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Luana

 

Schauspielersohn spurlos verschwunden.

 

Seit Sonntag, 2. Oktober 2016 ist Mason Gardner, Sohn des weltbekannten Schauspielers Rouven Gardner, als vermisst gemeldet. Zuletzt wurde der siebzehnjährige, ein Meter siebzig große, schlanke Junge am Samstagnachmittag in der Nähe des Bärengrabens in Bern gesichtet. Er trug bei seinem Verschwinden schwarze Cargohosen sowie eine Lederjacke in derselben Farbe und Arbeiterstiefel. Die Haare sind dunkelbraun, die Augen hellbraun. Hinweise können bei jeder Polizeistelle hinterlegt werden.

 

Diese Vermisstenanzeige kannte ich mittlerweile auswendig, weil ich sie gefühlte hundertmal gelesen hatte. Im Facebook, in der Tagespresse und im Fernsehen.

Aus diesem Grund suchte ich mit Alex und Scott, der seinem Bruder wie ein Zwilling glich, Masons liebste Aufenthaltsorte ab. Wir liefen auf dem Aareweg am Fluss entlang. Vor uns lag unser geliebtes Marzili, die Badeanstalt mit direktem Zugang zur Aare. Hier hatten wir im Sommer bei sonnigem Wetter oft die Freizeit verbracht.

Heute Abend hatte ich aber keinen Blick für meine Umgebung. Der Fluss, der jetzt neben uns braun und schnell vorüberfloss, kam mir düster vor. Über uns thronte das imposante helle Parlamentsgebäude aus Sandstein mit seinen kupferverkleideten Kuppeln.

Der Oktober zeigte sich von der rauesten Seite. Ein kühler Wind wehte uns um die Nase, sodass ich den Kaschmirschal enger zog. Meine langen schwarzen Locken steckten unter der Kapuze des Anoraks. Die Füße in warmen Stiefeln. Trotzdem fror ich, innerlich und äußerlich. Überall lagen bunte Blätter auf dem Gehweg herum oder wehten im frischen Wind davon. Das farbige Laub erinnerte mich wieder an meinen besten Freund, der den Herbst so liebte. Als Kinder hatten wir oft Laub gesammelt, getrocknet und die dürren Dinger auf Papier geklebt. Alles kam wieder hoch. In den Wochen vor Masons Verschwinden war eine Menge geschehen und ich fragte mich, ob es einen Zusammenhang zu seinem Verschwinden gab.

 

Unsere langjährige Freundschaft bekam Anfang September ihren ersten Riss. Wir trafen uns, wie so oft, im Keller seines Elternhauses, um einen Film anzusehen. Ich erinnerte mich auch heute noch zu gut an diesen Abend.

Mason las die Beschreibungen, der von mir mitgebrachten Blu-ray-DVDs stirnrunzelnd durch und warf sie Stück für Stück in die Stofftüte zurück. Bei jeder gab er einen blöderen Kommentar ab. Von »Nein, geht gar nicht« bis »Was für eine Scheiße, das sind ja nur Liebesfilme« durfte ich mir alles anhören.

Ich wurde immer genervter. »Geht’s noch? Was hast du für ein Problem?«

»Lu! Echt jetzt. Hast du keinen einzigen Actionstreifen gefunden? Das hier ist nur Müll.«

Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Was soll das, Mase? Das ist ungerecht. Heute bin ich dran. Du kannst das nächste Mal wieder auswählen.«

Er sah mich mit vorgestrecktem Kinn herausfordernd an. Ein spöttisches Lächeln huschte über seine Lippen. Meine Entrüstung schien ihn höchstens zu amüsieren. So hatte er mich noch nie behandelt.

»Mir ist egal, ob du dran bist. Wir suchen uns einen interessanteren Film im Web oder wir fahren in die Stadt. Es ist ohnehin öde, ständig vor der Glotze zu hocken.«

Er stellte es so hin, als würden wir nie etwas anderes tun, obwohl es seine Idee gewesen war, einen Film zu schauen. Ihm einen enttäuschten Blick zuwerfend, nahm ich meine Stofftüte in die Hand, um mich auf den Heimweg zu machen. Heute hatte es keinen Sinn mehr, weiter mit ihm zu diskutieren.

