Es war ein regnerischer Montag und ich igelte mich in meinem Bett ein. Gereizt und gleichzeitig besorgt, weil ich mich darauf gefreut hatte, mit Luana zu chatten und sie seit Samstag nicht erreichbar war.
Sie war am Freitag mit Schulkollegen in einem neuen Club in der Altstadt gewesen, um ihren Abschied zu feiern und wollte mir eigentlich davon erzählen. So hatte sie es mir auf jeden Fall letzte Woche geschrieben, als sie mir von ihrer bestandenen Abschlussprüfung erzählt hatte. Sie hielt ihre Versprechen immer ein. Ich durfte aber gar nicht erst beginnen, panisch zu werden. Es war ihr bestimmt nichts passiert. Sonst hätte ich davon gehört.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach meine düsteren Gedanken. Mein Onkel trat ins Zimmer, nachdem ich ihn dazu aufgefordert hatte.
»Hey Mason, hast du heute was vor? Ich könnte deine Hilfe brauchen.«
»Nein. Ich habe nichts vor«, antwortete ich.
»Ich muss nach Billings, um etwas abzuholen«, erklärte mir Sean.
»Billings? Was willst du dort?«, fragte ich erstaunt.
»Ich habe für jemanden was bestellt. Es soll eine Überraschung werden.«
Ich wusste, dass Anne demnächst Geburtstag hatte und war gespannt darauf. Meine Laune stieg. Es würde mich zumindest ablenken. »Du verrätst es mir nicht, oder?«, gab ich amüsiert zur Antwort.
»Nope.« Er grinste.
»Wann willst du fahren?«
»Wenn möglich, gleich. Hab gerade erst erfahren, dass es schon abholbereit ist.«
Fünf Minuten später war ich angezogen und bereit zur Abfahrt. Im Stehen trank ich rasch einen Kaffee und aß einen Butterbagel. Meine Großmutter sah es ja nicht. Sie war bei meiner Tante, sonst hätte sie mit mir geschimpft. Sie konnte meine Unart nicht ausstehen. Man aß am Tisch und hatte sich Zeit zu nehmen.
Ich schrieb meinen Großeltern eine kurze Nachricht, dass ich mit Sean unterwegs war, damit sie sich keine Sorgen machten, und verließ das Haus.
Im Auto versuchte ich, nochmals rauszubekommen, was er bestellt hatte, aber Sean blieb eisern. Nun dann. Ich würde es früh genug sehen.
Eine Weile fuhren wir schweigend und ich bewunderte die Gegend. Es war beinahe wie bei uns. Abwechslungsweise rasten Täler und Hügel an uns vorbei. Sowie Rinder, die in großen Herden grasten. Mit der Autofahrerei hatte ich keine Mühe mehr, was mich erfreute.
»Was hast du eigentlich jetzt vor? Möchtest du studieren?«, erkundigte sich Sean.
Meine gute Laune sank gleich wieder. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun wollte. Mir war auch klar, dass ich nicht ewig auf der Farm arbeiten wollte, doch ich hatte schlichtweg keine Ahnung ob, was und wo ich studieren wollte. Darüber nachzudenken, war in der letzten Zeit nicht gerade meine Priorität gewesen.
»Haben dich meine Eltern dazu verdonnert, mir auf den Zahn zu fühlen?« Ich verzog das Gesicht.
»Oha. Zieh deine Stacheln wieder ein, Junge. Ich war nur neugierig.«
»Entschuldigung«, grummelte ich.
Er legte kurz seine Hand auf meine Schulter und lächelte mich freundlich an. »Ich finde es toll, was du in diesem Jahr geschafft hast, aber jetzt beginnst du dich wieder zurückzuziehen. Dir geht’s schlechter seit dem letzten Flashback. Wenn du alles in dir verschließt, beißt es dich irgendwann in den Hintern, wenn du nicht damit rechnest.«
»Bist du jetzt zum Seelenklempner mutiert?«, murmelte ich gereizt. »Dreh um, ich will wieder nachhause. Hol dein Zeug allein ab.«
»Vergiss es, Junge. Alle fassen dich mit Samthandschuhen an. Manchmal ist das gut. In deinem Fall scheint das eher das Gegenteil zu bewirken.«
Er meinte es vermutlich nur gut. Das änderte aber nichts daran, dass ich sauer auf ihn war. Meine Hände in den Jeans verkrallt, sah ich aus dem Fenster. Bewusst langsam atmete ich ein und aus.
