9

Mason

 

Zwei Tage vor Weihnachten ging es mir körperlich schon viel besser als nach meiner Entführung. Die Arbeit auf der Farm zeigte allmählich Früchte. Ich bekam die ersten Muskeln und aß so viel, dass der Zeiger der Waage endlich nach oben ging. Die Muskeln hatte ich mir schwer mit der Arbeit auf der Farm verdient. Ich konnte mich noch erinnern, wie es vor ein paar Wochen gewesen war.

 

Als ich noch frisch in Amerika war, hatte ich die Pferdeboxen eines ganzen Stalls ausgemistet und nahm Reitstunden bei Dad. Ich spürte am nächsten Morgen Muskeln, von denen ich nicht einmal geahnt hatte, dass sie existierten. Sie brannten von der Anstrengung. Jeder Schritt und jede Tätigkeit wurden zur Qual.

Natürlich kam der Spott nicht zu kurz. Er war gutmütig, aber ich fand ihn in dem Moment absolut nicht witzig.

Joe, einer der älteren Farmarbeiter - sein Gesicht war von der Arbeit in Kälte und Hitze zerfurcht und seine grauen Haare schütter - sah mich eines Morgens belustigt an. »Du läufst etwas eckig, Junge. Hast du falsch gelegen?« 

»Ich weiß nicht, was du da faselst. Mir geht’s ausgezeichnet«, gab ich mit knirschenden Zähnen zurück und stieß mit der Mistgabel erneut unter das stinkende Stroh der Box. Vor Schmerzen stöhnte ich auf, als ich die nächste Fuhre in die Schubkarre wuchtete.

Joe lachte laut auf und haute mir mit seiner Pranke auf die Schulter, sodass ich beinahe in den Mist gefallen wäre. Trotz seines Alters war er noch kräftig.

Ich warf ihm einen entrüsteten Blick zu, der in ihm nur einen erneuten Lacher auslöste.

Nach einer Stunde stöhnte ich wieder auf. Joe sah zu mir. »Ich gebe dir heute Abend eine Salbe, die dir helfen wird. Da muss jeder einmal durch.« Bei seinen Worten grinste er wie ein Schelm.

Nachdem ich die Salbe aufgetragen hatte, wusste ich weshalb. Sie half, verpestete dafür aber die ganze Luft. Jeder, der an mir vorbeiging, wusste Bescheid, was weitere zotige Bemerkungen auslöste.

 

Heute lachte ich darüber. Doch trotz meiner mittlerweile guten Laune fehlten mir meine Familie und Luana.

Am liebsten hätte ich meiner besten Freundin alles hier gezeigt. Ich wusste, dass sie von der Umgebung begeistert wäre. Hier gab es sogar Schnee, nicht wie der Matsch, der in den Straßen Berns lag und einem nur die Schuhe durchnässte. Alles war mit der weißen Pracht überdeckt und es war saukalt. Die Luft gefror mir beinahe in der Lunge, wenn ich draußen war.

Während des Tages lernte ich immer noch durch Fernunterricht, nur war ich nicht gerade motiviert. Lieber war ich draußen und arbeitete oder ritt aus. Meine Noten waren gerade noch so genügend. Ich war eindeutig nicht der Typ, der mit Fernunterricht erfolgreich war.

Früher hatte mir Luana mit Mathe geholfen und ich ihr bei Englisch. Jetzt diskutierten wir meist nur über das, was zu Hause ablief, wenn wir skypten.

An diesem Abend lenkte ich Tamy nach einer Kontrollrunde auf den Vorplatz des Stalles. Die Haut des Tieres dampfte vor Wärme in der kalten Luft und aus meinem Mund wich der Atem in Form von kleinen Wölkchen.

In diesem Moment hörte ich mein Handy klingeln. Nur meine Familie und die Bergers besaßen die Nummer und sie riefen meist erst später an, wenn ich im Zimmer war.

Ein mulmiges Gefühl wuchs in meiner Magengrube. Etwas musste geschehen sein.

Rasch stieg ich vom Pferd, sah Sean entschuldigend an und bat ihn, das Tier zu halten. Mein Gesichtsausdruck musste mich verraten haben, denn Sean machte mir mit einer Geste klar, dass er Tamy versorgen würde.