Daraufhin wirkte er doch unsicher und hielt meinen Beutel fest. »Wo gehst du hin? Wir könnten zusammen ein Bier trinken gehen. Ich kenne da ein paar coole Typen.«

»Nein. Dazu habe ich keinen Bock. Du hättest sagen können, dass du lieber ausgehen möchtest. Dann wäre ich gar nicht erst hergekommen.«

»Spielst du jetzt die Beleidigte, weil es nicht nach deinem Kopf geht? Du kannst so eine Zicke sein.«

»Hast du einen Knall? Wie sprichst du mit mir?«, regte ich mich noch weiter auf, packte meinen Kram zusammen und verschwand ohne einen Abschied. Was war nur in ihn gefahren? So kannte ich ihn nicht.

Wir stritten öfters mal und vertrugen uns dann meist nach kurzer Zeit. Diesmal jedoch war alles anders. Mason meldete sich nicht mehr und blockte sogar meine Anrufe ab, als ich den ersten Schritt zur Versöhnung tun wollte.

Ein paar Tage vor den Herbstferien kam mein sechzehnjähriger Bruder Alex von einem Besuch bei Scott zurück. Sein besorgtes Gesicht gefiel mir nicht. Deshalb hielt ich ihn auf dem Weg in sein Zimmer auf.

»Du siehst beunruhigt aus. Was ist los?« Ich ahnte, was ihn bedrückte. Bei den Gardners war im Moment die Hölle los.

Er atmete tief aus und sagte leise: »Ich soll mit Scott und Rouven auf den Campingausflug, den sie eigentlich mit Mason zusammen machen wollten.«

»Warum du und nicht Mason?«

»Mason darf nicht mit, weil er immer wieder die Schule schwänzt und sich betrinkt.«

Ich keuchte entsetzt auf. Warum zerstörte er sein ganzes Leben? Mason war doch immer ein super Schüler gewesen. Nur Mathe hatte er gehasst.

»Luana, ich habe ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen. Mason hat sich so lange darauf gefreut. Ich habe es Rouven auszureden versucht, aber er blieb dabei.«

»Dem kannst du nichts ausreden. Du weißt, wie stur er sein kann.« Ich seufzte. In dieser Hinsicht war sein Vater nicht besser als Mason. »Geh mit und genieß es«, riet ich ihm.

»Meinst du wirklich? Das wird mir Mason nicht verzeihen.« Alex sah mich mit seinen grünen Augen hoffnungsvoll an.

»Alex, es ist nicht dein Fehler. Mason wird das sicher einsehen. Auch, wenn es etwas länger dauern sollte.«

»Dann werde ich das Angebot annehmen. Irgendwann wird er hoffentlich wieder auf die Füße kommen.«

Das hoffte ich auch. Ich wuschelte ihm durch seine nach hinten gestylte Haare, was er ausnahmsweise zuließ. Er war zu sehr von seinem Problem abgelenkt.

»Ich bin echt traurig, dass ausgerechnet Mason abstürzt. Das hätte ich niemals erwartet«, gestand er mir.

Ich verstand ihn. Mir erging es nicht besser. Unsere beiden Familien waren eng miteinander verbunden. Meine Eltern waren auch Masons Paten. Wir waren untereinander so gut befreundet, als wären wir verwandt. Mason und Scott bedeuteten uns so viel, als wären wir Geschwister.

Ich verstand nicht, was in meinem Freund vorging. Wenn er nur mit mir sprechen würde, könnte ich vielleicht auf ihn einwirken.

Ich nahm mir vor, ihn zu Hause abzufangen, um mit ihm zu sprechen. Doch es kam anders.

Am Tag darauf kam ich gerade aus dem Coffeeshop im Bahnhof, da bemerkte ich ihn und seine neue Freundin, von der ich vorher noch nie gehört hatte.

Mason saß auf der runden, roten Bank, die am allgemeinen Bahnhofstreffpunkt stand. Ein Mädchen mit kurzen giftgrünen Haaren saß auf seinem Schoß und knutschte mit ihm.

Sein ungewohnter Anblick entsetzte mich. Mason hatte nichts mehr mit dem früheren, stets gepflegten Jungen zu tun.

Genau wie die Frau auf seinem Schoß trug auch er eine zerrissene Cargohose aus dunklem Stoff, die wohl einmal mit einem Camouflagemuster bedruckt gewesen war. Halboffene Militärstiefel und die schwarze Lederjacke vervollständigten die Kluft. Masons kinnlangen Haare wirkten ungewaschen und hingen ihm seitlich ins Gesicht. Vorher hatte er sie immer stylish nach hinten geföhnt und die Seiten kurz geschnitten.