»Mase, du sollst nur daran denken, dir Hilfe zu holen, wenn es nicht mehr geht. Okay? Warte nicht, bis es zu spät ist.«
»Ich schaffe das allein. Lass es bitte gut sein.«
Er machte den Mund auf und schloss ihn wieder. Eine Weile schwieg er und ich war ihm dankbar.
»Ich hatte eine Schwester, die ebenfalls depressiv veranlagt war. Ihr konnte ich nicht helfen, deshalb werde ich dich beobachten, Mason. Diesmal werde ich nicht nur zuschauen.« Seine Stimme hörte sich auf einmal traurig an.
»Das tut mir leid«, antwortete ich betrübt. »Ich werde Bescheid geben, bevor ich es nicht mehr aushalte«, versprach ich ihm. Er nahm meine Lüge mit einem wortlosen Nicken an. Ich wusste nicht, ob er mir wirklich glaubte, aber mir war klar, dass ich weiter unter seiner Beobachtung stehen würde. Ich musste noch mehr aufpassen. In diesem Augenblick bemerkte ich, dass wir auf den Parkplatz des Airports einbogen.
»Was tun wir hier?«
»Ich habe etwas aus dem Ausland bestellt«, druckste er herum.
Das war echt komisch. Ich hatte den Verdacht, dass er mich anlog. Aber warum?
Wir stiegen aus dem Auto und liefen zum Eingang. Vorsorglich zog ich mein Cap tiefer ins Gesicht und meine Kapuze darüber.
»Müssen wir nicht zu einem Sperrgutschalter oder wie das heißt?«, erkundigte ich mich misstrauisch, als wir an dem Schild vorbeiliefen.
»Ja, gleich, aber ich muss noch kurz zur Toilette. Warte bitte dort beim Kaffeestand. Du kannst dir ja etwas bestellen. Wir sind früh dran.«
Als er davonging, schüttelte ich nur den Kopf. Mir war nicht allzu wohl im vollen Flughafen und ich verstand nicht, was sich Sean dabei gedacht hatte, mich hier einfach allein stehen zu lassen. Irgendetwas war faul an der Geschichte.
Ich hatte Glück, beinahe sofort bedient zu werden, und bestellte einen Latte Macchiato für mich, als eine mir bekannte Stimme in mein Ohr flüsterte. Das konnte doch nicht sein!
»Bestellst du mir einen Café Latte mit Vanille?«
Automatisch gab ich den Wunsch weiter und drehte mich dann mit einem Ruck herum. Ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen. Vor mir stand Luana.
Ich riss sie in meine Arme, hielt sie fest, bis sie quiekte.
»Du drückst zu fest. Ich bekomme keine Luft mehr.«
»Mein Gott, Lu, was machst du hier? Niemand hat mir was gesagt.« Ich starrte sie ununterbrochen an. Mein Herz klopfte vor Freude.
Sie sah toll aus in ihrer engen Jeans, dem Shirt und dem karierten Hemd. Ein zierliches Geschöpf, das Feuer im Hintern hatte. So hatte es mein Vater einmal ausgedrückt, als sie mir wieder einmal die Leviten gelesen hatte. Ja, wir hatten uns öfters mal gezankt, aber immer wieder schnell vertragen.
Die Barista räusperte sich in meinem Rücken. »Würden Sie bitte bezahlen? Die anderen Kunden warten.«
»Oh, ja klar. Entschuldigen Sie bitte.« Verlegen kramte ich das Geld aus meiner Börse. Ein Geldstück fiel auf den Boden. Luana kicherte, hob es auf und gab es mir zurück. Die Verkäuferin starrte mich genervt an und ich gab ihr das Geld. Am anderen Ende der Theke holten wir unsere Getränke ab und setzten uns an einen Tisch.
»Lu, bitte kneif mich. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass du hier bist.«
Natürlich tat sie es. So war Luana. Ich sah sie gespielt böse an und lachte laut.
»Du hast wohl meine Überraschung gefunden, Mase«, sagte Sean, der in dem Moment zu uns stieß. Jetzt fiel der Groschen.
»Ja, war etwas zu klein für Sperrgut.«
Luana boxte mich in den Arm. »Danke für das Kompliment.«
»Du bist wirklich ein Zwerg gegen mich«, witzelte ich.
Sie hob eine Augenbraue.
