30

Mason

 

Ich lehnte mich an Kierans Wagen, um zu warten, bis er endlich aufschloss. Währenddessen beobachtete ich, wie Lukas auf Luana einredete. Über ihre Wangen liefen schwarze Rinnsale von der Schminke.

Der Sanitäter des eingetroffenen Krankenwagens übernahm Luana, um sie zu untersuchen.

Kieran und Mike redeten unterdessen leise mit Lukas und Herr Franzen. Dabei sahen sie mehrmals zu mir. Konnte mich Kieran nicht endlich in das verdammte Auto lassen? Ich hielt mich am Dach fest, denn mir wurde immer schwindeliger. Mein Blick flimmerte. Entsetzt begann ich zu realisieren, was gleich kommen würde. Ich wusste, dass nichts den Flashback aufhalten würde. Verdammt. Warum kamen die immer zum unmöglichsten  Zeitpunkt?

»Kieran, schließ sofort das Auto auf!« Mein Tonfall hörte sich eher flehend als bestimmt an. Ich wollte mich wenigstens hinsetzen können und nicht plötzlich auf dem feuchten Boden der Altstadt landen.

Stöhnend hielt ich mir mit beiden Händen den schmerzenden Kopf und ging in die Hocke. Erste Bilder blitzten auf. Ich bemerkte noch, wie mich Mike auffing, bevor ich stürzte, aber dann bekam ich nichts mehr von der Gegenwart mit.

 

»Mase, Schätzchen. Setz dich auf. Du bekommst dein Frühstück heute im Bett«, säuselte Natascha stinkfreundlich und ich wurde sofort misstrauisch, denn meine Beine waren an den Oberschenkeln sowie den Knöcheln zusammengebunden. Meine Arme immer noch hinter dem Rücken.

»Was wird das?«, fragte ich in zittrigem Tonfall. Ich erinnerte mich an das Telefonat, das sie geführt hatte, und mir wurde heiß und kalt bei dem Gedanken, dass sie mir noch Übleres antat. Die Ungewissheit zehrte an meinen Nerven. »Nat, bitte. Was hast du vor?«

»Du kannst ja direkt lieb sein, wenn du etwas von mir möchtest. Du erfährst alles später. Ich bin in Eile.«

»Warum denn?«

»Ich habe noch einen Termin. Setz dich endlich auf.«

Es war unmöglich, mich allein aufzurichten, sodass sie mir mit einem falschen Lächeln half.

Kaum saß ich, nahm sie den Teller in die Hand und begann mich zu füttern, was mich ankotzte. Doch mein Magen knurrte und ich wollte es nicht riskieren, hungrig zu bleiben.

Als Letztes legte sie mir etwas auf die Zunge. Ich hatte es nicht kommen sehen und somit keine Zeit, das Ding auszuspucken, denn sie hielt mir sofort den Becher an die Lippen. »Schluck die Pille runter. Sofort, Mase.«

Ich hatte gar keine andere Wahl, das Ding flutschte mit dem Wasser von selbst nach unten. Empört fuhr ich sie an: »Geht’s noch? Ich hätte mich verschlucken können. Was war das?«

Sie küsste mich und meinte lapidar: »Schätzchen, das wirst du schnell genug herausfinden. Mach jetzt kein Theater. Und leg dich wieder hin. Du kannst noch etwas schlafen. Ich werde bald wieder bei dir sein.«

»Aber …«

Sie hörte mir nicht mehr zu und verließ ohne Kommentar den Raum. Entrüstet blieb ich sitzen. Ich mochte nicht wieder schlafen. Meine Gedanken rasten. Was hatte sie mir gegeben? Das Gleiche wie das letzte Mal? Ohne etwas dagegen ausrichten zu können, fiel ich auf einmal auf die Matratze zurück. Die Kraft hatte mich verlassen. Meine Augenlider begannen zu flattern. Ich versuchte, wachzubleiben, aber kurze Zeit später verlor ich den Kampf. Meine Augen fielen zu.

