, dann nehme ich sie an. Leute vom Studio, Leute von Netflix. Izzy beispielsweise. Alle anderen ignoriere ich, weil ich keine Ahnung habe, wie ich damit umgehen soll. Mein Profil ist nicht grundlos privat. Fotos, auf denen mich Eric mit dem Gartenschlauch komplett durchweicht hat, Fotos von Baby-Chaplin, Fotos von mir mit Sonnenbrille, in der sich Marcellos und Chloes Mittelfinger spiegeln, Fotos von mir und Marcello, als wir noch was miteinander hatten …

 

Und dann ist auf einmal Montag, der achtzehnte März. Der Tag, an dem sich der Cast von This is Our Time zum ersten Mal trifft. Der Tag des Table-Reads, bei dem wir gemeinsam das Drehbuch zur ersten Folge lesen.

Als ich auf die Schranke zufahre, die das Studiogelände vor unerwünschten Eindringlingen schützt, vergewissere ich mich, dass die Plastikkarte mit meinem Foto und dem Barcode hinter der Windschutzscheibe liegt. Die Schranke öffnet sich für den großen schwarzen Wagen vor mir. Schließt sich. Ich rolle ein Stück, doch nichts passiert. Bin ich noch zu weit weg? Ich nähere mich noch einen halben Meter, bis die Schnauze meines kleinen klapprigen Nissans, auf den ich anderthalb Jahre gespart habe, fast gegen die Schranke stößt. Doch die Zufahrt bleibt mir verwehrt.

Hinter mir hupt jemand. Na großartig. Aber ich habe ohnehin keine andere Wahl, als auszusteigen und dem Pförtner meine Karte zu zeigen. Offenbar spinnt die Schranke.

Ich hebe meine Hand, um dem Auto hinter mir zu signalisieren, dass ich mich um das Problem kümmere. Es ist ein weiterer schwarzer SUV mit getönten Scheiben. Vorne sitzt der Fahrer, hinten vermutlich irgendein Studio-Offizieller oder ein Schauspieler. Eine große Nummer auf jeden Fall.

»Hi, sorry«, sage ich zu dem Mann im Pförtnerhäuschen. »Die Schranke spinnt.« Ich schiebe ihm meine Karte hin.

»Mit der Schranke ist alles in Ordnung.« Er stellt wie in Zeitlupe seine Best-Dad-Kaffeetasse ab, greift nach meiner Zugangskarte.

»Aber sie geht irgendwie nicht auf.«

»Hm«, macht er.

»Sie hat immer funktioniert«, sage ich, um noch mal zu betonen, dass das hier wirklich seltsam und nicht meine Schuld ist.

Er blickt von mir zu meinem Foto und wieder zu mir. »Set-Praktikantin, ja?«

»Also genau genommen war ich Set-Praktikantin. Jetzt bin ich hier als … Cast?« Meine Stimme geht wie automatisch nach oben, weil es sich so schräg anfühlt, das zu sagen.

»Dann kann’s ja nicht klappen«, murrt der Pförtner, und ich runzle die Stirn.

»Warum?«

»Na ja, wenn Sie keine Praktikantin mehr sind, gilt Ihre Karte nicht mehr. Ist doch klar.«

Ist doch klar. Na danke.

»Wenn Sie auf der Liste stehen, kriegen Sie einen Besucherausweis von mir. Und dann holen Sie sich einfach eine neue Karte.«

»Okay, cool. Danke.«

»Ferne Resnik«, liest er von meiner alten Karte ab, während der große schwarze Wagen hinter meiner kleinen roten Klapperkiste noch mal hupt. »This is Our Time.«

»Genau.«

Er gibt meinen Namen in seinen Computer ein. Schüttelt den Kopf. »Sorry, aber Sie stehen hier nicht.«

»Was?«

»Mir sind die Hände gebunden«, sagt er.

»Entschuldigung, aber das ist unmöglich.« Ich kann nicht zu spät zu meinem ersten Table-Read kommen.

»Ist aber so.« Er zuckt halb entschuldigend mit den Schultern.

»Darf ich mal sehen?«

Er schnaubt. »Mit Sicherheit nicht. Da komme ich in Teufels Küche. Ist streng vertraulich.«

»Könnten Sie beim Cast für This is Our Time mal nachschauen? Einfach die Liste durchgehen?«

Seufzend gibt er den Titel der Show ein und geht dann Namen für Namen durch. »Ich habe hier eine Ferne«, sagt er, und Erleichterung durchströmt mich.

»Ja, das bin ich!«

»Aber der Nachname wird hier anders geschrieben. Mit Z. Reznik.«

»Aber das ist mein Name, sehen Sie?« Ich deute auf meine ungültige Zugangskarte. »Dann hat jemand einen Fehler gemacht. Aber ich bin Ferne.«

»Sorry, aber ich kann Sie nicht reinlassen. Ich krieg einen Riesenärger.«

»Aber doch nur, wenn Sie jemanden reinlassen, der nicht befugt ist. Ich bin aber befugt. So was von befugt.« Ich versuche mich an einem unwiderstehlichen Lächeln.

