Dad geleitete Mom zum Ausgang, denn sie musste wieder ins Geschäft. Inzwischen zog ich mich, auf dem Bett sitzend, um. Ich traute mich nicht, nochmal ohne Hilfe aufzustehen.
Die Jogginghose schlabberte mir um die Hüften, was daran erinnerte, welch Volltrottel ich war.
Eine Viertelstunde später wurde ich durch Dad und zwei Polizisten, die ins Zimmer traten, aus den Gedanken gerissen. Rasch setzte ich das Cap auf, das mir Mom gebracht hatte, denn ich schämte mich wegen der Glatze. Danach fuhr ich das Kopfteil des Bettes hoch. Ich wollte sie nicht liegend empfangen. Ich kam mir schon so erbärmlich vor.
»Hallo Mason - ich darf dich doch so nennen, oder? Mein Name ist Daniel Franzen und das ist meine Kollegin Katharina Thomann«, begrüßten mich die beiden.
»Guten Tag. Klar, dürfen Sie das.« Ich reichte ihnen höflich die Hand.
»Wie geht es dir?«
»Danke. Mir ging es schon besser«, gab ich ehrlich zur Antwort. Warum sollte ich lügen? Sie wussten Bescheid.
»Das tut mir leid für dich. Bedauerlicherweise müssen wir dir trotzdem ein paar Fragen stellen«, erklärte mir Herr Franzen. Er war ein jüngerer Typ mit bereits schütterem Haar. Seine Stimme wirkte ruhig und angenehm.
Resigniert nickte ich. »Mein Vater hat mich informiert, dass Sie kommen. Leider kann ich Ihnen kaum helfen. Ich wusste nach dem Erwachen nicht einmal, was mit mir los war.«
»Oh, das ist zwar ungünstig und muss für dich sicher schwierig sein, aber jedes Detail kann bedeutend sein. Erzähl uns einfach, an was du dich als Letztes erinnerst.«
»Ich wollte mit Freunden zu einer Party und hatte auf der untersten Stufe der Nydeggtreppe auf sie gewartet. Es war schon dunkel.«
»Hast du da Drogen konsumiert?«, erkundigte sich Frau Thomann.
»Nein. Ich habe dort nur ein Bier getrunken. Danach fehlen mir jegliche Erinnerungen.«
»Bist du dir sicher?«
»Ich bin kein Lügner«, gab ich gereizt zurück und sah ihr verletzt in die Augen.
Dad fasste mir an die Schulter und mahnte mich mit einem strengen Blick, höflich zu bleiben.
»Du hast bereits deine Eltern angeschwindelt. Sie dachten, du seist bei einem Schulkollegen. Warum sollten wir dir glauben?«
»Ich hatte nichts geraucht, denn ich war an jenem Tag knapp bei Kasse und musste erst wieder auf mein Taschengeld warten.« Dad hatte es mir als Strafe gekürzt.
»Okay, lassen wir das. Kannst du mir sagen, wie deine Freunde heißen und wo sie wohnen?«
»Die Frau heißt Natascha. Ich war mit ihr zusammen. Wir trafen uns immer in der Altstadt, nie in einer Wohnung. Oft war auch Silvio dabei. Sie schlief mal da und mal dort. Er hat angeblich eine Wohnung, irgendwo in der Altstadt.« Ich hob nur die Schulter.
»Hast du dich nicht gefragt, weshalb sie kein Zuhause hatte?«, erkundigte sich Herr Franzen in einem zweifelnden Tonfall.
»Nein. Ich war nur froh, dass mich jemand so akzeptierte, wie ich bin. Ausnahmsweise war Dad mal kein Thema.«
Die beiden warfen sich einen unergründlichen Blick zu, was ich nicht ausstehen konnte.
»Haben die Leute auch Nachnamen?«, fragte Frau Thomann mit feinem Spott. Diese Trulla mit ihren roten Haaren ging mir ganz schön auf den Keks.
»Ich nehme es an«, gab ich deshalb in demselben Tonfall zurück. »Das war mir unwichtig.«
»Wo war die Party?«
»Keine Ahnung.« Ich hatte doch bereits gesagt, dass ich mich nicht daran erinnerte. Die Inquisition nervte tierisch.