Als ich zögerlich zu ihnen trat, hob die junge Frau anzüglich eine der gepiercten Augenbrauen und musterte mich aus geröteten Augen, die dick mit Kajal umrandet waren.

»Hast du uns gerade angestarrt?«

»Lass sie, Natascha. Das ist Luana«, tadelte Mason sie mit angespannter Miene und zog sie näher an sich heran. Dann wandte er sich mir zu. »Wolltest du was von mir?« Sein humorloses Grinsen verlieh seinem kantigen Gesicht einen arroganten Anblick.

»Nein, weshalb sollte ich das?«, gab ich trocken zurück. »Ich ging nur Kaffee holen und habe euch zufällig entdeckt.«

»Ach so. Dann kannst du ja wieder abzischen. Mein Freund hat keine Zeit für dich. Wir haben noch was vor.« Ihr schmales Gesicht verzog sich verächtlich.

»Natascha, das reicht! Luana hat dir nichts getan.« Mason stellte die magere Frau auf den Boden, kam zu mir und zog mich am Arm von ihr weg. Seine Freundin warf ihm einen empörten Blick zu, was mich etwas versöhnte, aber die Freude währte nur kurz.

»Lu, es ist besser, wenn du uns in Ruhe lässt. Sie und ich sind erst seit einer Weile zusammen und Natascha ist äußerst eifersüchtig. Das ist nichts Persönliches.«

»Na und? Ich wollte nur eben Hallo sagen, um nachzusehen, wie es dir geht. Anrufen konnte ich nicht. Das wird sie doch wohl verkraften?«, verteidigte ich mich genervt und rollte die Augen. Ich fragte mich, ob ich in Zukunft überhaupt noch eine Chance auf ein persönliches Gespräch bekam.

»Ich brauchte etwas Abstand, hatte zu viel Stress«, behauptete er.

»Wenn du das sagst. Übrigens, interessanter Stil, den du jetzt trägst.« Es klang arroganter als geplant, was mir ein verächtliches Schnauben von Natascha einbrachte. Sie war an seine Seite getreten und fasste Mason besitzergreifend um die schlanke Hüfte, bevor sie ihn hart auf den Mund küsste.

»Habt ihr genug gequatscht? Mase, sieh doch, wie oberflächlich diese Puppe ist. Ich bin echt froh, dass du auf mich gehört hast und nicht mehr wie ein wandelndes Modelabel herumläufst.«

Wow, was für eine Zicke. Die hatte wohl einen Knall in der Schüssel. Ich war kaum geschminkt. Nur einige meiner Kleider stammten aus Luzias Edelboutique. In der Freizeit trug ich Jeans und Shirts, aber ich kam gerade von der Arbeit im Büro eines Frachtunternehmens. Warum ließ sich Mason das gefallen?

»Ich style mich so, wie es mir passt und nicht, wie du es mir vorschreibst«, schnauzte er seine Freundin an.

Natascha warf ihm einen verletzten Blick zu. »Hey, komm mal wieder runter. Wir sollten endlich abdüsen. Die Jungs warten.«

»Ja. Lass uns verschwinden.« Er warf mir noch ein kurzes »Tschüss« zu und dann verschwanden die beiden aus dem Bahnhof.

 

Am Tag danach rief er mich unerwartet an. Damit hatte ich nicht gerechnet.

»Mase?«, meldete ich mich zurückhaltend.

»Störe ich gerade?«, fragte er.

»Nein, ich bin am Büffeln. Was willst du?«

»Ich habe noch Tickets und gehe heute Abend zum Eishockeyspiel. Kommst du mit?«

Eine Sekunde hielt ich inne und legte den Stift nieder. »Warum? Kann sie dich nicht begleiten? Ich bin nicht dein Lückenbüßer.«

»Luana. Bitte. Ich wollte dich einladen. Als Entschuldigung wegen unseres Streits.« Er hörte sich etwas befangen an.

»Echt?«, fragte ich überrascht. »Gestern hast du noch klargestellt, dass ich dich in Ruhe lassen soll. Ich blicke nicht ganz durch.«

»Ich habe mit Natascha gesprochen. Du brauchst also nicht die Beleidigte zu spielen. Ich habe dich sogar verteidigt«, antwortete er in zunehmend verärgertem Tonfall.