Ehe er den Platz mit beiden Pferden in Richtung Stall verließ, zog ich einen meiner dicken Handschuhe aus, fischte das Gerät aus der ledernen Satteltasche, in welche ich es zum Schutz immer steckte, und sah auf das Display. Verflixt. Mein Vater hatte es bereits zweimal versucht.

Dad war wie geplant Mitte November wieder nachhause zurückgekehrt, als er merkte, dass es mir besserging. Bis jetzt war ich von weiteren Flashbacks verschont worden.

Das Handy ans Ohr haltend, trat ich langsam auf das große Farmhaus zu.

»Dad? Ist alles in Ordnung bei euch?«, fragte ich ihn beunruhigt, ohne zu grüßen. Auf der Verandatreppe setzte ich mich langsam hin.

»Wo warst du?«, fragte er mich in einem seltsamen Tonfall.

»Entschuldige. Ich war mit Sean ausreiten und habe das Klingeln überhört. Jetzt sitze ich vor dem Haus.«

»Dann mach es das nächste Mal lauter. Ich habe mir bereits genug Sorgen um dich gemacht.«

»Dad, komm zur Sache. Was ist los?« Etwas lag im Argen. Ich spürte es.

Eine Weile war es still auf der anderen Seite. Er musste sein Gerät auf Lautsprecher gestellt haben, denn plötzlich vernahm ich die aufgeregte Stimme von Scott.

»Sprichst du mit Mason?« Mein Dad kam gar nicht zu Wort, denn ich hörte bereits die laute Stimme meines Bruders.

»Hey Bro, halt dich bloß still in Amerika. Diese Natascha hält angeblich Ausschau nach dir. Luana ist deiner Ex in die Finger geraten und konnte knapp entkommen.«

»Waaas?«, schrie ich entsetzt auf. Mein Puls ging steil in die Höhe und meine Hand krampfte sich in das abgewetzte Holz der Treppe. Ich bemühte mich, ruhig zu atmen. Das war aber nicht leicht im Angesicht dieser Umstände.

»Scott Gardner«, hörte ich meinen Vater schimpfen. »Bist du verrückt, deinen Bruder so zu überfallen?«

Als würde die Nachricht schonend besser werden , dachte ich zynisch.

»Wie geht es Luana?«, fragte ich voller Sorge.

»Sie scheint etwas durcheinander zu sein. Natascha hat sie geschlagen, aber wie Scott schon sagte, Luana konnte fliehen und bekommt jetzt ebenfalls einen Leibwächter zum Schutz.«

Das beruhigte mich etwas. »Wie konnte das passieren? Sie wusste doch, dass sie gefährlich ist.«

Dad erzählte mir, was er selbst auch wusste. »Es tut mir so leid, Mase«, beendete er das Ganze. Er brauchte es nicht auszusprechen. Mir war völlig klar, dass Scott recht hatte und was Dad damit meinte. Ich konnte nach den Winterferien nicht nach Bern zurückkehren. Es war im Moment noch zu gefährlich.

»Mase. Da ist leider noch etwas.«

Ich schluckte. »Sag mir bitte nicht, dass ihr nicht kommen werdet«, bat ich ihn.

»Großmama ist krank. Sie hat eine Lungenentzündung. Deshalb kümmert sich deine Mom um ihre Mutter und Großpapa. Aus diesem Grund möchte sie nicht weg.«

»Ist Großmama im Spital?«, fragte ich bang. Mit den Füßen scharrte ich im Schnee herum, um sie warm zu halten und mich zu beschäftigen.

»Nein, aber sie liegt im Bett und muss sich schonen.«

»Dann ist ja gut. Ich wünsche ihr eine gute Besserung. Grüßt die beiden von mir.«

»Das tun wir gerne. Geht’s dir gut?«

»Ja, alles gut. Ich bin etwas traurig, aber ich kann Mom verstehen. Was ist mit dir und Scott?«

»Ich werde direkt nach den Weihnachtsferien nach Montreal zum Set fliegen. Vorher möchte ich Mom unterstützen und Scott will nicht allein so weit fliegen. Ich kann dich gut verstehen, dass du nicht glücklich darüber bist, aber vielleicht können wir im Frühjahr kommen.«

Ich hatte gehofft, dann wieder zurück zu sein. Das war die längste Frist gewesen, die ich mir gesetzt hatte. Wie naiv war ich doch immer noch? Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.