»Könntest du uns zu dem Partylokal hinführen?«
»Nein. Meine Erinnerung hört bei der Nydeggtreppe auf.«
Immer wieder dieselben Fragen. Wollten sie mich testen?
»Erkennst du jemanden auf den Fotos?« Der Polizist legte ein paar Bilder vor mich hin.
Ich studierte die Gesichter. Ein Frösteln ging mir über den Rücken, als ich in ein Paar dunkelbraune Augen blickte. Einer der hohen Wangenknochen war durch eine lange Narbe gezeichnet. Ich zeigte auf das Foto. »Dieser Typ kommt mir bekannt vor. Er muss mit meinem Verschwinden zu tun haben.«
»Interessant. Das wird uns vielleicht weiterhelfen.«
Ich sah ihn neugierig an, doch ich erfuhr keine Details. Er schrieb nur etwas auf ein Blatt.
»Wie hast du deine Freunde kennengelernt und wo?«, fuhr Herr Franzen unermüdlich fort.
Wieder erzählte ich die Geschichte von der Münsterplattform.
»Das passt. Sie könnten einer Gang angehören. Wir vermuten, dass sie Jugendliche ansprechen, um sie für sich zu gewinnen. Erst hören sie den meist psychisch Angeschlagenen zu, drehen ihnen Drogen an und zuletzt erpressen sie sie.«
»Natascha und Silvio waren wirklich echt nett und haben mir zugehört, wenn ich Probleme hatte. Das Gras hat sie mir angeboten, weil es mir beschissen…, sorry, schlecht ging«, gab ich beschämt zu. War ich in meiner Verletztheit tatsächlich auf Kriminelle hereingefallen? »Sie haben mich aber nie erpresst.«
Ich zog die Beine an und legte die Arme darauf. Eine Haltung, die Dad zeigte, wie unwohl ich mich fühlte. Ich machte das seit klein auf so.
»Sie meinen, wie eine Sekte?«, erkundigte Dad sich, um mir kurz eine Verschnaufpause zu gönnen.
»Vergleiche könnte man schon ziehen. Beide Gruppen versuchen, Leute zu ködern. Die einen mit einer Kopfwäsche, die anderen mit Drogen.«
Franzen wandte sich wieder an mich. »Mason, kannst du mir deine Freunde beschreiben?«
Das tat ich etwas zögerlich. Noch war nicht klar, ob diese tatsächlich zu der Gang gehörten. Zum wiederholten Male notierte er etwas.
»Du hast gesagt, dass du mit der Frau enger befreundet warst. Es tut mir leid, dich zu enttäuschen, Mason. Es kann sein, dass sie dir Gefühle vorgespielt hat, um dich von deinem Umfeld abzusondern.« Herr Franzen sah mich mitfühlend an.
Vermutlich hatte er recht. Es tat nach meinen vorherigen Flops weh, solche Worte zu hören. Aber ich war nichts anderes in meinem Leben gewohnt.
Ich erinnerte mich zurück an die Szene im Bahnhof und einen Tag danach beim Match. Durch sie und mein unmögliches Verhalten hatte ich wahrscheinlich Luana verloren.
Ich musste der Wahrheit ins Auge sehen, auch wenn nicht bewiesen war, dass Natascha und ihre Leute an meinem Verschwinden beteiligt gewesen waren. Meine Naivität und Dummheit hätte mich beinahe das Leben und die Familie gekostet.
»Wir haben dich doch nie aufgegeben«, beruhigte mich Dad.
Shit, ich hatte die Gedanken laut ausgesprochen. Er zog mich in eine Umarmung, in der ich blieb. Sein Trost tat mir zu gut. Am liebsten hätte ich mich zusammengerollt und geschlafen, aber ich musste weiterhin an diesem Verhör teilnehmen. Außerdem hatte ich selbst auch eine Bitte.
Langsam löste ich mich aus der Umarmung und sah wieder zu dem Polizisten. »Ich möchte meinem Retter gerne danken. Ist das möglich?«
»Leider ist der Mann spurlos verschwunden. Er gab an, dass sein Hund dich gefunden hätte. Am Fundort gab es aber keinerlei Pfotenabdrücke. Nur solche von Profilsohlen.«
Oh. Das hörte sich nicht gut an. Trotzdem fragte ich weiter: »Kann es sein, dass sie mich nicht töten, sondern nur loswerden wollten und die Polizei selbst gerufen haben?« Der Gedanke an einen möglichen Mordversuch verursachte in mir eine Höllenangst. Sie konnten es wieder versuchen, wenn sie mich erwischten.