 

Das nächste Mal erwachte ich, ohne etwas sehen zu können. Irgendjemand trat in mein Zimmer. Es waren schwerere Schritte als die von Natascha, was mich verunsicherte.

»Hallo, wer ist da?« Ich fühlte mich völlig hilflos in dieser Situation. Blind und zugeschnürt.

Ohne Worte wurde ich einfach aufgehoben und weggetragen, was mich vor Schreck aufschreien ließ. Ich lag wie ein nasser Sack über seiner Schulter. Meine Arme und Beine spürte ich kaum noch.

Ich bekam entsetzliche Angst. Der Typ konnte froh sein, wenn ich mich nicht gleich über ihn erbrach. Mir war speiübel.

Was ging hier vor?

»Natascha?«, rief ich beinahe hysterisch. Mein Herz sprang im Galopp. Ich wusste nicht, was der Kerl von mir wollte. Stille breitete sich um mich herum aus.

»Bitte, Natascha! Wo bist du?«, wiederholte ich immer wieder. Vielleicht hatte sie mich wegen der unklaren Stimme nicht verstanden. Meine Zunge gehorchte mir kaum. Sie fühlte sich pelzig an. Leider war mein Geist umso klarer.

Als Nächstes wurde ich auf einen Stuhl gesetzt, auf dem mir die Person etwas um den Oberkörper wickelte. Er schien mich am Stuhl festzubinden. Es war wohl besser so, sonst würde ich runterfallen.

Immer noch fehlte jede Spur von Natascha. Ein eisiger Klumpen bildete sich in meiner Magengegend.

»Wer bist du?«, fragte ich den fremden Mann erneut, aber ich bekam immer noch keine Antwort.

Neben mir begann der Fernseher zu laufen, als ich plötzlich leichtere Schritte hörte.

»Natascha, bist du das?«, fragte ich zögerlich.

Erst als sich jemand auf meinen Schoß setzte und ich ihre Stimme hörte, war ich erleichtert. Was sagte das jetzt über mich aus? Sie hatte es geschafft. Ich war auf sie fixiert und von ihr abhängig.

»Hier bin ich, Schätzchen. Hast du mich etwa vermisst? Das ist ja süß.« Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände, bevor sie mich heftig küsste.

»Weißt du was, Mase? Ich bin so glücklich. Wir zwei beginnen heute ein neues Leben. Die Polizei hat ihre Suche eingestellt. Deine Familie hat dich wohl aufgegeben.« Ihre Stimme hörte sich voller Euphorie an.

»Nein. Das glaube ich dir nicht. Du lügst mich wieder an«, versuchte ich, zu widersprechen, aber mein Mund schien ein Eigenleben zu führen. Es hörte sich kaum nach dem Gesagten an. Sie musste aber begriffen haben, was mich beschäftigte.

»Doch. Das ist wahr.« Sie streichelte mir über die Wangen. »Aber ich bin ja für dich da. Bald denkst du nicht mehr an diese Verräter. Sie sind es nicht wert.«

»Aber ich will …«

Sie unterbrach meine Worte mit einem Kuss. »Du wirst jetzt nicht mehr darüber reden. Ich verstehe dich sowieso kaum.«

Ich musste wissen, was los war. Mühsam legte ich meine Frage zurecht. »Warum kann ich nicht richtig sprechen?«

»Das kommt schon wieder. Das ist eine unangenehme Nebenwirkung des Medikaments, das du erhalten hast. Es betäubt nur deinen Körper. Ich will, dass du begreifst, was ich dir jetzt erkläre.«

»Warum, Natascha? Was wird das?« Die Wörter hörten sich immer unverständlicher an.

