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Als ihre Mittagspause begann, wusste Dana, dass ihr in den vergangenen vier Stunden etliche Fehler unterlaufen waren – angefangen damit, dass sie vergessen hatte, Termine einzugeben, bis hin zur Verwendung falscher Abrechnungscodes auf Antragsformularen. Tony würde sich deswegen ein paar Wochen oder Monate später mit doppelt belegten Terminen, kleinlichen Versicherungssachbearbeitern und erzürnten Patienten herumschlagen müssen.

Doch alles, woran sie denken konnte, war Morgan … die das ganze groteske Gespräch mit Nora mitbekommen und zu Recht daraus geschlossen hatte, dass sie von ihrer ehemaligen allerbesten Freundin als Tarnung benutzt worden war … die begriffen hatte, dass die Lügen, die Kimmi ihrer Mutter erzählt hatte, sich wie ein Lauffeuer in der ganzen sechsten Klasse ausbreiten würden … und die in kindlicher Angst und zutiefst beschämt geweint hatte.

Mehrere Stunden hatte Dana mit dem Versuch zugebracht, ihre untröstliche Tochter zu trösten, es jedoch lediglich geschafft, ihr bis zu einer schniefenden, hicksenden Erschöpfung beizustehen. Nachdem Alder von Jet zurückgekommen war, hatte sie sich still und leise in Danas Bemühungen eingeklinkt und die arme Morgan schließlich mit ins Fernsehzimmer genommen, um mit ihr einen Film anzuschauen. Als Dana mit dem Versprechen, spätestens zum Mittagessen wieder da zu sein, widerwillig das Haus verließ, hatten sie unter der rosafarbenen Fleecedecke gelegen, während der Vorspann von Betty und ihre Schwestern lief. Gegen neun rief Alder an, um zu sagen, dass Morgan just in dem Moment eingeschlafen sei, als Susan Sarandon ihren Töchtern ans Herz legte, ihren eigenen Wert nicht nur in ihrem »schmucken Äußeren« zu sehen.

Zur Mittagszeit steckte Dana den Kopf in Tonys Büro. »Ich versuche, um eins wieder da zu sein«, sagte sie, mit einem Mal so müde, dass sie nicht mal wusste, ob ihre Beine sie noch bis zum Parkplatz tragen würden.

Tony nickte und betrachtete sie in Erwartung einer näheren Erklärung aufmerksam. Es war derselbe Blick, mit dem er sie an diesem Tag im Keeney’s bedacht hatte, eine Vertrautheit, die sie verunsicherte. Doch alles, was er sagte, war: »Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen.« Noch ehe das letzte Wort aus seinem Mund gekommen war, zog sie sich zurück.

Auf der Heimfahrt rief sie Kenneth an und erzählte ihm, was passiert war, worauf er mit der gereizten Frage reagierte: »Wieso hast du sie überhaupt die Brownies backen lassen?«

»Soll ich ihr vielleicht das Backen verbieten oder was?«, brüllte sie zurück. Ihr Handy piepte, das Signal für einen weiteren Anrufer. »Ich muss auflegen«, sagte sie und stellte das Gespräch um. »Hallo?«

»Hi, hier ist Bethany Sweet!«, sagte eine hohe, muntere Stimme. »Spreche ich mit Mrs Stellgarten?«

Wie alt ist die denn?, fragte sich Dana verzweifelt. Eine Therapeutin im Teenageralter können wir jetzt wirklich nicht gebrauchen! Sie war versucht aufzulegen, stattdessen seufzte sie und sagte: »Ja, das bin ich.«

»Prima!«, flötete Bethany. »Ich bin froh, dass ich Sie erwische! Passt es Ihnen gerade?«

Nein, ganz und gar nicht, dachte Dana, während sie in ihre Einfahrt bog. Aber wann passt es schon?

In den nächsten zehn Minuten stellte Bethany Sweet ihr eine Reihe von Fragen, angefangen bei »Wie ist Morgan so?« über »Erlebt sie gerade etwas besonders Stressiges?« bis zu »Wie oft, glauben Sie, erbricht sie sich?« Es war zwar schwierig, sie mit ihrer hohen Singsangstimme ernst zu nehmen, doch schien sie Profi genug zu sein, und sie sorgte dafür, dass ihre acht Jahre Erfahrung als Kinder- und Familientherapeutin hinreichend Erwähnung fanden. Am Donnerstag habe ihr jemand abgesagt; ob das in Morgans Zeitplan passe?