»Das weiß niemand. Sie können sich auch in der Dosis vertan haben, denn du hattest unverschämtes Glück. In deinem Blut befanden sich hochdosierte Schlafmittelrückstände.«
»Ich hoffe, dass sie die Leute bald verhaften. Ich darf mir gar nicht vorstellen, was Mason noch alles hätte passieren können«, regte sich mein Vater auf.
»Wir tun unser Bestes, Herr Gardner«, verteidigte sich Frau Thomann.
Ich wollte nichts mehr hören und beantworten, konnte mich auch nicht mehr konzentrieren. Alles drehte sich in meinem Hirn um die Frage, wo ich die drei Wochen gewesen war. Hatte mich jemand eingesperrt? Wenn ja, weshalb wurde ich im Wald wie Abfall entsorgt? Ich hatte doch niemandem etwas getan.
»Bitte. Könnten Sie jetzt die Fragerei beenden? Ich bin so müde«, bat ich höflich. Innerlich war mir eiskalt. Zudem sollten sie das Zittern nicht bemerken, das sich bei meinen Worten eingeschlichen hatte. Ich war wieder den Tränen nahe.
»Wir haben alles und danken dir für die Geduld, Mason. Wenn du dich an irgendetwas erinnern solltest, wären wir froh, wenn du uns das sofort mitteilst. Wie gesagt. Jedes Detail ist wichtig.«
»Das werde ich tun«, versprach ich matt und wollte mir gewohnterweise durch die Haare fahren. Doch da war nur mein Cap. Meine Lippen begann zu zittern und ich senkte den Kopf, um mich zu fassen.
»Braucht Ihr zusätzlichen Personenschutz? Ich habe gesehen, dass Ihr Mann bereits vor der Tür steht«, erkundigte sich Herr Franzen.
»Das wird nicht nötig sein. Danke für das Angebot«, gab Dad freundlich zur Antwort und drückte meine Hand, um mich zu stärken. »Morrison wird die eigenen Leute aufstocken.«
»Es kann dauern, bis wir die Bande festnehmen können. Mason, du solltest dir klar sein, dass du trotz des Personenschutzes gefährdet bist.«
Ich hob den Kopf und sah ihn an. »Das ist mir klar. Aber was kann ich tun?« Ich fühlte mich überfordert.
»Wir besprechen das zu Hause, wenn es dir bessergeht«, meinte Dad. »Im Notfall kannst du eine Weile nach Montana ziehen.« Er wandte sich an die Polizisten: »Meine Eltern wohnen abseits auf einer Farm. Dort wird er sicherer sein.«
»Das wäre eindeutig besser als hier in Bern«, gab Frau Thomann zur Antwort.
Ich liebte meine Großeltern und Verwandten, aber ich wollte zuhause bleiben. »Kann ich darüber nachdenken?«, fragte ich mit einem Kloß im Hals.
»Wir besprechen das in Ruhe. Du brauchst dich nicht heute zu entscheiden«, versprach Dad mit einem Blick zu den beiden Polizisten, die mich vermutlich schon morgen aus der Stadt haben wollten.
Herr Franzen streckte mir nun die Blätter hin, die er während des Gesprächs beschrieben hatte.
»Bitte lesen Sie beide den Bericht durch und unterschreiben ihn. Mason wird erst im Dezember achtzehn, da braucht es zusätzlich die Unterschrift eines Elternteils«, erklärte er uns.
Wir lasen nacheinander den Bericht. Dort stand tatsächlich alles, was wir besprochen hatten, und wir unterschrieben, bevor wir uns verabschiedeten. Dad geleitete die Beamten hinaus.
Das Gespräch hatte mich aufgewühlt. In der Nacht darauf schlief ich unruhig und träumte.
Auf einmal befand ich mich in einem kleinen Raum, der kaum vier Quadratmeter groß sein dürfte.