»Ich verstehe dich leider nicht, aber das spielt keine Rolle. Brabble nur vor dich hin. Das wird an deiner Situation auch nichts ändern.«

Als ich spürte, wie mir vor lauter Aufregung ein Spuckefaden aus dem Mund lief und ich nichts dagegen tun konnte, drehte ich vollends durch. Ich brüllte einfach nur noch hysterisch los. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich war am Ende jeder Hoffnung.

Natascha zog meinen Kopf an ihren Oberkörper und streichelte mir immer wieder über den Hinterkopf.

»Beruhige dich, mein Liebster. Noch heute Abend wirst du die Wohnung verlassen. Ich konnte vorhin deine neuen Papiere abholen. Stell dir vor. Die haben sogar eine Heiratsurkunde angefertigt. Hiermit bist du ab sofort mein russischer Ehemann Sergej Iljitsch Nikitin, was uns die Einreise erleichtern wird. Leider wirst du von den Drogen, die wir dir ab morgen geben werden, etwas wirr im Kopf werden. Deshalb habe ich die Vormundschaft für dich übernommen.« Sie lachte leise. »Alle Papiere wurden übrigens von dir unterschrieben.«

Das konnte nicht sein. Ich erinnerte mich nicht, eine Unterschrift geleistet zu haben und schüttelte den Kopf vor Entsetzen.

»Ich habe das für dich getan. Niemand kennt deine Unterschrift, da du deinen russischen Namen ja noch nie geschrieben hast.«

Ich versuchte, mich zu äußern, doch ich brachte nun kein zusammenhängendes Wort mehr heraus. Nur noch unartikuliertes Zeug.

Der Typ neben uns lachte sich halb schlapp, was meine Wangen heiß vor Scham werden ließ. Ich senkte gedemütigt den Kopf.

Mein Körper fühlte sich taub an, sodass ich mich auch ohne Fesseln nicht bewegen konnte. Wie eine Puppe saß ich immer noch blind da und konnte nicht einmal meine Verzweiflung ausdrücken.

»Sei nicht traurig. Sobald du dich in Russland eingelebt hast, brauchst du die Drogen nicht mehr. Damit wird der Weg für ein neues Leben, ohne belastende Erinnerungen frei sein. Du weißt dann nur noch das, was ich dir erzählen werde.«

Mir war klar, dass sie jegliche Dinge über meine Verwandten und Freunde verschweigen würde. Ich war verloren. Das nannte man Schachmatt.

 

In meine dunklen Gedanken versunken, löste sich der Flashback auf und ich kam auf einer weichen Unterlage zu mir.

Verwirrt sah ich mich um. Lag ich etwa in einem Krankenwagen? Sofort wollte ich hochschießen, was eine dumme Idee war. Stöhnend legte ich mich wieder hin. Mein Kreislauf machte mir einen Strich durch die Rechnung. Mir war schwindelig und mein Kopf pochte wie die Hölle.

»Herr Gardner. Schön, Sie wieder bei uns zu haben. Sie waren einige Minuten nicht ansprechbar und Ihre Freunde haben sich bereits Sorgen gemacht. Frau Berger vermutete, dass Sie einen Flashback hatten. Kann das sein?«

»Ja, ich war wieder in der Vergangenheit.«

»Werden Sie dabei immer unansprechbar?«

»Das kann sein. Ich weiß es nicht. Oft fanden sie nachts statt.« Von draußen hörte ich Gesprächsfetzen.

»Wir werden Sie untersuchen lassen«, sagte der Sanitäter.

»Nein, bitte nicht. Ich will nicht ins Krankenhaus. Es geht mir wieder gut«, entgegnete ich.

»Sei kein Dummkopf, Mase.« Erst jetzt bemerkte ich Luana, die oberhalb meines Kopfes auf einem Stuhl saß.

»Warum sitzt du bei mir und nicht bei deinem neuen Lover?«, fuhr ich sie gereizt an.