»Schon gut, Dad. Ich bin kein kleines Kind mehr. Ich werde es überleben.«

»Ich drück dich fest, Mase. Wir melden uns.«

»Bye Dad, grüß alle.« … Wenn ihr ohne mich feiert , dachte ich bitter.

Am liebsten hätte ich das Handy voller Frust weit weggeworfen. Doch ich hielt mich zurück, denn ich hatte kein Geld für ein neues.

Nach dem Telefonat saß ich wie erstarrt auf der Treppe, als mein Onkel zurückkehrte. Das Handy lag auf der Stufe neben mir, wo ich es vorsorglich hingelegt hatte, um keinen Unsinn damit anzustellen. Ich starrte in die Ferne und sah doch nichts.

Sean riss mich aus meinen trüben Gedanken, als er mich ansprach. »Mason, warum um Gottes Willen sitzt du auf der eisigen Treppe? Du wirst erfrieren.«

Ich hob den Kopf und sah ihn traurig an.

»Was ist passiert? Ist etwas mit der Familie nicht in Ordnung?« Er hielt mir die Hand hin, um mir aufstehen zu helfen.

Ich schüttelte den Kopf, denn ein Kloß im Hals hinderte mich am Sprechen.

Sean begleitete mich ins Haus. Im Wohnzimmer telefonierte Grandpa gerade. Er sah mich voller Mitgefühl an und Grandma zog mich an sich. Somit war klar, mit wem er sprach.

»Mason«, flüsterte sie. »Wir wissen, dass du das gerade nicht hören willst, aber du bist hier in Sicherheit und wir sind glücklich, dich bei uns zu haben. Es wird alles in Ordnung kommen.«

Ich nickte nur. Die Tränen standen mir bereits in den Augen. Sollte ich etwas sagen müssen, würden sie fließen. Das spürte ich und presste die Lippen zusammen.

Grandpa beendete das Telefonat ein paar Minuten später und erzählte meinem Onkel, der ihn fragend ansah, was geschehen war. Dann fasste er mich an der Schulter, denn er war nicht der Typ, der einen oft umarmte. »Es tut mir wirklich leid für dich, Mason. Ich weiß, wie sehr du dich auf sie gefreut hast.«

»Ich werde es schon überleben, danke.« Die Worte brachte ich kaum heraus.

»Du brauchst dich doch nicht zu verstellen, Junge. Wir sehen, dass es dir nicht gut geht.«

Ich drückte nur seine Hand. Dann flossen die Tränen doch noch und ich rannte peinlich berührt in mein Zimmer, wo ich mich ins Bett warf und das Kissen über meinen Kopf zog.

Ich hatte jetzt ein Zimmer im Haupthaus, denn meine Verwandten wollten nicht, dass ich allein war, wenn ich einen Flashback haben sollte oder es mir sonst nicht gut ging.

Die Aussicht von meinem Fenster war ebenso wunderschön wie in der Unterkunft meiner Eltern. Ich konnte den zugefrorenen See und die Wiesen sehen, auf welchen die Rinder im Schnee herumtollten.

Ein Parkettfußboden in einer warmen braunen Färbung gab dem Zimmer ein gemütliches Flair. Der breite Schrank aus dem gleichen Holz stand in einer Ecke an der beigegestrichenen Wand. Das Bett in einer anderen. Es war schmaler als gewohnt, aber das machte mir nichts aus. Ein Schreibtisch mit einer großen Pinnwand und ein Fernseher, den mir meine Großeltern geschenkt hatten, vervollständigten die Einrichtung.

Es verging eine halbe Stunde, ehe Grandpa an die Tür klopfte. Ich hatte unterdessen geduscht, nachdem ich mich gefasst hatte, lag auf meinem Bett und sah fern.

»Komm rein«, forderte ich ihn auf.

Er setzte sich auf das Bettende und sah mich mit einem mitfühlenden Blick an.

»Es tut mir leid«, sagte ich. Meine Stimme war noch etwas rau.