So genau erkannte ich das aber nicht. Es war düster. Nur ein schmales Glasrechteck oberhalb der Tür ließ etwas Licht herein. An der gegenüberliegenden Wand zeigten sich die Schemen von leeren Regalen. Der Raum wirkte wie eine kleine Speise- oder Putzkammer. Ein flaues Gefühl im Magen befiel mich, denn ich lag nur in einer fremden Boxershorts auf der verschlissenen Matratze. Wie zum Teufel war ich hierhergekommen? Hatte ich nach der Party bei einem meiner neuen Freunde übernachtet?
Außerhalb meines kleinen Raums hörte ich ein Murmeln. Ich erhob mich und trat zur Tür, um nachzusehen. Doch sie ließ sich nicht öffnen. Fassungslos begriff ich, dass ich eingesperrt war.
Wütend rüttelte ich an der Türklinke und rief laut: »Hallo, ist hier jemand? Lasst mich gefälligst raus! Das ist nicht witzig.«
Beinahe sofort vernahm ich Schritte, die sich näherten. Ein Schlüssel wurde umgedreht und die Tür öffnete sich schwungvoll. Nur weil ich instinktiv einen Schritt zurückgetreten war, wurde ich nicht getroffen.
Silvio betrat den Raum mit einem Fremden. Der Typ wirkte bedrohlich. Einer seiner hohen Wangenknochen zierte eine Narbe. Sie reichte von der Augenbraue bis zum Mundwinkel. Die dunkelbraunen Augen wirkten streng und unnachgiebig. Mir wurde mulmig. Was hatte mein Freund mit diesem Mann zu tun?
»Wie ich sehe, bist du endlich wach. Was soll dieser Radau?«, herrschte mich der Typ an. Sein Deutsch war holprig. Er hörte sich nach einem Osteuropäer an.
»Wer sind Sie und warum war die Tür verschlossen?«, stellte ich die Gegenfrage, angespannt und erschrocken von seinem rüden Tonfall.
»Damit du drinbleibst. Was denn sonst?«, schimpfte der Fremde, nicht auf meine erste Frage eingehend.
»Ich muss aber nach Hause. Meine Eltern werden sich sonst sorgen. Ich habe ihnen versprochen, gleich nach der Party heimzukommen. Wo sind meine Kleider?«
Der Fremde grinste höhnisch. »Oh, plötzlich so brav. Ich habe anderes von dir gehört. Leider kommt deine Einsicht etwas zu spät. Es ist bereits Dienstagabend.«
Er überging die Frage mit den Kleidern einfach. Bei der Zeitangabe gefror mir das Blut in den Adern.
»Wie bitte? Ich kann niemals so lange geschlafen haben. Wo bin ich überhaupt? Wo ist Natascha?«
»Du befindest dich in unseren Händen. Meine Schwester hat dir ein Schlafmittel verabreicht.« Er wandte sich an Silvio und lachte. »Mann, ganz schön neugierig der Kleine.«
»Wie bitte? Natascha ist deine Schwester?« Schockiert starrte ich ihn an.
»Ja, aber das hat dich nicht zu interessieren. Das Wo ebenso wenig. Sobald Viktor eintrifft, wirst du uns sowieso in Richtung Osten verlassen. Das Luxusleben ist ab jetzt vorbei, Mason Gardner.«
Ich zuckte zusammen. Was hatte er gesagt? Sie wollten mich wegschicken? Entsetzt und schwer schluckend sah ich Silvio an. »Ihr wollt mich in den Osten entführen. Was soll ich da?« Das flaue Gefühl hatte sich in Übelkeit gewandelt.
Zur Vorsicht ging ich einen Schritt rückwärts, dann zwei.
»Sieh gefälligst mich an, wenn du sprichst. Ich bin hier der Boss. Du kannst mich meinetwegen mit Nikolaj ansprechen.«
Ich drehte mich augenblicklich in seine Richtung, denn ich befürchtete das Schlimmste und wollte ihn nicht provozieren. Der Typ hatte etwas Grausames an sich.
»Was dich erwartet, wirst du merken, wenn es so weit ist. Glaub mir, die Tage in diesem Raum werden dir später wie im Paradies vorkommen. Bei uns wirst du erstmal zu gehorchen lernen.«
In Panik versuchte ich, an ihnen vorbeizuschlüpfen, was mir leider nicht gelang. Die beiden versperrten den schmalen Eingang. Ich gab aber nicht auf, zappelte wie verrückt, als sie mich festhielten, kratzte und biss.
