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Erzähl mir von deinem Rendezvous!«, befahl Polly, als sie und Dana mit großen Schritten die Straße entlanggingen, dankbar, dass sie noch unterwegs sein konnten, bevor die granitgraue Wolkendecke platzte. Dana erzählte ihr alles, einschließlich des etwas peinlichen Endes. Dann berichtete sie über das Frühstück, von dem sie gerade gekommen war, über die Kellnerin, die mit Jack zu flirten versucht hatte, was er ignorierte, und über Runde zwei der Küss-Session, die am helllichten Tag in ihrer Einfahrt stattgefunden hatte.
»Der ist doch ein Idiot, wenn er meint, dass er dich so leicht rumkriegt. Ist mir egal, wie gut er küsst. Also komm, was glaubt der denn, wo du lebst – im Playboy Mansion?«
Dana legte sich zwei Finger hinter den Kopf und hauchte: »Hi, ich bin ein Playboy-Häschen!«
Sie verfielen in heftiges Gekicher und mussten langsamer gehen, während Polly Danas Arm umklammerte und unter Keuchen ausstieß: »Wenn ich mir deinetwegen in meine neue Yogahose mache, kannst du sie waschen!«
Als sie dann wieder Tempo aufgenommen hatten, sagte Polly: »Nein wirklich. Hast du vor, mit diesem Typ zu schlafen?«
»Ich weiß es nicht!«, stöhnte Dana. »Ich mag ihn und fühle mich von ihm angezogen, und ich will ganz sicher nicht für den Rest meines Lebens allein schlafen. Aber Herrgott, ich bin so nervös!«
»Ja, und wenn er sich nun als unheimlich entpuppt, wenn er es zum Beispiel zu den Klängen des UConn-Kampflieds treibt oder so?« Schon fing Polly an zu trällern: »UConn Husky, symbol of might to the foe …«
»Vielen Dank auch! Das hat mir gerade noch gefehlt – ich krieg gleich die Krise!«
»Keine Sorge«, sagte Polly. »Es könnte sich ja auch als unglaublich toll herausstellen. Vielleicht erkennt dieser Typ, welches Glück er hat, und möchte dich wie eine Prinzessin behandeln. Du bist ein guter Fang, Dana. Vergiss das nicht. Du bist der gute Fang.«
»Sind wir erst mal mit allen durch?«, fragte Tony sie an diesem Nachmittag, eine Hand auf die Rückenlehne ihres Schreibtischstuhls gelegt, während er auf ihren Computerbildschirm starrte.
»Ja, wissen Sie, hier in Ihrem Terminplan haben Sie einen weißen Fleck, wo anscheinend nichts passiert.« Dana tippte mit dem Ende ihres Kugelschreibers auf den Bildschirm. »Soll ich da nachbessern, wenn ich neue Termine mache?«
»Bloß nicht!« Er schmunzelte. »Das ist mein Puffer. Normalerweise gleiche ich damit einen Termin aus, der besonders lang gedauert hat, oder ziehe jemanden vor, der zu früh gekommen ist. Aber hin und wieder …« Er schloss die Augen und gab ein leises Schnarchen von sich, »halte ich auch ein kleines Schläfchen! Rufen Sie einfach kurz, wenn der nächste Patient auftaucht.«
Sie dachte, er machte einen Witz, doch als sie später seine Tür aufstieß, saß er, den Kopf an der Rückenlehne ruhend, auf dem großen Polsterstuhl. Sein Gesicht hatte nicht dieses erschlaffte Aussehen eines kürzlich Verschiedenen, das Leute oft haben, wenn sie im Sitzen schlafen, und Dana dachte, er sei vielleicht beim Meditieren. Doch als sie seinen Namen flüsterte, rührte er sich nicht. »Tony«, rief sie eindringlicher. Wieder nichts. Sie durchquerte den Raum und legte ihm die Hand auf den Arm. Seine Augenlider hoben sich zuckend, und er lächelte zu ihr auf, als erwachte er gerade aus der Schlussszene eines wunderbaren Traums.
