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Mason

 

Ich war bereits seit einer Woche zu Hause und noch immer nicht dazugekommen, nach Bern zu fahren. Die ersten Infos hatte ich, wie vorgehabt, gleich Herrn Franzen mitgeteilt. Das Weitere würde ich heute mit ihm klären. Ich war sauer, dass sie immer noch keine Fortschritte erzielt hatten. Sie ließen sich von den beiden verscheißern.

Am ersten Abend hatten Mom, Scott und ich gemeinsam am Tisch gesessen und erzählten uns beim Abendessen, was in der Zwischenzeit alles passiert war. Dad käme erst ein paar Tage später von einer Reise aus dem Osten zurück.

Kieran, der zu meinem privaten Leibwächter erkoren worden war, mochte ich. Er war witzig, aber doch streng mit mir. Der Mann behandelte mich wie einen erwachsenen Menschen und gab mir nie das Gefühl, dass er nur aus Pflicht höflich war. Kieran war es auch, der mich in Selbstverteidigung unterrichtete. Sein Training war hart und er forderte mich immer wieder zu neuen Bestleistungen heraus. Auf unserer täglichen Laufrunde blieb ich heute stehen und keuchte. Ich hatte falsch geatmet.

Kieran lächelte mich amüsiert an. »Machst du schon schlapp?« Der Typ war in Topform und schlug mich bei Weitem, obwohl meine Ausdauer viel besser als früher war. Ich trieb mehr Sport als jemals zuvor. Körperlich war nichts mehr von dem mageren Typen übrig geblieben, der ich nach dem Krankenhausaufenthalt gewesen war.

Empört warf ich ihm einen Blick zu. »Vergiss es. Alles bestens.« Dann rannte ich weiter.

Eine halbe Stunde später erreichten wir unser Anwesen. Ich begann zu fluchen. Wieder einmal standen irgendwelche Presseheinis am Tor. Wütend wollte ich auf sie zustapfen, doch Kieran hielt mich am Arm zurück.

»Was hast du vor? Zeig ihnen deine Wut nicht. Wenn sie sich angegriffen fühlen, schreiben sie nur noch mehr Mist zusammen.« 

»Ja, das kann schon sein, doch ich werde mich diesmal nicht verstecken. Vielleicht verschwinden sie dann.«

Kieran sah mich skeptisch an. »Du solltest erst mit Herrn Berger, dem Manager deines Dads sprechen, ehe du dich ihnen stellst.«

»Lukas kann mir da jetzt nicht helfen. Ich schaffe das selbst. Sieh bitte zu, dass sie Abstand halten. Ich hasse immer noch den Körperkontakt zu Fremden.«

Das war am Anfang des Trainings nicht einfach gewesen. Jede Bedrängnis von Kieran hatte mich schwitzen und zittern lassen und wir mussten immer wieder pausieren. Jetzt ging es bereits viel besser.

»Mason, das ist mein Job«, erinnerte er mich und hob eine Augenbraue.

»Ja klar, sorry.«

In dem Augenblick, in dem ich am Tor anhielt, um einzutreten, begannen die Paparazzi bereits mit der Fragerei.

»Mason …«

»Für Sie ist er Herr Gardner«, unterbrach Kieran den Mann rüde. Der Zeitungsheini hatte mir gegenüber jeglichen Respekt vermissen lassen. Ich hätte gerade dasselbe sagen wollen, denn ich war kein Kind mehr, aber wenn das mein Leibwächter tat, kam es weniger arrogant rüber.

Der junge Mann hüstelte. »Herr Gardner, Sie sehen bedeutend besser aus. Haben Sie sich von Ihrer Entführung erholt?«

»Danke der Nachfrage. Mir geht’s bestens.« Knappe Antworten, so hatte ich es von Lukas und Dad gelernt.

»Herr Gardner, wo haben Sie sich so lange versteckt?« Innerlich rollte ich mit den Augen.

»Ich habe mich nicht versteckt, sondern bei Verwandten gelebt.« Mit einem nichtssagenden Lächeln antworte ich dem schmierigen jungen Mann im Ökolook.

»Haben Sie keine Angst, dass man Sie angreift? Die Leute, die Sie gefangen hielten, wissen doch jetzt, dass Sie wieder da sind?«

»Genau solche Leute wie Sie vergrößern die Gefahr, indem Sie überhaupt über meinen Sohn schreiben.« Die scharfe Antwort kam von meinem Vater, der in diesem Moment zu uns trat. Ich warf ihm einen genervten Blick zu, aber er fuhr unbeirrt fort: »Das Fragespiel ist hiermit zu Ende. Sie haben alle gehört, dass es ihm gutgeht und können nun gehen. Sollten Sie weitere Fragen haben, können Sie die gerne an die Adresse meines Managers Lukas Berger senden. Wenn Sie weiterhin hier herumlungern, lasse ich jeden von Ihnen von der Polizei abführen.«

Dann gab er Kieran und mir das Zeichen, ins Haus zu kommen.

»Dad, ich bin selbst in der Lage, die Paparazzi zum Aufhören zu bringen«, hielt ich ihm vor, nachdem die Tür hinter uns ins Schloss fiel. »Sie denken jetzt, dass ich immer noch schwach bin.«

»Nein, das werden sie nicht. Sie haben gesehen, dass du nicht mehr derselbe bist. Auch ich habe das zur Kenntnis genommen. Ich bin stolz auf dich.«

»Danke Dad. Das bedeutet mir viel.« Ich freute mich über diese Worte.