Dann ließ ich mich zu Boden fallen, um zwischen ihren Beinen hindurchzukrabbeln. Doch gegen die beiden hatte ich trotz meiner geringen Größe keine Chance. Ich wurde mit dem Bauch voran zu Boden gepresst. Silvio drückte mit dem Knie auf meinen Rücken, während Nikolaj mir einen Augenblick später die Hände hinter den Rücken zog und sie mit einem faserigen Seil zusammenknotete.
Wütend drehte ich meinen Kopf zu Silvio herum und sah ihn voller Verachtung an. Er hatte mir die Freundschaft nur vorgespielt. »Danke, du verräterisches Arschloch!«, schrie ich ihm regelrecht entgegen.
Sein Boss riss meinen Kopf an den Haaren nach hinten. »Was war das? Noch ein beleidigendes Wort und du spürst meinen Gurt auf deinem Hintern. Überlege dir also gut, was du sagst.«
Meine Augen tränten vor Schmerz von der brutalen Behandlung. Den beiden war das egal. Sie rissen mich auf die Beine und schleppten mich an den Ellbogen in den Flur, wo Silvio auf Befehl von Nikolaj eine Falltreppe aus Holz herunterzog.
»Los, geh hoch«, befahl Nikolaj.
Ich schüttelte den Kopf und blieb stehen. Was wollten die da oben?
Er packte meine Haare erneut und drehte mein Gesicht so weit, dass ich ihn ansehen musste. »Was soll das Theater?«
»Ich will da nicht hinauf. Was soll ich da oben?«
»Deine Wünsche interessieren niemanden. Du bist nur noch eine Ware, die wir für spätere Zwecke vorbereiten. Hopp, beweg dich! Du kannst auch kriechen, wenn du nicht laufen willst.«
Meine Beine wurden so weich wie Gummi. Meine Hände hatten sich vor Angst verkrampft.
»Wird’s bald? Deine Strafe wird immer größer. Du wirst lernen, dass es für jede Verfehlung Konsequenzen gibt. Der Fluchtversuch und deine Sturheit haben mir in die Hände gespielt. Ich liebe es, Spielchen mit meinem Opfer zu spielen. Merk dir das, Kleiner.«
Ich eilte augenblicklich nach oben, um diesem Sadisten keinen weiteren Angriffsgrund zu liefern.
»Geht doch. Die paar Stunden auf dem Dachboden werden dich hoffentlich erstmal zur Vernunft bringen«, meinte er spöttisch.
Oben angekommen, sah ich mich um. Der Raum war voller schmutzigem Gerümpel, teilweise abgedeckt durch weiße Tücher. An den rohen Holzbalken hingen überall Spinnweben. Es war zudem schweinekalt. Nur ein Fenster war ins Dach eingelassen. Doch es war dreckig, sodass man nicht hinausschauen konnte. Die nackte Glühbirne, die in der Mitte des Raums hing, badete die Umgebung in ein gespenstisches Licht.
Ich fror in der spärlichen Kleidung, was meinen Peiniger nicht zu interessieren schien. Er dirigierte mich in die Mitte des Raums und drückte mich mit dem Rücken an das kalte Holz eines Pfeilers. »Silvio, löse die Handfesseln und binde ihn hier fest.«
Einige Minuten später war ich an Händen und Füßen gefesselt, obwohl ich mich mit meinen Beinen dagegen wehrte. Ich teilte mehrere Tritte aus, bevor auch sie an dem Pfosten angebunden waren. Silvio fluchte und Nikolaj lachte mich aus.
»Ich wünsche dir viel Spaß, Mason.« Er sprach meinen Namen aus, wie man ihn schrieb, was sich komisch anhörte. »Wir lassen dich eine Weile hier schmoren, damit du deine neue Situation begreifst. Du kannst dich schon mal an die Kälte gewöhnen. In Sibirien wirst du noch andere Temperaturen kennenlernen.«
Dann knebelte er mich mit einem weiteren Seil, das mir in den Mundecken scheuerte, und band es auch noch um den Holzpfeiler. Ich war zur Bewegungslosigkeit verdammt.