»Entschuldigung«, sagte sie leise und ließ ihn allein, damit er sich vor seinem nächsten Patienten noch etwas sammeln konnte.
Als sie an diesem Abend vom Praxisparkplatz fuhr, fragte sie sich, worüber er wohl gelächelt hatte, welche Vorstellung eine so zufriedene Miene auf sein Gesicht hatte zaubern können. Und sie überlegte, ob sie wohl je so eng befreundet sein würden, dass sie es sich erlauben könnte, ihn zu fragen.
Als Dana kam, um Grady abzuholen, wurde sie von Amy Koljian an der Tür begrüßt. »Sie sehen fern«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«
»Nein, überhaupt nicht.« Dana lächelte dankbar. Es machte ihr nichts aus, dass ihr Sohn hirnlose Werbung für Kriegsgerät in Kindergröße und ungesunde Mikrowellensnacks angeschaut hatte. Immerhin war er in der Obhut eines Erwachsenen gewesen.
»Sie haben sich schwergetan, etwas zu finden, was sie beide machen wollten«, erklärte Amy mit einem bedauernden Seufzen. »Das Gezanke der beiden hat mich so zermürbt, dass ich schließlich nachgegeben habe.«
Gezanke? Grady zankte nicht mit seinen Freunden. »Das tut mir leid«, sagte Dana erstaunt. »Ich hoffe, Grady hat keine Schwierigkeiten gemacht.«
Amy zuckte die Schultern und schüttelte leicht den Kopf, was so viel wie Weiß der Geier? signalisierte, jedoch nicht, dass Grady keine Schwierigkeiten gemacht hatte. Auf dramatische Weise atmete sie ein, als wollte sie etwas bemerken, besann sich aber eines Besseren und ließ die Luft wieder entweichen. Dann atmete sie kurz durch. »Ich hab mich nur gefragt, ob Grady sich vielleicht an Timmys Erfolg stört. Beim Football, wissen Sie. Coach Ro bevorzugt ihn irgendwie.«
Das wurmte Dana in zweierlei Hinsicht: Jack ging absolut fair mit den Jungs um, und Grady war vielleicht nicht der beste Spieler der Mannschaft, leistete aber ganz sicher seinen Beitrag. »Oh, ich glaube nicht, dass Jack irgendjemanden besonders bevorzugt. Der Quarterback ist eine herausragende Position.« Rasch fügte sie hinzu: »Und Timmy macht das großartig.«
»Jack?«, sagte Amy. »Ist das sein Vorname? Ich glaube, den habe ich noch nie gehört.«
Dana hätte sich in den Hintern beißen können. »Er steht auf der Mannschaftshomepage«, sagte sie, hatte für die Antwort jedoch eine Sekunde zu lang gebraucht und war sich sicher, dass Amy in dieser Zeit begonnen hatte, sich selbst die Frage zu beantworten, wie Dana mit den persönlichen Daten des Trainers so vertraut geworden war. »Ich hole schnell Grady«, sagte sie und ging auf das Wohnzimmer zu, aus dem eine Kinderstimme aus dem Fernsehen befahl: »Versuch’s! Es ist hammermäßig!«
Sie dankten Amy – Dana übermäßig, Grady verhalten – und fuhren los, um Morgan abzuholen. Im Auto fragte sie ihn nach seinem Spielnachmittag. Ihre anfangs offenen Fragen arteten, je mehr er ihr auswich, desto mehr zu einem Kreuzverhör aus. Als sie in die Einfahrt der Kinnears bogen, drehte sie sich zu ihm um. »Grady, ich weiß, als wir uns gestern Abend unterhalten haben, hast du gesagt, dass alles in Ordnung ist, aber den Eindruck habe ich nicht. Und wenn du nicht darüber sprechen willst, kann ich dich nicht zwingen, aber dass du dich bei anderen Leuten schlecht benimmst, kann ich nicht zulassen, okay?« Er zuckte die Schultern und sah weg. Sie hoffte, dass der Grund für seine schlechte Laune rasch vergehen würde und sie ihn vor Leuten wie dieser arroganten Amy Koljian nicht mehr in Schutz nehmen musste.