»Du hast in diesem Jahr viel erreicht. Das war nicht selbstverständlich nach dem Trauma.«

»Wenn meine Entführer, vor allem Natascha, endlich eingesperrt sind, wird es mir noch besser gehen.«

Nur schon ihren Namen zu sagen, bereitete mir Bauchschmerzen, aber auch das wollte ich überwinden. »Dad. Ich werde heute mit Kieran nach Bern in die Matte fahren. Ich will dort wieder durchlaufen können, ohne Angst zu haben. Ich muss mich ihr stellen. Danach fahre ich zur Polizei. Mein Termin mit Herrn Franzen steht an.«

»Das ist mutig, aber gefährlich.«

»Kieran wird auf mich aufpassen«, sagte ich mit fester Stimme. Nichts würde mich davon abhalten, hinzugehen. Ich wollte mich dort umsehen. Vielleicht fand ich den Aufenthaltsort meines Gefängnisses heraus.

»Morrison soll euch fahren. Ich will, dass du doppelt geschützt wirst.«

Ich verstand seine Vorsicht und diskutierte auch nicht mit ihm. Etwas mulmig war mir schon.

Eine Stunde später parkte Morrison das Auto in der Nähe des Bärengeheges, welches ich zuerst besuchen wollte. Kieran öffnete meine Autotür und die beiden Bodyguards liefen mit mir die Straße hinauf bis zur Nydeggbrücke. Das Cap hatte ich mir tief ins Gesicht gezogen. Mit meiner veränderten Statur sollte man mich aber nicht sofort erkennen. In meinem Magen rumorte es. Ich war nervös und angespannt.

Das Gehege war leer. Die drei Bären mussten bereits im Winterquartier schlafen. Ich stand dort und sah auf die andere Seite der Aare, direkt zur Matte hinüber. Den ältesten Teil von Bern, in welchem die Wohnung von Silvio und Natascha liegen musste. Der Ort meiner Qualen. Meine Hände krallten sich in das eiserne Geländer der Abschrankung. Ein Wunder, dass nichts kaputtging.

Kieran und Morrison standen die ganze Zeit neben mir und warteten auf meine Befehle. »Bist du sicher, dass du dort hinuntergehen willst?«, fragte mich Kieran in skeptischem Tonfall. »Du siehst alles andere als bereit dafür aus.«

Ich gab mir einen Ruck und löste mich vom Geländer. »Ich ziehe das jetzt durch. Lasst uns gehen!«

Ich bemerkte, dass die beiden sich einen vielsagenden Blick zuwarfen und mir dann wieder zurück zum Auto folgten.

»Mason, du läufst mit Kieran voraus. Ich folge euch mit dem Auto, damit du einsteigen kannst, wenn es dir zu viel wird.«

»Ja. Das ist okay«, gab ich mürrisch zur Antwort.

»Sollte ich nur die kleinste Gefahr für dich erkennen, wirst du ohne Diskussion ins Auto steigen. Ist das klar?«, befahl mir Kieran.

»Sicher. Mir ist auch klar, dass es nicht ungefährlich ist.« Ich erwiderte seinen Blick, ohne auszuweichen, damit er begriff, dass ich es ernst meinte.

Wir liefen über eine kleine Brücke und danach durch die gepflasterte Gasse der Mattenenge bis zur Gerbergasse hinunter. Ich sah mich immer wieder nervös um. Meine Hände waren nass vom Schweiß.

Die ältesten Häuser der Gerbergasse besaßen kleine Lauben, die durch eine Stufe nach unten erreicht werden konnten. Das Quartier sah wie ein eigenes kleines Dorf aus. Ich fragte mich, ob ich gerade jetzt vor dem Haus stand, in welchem sich mein einstiges Gefängnis befunden hatte. Hier gab es einen kleinen Platz mit einem hohen Baum. Ich blickte vom Baum zum gegenüberliegenden Haus und wieder zurück.

Es konnte sehr gut sein, dass sich die Wohnung in diesem Gebäude befand. Sicher war ich mir nicht. Es war bloß eine Vermutung, weil es der einzige Baum weit und breit war. Ich hatte damals, als ich am Boden kniend aus dem Fenster geschaut hatte, einen gesehen.

»Sofort einsteigen!«, zischte mir Kieran plötzlich zu und schubste mich auf den Rücksitz des Wagens, dessen Tür er sofort wieder zuknallte. Schnell setzte er sich auf den Beifahrersitz. »Fahr los, Morrison.«

»Was zur Hölle…?«

»Zweites Stockwerk, linkes Fenster«, unterbrach mich Kieran in kühlem Tonfall. Während ich verwirrt nach oben blickte, fuhr Morrison bereits an. Ich sah gerade noch, wie eine Gardine sich bewegte, ehe wir schon weg waren. Ein Schauer lief mir eiskalt über den Rücken. Am liebsten wäre ich sofort nach Hause gefahren, aber ich wollte den Termin mit der Polizei nicht verschieben. Zudem sollte sich dort Luana mit mir treffen.

 

Wir parkten im Parkhaus am Waisenhausplatz. Mit den beiden Leibwächtern an meiner Seite verließ ich das Gebäude und betrat den großen Platz, der im Sommer mit Tischen und Stühlen der Restaurants besetzt war.

Damit niemand das Zittern meiner Hände bemerkte, steckte ich sie in die Jackentasche. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, aber ich hatte Angst. Während wir am Rande des Platzes entlangliefen, erstarrte ich plötzlich zur Salzsäule. Alles in mir weigerte sich, das Gesehene zu begreifen.

»Was ist los?«, erkundigte sich Kieran und blickte sich um.

»Nichts. Lass uns gehen. Die Polizei wartet.« Meine Stimme war eiskalt. Ich fühlte mich aber ganz anders. Etwas zerbrach in mir.