Ich überlegte einen Moment, entschied mich dann nachzugeben. Unserer Freundschaft zuliebe. Ich hoffte naiverweise auch, ihm ins Gewissen reden zu können.

»Okay, ich komme mit. Treffen wir uns um 19.00 Uhr vor dem

Stadion?«

»Super. Ich hoffe, dir macht es nichts aus, wenn noch zwei Kumpels mitkommen?« Er klang wieder glücklicher, sogar etwas aufgekratzt.

»Sind sie so drauf wie Natascha?«, fragte ich ihn enttäuscht, da meine Idee, ihn wieder auf den rechten Weg zu bringen, dadurch nicht aufging. Warum konnte er nicht mit mir alleine dorthin gehen?

»Hör zu, ich verstehe, warum du sauer bist, aber ich kann Natascha nicht ändern.«

»Nein, aber sie verändert dich«, erklärte ich ihm. Das machte mich traurig, was sich auch in meiner Stimme bemerkbar machte.

»Lu. Unsere Beziehung geht dich nichts an. Die Jungs sind übrigens echt cool drauf.«

Wir werden ja sehen , dachte ich verstimmt.

»Wenn du immer noch mitkommen willst, sehen wir uns heute Abend.«

»Ja, ich komme mit. Bis dann.«

»Bye, bis dann.«

Der Abend wurde ein Desaster. Es begann damit, dass mich der sonst überpünktliche Mason über eine Viertelstunde warten ließ. Kurz bevor es mir zu blöd wurde, trudelte er endlich locker und bereits angeheitert ein. Die Augen glasig und gerötet.

Seine neuen Kumpels trugen denselben Kleidungsstil wie Mason und waren kahlrasiert. Hoffentlich kam Mason nicht auch noch auf die Idee, ihnen mit der Frisur nachzueifern.

Einer der beiden, vermutlich der Ältere, trug seitlich am Hals ein Tribaltattoo und schien um die dreißig Jahre alt zu sein. Der andere, etwa Mitte zwanzig, musterte mich anzüglich aus dunkelbraunen Augen. Auch seine Pupillen waren erweitert. Warum gab sich Mason mit solchen Typen ab? Mir waren sie unheimlich.

Zur Begrüßung umarmte mich Mason wie üblich und gab mir einen Kuss auf die Wange. Entsetzt fiel mir auf, Mason roch nicht nur nach Bier, sondern auch nach Gras. Diesen süßen Geruch fand ich schon immer eklig.

Rasch löste ich mich von ihm und verzog das Gesicht, aber er realisierte das nicht einmal.

»Luana, das sind Mike und Silvio«, stellte er die Männer mit verwaschener Stimme vor.

Als mir Silvio auf die Pelle rücken wollte, wich ich schnell aus, was mir einen beleidigten Blick des Verschmähten einbrachte. Mike dagegen nickte mir nur zu und checkte mich aus gletscherblauen Augen amüsiert ab. Dann lehnte er sich arrogant an die Wand und schaute provozierend auf seine Uhr. Großgewachsen, muskulös, aber nicht aufgepumpt, sah er besser aus, als ihm guttat. Ich hatte solche Typen noch nie gemocht.

Silvio ignorierte mich danach das ganze Spiel über, was ich leider von Mike nicht behaupten konnte. Er zwinkerte mir immer wieder belustigt zu, als er meine verärgerten Blicke zu Mason bemerkte. Der benahm sich völlig unmöglich.

»Das war hoher Stock! Bist du blind, du gestreifter Idiot da unten!«, schrie er.

»Du hast wohl deine Lizenz im Lotto gewonnen!«, setzte Silvio noch eins drauf. So ging es die meiste Zeit über weiter. Ich schämte mich zu Tode und verabscheute ihre primitiven Sprüche, die sie auch über die gegnerischen Fans abließen. Früher wäre Mason ein derartiges Verhalten niemals eingefallen.

In der Pause schlängelten wir uns durch die Fans, die Treppe hinunter, zu den Getränkeshops und den Tischen. Mike war sonst wo im Stadion verschwunden.

»Ich gehe Bier holen. Sirup haben sie leider keinen für deine Kleine. Was nimmt sie?«, stänkerte Silvio und lachte.