»Der Name ist schon sehr ähnlich …«

»Ja!«

»Kann aber natürlich auch ein Zufall sein.«

»Bei einem so seltenen Namen? Das wäre aber wirklich ein krasser Zufall.« Doch sobald ich es ausgesprochen habe, weiß ich, dass ich das besser nicht gesagt hätte.

»Hat schon krassere Zufälle gegeben, will ich meinen. Also mir sind hier echt die Hände gebunden.«

Das ist doch nicht sein Ernst! »Aber ich muss da rein!« Ich kann nichts dagegen tun, dass sich nun leichte Panik in meine Stimme mischt. Diese ganze Situation ist ohnehin schon unangenehm genug. Dass ich jetzt noch nicht mal aufs Gelände komme, ist die Kirsche auf meinem Nervositäts-Eisbecher.

»Und ich darf Sie nicht reinlassen. Da könnte ja jeder dahergelaufene Psycho-Fan ankommen. Hatte da schon richtig heftige Kaliber, das kann ich Ihnen sagen. Und die hatten den Namen auf dem Ausweis immerhin richtig geschrieben. Erst letzte Woche musste ich einer hinterherrennen, die behauptet hat, die Freundin von Rio McQuoid zu sein. Aber nicht mit mir, habe ich ihr gesagt.«

Wieder hupt das Auto. Und als ich mich umdrehe, sehe ich, dass nun drei weitere Wagen auf Einlass warten.

»Ich müsste Sie bitten, den Weg frei zu machen«, sagt der Pförtner, und ich stampfe mit dem Fuß auf – was nicht gerade dazu beiträgt, dass er mich ernster nimmt.

»Das ist doch Bullshit! Da steht mein Name! Ich …«

Doch er schüttelt langsam den Kopf und nimmt einen Schluck aus seiner Best-Dad-Tasse.

Shit. In diesem Moment drückt der Fahrer hinter mir lange auf die Hupe, und die anderen Wartenden tun es ihm nach.

»Fahren Sie bitte Ihren Wagen weg, Miss.« Und weil mir nichts anderes übrig bleibt, zucke ich entschuldigend mit den Schultern und bedeute den Fahrern der anderen Autos, dass sie leider ein Stück zurückfahren müssen. Wie unendlich peinlich.

 

Zehn Minuten später werde ich von Izzy abgeholt.

»Tut mir leid, Ferne«, sagt sie, auf dem Kopf ein Headset, in der Hand ein Tablet. »Jemand hat sich wohl vertippt. Das kommt davon, wenn es keine Praktikantin mehr gibt.« Sie lacht, aber ich würde trotzdem am liebsten wutweinen. »Hier hast du jedenfalls deine neue Karte. Ist zwar nicht meine Aufgabe, aber solange Ferris sich noch überlegt, wessen Kopf für diesen Fuck-up rollen soll, dachte ich, ich mache mich mal nützlich.«

Ich nehme sie in Empfang. Statt Set-Praktikantin steht nun Cast darauf.

»Und jetzt schnell, die anderen warten schon.«

Ich gebe ein leises Schnauben von mir. Denn das ist ja wohl wirklich nicht meine Schuld.

Wir betreten die fensterlose Halle. Wie alle Studios ist auch dieses hier lichtdicht, damit man die Lichtstimmung beim Dreh kontrollieren kann. Im hinteren Teil werden Sets gebaut. Von hier aus sieht man nur mit Stoff bezogene Stellwände, aber dahinter werden komplette Klassenräume und Wohnhäuser zum Leben erweckt. Neben der Tür stehen Tische mit Kaffeekannen, Bagels, Muffins. Ich folge Izzy über dunklen Betonboden, auf dem Kabel festgetapet wurden. Sie führt mich durch eine Tür und in einen kleinen Raum. Hier ist ein Rechteck aus Tischen aufgebaut, an dem der Cast, Ferris, Izzy, Amanda Nicholls und Charles Silverman – unser Produzenten-Duo –, sowie die beiden Head-Autoren Tony und Lucille sitzen.

»… und wenn man dann noch ewig warten muss, weil irgend so eine Bitch ihre Karte vergessen hat …« Lidia stößt einen theatralischen Seufzer aus. »Oh, hi«, sagt sie mit einem Blick auf mich und lässt keinen Zweifel daran, dass sie sowohl weiß, dass ich die Bitch ohne Karte bin, als auch, dass ich gehört habe, was sie gesagt hat. Und es ist ihr nicht mal peinlich. So viel Indifferenz ringt mir beinahe so etwas wie Bewunderung ab.

»Auch schon da«, sagt Ferris.

»Sorry, mein Name war …«

Doch er lässt mich nicht ausreden. »Herzlich willkommen zum ersten Table-Read, Leute. Mit ein bisschen Verspätung zwar, aber besser spät als nie und vielleicht ab jetzt dann auch ohne Unterbrechung.« Er wirft mir einen mahnenden Blick zu, weil der Stuhl zwischen Bonnie Richardson und Casimir Lapine, der offensichtlich für mich bestimmt ist, knarzt, als ich mich niederlasse.