»Du brauchst dich sicher nicht dafür zu entschuldigen.«

»Ihr wisst hoffentlich, dass ich gern hier bin. Nur habe ich gedacht, dass ich bald nach Hause fliegen darf. In den letzten Wochen hatte ich auch keinen Flashback mehr.«

»Mase, du hast, seit du hier angekommen bist, so großartige Fortschritte gemacht, dass auch wir manchmal vergessen, dass du vielleicht noch nicht über den Berg bist. Wir sind immer für dich da und du solltest dich niemals mehr dafür entschuldigen, wenn du einen Moment der Schwäche hast. Du hast ein Trauma erlitten und solche Momente werden vermutlich noch mehrmals vorkommen.«

»Das befürchte ich auch. Es wäre allzu schön gewesen, wenn es anders wäre«, sagte ich seufzend.

»Da ist noch etwas, Mason.«

»Noch weitere schlechte Nachrichten? Dann will ich sie heute nicht mehr hören«, erklärte ich und sah ihn bittend an.

»Nein. Es reicht für heute, aber Rouven und ich sprachen darüber, ob du vielleicht gerne die High School von Lakeview besuchen möchtest. Dort könntest du Gleichaltrige kennenlernen.«

»Die High School?«, fragte ich. Unsicher nagte ich an meiner Unterlippe. Bei diesen Worten wurde mir etwas mulmig. »Ich weiß nicht, ob ich es schon schaffe, so viele fremde Leute, um mich zu haben. Was ist, wenn sie mich nur wieder als Sohn von Dad ansehen und mich nicht akzeptieren, wie ich bin? Ich könnte das nicht aushalten.« Bei dieser Vorstellung jagte mir ein kalter Schauder über die Haut. Wieder solche fiesen oder anbiedernden Worte zu hören wie damals. Nein, danke.

»Es ist kein Befehl, du kannst auch weiter die Fernschule besuchen«, beruhigte er mich. »Doch du bist noch so jung. Irgendwann wirst du wieder unter Leute gehen müssen. Es sind nicht alle Jugendlichen so wie diese Snobs an deiner alten Schule. Hier gibt es ganz viele nette Jungs und Mädchen, die wir persönlich kennen. Sean ist Vorsitzender des Elternbeirats und kennt dadurch viele der Schüler und Eltern.«

»Was ist, wenn ich dort einen Flashback habe?«, fragte ich.

»Wir würden die Schulleitung informieren müssen, damit sie im Notfall Bescheid wissen.«

Das gefiel mir nicht, aber ich verstand, dass es sein musste. Irgendwann. »Ich muss das hier erst verarbeiten, werde aber die Möglichkeit überdenken«, versprach ich.

»Mach das. Wir stehen hinter deiner Entscheidung. Du gibst dein Tempo selbst an«, versprach mir Grandpa.

Ich war echt dankbar, dass sie mich nicht drängten.

Er lud mich ein, nach unten zu kommen, um zu Abend zu essen, was ich aber ablehnte. Ich war nicht hungrig und wollte allein sein.

Für weitere Gespräche war ich zu müde. Deshalb wünschten wir einander eine gute Nacht und ich legte mich wieder hin, um noch etwas zu lesen.

Morgen würde ich versuchen, Luana zu erreichen. Ich musste mich selbst davon überzeugen, dass es ihr gut ging. Heute war es zu spät. In Bern war es sowieso bereits mitten in der Nacht.

 

10

Luana

 

Noch etwas aufgewühlt von der gestrigen Erfahrung, setzte ich mich im Bett auf, als der Wecker klingelte. Leider war heute erst Freitag und ich musste trotzdem arbeiten.

Müde tappte ich ins Bad und erschrak über mein Spiegelbild. Die ganze Wange sah geschwollen und rot aus. Das konnte ich nicht einmal mit Make-up kaschieren. Ich meldete mich das erste Mal krank im Betrieb.

Eine Stunde später saß ich auf dem Bett und las, als eine Nachricht von Mason eintraf.

 

Lu, ich muss mit dir reden. Ich mache mir tierische Sorgen um dich. Melde dich bitte, sobald du Zeit hast. Mason

 

Seine Familie musste ihn informiert haben. Er machte sich Sorgen um mich, obwohl er gerade selbst schlechte Nachrichten gekriegt hatte. Damit zeigte er mir, dass es wieder wie früher war. Er konnte der beste Freund sein, den man haben konnte. Ich ließ ihn nicht lange zappeln.