Mit Schrecken hörte ich, wie sie den Raum verließen und die Treppe nach oben schoben.
Entsetzt fuhr ich auf und realisierte erleichtert, dass ich noch immer in meinem Spitalbett lag. Trotz der Wärme fror ich plötzlich und zitterte am ganzen Körper. Leider war mir sehr schnell klar, dass dies kein Albtraum gewesen war. Ich hatte einen Flashback erlebt. Die Erinnerung an diesen Abend kehrte zurück. Es war die Hölle auf Erden gewesen. Ich hatte gefroren und so gezittert, dass bald der ganze Körper schmerzte. Dazu hatte ich höllische Angst verspürt. Angst vor einer grausamen Zukunft.
Natürlich tat ich in dieser Nacht kein Auge mehr zu. Das Gespräch mit der Polizei musste den Flashback ausgelöst haben.
Warum hatte ich nicht bemerkt, dass mich alle nur verarscht hatten? Silvio. Natascha. Sie hatten mir ihre Freundschaft nur vorgespielt. So viel stand nun fest. Ich zweifelte an meiner gesunden Menschenkenntnis und meinem Verstand.
Tagsüber stand ich völlig neben mir. Aus nichtigen Anlässen rastete ich aus. Erst war es der Laptop, der nicht sofort funktionierte, dann war mir zu heiß und danach wieder zu kalt. Mein Körper ließ mich sowieso im Stich. Alles schmerzte trotz der Medikamente. Mein Bruder ließ mich schnell wieder allein, als er meine schlechte Laune bemerkte.
In der Nacht danach begann es von neuem. Nochmals musste ich das Ganze miterleben. Der Horror ging weiter.
Ich wusste nicht, wie lange ich schon ausharrte. Meine Füße spürte ich kaum mehr vor Kälte. Nicht einmal auf der Stelle laufen konnte ich wegen der Beinfesseln. Heiße Tränen der Angst liefen meine Wangen hinunter.
Hinter mir hörte ich plötzlich ein Knarren. Erschrocken zuckte ich zusammen. Den Kopf konnte ich nicht drehen, also musste ich warten und hoffen, dass einer der beiden mich endlich erlöste.
»Na, Mason, wirst du nun brav sein? Wie ich sehe, hast du dich nicht gerade amüsiert.« Langsam trat er in mein Blickfeld.
Da ich nicht antworten konnte, starrte ich Nikolaj nur grimmig an. Eindeutig ein Fehler.
»Du bist immer noch wütend? Ich ziehe pure, grausame Furcht vor, deshalb lasse ich dich noch etwas hier schmoren. Mal schauen, ob ich dich die nächste halbe Stunde kleinkriege.«
Was hatte er vor? In mir erstarrte alles vor Furcht.
Er lockerte das Seil an meinem Gesicht und schob mir etwas in den Mund, das sich wie Papier anfühlte, bevor er mich wieder knebelte. Dazu verband er mir noch die Augen.
Oh mein Gott, hoffentlich war das kein LSD, dachte ich panisch. Mein Puls begann zu steigen und mir wurde trotz meiner Blöße warm. Es wurde noch schlimmer.
»Zu deiner Unterhaltung habe ich dir ein bisschen stimmungsvolle Musik mitgebracht.« Er stülpte mir Kopfhörer über. Kurz darauf wusste ich, was er meinte.
Erst herrschte minutenlange grausame Stille. Ich dachte bereits, dass er mich verarscht hatte, doch dann begann es. Langsame, unangenehme Töne erklangen und wurden immer schneller, bis sie abrupt aufhörten. Sie mussten aus einem Thriller stammen.
Ich spannte mich an. Gänsehaut überzog meinen Körper. Hatte mich nicht gerade etwas angefasst? Mein Puls schnellte in die Höhe.
Ich vernahm ein lautes langgezogenes Quietschen, Schritte, die näherkamen, vor mir stehenblieben. Ich spürte Hände, die mich überall anfassten. Vor Entsetzen schrie ich in den Knebel und zitterte am ganzen Körper.
Plötzlich war alles minutenlang still, bevor ein schriller Schrei ertönte. Mein Herz blieb beinahe stehen, obwohl ich genau wusste, dass alles bloß Schein war. Durch meine Blindheit und die Droge, wie ich vermutete, nahm ich alles viel intensiver wahr.