»Die Kleine verzichtet«, gab ich verächtlich zurück.

»Ui, sie kann aber fies austeilen«, spottete er und ging in Richtung des Getränkestands.

Mason sah mich grimmig an. Das reichte mir. Wütend stellte ich mich vor ihn und hielt ihn am Arm fest. »Was ist los mit dir? Du betrinkst dich und kiffst jetzt sogar.«

»Hey. Sei etwas lockerer, Lu! Du bist so spießig. Bleib das nächste Mal besser zu Hause.« Er sah mich aus geweiteten Pupillen an und entzog mir abrupt seinen Arm.

»Schon vergessen? Du hast mich eingeladen.« Ich spürte, wie sich Tränen in meinen Augen ansammelten, aber ich schluckte sie stolz herunter.

»Flennst du etwa gleich? Nimm dir doch ein Beispiel an Natascha. Die ist voll cool und nörgelt nicht die ganze Zeit an mir herum. Ich wollte unserer Freundschaft noch eine Chance geben, aber echt, ich weiß nicht, warum.«

»Wie edel. Danke. Ich verzichte, wenn du dich weiterhin wie ein Idiot verhältst. Ach, vergiss es, du checkst in deinem zugedröhnten Zustand eh nichts mehr. Ich gehe nach Hause.«

»Dann verpiss dich doch, du Spaßbremse.« Er wandte sich bereits ab und schlenderte zu Silvio, der mit dem Bier zurückkehrte. Als krönenden Abschluss prostete er mir noch zu und lachte.

Ich kehrte ihnen den Rücken und lief beinahe in Mike, der von irgendwo herkam.

Er musste meine Tränen bemerkt haben, die jetzt doch flossen. Sachte hielt er mich an beiden Armen fest, damit ich nicht stürzte. »Was ist denn los, Kleines? Hattet ihr Streit?« Er sah zu Mason und dann wieder zu mir.

»Das geht dich überhaupt nichts an«, brachte ich heraus, riss mich von ihm los und rannte aus dem Stadion. Ich wusste, dass ich ihm gegenüber ungerecht reagiert hatte, aber das war mir in diesem Moment egal.

Masons Anruf am Tag danach nahm ich nicht entgegen und blockte seine Nummer. Er konnte mir gestohlen bleiben.

 

Am Montag, eine Woche später, hörte ich unabsichtlich und völlig schockiert den Schluss eines Telefonats zwischen Ma und Luzia mit.

»Wie bitte?« Ma keuchte auf. Ihre braunen Augen wirkten entsetzt. »Seit wann ist Mason verschwunden?«

Verstört sah ich sie an. Sie stellte das Handy auf Lautsprecher, damit ich mithören konnte.

»Gestern Abend kam er nach einer Geburtstagsparty nicht nach Hause«, erzählte Luzia mit rauer Stimme und schniefte.

»Scott erwähnte, Mason habe angeblich bei Nino, einem Klassenkameraden übernachtet«, informierte ich sie.

»Ja, aber er sollte gestern Abend heimkommen, denn wir hatten ihm verboten, weiterhin während der Woche wegzugehen. Von ihm fehlt jegliche Spur.« Ich hörte ein Rascheln und dann einen Schluchzer. »Wir haben bei Nino angerufen. Mason war nie bei ihm. Er hat uns knallhart angelogen.« Luzia konnte vor lauter Weinen kaum mehr sprechen.

»Wurde die Polizei bereits informiert?«, erkundigte sich Ma sachte.

»Ja, schon gestern. Sie durchkämmen die Gegend mit Spürhunden. Wir haben sämtliche Klassenkameraden angerufen, aber niemand weiß Bescheid, wo Mason sein könnte. Angeblich hatte er keinen guten Draht zu seinen Mitschülern.«

Das hatte ich gewusst und mich deshalb gewundert, warum er bei Nino sein sollte. Doch ich verstand sein Verhalten eh nicht mehr.

»Die Polizei spricht sogar von einer möglichen Entführung. Mason ist wegen Rouvens Bekanntheit ein geeignetes Opfer. Bei uns sitzt ein Team der Kriminalpolizei, für den Fall, dass sich ein Erpresser meldet.«

Doch es traf weder ein Brief noch ein Telefonat mit einer Geldforderung ein.