 

Hey Mase, warum schläfst du nicht? Bei dir muss es doch um die zwei Uhr morgens sein. Mir geht’s gut. Ich sollte mir wohl eher Sorgen um dich machen. Es tut mir so leid, dass du deine Eltern nicht sehen kannst. Luana

 

Es dauerte keine fünf Minuten, bis die nächste Antwort eintraf.

 

Ich bin vorhin gerade aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen. Da du dich um diese Zeit meldest, musst du krank sein. Also erzähl mir keinen Scheiß. Du bleibst nur zu Hause, wenn du halb tot bist. Jetzt mache ich mir erst recht Sorgen. Stell deine Kiste an, ich will dich sehen können.

 

Manchmal war es ein Nachteil, wenn dich jemand so gut kannte.

 

Na dann, erschrick bitte nicht, wenn du mich siehst.

 

Er schrieb nochmal zurück.

 

Wieso sollte ich? Du hast mich schon in einem weit schlimmeren Zustand erlebt.

 

Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, fuhr den Laptop hoch und loggte mich ein.

Als mich Mason sah, fluchte er. »Natascha ist wirklich krank im Kopf.«

»Das denke ich auch«, witzelte ich.

Er ging aber nicht darauf ein und wirkte etwas bedrückt. »Es tut mir leid, dass du auch noch in den Mist hineingezogen wurdest.«

»Mach dir keine Sorgen. Mir geht’s gut. Ich wollte mich nur nicht so im Geschäft zeigen.«

Ich sah, wie er mit dem Zeigefinger über den Bildschirm fuhr. Etwa auf der Höhe meiner Wange.

»Wie konnte das überhaupt passieren?«, erkundigte er sich.

Ich erzählte ihm von dem seltsamen Café.

Ungläubig starrte er mich an. »Sie arbeitet in einem Café und ihr seid da einfach hereinspaziert? Bist du lebensmüde? Natascha ist gefährlich und gehört eingesperrt. Du hast hoffentlich der Polizei davon erzählt, damit sie sie endlich verhaften können.«

»Was denkst du denn? Klar habe ich das getan und danke für dein Vertrauen. Natürlich wusste ich nicht, dass sie dort arbeitet. Ich war zuvor noch nie in diesem Lokal. Als wir herunterkamen, war sie noch nicht im Gastraum, sonst wäre ich nicht mal ganz die Treppe hinuntergestiegen. Sie scheint dort nur ausgeholfen zu haben. Es gehört einem Freund von …« Shit. Was plapperte ich da? Ich versuchte, rasch abzulenken. »Du hast vergessen aufzuzählen, dass sie mich hasst.«

Es gelang nicht. »Ich weiß, dass sie auf dich eifersüchtig war. Luana, ich bin nicht bescheuert, also hör auf, mich so zu behandeln. Ich habe genau gemerkt, dass du abgelenkt hast. Wem gehört das Lokal?«

Er kam mit der Luana-Masche. So nannte er mich nur, wenn er sich wirklich über mich ärgerte. »Mikes Freund«, druckste ich herum.«

»Mikes Freund?«, fragte er erstaunt. »Und wo war der?«

»Er musste weg, das habe ich dir schon erzählt. Mike hat ihn gesucht.«

»Dann war dein Retter, Mike!«, rief er laut aus. Einen Moment danach stand er auf und tigerte im Zimmer herum. Ich sah nur zwischendurch seinen Schatten, hörte ihn aber rumpoltern. Wusste er überhaupt, dass er seinem Vater immer ähnlicher wurde? Dasselbe Temperament, ähnliche Gesten, die gleiche Körperhaltung.

»Reg dich ab, Mase. Mike hat mich vor Natascha beschützt.«

Er setzte sich wieder und schlüpfte beinahe in seinen Laptop. »Er hat dich vor Natascha beschützt? Wo war eigentlich deine Freundin?«

»Ich habe Simona weggeschickt. Sie sollte die Polizei informieren und aus dem Umfeld von Natascha kommen. Mike traf erst später ein.«

»Er hat dich einfach gehen lassen?«, fragte er ungläubig.