Dana stieg aus und ging zum Haus, um Morgan zu holen. Nachdem sie sich verabschiedet hatten und auf die Veranda der Kinnears getreten waren, machte Nora die Tür noch einmal auf und flüsterte ein seltsam verstohlenes »Dana«. Als Dana sich umdrehte, bemerkte sie, dass Nora die Augen voller Anspannung zusammengekniffen hatte. »Lassen Sie uns heute Abend wie besprochen einen trinken gehen.«
Dana war hin- und hergerissen. Sie hatte Mitleid mit Nora, die bei all ihrem beruflichen, finanziellen und gesellschaftlichen Erfolg von einer verborgenen Traurigkeit erfüllt zu sein schien. Außerdem war es schmeichelhaft – Nora konnte fragen, wen sie wollte, und die Antwort wäre Ja, allerdings nicht unbedingt aus den richtigen Gründen. Viele hätten sich an der Not der überaus beliebten Frau geweidet. Vielleicht war das der Grund, warum Nora sie ausgesucht hatte, mutmaßte Dana, denn ihr konnte sie vertrauen. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe die Kinder den ganzen Tag nicht gesehen. Wie wär’s morgen Abend?«
Sie verabredeten, sich am nächsten Abend um neun Uhr in Keeney’s Lakeside Tavern zu treffen, und Nora schien dankbar zu sein. »Ich stehe in Ihrer Schuld«, war die Wendung, die sie benutzt hatte und die Dana auf dem Heimweg immer wieder durch den Kopf ging.
Am nächsten Tag nahm Dana sich vor, in der Mittagspause Gradys Lehrerin anzurufen, um zu sehen, ob in der Schule irgendetwas im Gange war, das ein Grund für seine Niedergeschlagenheit sein könnte. Hatte er Probleme mit dem Stoff? Wurde er drangsaliert? Ein paar Minuten vor der Mittagspause klingelte ihr Handy, und am anderen Ende der Leitung war, als hätte sie Danas Gedanken gelesen, Mrs Cataldo.
»Nichts passiert!«, trällerte sie mit einer gekünstelten Leichtigkeit, die Dana zusammenzucken ließ. Knochen waren vielleicht nicht gebrochen, aber wenn die Lehrerin mitten am Tag anrief, die Stimme von Süßigkeit umhüllt wie ein Apfel von Karamell, dann musste irgendetwas vorgefallen sein. »Ich rufe bloß an, um mich mal zu melden«, sagte Mrs Cataldo, »und zu hören, wie es zu Hause so läuft.«
»Eigentlich hatte ich vorgehabt, Sie selbst in ein paar Minuten anzurufen und zu hören, ob in der Schule alles in Ordnung ist.«
»So ein witziger Zufall aber auch!«, säuselte Mrs Cataldo. »Ich will Ihnen mal sagen, was ich hier auf meiner Liste stehen habe.« Bei der nachfolgenden Aufzählung zog sich in Danas Brust alles schmerzhaft zusammen. Mit Freunden streiten, beim Mittagessen in der Schlange schubsen, vom Stuhl kippen und für Unruhe sorgen. »Und er hat darauf bestanden, in der Pause drinnen zu bleiben. Er sagt, er muss seine Hausaufgaben machen, weil er nach der Schule so beschäftigt ist.«
»Also, das ist merkwürdig«, sagte Dana. »Wenn er sich nicht mit jemandem zum Spielen trifft, hat er nach der Schule jede Menge Zeit. Ich habe eine neue Stelle, aber nur in Teilzeit, und ich bin fast immer zu Hause, um ihm zu helfen.«
»Ahaaa«, sagte Mrs Cataldo weise. »Eine neue Stelle.«
Dana spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Ja, hätte sie am liebsten gesagt, ich bin wieder arbeiten gegangen. Mein Mann hat mich nämlich verlassen, dann sind seine Provisionen zurückgegangen, und das Geld reichte plötzlich nicht mehr. Also habe ich mir einen Job gesucht, der die Kinder fast gar nicht tangiert, und ich bringe mich fast um, damit alles glattläuft. Unterstellen Sie mir also nicht …
»Vielen Dank für den Anruf«, sagte sie zu Mrs Cataldo. »Ich spreche mit Gradys Dad, und dann arbeiten wir von unserer Seite daran. Lassen Sie uns nächste Woche wieder telefonieren, ja?«
Sie verabschiedeten sich, und Dana ließ das Handy auf ihren Schreibtisch fallen. Sie nahm einen tiefen, reinigenden Atemzug, die Art, von der in Geburtsvorbereitungskursen die Rede war, so als könnte der entsetzliche Geburtsschmerz einfach mit einem Schwall Kohlendioxid aus dem Körper geweht werden. Der Schmerz in ihrer Brust blieb jedoch fest hinter ihrem Solarplexus eingebettet.