Ich verkneife mir ein »Hi« nach links und rechts und mache mich so klein wie irgend möglich, während Ferris noch was von »Respekt unser aller Zeit gegenüber« und »Startschuss für dieses aufregende Projekt« faselt. Wobei man ihm das »aufregende Projekt« nicht so recht abnimmt. Denn es ist kein Geheimnis, dass Ferris Linch andere Pläne mit seiner Karriere hatte, als bei Teendrama-Netflixserien Regie zu führen. Sein erster Film war ein Überraschungserfolg, nach dem ihm der Fame etwas zu sehr zu Kopf stieg. Sein letzter Film wurde allerdings von der Kritik zerrissen, was vielleicht seine Launen erklärt – wenn auch nicht entschuldigt. Gerüchten zufolge ist This is Our Time Ferris’ Inception -Move. Eine Show, die er dem Studio zum Gefallen dreht, damit er Geld für sein Herzensprojekt von ihnen bekommt. So wie Christopher Nolan damals Batman drehte, um das Geld für Inception zu bekommen.

»This is Our Time , Table-Read«, eröffnet Tony nun die Runde. »Folge 1, Szene 1.«

Um mich herum rascheln die Anwesenden in ihren Skripts, und ich beeile mich, meins aus meinem Rucksack zu holen. Doch es hat sich irgendwie verhakt.

»Die Schulglocke ertönt, Schülermassen strömen auf die Gänge, Zoom-in auf die Eingangstüren, durch die in diesem Moment Ryder Scott, der Neue, tritt «, liest Tony. »Blicke wenden sich um, die Schülerinnen und Schüler erstarren in Ehrfurcht. Mit einer Ausnahme. Madison Harris, 17 Jahre, Schülerin des Abschlussjahrgangs. Sie nimmt kaum Notiz von Ryder und ist offensichtlich schlecht gelaunt. Ihr bester Freund Theo nähert sich. «

»Maddy, was machst du denn für ein Gesicht «, liest Casimir neben mir, und erst in diesem Moment gelingt es mir, das Skript aus meiner Tasche zu befreien. Die Seiten sind völlig verknickt, und ich blättere hektisch zu meinem Einsatz.

Ferris räuspert sich, und mir gegenüber seufzt jemand theatralisch. Lidia.

»Sorry, sorry, sorry«, sage ich leise und mit einer für mich untypisch piepsigen Stimme.

»Maddy, was machst du denn für ein Gesicht «, liest Casimir erneut, um mir einen Einstieg zu liefern.

»Ich kann es kaum erwarten, das alles endlich hinter mir zu lassen «, lese ich, so wie ich es in den letzten Tagen mit Eric geübt habe. »Provinznest mit Provinz-Highschool, auf die Provinz-Schüler gehen …… «

»Kein Glück gehabt mit der Theater-AG? «, fragt Casimir aka Madisons bester Freund Theo neben mir.

»Kein Glück ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Erst haben sie geschwiegen, dann hat Jackson Miller gerülpst, was natürlich deutlich interessanter war als alles, was William Shakespeare je geschrieben hat. « Ich versuche, so zu klingen, wie ich mir eine genervte Madison vorstelle. Ein Mädchen mit Ambitionen, das niemand versteht. Ein Mädchen, das mehr will als das Leben in einer amerikanischen Kleinstadt, in der die Freizeit aus Highschool-Football und Übernachtungspartys besteht. Ein Mädchen, das an guten Tagen missverstanden, an okayen Tagen nicht verstanden wird und dem an normalen Tagen einfach niemand Beachtung schenkt.

»Ähm, Maddy, warum kommt Amber Lucas auf dich zu? «, flüstert Casimir neben mir.

»Hä? Was? Am… oh, hi Amber. «

»Madison Maguire «, liest Lidia, und diese Rolle passt wohl eindeutig besser zu ihr. »Ich habe gehört, du hast ein kleines Theaterprojekt am Laufen. «

»Hatte «, präzisiere ich. »Aufgrund von mangelndem Interesse ist es wohl gestorben. «

»Pssst. « Casimir stößt mich in die Seite, ich sehe auf.

»Was?«

Lidia und Rio mir gegenüber lachen.

»Das ist Teil des Skripts«, sagt Casimir.

»Oh. Ups. Sorry.« Hitze schießt mir in die Wangen. Das weiß ich doch eigentlich! Ich kann das verdammte Skript auswendig! Was ist denn los mit mir?

»Pssst. Maddy. Hör dir an, was sie zu sagen hat «, liest er nun flüsternd, ohne mich mit seinem Ellenbogen anzustupsen.

»Was interessiert es dich, Amber? «

»Nun, vielleicht habe ich die Lösung. «

»Okay? « Ich versuche, ungläubig und teilnahmslos gleichzeitig zu klingen.

»Ich brauche noch einen Wahlkurs, du brauchst Schauspieler. «

Und so beginnt der Pulitzerpreis-verdächtige Konflikt in der ersten Szene von This is Our Time.