»Nein, er hat erst mit Natascha um mich gestritten. Da habe ich versucht, zu fliehen, und sie stellte sich mir in den Weg. Ich habe sie verbal angegriffen und da hat sie mich mehrmals geschlagen«, gab ich zerknirscht zu.

»Du musst übergeschnappt sein.« Mason strich sich immer wieder über die Haare.

»Mike hat sie dafür beschimpft und ihr befohlen zu gehen.«

»Hör auf, den Arsch in Schutz zu nehmen!« Sein Tonfall war wütend geworden.

»Er hat mir nichts getan.« Mason würde sicher nicht erfahren, dass Mike mich geküsst hatte. Sonst würde er komplett ausrasten.

»Er hat mir übrigens erzählt, dass Natascha dich sucht, und war nett zu mir. Also reg dich nicht so auf.«

Mason warf mir einen erbosten Blick zu. »Er gaukelt dir nur Freundlichkeit vor und dann stößt er dir ein Messer in den Rücken. Der Typ ist falsch wie eine Schlange. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«

»Mason Gardner, hältst du mich für doof? Ich vertraue ihm doch nicht. Er hat nur gesagt, dass er mich beschützt.«

»Du gehst ihm aus dem Weg. Versprich es mir.«

»Das hatte ich sowieso vor.«

»Du hast ihn hoffentlich auch angezeigt.«

»Ich habe alles so erzählt, wie es geschehen ist. Er hat mir nichts getan.«

»Aber mir , Luana.« Masons Tonfall war hart und sein Gesicht zur Maske geworden.

Dann wurde es dunkel. Er hatte das Gespräch einfach geschlossen. Was sollte das jetzt? Ich ließ Skype offen und ging zurück ins Bett.

Nach ein paar Minuten ging das Licht wieder an und es klingelte.

Seufzend ging ich zurück zum Schreibtisch und nahm das Gespräch an.

»Sorry, dass ich das Gespräch beendet habe.«

»Warum, Mase? Ich verstehe dich, aber ich konnte die Polizei ja schlecht anlügen.«

»Es war mir zu viel. Ich habe so schlechte Erinnerungen an ihn. Er muss, wie alle anderen, eingesperrt werden. Dann werde ich wieder durchatmen können.«

»Er wird sicher auch verhört, wenn sie ihn erwischen.«

Er sah nicht gerade überzeugt aus, wechselte dann aber das Thema. »Ich soll hier zur Schule gehen.«

»Oh, das ist doch toll. Du wirst neue Leute kennenlernen.«

Er verdrehte die Augen. »Das sagst du. Wenn es wieder gleich abläuft wie in Bern, werde ich das nicht verkraften.« Er wirkte bei seinen Worten so verletzlich, dass es mir die Brust zuschnürte.

»Du bist stark, Mason. Sei einfach du selbst. Wie früher. Wenn sie dich richtig kennenlernen dürfen, werden sie begeistert sein. Übrigens werden sich die Mädchen auf dich stürzen. Dein neuer Look sieht echt scharf aus.« Er trug die Haare immer noch recht kurz, doch er brauchte das Cap nicht mehr, um sich darunter zu verstecken. Ein Bartschatten umrandete sein Kinn.

»Nein danke. Ich habe genug von den Weibern. Die spielen dir nur was vor.«

»Es sind doch nicht alle so, Mase«, versuchte ich, ihn zu beruhigen.

»Die meisten schon. Du bist die Einzige, der ich vertraue.«

»Danke. So lieb von dir. Du wirst aber sehen, dass es auch nette Mädchen gibt.«

»Schön, das ist mir egal. Aber ich werde über den Schulbesuch nachdenken.«

Ich schickte ihm eine Umarmung, die er mir postwendend zurücksendete.

Dann begann Mason zu gähnen. Deshalb verabschiedete ich mich, wünschte ihm noch eine gute Nacht, und bat ihn zu schreiben, wenn er zwischendurch Zeit fand.

Als ich den Laptop schloss, war ich etwas durcheinander. Zum ersten Mal hatte ich ihn nicht nur aus der Sicht seiner besten Freundin wahrgenommen. Warum wurde mir plötzlich so warm, wenn ich ihn ansah?