»Esse ich heute allein?«, war Tonys tiefe Stimme aus der Teeküche im hinteren Teil der Praxis zu vernehmen.
»Komme gleich!«, rief sie, stand aber nicht auf. In ihren Augenwinkeln standen Tränen. Sie musste nur ein paar laufen lassen, ehe irgendjemand sie sah.
Plötzlich stand er in der Tür. »Hey«, sagte er freundlich, fragend.
»Es tut mir leid … Ich sollte nicht …« Sie nahm das Ende ihres Schals, der wie ein Lasso um ihren Hals lag, und tupfte die Tropfen von ihren Wangen.
»Worum geht es denn?«, murmelte er.
Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Hör auf zu heulen, sagte sie sich. Hör sofort auf.
Er ging auf sie zu und griff nach ihrer Hand, seine warmen, dunklen Finger wanden sich um ihre und zogen Dana von ihrem Stuhl hoch. »Lassen Sie uns in mein Büro gehen, nur für den Fall, dass jemand reinkommt«, sagte er und führte sie zu dem prall gepolsterten Stuhl. Er zog den Holzstuhl zu ihr her und griff, während er sich hinsetzte, nach einer Schachtel mit Taschentüchern auf seinem Schreibtisch.
Sie schnäuzte sich – ein saftiges, unschönes Geräusch – und murmelte: »Das ist mir so unangenehm.«
»Ich verbringe meinen Tag in den Mündern der Leute«, sagte er lächelnd. »Und Sie glauben, ich würde mich vor einem Naseschnäuzen ekeln? Im Übrigen könnte eines Tages ich es sein, der sich bei Ihnen ausweint, und dann werde ich wie eine heisere Gans schreien.«
Da entfuhr ihr ein kurzes Lachen, und schon ging es ihr besser. Sie erzählte ihm von Mrs Cataldos Anruf.
»Gut, also erst einmal hatte ich gedacht, die Generation von Lehrern, die der Mutter für alles die Schuld geben, wäre inzwischen im Ruhestand«, sagte er. »Und dann ergibt es überhaupt keinen Sinn, dass Grady nur wegen Ihres Teilzeitjobs aus dem Gleichgewicht geraten sein soll. Vielleicht gibt es ja auch gar keinen Grund. Manchmal haben wir einfach ein paar Tage lang einen Durchhänger, und dann ist es wieder vorbei.«
»Aber Grady ist kein launisches Kind«, sagte sie. »Da scheint noch etwas dahinterzustecken.«
»Und wenn Sie das sagen, dann stimmt es auch, denn niemand kennt ihn besser als Sie. Sie sollten jedoch nicht gleich davon ausgehen, dass alles Ihre Schuld ist, Dana. Es ist nicht Ihre Aufgabe, Ihre Kinder davor zu bewahren, traurig oder wütend zu sein. Ihre Aufgabe besteht darin, ihnen zu helfen, mit solchen Situationen fertigzuwerden.«
Sie nickte. Natürlich hatte er recht. Sie fingerte an dem weichen, dünnen Schal herum, dessen Enden jetzt tränenfeucht waren. »Es tut mir aber in der Seele weh, wenn Sie etwas drückt.«
Er tätschelte ihr Knie. »Und was für eine Mutter wären Sie, wenn es das nicht täte?« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Wissen Sie, ich möchte einmal etwas in den Raum stellen. Bloß so eine Idee. Ich erinnere mich, dass nach Ingrids Tod meine Mädchen natürlich völlig am Boden zerstört waren. Wir haben jeden Tag geweint. Monatelang, Tag für Tag. Irgendwann weinten sie dann nicht mehr ganz so viel und schwangen sich allmählich wieder auf ihr eigenes Leben ein – Middle School, Highschool, das ist ja alles sehr spannend, stimmt’s? Sechs Monate später fing dann Lizzie, die Jüngere, von Neuem an zu weinen. Ich konnte beim besten Willen nicht rauskriegen, warum – und sie genauso wenig! Am Ende haben wir es zusammen herausgefunden. Das Schuljahr ging zu Ende, und sie konnte sich nicht vorstellen, wie der Sommer ohne Mom werden würde. Woher sollte sie wissen, wohin sie gehen und was sie tun sollte, ohne Mom, die ihr beim Organisieren half? Wer würde alles stehen und liegen lassen und sie zum Strand fahren, während ich bei der Arbeit war?«
Jetzt fingen Tonys Augen an, ein wenig zu glänzen, und Dana spürte, wie eine weitere Träne ihr aus dem Augenwinkel tropfte. Die störte sie allerdings nicht so wie deren Vorgängerinnen. Für eine mitfühlende Träne brauchte man sich nicht zu schämen. »Das heißt«, sagte sie, »vielleicht nimmt es Grady gerade wieder besonders mit, dass Kenneth nicht mehr bei uns ist.«
»Vielleicht.« Er zuckte die Schultern. »Schwer zu sagen. Sie werden es bestimmt herausfinden.«
»Danke«, sagte sie und hätte gerne noch mehr hinzugefügt, doch er stand auf, und es schien, als wäre die Gelegenheit vorbei. »Ich glaube, jetzt sollten wir lieber zu Mittag essen«, sagte sie.
»Ja. Nichts regt den Appetit so an wie eine ordentliche Runde Weinen.« Er drohte ihr mit dem Finger. »Und weinen Sie bitte nicht mehr an der Anmeldung, ja? Die Leute werden denken, dass ich Sie misshandle. Ab jetzt weinen Sie nur noch hier bei mir.«
Um neun Uhr an diesem Abend bog Dana auf den Parkplatz von Keeney’s Lakeside Tavern ein. Grady und Morgan waren im Bett, und sie hatte Alder mit dem Rest ihrer Hausaufgaben in der Küche zurückgelassen. Während sie auf das schattenhafte Wasser des Nipmuc Pond hinausblickte, wurde ihr bewusst, dass sie seit Victors Geburtstag vor ein paar Jahren nicht mehr hier gewesen war. Polly hatte ihn damit überrascht, dass er von allen seinen Freunden in den hölzernen Nischen erwartet wurde. Victor liebte diesen Ort, und er und Kenneth waren oft hierhergekommen, um in der Bar ein Bier zu trinken und sich ein Spiel anzuschauen. Dana fragte sich, ob das wohl immer noch der Fall war, jetzt, wo Kenneth in Hartford wohnte. Zusammen mit Tina.
Nora kam in ihrem kleinen silbernen BMW angefahren und schien schon im Aussteigen begriffen, als er noch gar nicht ganz zum Stehen gekommen war. »Mein Gott, ist es toll, mal wieder auszugehen!«, sagte sie, während sie Dana an sich drückte. Die butterartige Weichheit ihrer Lederjacke roch wie der Innenraum eines fremden, mit Parfüm eingesprühten Autos. Nora gab Dana einen leichten Kuss auf die Wange und bugsierte sie auf die Tür des Keeney’s zu.
Als sie eintraten, spürte Dana, wie sie in dem spärlich besuchten Lokal auffielen. Der Geräuschpegel stieg leicht an, und sie hörte das Wort »Weiber« und lautes Gelächter von einer Gruppe von Männern, die in einer Nische am Fenster saßen und sich scheinbar alle im selben Outdoorladen eingekleidet hatten.