»Du musst Luana sein. Freut mich, dich kennenzulernen«, unterbrach uns mein Onkel. Luana stand auf und wollte ihm die Hand geben, aber er zog sie einfach in seine Arme.
»Es freut mich auch, Sie kennenzulernen. Danke, dass ich bei Ihnen wohnen darf«, gab sie höflich zur Antwort.
Ich musste grinsen, denn mir war klar, was jetzt kam.
»Mein Name ist Sean, nicht Sie oder Herr.«
Luana lachte herzlich. »Okay. Das freut mich, Sean.«
»Du hast unseren Jungen hier zum Lachen gebracht, deshalb bist du mir jetzt schon sympathisch.«
Ich stöhnte auf, was die beiden zum Grinsen brachte. Sean zwinkerte mir zu und boxte mir zum Spaß gegen die Brust. »Na, ist uns die Überraschung gelungen?«
Ich trank meinen Kaffee und konnte mich kaum sattsehen an Mason. Er sah irgendwie größer und kräftiger aus. Er musste ein ganzes Stück gewachsen sein. Jetzt würde er mich ewig mit meiner Größe aufziehen. Nur seine Augen verrieten ihn. Das Lachen hatte sie nicht erreicht.
Seine Beine steckten in verwaschenen Bluejeans, das weiße Shirt lag ihm eng am Oberkörper an.
Als Mason mich vorhin entdeckt hatte, waren seine Augen riesig geworden. Er hatte sich wirklich gefreut.
Sein Onkel Sean war ein wuchtiger und sehr offener Mensch. Es würde sicher angenehm sein, bei ihm und seiner Familie zu wohnen. Meine Englischkenntnisse würde ich so rasch verbessern können.
»Lu, wie lange wirst du hierbleiben?«, unterbrach Mason meine Gedanken, nachdem er sich etwas von seiner Überraschung erholt hatte. Er sah mich amüsiert an, als ich nicht sofort antwortete. »Träumst du mit offenen Augen?«
»Nein, das tue ich natürlich nicht.« Gespielt empört sah ich ihn an.
»Das tust du angeblich nie, aber ich ertappe dich immer wieder dabei«, zog er mich auf und grinste schelmisch. Mein Herz ging auf. Vielleicht schaffte ich es irgendwann, wieder Leben in seine glanzlosen Augen zu zaubern.
Auf der Autofahrt fielen mir die Augen zu. Es war ein mühsamer Flug gewesen. Sechzehn Stunden. Unterwegs hatte es einen beinahe fünfeinhalbstündigen Zwischenstopp in Denver gegeben, auf dem ich erst durch die Geschäfte gebummelt war, um mir die Füße zu vertreten. Danach war ich auf einem der harten Stühle eingenickt.
Die Männer ließen mich schlafen. Deshalb verpasste ich die ganze Fahrt. Erst als wir am späten Nachmittag in Lakeview ankamen, rüttelte mich Mason sanft an der Schulter.
»Aufwachen, Schlafmütze. Wir sind da.«
Etwas verwirrt öffnete ich die Augen. Sean hatte bereits meine Taschen aus dem Kofferraum geholt, während Mason jetzt ausstieg.
»Mason, du kannst bei uns essen. Ich denke, du willst jetzt bei Luana sein. Deine Großeltern wissen Bescheid. Sie sind unterwegs.«
»Klar. Gerne.« Er nahm mir die schwere Tasche ab und Sean zog den Koffer. »Hast du dein ganzes Zimmer eingepackt?«, spöttelte mein Freund und verdrehte die Augen. »Die Tasche ist höllisch schwer.«
»Klar. Darin sind meine ganzen Bücher und die Geschenke.«
»Oh, du hast mir ein Geschenk mitgebracht?«, fragte er.
»Nein, meiner Gastfamilie. Für dich hat mein Geld leider nicht mehr gereicht«, zog ich ihn auf.
Mason zog einen Flunsch und stellte die Tasche mitten auf dem Platz ab. Die Arme verschränkt, schaute er mich erbost an. »Du kannst das nicht ernst meinen. Ich liebe Geschenke.«
Er wusste genau, dass ich das nicht über das Herz gebracht hätte. Wir genossen aber unsere Sticheleien zu sehr.
»Das tut mir echt leid. Du kannst ja mein neustes Cap mit dem Fanabzeichen des Eishockeyclubs von Bern haben. Ich kaufe mir wieder eins«, gab ich zurück.