 

Heute, drei Wochen später, blieb nur noch eine kleine Hoffnung, ihn lebend wiederzusehen.

Diese war unsere einzige Motivation, beinahe jeden Abend unterwegs zu sein. Die Chance, ihn lebend zu finden, wurde immer kleiner. Keiner von uns glaubte noch an ein freiwilliges Wegbleiben von Mason. Etwas musste geschehen sein. Die Tränen liefen vor lauter Kälte und Trauer unentwegt über meine Wangen.

»Luana, wir werden ihn finden«, versuchte mich Alex zu trösten. Er legte seine kräftigen Arme um mich. Mein Bruder war bereits jetzt größer als ich. Sonst glich er mir sehr. Er hatte die gleichen grünen Augen und schwarzen Haare. Nur das Gesicht war kantiger als meins und natürlich seine Frisur.

Luzia hatte ich in unserem Telefonat eine Kurzversion über Masons neuen Freunde erzählt, damit die Polizei nach den drei Personen fahnden konnte. Vielleicht war er bei ihnen. Doch auch sie blieben unauffindbar. Niemand wusste, wo sie wohnten.

Auf einmal klingelte mein Handy. Ich zog es aus meiner Jacke und sah auf das Display. Schnell nahm ich das Gespräch an. »Pa?« In diesem einen Wort schwang gleichzeitig Angst und Hoffnung mit.

»Wo seid ihr?«, fragte er mit heiserer Stimme. Sofort bekam ich ein schlechtes Gefühl. Die beiden Jungs blickten mich ängstlich an.

»Auf dem Aareweg, unterhalb der Kirchenfeldbrücke.« Ich stellte das Gerät auf laut, damit die beiden mithören konnten.

»Kommt ins Inselspital. Rouven hat einen Anruf der Kripo erhalten. Mason wurde in einem Waldstück gefunden.«

Mein Puls raste vor lauter Angst und ich sah meinen Begleitern an, ihnen ging es genauso. Ich brachte es kaum über die Lippen, die drängendste Frage zu stellen. Doch ich musste es wissen. »Lebt er?«

»Sein Zustand ist kritisch. Mehr Details sind mir nicht bekannt. Ich warte beim Haupteingang auf euch.«

Kritisch hieß, er lebte. Erleichtert atmete ich aus, doch meine Stimme zitterte noch immer. »Quatsch, bleib bei Rouven. Er wird dich jetzt brauchen. Wir werden euch schon finden. Sie bringen Mason sicher in die Notaufnahme«, schlug ich seinen Vorschlag aus. Dann verabschiedete ich mich.

Ich weinte vor Erleichterung und hatte doch Angst, dass Mason es nicht überstehen könnte. Auch Alex und Scotts Augen glitzerten verdächtig und wir umarmten uns, ehe wir uns auf den Weg machten.

Schnell liefen wir den gewundenen schmalen Frickweg hinauf, der nach oben zur Kirchenfeldbrücke führte. Oben keuchte ich wie verrückt, was die Jungs kurz zum Lachen brachte. Die beiden trieben sehr viel Sport und waren kaum außer Atem.

Etwa zweihundert Meter entfernt, gleich neben dem Zytgloggeturm, befand sich eine Tram-Haltestelle. Von hier fuhren wir bis zum Bahnhof, bei dem wir auf eine andere Linie umsteigen mussten. Ich schaute nach draußen, aber ich sah kaum die eng aneinandergereihten Sandsteinhäuser im alten Stadtteil, die mit Lauben versehen waren. Ich achtete nicht auf die modernen Bürokomplexe, die sich nach dem Bahnhof aneinanderreihten. Ich sah nur Mason vor mir, wie wir uns zuletzt getrennt hatten. Erneut musste ich mit den Tränen kämpfen.

Eine halbe Stunde später betraten wir das hohe Gebäude des Inselspitals, das zugleich als Uniklinik diente.

Scott erkundigte sich beim Personal der Notaufnahme nach seinem Bruder, woraufhin sie ihm den Weg zeigten.

Sobald wir den Wartebereich betraten, standen Pa und Ma auf und kamen uns entgegen. Sie sorgten sich sehr um Mason. Er war in der letzten Zeit unser Hauptthema gewesen. So wunderte es mich nicht, sie beide enorm angespannt zu sehen.