Nora ignorierte das und sagte zu dem Barkeeper: »Zwei Amstel, bitte.« An Dana gewandt, fragte sie: »Ist das für Sie okay?« Es war okay für Dana – Bier war billiger als Wein und hielt länger.
Sie ließen sich in einer Nische abseits der anderen Gäste nieder und plauderten über die Halloween-Planung ihrer Töchter. Dana gab zu, traurig zu sein, dass Morgan zum ersten Mal nicht in ihrem eigenen Viertel von Haustür zu Haustür zog. »Obwohl ich weiß, dass sie sich mit Kimmi in Ihrer Gegend blendend amüsieren wird«, fügte sie hinzu.
»Oh, ich weiß«, sagte Nora verständnisvoll. »Wenn sie anfangen, auf eigene Faust Dinge zu tun, versetzt uns das einen Stich.«
Ihre Unterhaltung plätscherte auf angenehme Weise über eine Vielzahl von Themen dahin. Zum Beispiel den bevorstehenden Sechstklässler-Ball. Die verwirrende Benotungspraxis der Spanischlehrerin. (»Sie kann nichts dafür«, sagte Dana. »Ich glaube, ihr Englisch ist nicht besonders gut.«) Dann Kimmis Beharren darauf, einen Hundewelpen zu Weihnachten zu bekommen. (»Nur über meine Leiche«, sagte Nora. »Es gibt keinen Geruch, den ich mehr hasse als den eines nassen Hundes.«)
Dana schwelgte in dem köstlichen Gefühl, zu einem exklusiven Club zugelassen worden zu sein, dessen Mitgliedsbeitrag ihr von der Präsidentin erlassen worden war. Sie spürte, wie sie sich für diese Ehre erwärmte, wie ihre Antworten im Laufe des Gesprächs lockerer und selbstbewusster wurden. Fast eine Stunde war vergangen, ehe sie merkte, dass ihre Biergläser leer waren und sie mit der nächsten Runde an der Reihe war.
Nora nahm einen langen Schluck von dem neuen Bier. »Wissen Sie, warum ich dieses Lokal mag?«, sagte sie. »Es ist real. Es ist eine blöde alte Kneipe, die nicht versucht, hipper und jünger zu sein, als sie ist. Ich habe dermaßen die Nase voll von diesem Mist, Sie nicht? Ich meine, davon, dass alle Frauen in unserem Alter versuchen, sich wie junge Mädchen zu kleiden. Wenn man in den Dreißigern ist, lasse ich das ja noch durchgehen, aber nicht, wenn man erst mal diese Stahlbrücke ins Vierzigerland überschritten hat.« Sie lachte humorlos. »Niemals!«
Dana hatte keine Ahnung, wie sie reagieren sollte. Sie fand zwar nicht, dass Nora sich zu jung kleidete, aber mit ihrer kurzen Lederjacke und ihren Designerjeans schien sie durchaus mit der neuesten Mode Schritt zu halten. Dana fand auch nicht, dass »jede Frau« es tat. Natürlich gab es ein paar Frauen, die viel zu sehr versuchten, sich als jung und hip zu präsentieren, was sich in der Art zeigte, wie sie sprachen oder sich kleideten. Sie betraten einen Raum grundsätzlich so, als fände dort eine ins Stocken geratene Verbindungsparty statt, bei der die Gäste nur auf ihr Eintreffen warteten, damit endlich etwas los war. Die meisten Leute reagierten auf diese Frauen aber auch so, als wären sie die Hauptattraktion, dachte Dana. Doch wenn die damit klarkamen und alle Welt ihnen beizupflichten schien, wem sollte das dann schaden?
»Ich wünschte, ich wüsste, wie das geht«, witzelte Dana in dem Versuch, etwas Leichtigkeit hineinzubringen.