»Na dann. Ich versteh trotzdem nicht, weshalb man so viele Bücher mitschleppt. Die Tasche ist wirklich sauschwer.«
»Oh, du armer Mann. Komm, ich trage sie selber. Ich will dir das nicht zumuten.« Ich gab vor, sie aufzuheben, aber er war schneller. Dann lachten wir beide. Sean schüttelte grinsend den Kopf.
Wir betraten Seans großzügiges Haus. Anne kam aus der offenen Küche, die man vom Flur aus sah. Auch sie zog mich sofort in eine Umarmung. »Hi, Luana. Schön, dass es geklappt hat.«
»Guten Abend, Mrs O’Neill.«
»Anne reicht vollkommen. Wir sind da unkompliziert. Die Männer können dir das Gepäck aufs Zimmer bringen. Du willst doch sicher eine Weile allein mit Mason sein, solange Shane und Kelly noch bei Freunden sind.«
Das Zimmer, das ich bekam, war gemütlich. Ein breites Bett aus hellem Holz mit einer blau-weißen Decke und einem großen Kissen stand an der einen Wand. Vor dem offenen Fenster wehten Vorhänge im selben Blauton im Wind. Ein kleiner Tisch und ein Stuhl ermöglichten es mir, meinen Laptop hinzustellen. Mason hatte es sich unterdessen im Schneidersitz auf dem Bett gemütlich gemacht, während ich meine Kleider in den leeren Schrank legte.
Nachdem ich fertig war, lehnte ich mich an den Tisch. Zwischen uns herrschte auf einmal verlegenes Schweigen. Irgendetwas war anders. Ich spürte ein leichtes Knistern, was mich völlig irritierte.
»Deine Mom hat mir Shirts für dich mitgegeben. Du hast ja ziemlich an Muskelmasse zugelegt und sie hatte wohl Angst, dass du oben ohne rumlaufen müsstest.« Was redete ich da? Mason musste denken, dass ich ihn angestarrt hätte.
Er grinste mich nur schief an und nahm mir dankend die Plastiktüte ab, die ich ihm hinhielt.
Er sah hinein. »Wow, sie hat es aber gut gemeint. Die kann ich gut gebrauchen. Ich war noch gar nicht shoppen.«
»Gehst du denn mit deinen neuen Freunden nie weg?«, fragte ich ihn sanft.
»Colby arbeitet wie ich auch viel auf der Farm. Josh in einem Laden. Ab und zu sind wir während der Schulzeit etwas trinken gegangen. Seit dem Schulabschluss hatte ich noch keine Zeit.«
»Was ist mit Mädchen? Sie sind doch sicher hinter dir her.« Ich schaute bei der Frage verlegen zu Boden.
»Kein Bedarf«, erwiderte er kühl.
Diese Antwort machte mich traurig. Natascha musste jegliches Vertrauen in ihm zerstört haben. Mason stand auf, schritt zum Fenster und starrte hinaus. Sein Körper wirkte angespannt. Als er sich zu mir umdrehte, war sein Lächeln verschwunden.
»Ich vertraue genau zwei Mädchen. Die eine ist Elena und die andere bist du.«
»Elena?«, fragte ich zögerlich und ärgerte mich gleichzeitig über meine Eifersucht, die leise aufkommen wollte.
»Sie ist Colbys Zwillingsschwester und könnte vom Aussehen her auch deine sein.«
Dann hatte er doch eine Freundin, die mir sogar glich. Was sollte ich davon halten? Warum gab er nicht einfach zu, dass er eine Beziehung mit einer Doppelgängerin von mir hatte? Das tat weh und dieses Gefühl passte mir gar nicht. Mason war mein bester Freund und nichts sonst. Hoffentlich hatte er mich nicht durchschaut. Eilig begann ich in meiner Tasche herumzukramen, bis ich Masons Paket herauszog und ihm in die Hände drückte.
»Da, dein Geschenk. Du kannst es ja öffnen, während ich ins Bad gehe.« Sean hatte mir vorhin gezeigt, wo ich duschen konnte. Ich fühlte mich nach der langen Reise schmutzig. So flüchtete ich beinahe vor Mason und dieser verzwickten Anziehung.
Mit frischen Klamotten, meinem Duschzeug und einem Badetuch verließ ich das Zimmer. Als ich zurückkehrte, lag das Paket ungeöffnet auf dem Bett und Mason war verschwunden.