Wie lange wollte er mich noch foltern? Bereits jetzt waren meine Nerven angespannt wie Drahtseile. Ich kaute auf meinem Knebel herum, um mich zu beruhigen.
Mason, das ist nicht echt, sprach ich mir selbst gut zu, um nicht durchzudrehen.
Doch es nützte nichts, denn genau in diesem Moment hörte ich ein lautes Knarzen der Balken. Ein Trippeln von kleinen Füßen erklang. Dann ein Kinderlied, das zu einem lauten Lachen überging. Ein Mädchen fragte mich mit einer hohen lispelnden Stimme: »Was machst du da? Du wolltest doch mit uns spielen.«
Mein Magen drehte sich, als sich Arme um meine Beine schlangen. Ein lautes schrilles Lachen erklang.
Ich schrie in den Knebel: »Bitte aufhören! Ich halte das nicht mehr aus!«
Immer wieder schrie ich, obwohl mich niemand hören konnte.
»Herr Gardner, wachen Sie auf! Sie hatten einen Albtraum.« Jemand schüttelte mich. Als ich erwachte, lag ich in meinem Spitalbett und starrte auf die Schwester, die mich geweckt hatte.
»Sie haben so laut geschrien, dass wir es im Flur hörten. Geht es Ihnen gut?«
Ich wurde rot vor Verlegenheit.
Während ihren Worten musterte sie mich mitfühlend, was alles noch schlimmer machte.
»Ja, alles gut«, stammelte ich peinlich berührt.
»Versuchen Sie noch etwas zu schlafen. Es ist erst halb drei Uhr morgens.«
Sie konnte gut reden. Alle Mühe war vergebens. Ich drehte mich stundenlang hin und her, ehe ich wieder eindöste. Dann ging der Horror weiter.
Minutenlange Ruhe kehrte ein und ich hatte naiver Weise schon gedacht, dass es endlich vorüber war. Mein Puls verlangsamte sich.
Auf einmal hörte ich etwas, das minutenlang auf eine metallene Unterlage tropfte. Ich wurde hysterisch. Meine Tränen benetzten die Augenbinde. Am ganzen Körper bekam ich das Gefühl von Ameisenkrabbeln und ich wand mich in den Fesseln.
Als mich jemand am Kopf anfasste, brüllte ich vor lauter Entsetzen und Schreck wieder in den Knebel.
Die Kopfhörer verschwanden, meine Fesseln und die Augenbinde wurden gelöst. Ich bebte am ganzen Körper, und ging in die Knie.
»Steh auf, Mase! Du hast es überstanden.« Silvio zog mich auf die Füße, führte mich zur Treppe und die Stufen herab. Durch den Tränenschleier sah ich kaum etwas, sodass ich beinahe strauchelte. Auf einmal begannen sich die Stufen zu wellen und ich schrie wieder auf.
»Mason, da ist nicht das, was auch immer du siehst. Du kannst dich also beruhigen«, flüsterte er mir in genervtem Tonfall zu und hielt mich fest, als ich stocksteif stehenblieb. Ich traute mich trotz seiner Erklärung nicht, mich zu bewegen.
»Los jetzt. Das ist nur das LSD, welches dir Bilder suggeriert.«
Zögerlich machte ich einen Schritt nach dem anderen. Wieder unten gingen wir in den kleinen Raum, in welchem ich erwacht war.
Silvio wickelte mich in eine warme Decke, ehe ich mich setzen durfte. Ich machte mich klein, denn auf einmal begannen sich die Wände auf mich zuzubewegen.
»Nein, ich will nicht erdrückt werden. Hilf mir, bitte hilf mir!«, schrie ich laut und wollte aufspringen, doch die Decke behinderte mich und ich fiel zu Boden.
Laut schluchzend versuchte ich mich zu befreien. Je mehr ich mich bewegte, desto mehr blieb ich hängen.
Zwei Hände fassten mich und beförderten mich wieder auf die Matratze.
Einen Augenblick später betrat Nikolaj den Raum und reichte Silvio eine Schüssel.