»Bloß nicht – glauben Sie mir.« Noras Daumennagel nestelte an dem metallischen Rand des Bierflaschenetiketts herum. »Es ist viel zu anstrengend, es ist erbärmlich, und letztlich funktioniert es sowieso nicht. Der Ehemann will trotzdem das neuere Modell.«
Sie hat recht, dachte Dana, und ihr neu gewonnenes Selbstvertrauen bekam plötzlich Risse. Sie blickte hinab auf ihre Hände, die untätig auf dem Tisch lagen. Ihre Haut war trocken und wies weiße Rillen auf, die sich wie Fäden über ihre Knöchel zogen.
»Sie wissen das besser als irgendjemand sonst«, sagte Nora mit einem Funken Wut in der Stimme. »Dabei spielt es nicht einmal eine Rolle, ob diese jungen Dinger genauso gut aussehen wie wir. Sie sind einfach nur neu. Im Gegensatz zu uns.« Sie kratzte fester an dem Etikett, bis es sich an einer Stelle löste. »Und damit können wir nicht konkurrieren.«
Nora wusste also von Kenneths Untreue. Polly muss es ihr erzählt haben, dachte Dana, und der Gedanke ließ ihre Haut vor Zorn prickeln. Macht nichts, sagte sie sich, alle Welt weiß es. Doch Nora schien selbst Erfahrung damit zu haben. Dana blickte in ihre finstere Miene. »Carter …?«, fragte sie.
Nora sah aus dem Fenster auf die nachtschwarze Fläche des Nipmuc Pond. »Nicht dass es irgendeinen Beweis gäbe«, sagte sie. »Keine Satin-Tangas in seinen Anzugtaschen oder so was.«
»Warum glauben Sie denn dann …?«
»Weil dieser Typ ein Schürzenjäger ist!«, antwortete Nora gereizt. »Er war ein Schürzenjäger, als ich ihn geheiratet habe, und ich war eine Idiotin, weil ich dachte, ich hätte alles. Er würde sich nie mehr irgendetwas anderes wünschen. Er hatte sich mich ausgesucht. Ich hatte gewonnen. Ich bin die glückliche, verfluchte Gewinnerin eines Schürzenjägers.«
Danas Hände fühlten sich kalt an; um sie zu wärmen, steckte sie sie zwischen ihre Knie. Und sie war plötzlich so müde. Am liebsten hätte sie sich gleich hier auf den staubigen Fußboden gelegt oder sich zur Tür hinaus und in die trüben Fluten des Nipmuc Pond begeben, um in Dunkelheit zu versinken. Männer gingen. So war es in ihrem Leben immer gewesen. Anscheinend war das eine universelle Wahrheit.
Nora klopfte leicht auf den Tisch, um Danas Aufmerksamkeit zu gewinnen. »Dana«, sagte sie. »Entschuldigen Sie bitte. Ich habe gerade einen netten Abend ruiniert. Zwei Freundinnen, die sich zu einem Mädchenabend treffen.«
»Nein, es ist nur …«
»Ätzend.«
»Ja«, stimmte Dana ihr zu. »Das ist es.«
»Deshalb sind Frauen auch so stark, und deshalb haben wir so tolle Freundschaften. Weil wir uns nicht gegenseitig betrügen.« Nora lachte, worauf Dana erleichtert aufatmete. »Na ja, so stimmt es auch wieder nicht. In dieser Stadt gibt es jede Menge Luder, die einem mit Vergnügen einen Dolch in den Rücken stoßen würden. Aber nicht Sie.« Nora grinste. »Polly sagt immer, Sie hätten ein reines Herz.«
Dana lachte. »Das sagt sie nicht!«
»Aber irgendwas in der Art auf jeden Fall. Treue Seele oder ehrliche Haut …« Noras Grinsen war so breit, dass sie kaum noch die Lippen um den Rand ihrer Bierflasche schließen konnte, um einen Schluck daraus zu nehmen.
»Echt witzig«, sagte Dana, die spürte, dass ihre Hände wieder wärmer wurden.
Als Nora fertig getrunken hatte, ließ sie ihre Flasche auf den Tisch knallen. »Als Freundin sind Sie topp, jawohl, das sind Sie!«