Sie schnaubte. »Ich liebe dich und nicht Mike. Geht das nicht in deinen Dickschädel rein?«

Ich sah sie stirnrunzelnd an und lachte dann spöttisch. »Das sah vorhin etwas anders aus.«

»Ich habe mich nur an ihm festgehalten, du Trottel. Ich konnte nicht auf meinen Beinen stehen, weil sie von den Fesseln eingeschlafen waren.« Sie warf mir einen genervten Blick zu.

Der Sanitäter sah mich dagegen ungeduldig an. »Könntet ihr das vielleicht unterwegs oder zu Hause klären? Ihr seid nicht die einzigen Patienten.«

»Fahren Sie nur. Er wird sich untersuchen lassen«, antwortete Luana für mich.

»Hey, geht’s noch?«, antwortete ich entrüstet. »Ich kann selbst entscheiden, was gut für mich ist.«

»Das bezweifle ich manchmal«, gab sie zurück. »Du musst dich untersuchen lassen. Es ist nur zu deiner Sicherheit.«

In diesem Augenblick tauchte Lukas im Eingang des Krankenwagens auf. »Mase. Ich habe Rouven angerufen. Deine Eltern werden ins Spital kommen.«

Na dann. Super. Sie hatten mich überstimmt. Der Sanitäter schlug die Tür zu und sein Kollege fuhr los.

»Lu, ich wollte das selbst entscheiden.«

»Mase, ich hatte Angst um dich. Du bist einfach zusammengesackt.«

Eine Weile schwieg ich eingeschnappt, aber ich wollte jetzt wissen, warum Mike sie in der Gasse umarmt hatte, und stellte Luana zur Rede.

»Wir haben uns überraschend getroffen und er wollte mir wieder Vorwürfe machen, weil ich mich nicht schützen ließ. Dann hat sein Telefon geklingelt und er hat mich festgehalten, damit ich nicht wegrenne.« Luana sah mich mit einem ernsten Gesicht an. »Versuch mir doch einmal zu vertrauen.«

Langsam begriff ich, dass ich mich völlig in etwas verrannt hatte, und stöhnte über meine Dummheit. Ich musste mich bei ihr entschuldigen. »Lu. Es tut mir leid. Ich mache es wieder gut.«

»Schön, dann hätten wir das geklärt«, meinte der Sanitäter trocken, bevor wir ins Spital einfuhren.

 

Luana

 

Da es mir einigermaßen gut ging, entließen sie mich im Spital, nachdem mein Gesicht gereinigt und meine Augen wegen der Schläge untersucht wurden. Die Linsen und künstlichen Wimpern hatten sie mir entfernt. Ich war mit einem Schrecken und zwei Veilchen davongekommen. Sie empfahlen mir, eine Psychologin aufzusuchen. Vielleicht würde ich das mit Mason zusammen tun.

Dann warteten wir in der Notaufnahme auf ihn. Auch seine Eltern waren unterdessen eingetroffen und hatten mich besorgt gemustert und ausgefragt. Ich konnte sie beruhigen. Um Mason machte ich mir größere Sorgen. Wie würde er diesen erneuten Flashback verarbeiten?

Mike war mit der Polizei mitgegangen. Er würde vermutlich nicht ungeschoren davonkommen, denn Mason hatte an dem Nachmittag auch ihn belastet. Silvio hatte über Natascha und ein paar andere Mitglieder ausgepackt, was gemäß Infos von Kieran eine Razzia ausgelöst hatte. Mehrere Mitglieder wurden verhaftet.

Mike hatte Silvio knallhart ein Ultimatum gestellt. Entweder stellte er sich selbst oder Mike würde ihn ausliefern. Dieser wählte die Selbstanzeige, was ihm bei seiner Verurteilung sicher angerechnet wurde. Auch, dass er angeblich von Natascha und Nikolaj erpresst wurde und diese seine Wohnung als Gefängnis von Mason missbrauchten.

Nach einer ewigen Wartezeit erfuhren wir, dass sie Mason eine Nacht beobachten wollten, bevor sie ihn entließen. Er schlief. Deshalb machten wir uns auf den Heimweg.