Mit Luzia und Rouven sprach ein Polizist. Scott lief zu seinen Eltern und seine Mutter zog ihn stumm an sich. Obwohl er schon fünfzehn war, ließ er sich über die Haare fahren, was er sonst wie die Pest hasste.

»Wisst ihr schon mehr?«, fragte ich mit leiser Stimme. Es fühlte sich an, als würde mir ein Kloß im Hals stecken.

»Mason war nicht bei Bewusstsein, als sie ihn einlieferten. Er wird noch untersucht.«

Wir setzten uns hin und warteten händehaltend auf Neuigkeiten.

Helle Möbel und Pflanzen versuchten dem kargen Raum etwas Freundlichkeit zu vermitteln, doch das half wenig, damit wir uns wohler fühlten. Dazu waren wir vor lauter Sorge um Mason zu abgelenkt. Mein Magen fühlte sich wie verknotet an.

Vor einer der Türen stand Morrison. Tiefe Sorgenfalten zeichneten die Stirn des fünfundvierzigjährigen Sicherheitschefs der Gardners. Nachdem sich der Polizist von Masons Familie verabschiedet hatte, schritt Rouven kurz zu ihm. Ich verstand nicht, worüber sie sprachen, aber beide machten ein ernstes Gesicht.

Erst nachdem er zurückehrte, stand ich auf, ging zu Luzia und Rouven und umarmte sie.

»Danke, dass ihr euch all die Abende unserer Suche angeschlossen habt.« In Rouvens markantem Gesicht, das eine ältere Ausgabe seiner Söhne war, zeigten sich die Spuren der letzten Wochen. Dunkle Schatten unter den Augen und Sorgenfalten um den Mund ließen auf lange Nächte schließen. Genauso bei Luzia, die sich immer wieder die Tränen abwischte, welche ihr über die Wangen liefen. Ihre dunkelbraunen Haare, die sie im Bob trug, waren etwas zerzaust, und sie war ungeschminkt, was in der Öffentlichkeit selten vorkam. 

»Das war doch selbstverständlich. Was hat denn die Polizei gesagt?«, erkundigte ich mich mit stockender Stimme. Ängstlich sah ich sie an.

»Ein Fußgänger, der mit seinem Hund unterwegs war, hat ihn bewusstlos in einem Waldstück, etwas oberhalb des Spitals, gefunden. Er lag bloß in Unterwäsche und in einer Tarndecke eingewickelt da. Mason ist völlig unterkühlt und liegt jetzt im Schockraum.« Luzia konnte kaum weitersprechen und stockte. »Masons Hände und Füße waren mit Seilen gefesselt. Die Verbrecher haben ihn mit Stofftüchern geknebelt und ihm die Augen verbunden. Sogar die Haare wurden ihm abrasiert.«

Wieder begann sie zu weinen und Rouven zog sie näher an sich.

»Was?« Ich schlug mir die Hände vor den Mund und starrte die beiden mit großen Augen an. Mein Herz blieb beinahe stehen. Was hatten die noch alles mit meinem Freund angestellt?

Wir mussten uns eine weitere halbe Stunde gedulden, bis sich ein Arzt zeigte. Ein älterer Herr im weißen Kittel kam aus dem Raum, in dem Mason lag, und trat zu Rouven und Luzia.

»Guten Abend, sind Sie die Eltern von Mason Gardner?«, fragte er. Luzia und Rouven bejahten in freundlichem Tonfall.

»Mein Name ist Jürg Obrist. Ich bin der diensthabende Arzt und bin für Ihren Sohn zuständig.«

»Das hier sind meine Frau Luzia, unser Sohn Scott und Lukas Berger mit Familie. Mein Name ist Rouven Gardner«, erklärte mein Pate.

»Ist das dort Ihr Angestellter?« Dabei zeigte er auf den Leibwächter.

»Ja, Mr Morrison ist mein Sicherheitschef. Er und seine Crew werden den Raum unseres Sohnes abwechselnd bewachen. Gemäß der Polizei ist Mason in großer Gefahr, sobald die Entführer von seinem Überleben erfahren. Ich denke, dies sollte kein Problem für Sie darstellen.«

»Es ist etwas ungewohnt, aber unter den Umständen verständlich.«

»Wie geht es Mason? Können wir jetzt zu ihm?«, fragte Luzia.