Sofort senkte ich den Kopf, um ihn nicht zu weiteren Strafen zu provozieren. Die Tränen liefen weiterhin über meine Wangen, ohne dass ich es verhindern konnte. Ich war nervlich am Ende.
Er hob mein Kinn jedoch mit seiner Hand an, sodass ich ihn ansehen musste. »Ich hoffe, dass dir das eine Lehre war. Das nächste Mal gibt’s Prügel, wenn du aufsässig bist. Wir erwarten von dir ein tadelloses Benehmen. Die Befehle werden ohne Murren ausgeführt, auch wenn sie dir nicht passen.«
Ich antwortete nicht, denn es war mir vor lauter Schluchzen nicht mehr möglich.
An Silvio gewandt, befahl er: »Hilf ihm, die zu essen, nicht dass er uns krank wird.«
Weil ich hungrig war und meine Hand so zitterte, dass ich unmöglich einen Löffel in der Hand halten konnte, ließ ich mich von Silvio füttern. Die Gemüsesuppe schmeckte wider Erwarten gut. Doch schon während des Essens fielen mir fast die Augen zu. Er war noch nicht fertig, als ich den Kampf verlor. Ich schlief im Sitzen ein.
Die Nacht darauf sah ich mir Serien an, um nicht einzuschlafen. Ich wollte diese Flashbacks nicht erneut erleben. Lieber wollte ich unwissend bleiben.
Am nächsten Morgen wurde ich von einer Bewegung neben meinem Bett geweckt. Erschrocken schoss ich, noch etwas schlaftrunken, auf. Ich wusste im ersten Augenblick nicht, wo ich war und beschimpfte die Person.
»Was machen Sie da? Gehen Sie weg.«
»Herr Gardner. Ich bin es nur. Frau Friedmann. Sie sind wohl mit dem laufenden Gerät eingeschlafen. Ich wollte den Laptop nur auf den Tisch dort drüben legen, nicht dass Sie ihn versehentlich runterwerfen.«
Ich wurde rot vor Verlegenheit. »Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte Sie nicht anschnauzen«, sagte ich.
»Kein Problem. Versuchen Sie nachher noch zu schlafen. Ich muss nur kurz Ihre Werte messen und Blut abnehmen.«
Noch müde ließ ich es über mich ergehen und schlief schnell wieder ein.
Als das Frühstück kam, erwachte ich wieder kurz. Die Lust am Essen war noch nicht wiedergekehrt. Ich ließ es stehen.
Auch an diesem Tag, während des Besuchs meiner Eltern, schlief ich oft ein.
»Mein Vater wirkte besorgt. Was ist mit dir los? Schläfst du nachts so schlecht?«
»Ich habe zu lange Serien geguckt«, gab ich zu.
»Mason, so geht das nicht.«
»Doch, nachts kommen die Flashbacks. Ich will sie nicht mehr sehen.«
Er runzelte besorgt die Stirn. »Willst du mir davon erzählen?«
Erst zögerte ich, doch dann brach ich mit der Wahrheit heraus.
Dad hielt mich nach einer Weile fest im Arm. Im Nacken spürte ich etwas Feuchtes. Er konnte mir die schlimmen Erinnerungen zwar nicht nehmen, leugnete auch nicht, dass sie entsetzlich waren. Er litt aber mit mir.
Indem wir darüber sprachen, nahm es etwas von dem Grauen. Die nächsten Nächte klappte es endlich wieder, dass ich traumlos durchschlief. Doch tagsüber erschrak ich bei jedem Geräusch. Als der Praktikantin ein Glas zu Boden fiel, schrie ich auf vor Schreck und zitterte danach am ganzen Körper. Sie entschuldigte sich mehrmals und flüchtete dann mit rotem Kopf.
Tag für Tag erholte ich mich jedoch zusehends körperlich, sodass sie mich eine Woche später nach Hause ließen.
Auf eindrücklichen Wunsch meines Vaters besuchte mich doch noch ein Psychologe. Er musste aber einsehen, dass ich noch nicht bereit war, mit ihm zu sprechen. Ich konnte nicht über meinen Schatten springen.
Die Flashbacks hatten ein Loch in meine Seele gerissen. Ich hatte mein Vertrauen in Fremde vollkommen eingebüßt. Sie sollten mich einfach alle in Ruhe lassen. Ich brauchte nur meine Familie um mich.