»Ich möchte mich vorher kurz mit Ihnen beiden unterhalten. Folgen Sie mir bitte in mein Büro.«

»Natürlich, gerne«, antworte Rouven, obwohl ihm die Ungeduld anzusehen war.

 

Nach einer Viertelstunde kehrten sie zurück. Beide wirkten noch blasser als zuvor und erzählten uns die Neuigkeiten.

»Mason wurde mit Drogen betäubt, welche die Ärzte mit einem Gegenmittel zu neutralisieren versuchen. Auf jeden Fall hatte er unwahrscheinliches Glück. Er wird gleich auf die Intensivpflegestation verlegt, wo sie ihn weiterhin engmaschig beobachten können.«

»Dürfen wir zu ihm?«, fragte ich besorgt. Die ganze Warterei und Ungewissheit zehrte an meinen Nerven.

»Die Familie darf abwechselnd rein. Wir müssten uns erkundigen, ob sie es dir auch erlauben«, erklärte mir Rouven.

»Sag doch, du seist seine Verlobte«, meinte Scott augenzwinkernd. »Das klappt in Filmen immer.«

»Scott, also wirklich«, tadelte ihn Luzia. »Wir werden freundlich nachfragen.«

Es war nicht so einfach, das Personal zu überzeugen.

»Luana wird nur ganz kurz reingehen. Mason ist wie ein Bruder für sie«, erklärte Luzia der Pflegefachfrau. »Wir übernehmen die Verantwortung.«

Die Frau sah nicht überzeugt aus. »Ich werde Doktor Obrist fragen.« Dann war sie schon weg. Ich dachte bereits, sie käme nicht mehr zurück, als die Frau endlich um die Ecke des Flurs bog.

»Sie dürfen zu ihm, aber bleiben Sie nur ein paar Minuten. Der Junge braucht Ruhe.« Sie sah mich streng an. Was dachte sie denn von mir? Ich war doch kein Kind mehr.

 

Mason lag still und bleich da. Am Körper klebten mehrere Elektroden, die die Vitalwerte kontrollierten. Aus einem Infusionsbeutel tropfte eine Flüssigkeit durch den Zugang in seiner Hand. Seine Wangen wirkten eingefallen und der kahle Kopf verschlimmerte das abgemagerte Aussehen noch zusätzlich. In seinem Mund steckte ein Schlauch, mit dem man ihn beatmete. Eine dicke Decke lag über seinem Körper.

Ich fasste seine rechte Hand. »Mase, ich vermisse dich. Komm schon, du sturer Esel. Kämpfe. Du schaffst das.«

Er gab keinen Laut von sich.

Plötzlich begann es zu piepen. Lämpchen leuchteten auf und mehrere Personen stürzten zu ihm.

Erschrocken wich ich zurück. Ich trat in die hinterste Ecke des Zimmers, um niemanden zu behindern und presste meine Faust auf den Mund, um nicht vor Angst zu schreien.

Doktor Obrist blickte auf den Monitor. »Kammerflimmern!«, rief er. »Wir reanimieren!.«

Ein Intensivpfleger begann mit der Herzdruckmassage, während eine Fachperson den Defibrillator einstellte und Pads an Masons Oberkörper anbrachte.

Plötzlich hieß es: »Alle weg vom Patienten. Achtung, Schock wird abgegeben!« Nachdem alle einen Schritt auf die Seite getreten waren, gab der Intensivpfleger den ersten Stromstoß ab. Danach wurde er erneut reanimiert und beatmet.

Mir schien es wie eine Ewigkeit, bis Herr Obrist endlich Entwarnung gab. »Wir haben ihn wieder!«

Das Personal hatte mich vergessen. Eilig verließ ich den Raum und setzte mich draußen zu meiner Familie auf einen Stuhl. Meine Knie waren weich wie Gummi und zitterten. Solche Szenen im Fernsehen zu sehen, war bereits krass, aber in echt und wenn der beste Freund auf der Kippe des Todes stand, war es beängstigend. Mir war übel vor Sorge. Tränen liefen über meine Wangen.

 

Zwei Tage bangten wir um Masons Leben, ehe er endlich stabil war und in ein Einzelzimmer verlegt wurde. Während dieser Zeit erlitt er noch einen zweiten Herzstillstand. Ich schaffte es nicht, ihn ein weiteres Mal zu besuchen. Die Angst, das erneut zu erleben, war zu groß.