Ja, es passte. Und obwohl Dana immer noch Zweifel hegte, kam es ihr vor, als hätte jemand ihr eine Rettungsleine zugeworfen, so dünn sie auch sein mochte, und zum allerersten Mal an diesem Tag erlaubte sie es sich, tief durchzuatmen. Als sie sich umdrehte, um die Autotür zu öffnen, geriet Pollys zu einem zaghaften Lächeln zusammengekniffenes Gesicht auf der anderen Seite der Scheibe in ihr Blickfeld.

Für einen ganz kurzen Moment wünschte Dana sich nichts sehnlicher, als aus dem Auto zu steigen und sich in die feste Umarmung ihrer Freundin fallen zu lassen. Wenn es je eine Zeit gegeben hatte, wo sie Pollys Standfestigkeit, ihre hartnäckige Bestimmtheit und unmäßige Liebe brauchte, dann war es jetzt. Doch dieses besorgte Lächeln, das ihre Gesichtszüge wie eine unbedachte Tätowierung entstellte, erinnerte Dana nur an Pollys Verbrechen.

Dana stieg aus. »Ich kann jetzt nicht mit dir sprechen«, sagte sie, während sie mit großen Schritten aufs Haus zuging.

»Lass uns einen Spaziergang machen.« Durch die Nervosität in Pollys Stimme klang es wie eine Frage.

Dana nahm die erste Stufe zur Veranda. »Morgan wartet auf mich.«

»Dana«, rief Polly und dann eindringlicher: »Dana!«

Sie blieb stehen und drehte sich zu ihrer Nachbarin um. »Was.«

Die Beine gespreizt, die Arme angespannt seitlich am Körper, war Pollys elfengleicher Körper auf einen Angriff gefasst. »Wie geht es ihr?«

Jetzt war für Dana offensichtlich, dass Polly Bescheid wusste. Nora hatte sie vermutlich angerufen, um sich über den morgendlichen Streit auszulassen, und ihr gesteckt, dass sie ausgeplaudert hatte, was Polly gesagt hatte. Noch nie in ihrem Leben hatte Dana eine solche Lust verspürt, jemanden zu ohrfeigen. »Ihre beste Freundin hat sie gerade den Haien zum Fraß vorgeworfen«, sagte sie knapp. »Sie ist todunglücklich.«

Pollys Brust hob sich kurz, als sie Luft holte. »Darf ich … Würdest du mich mit ihr sprechen lassen? Vielleicht kann ich …«

Dana spürte, wie in ihren Hauptadern Feuerwerkskörper losgingen, winzige Explosionen, die ihr die Kehle verbrannten und ihre Worte zischen ließen. »Soll das ein Witz sein? Du hast sie verraten! Ich habe dir etwas unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, und du hast es weitergegeben – an eine aus deiner Büchergruppe, Herrgott noch mal! Vielleicht ja sogar an die ganze Gruppe – oder an die ganze verfluchte Stadt!« Dana kam die Stufen herunter, ihr Finger schnellte vor. »Sie fühlt sich elend und gedemütigt, und nein, du kannst sie nicht sehen, und nein, ich will keinen Spaziergang mit dir machen. Geh doch einfach nach Hause

Sie ging die Stufen zum Haus wieder hinauf und machte die Tür hinter sich zu. Ihre Knie wurden weich und zittrig, und ihre Handtasche plumpste zu Boden. Das ist die zweite Freundin, die ich verloren habe, dachte sie, und der Tag ist noch nicht einmal zur Hälfte um.

Sie kehrte nicht zur Arbeit zurück. SMS kreuzten Cotters Rock in alle Richtungen, als wären sie hungrige Heuschrecken auf der Suche nach ihrer nächsten gerüchteschweren Mahlzeit. Diejenigen unter ihnen, die bei Morgan landeten, lasen sich in der Regel etwa so: WARUM HAST DU LÜGEN ÜBER KIMMI ERZÄHLT?

Darby gab ihr den Rat: VLLT. SOLLTEST D. MORGEN KRANK ZUHAUSE BLEIBEN.

Devynne kam direkt zur Sache: DU HAST KEINE FREUNDE MEHR LOSER.

Morgan war außer sich vor Scham und Sorge und konnte sich erst am Nachmittag etwas beruhigen, als sie sich an ihr Referat mit dem Titel: »Der Wolf: Jäger oder Beute?« setzte. Dana rief Tony an, um ihm zu sagen, dass es einen kleinen Notfall gebe und sie heute nicht mehr zur Arbeit kommen könne.

»Kein Problem«, sagte er. Nach der Art des Notfalls fragte er nicht.

An diesem Abend zu Bett zu gehen, hätte eine Erleichterung sein müssen. Morgan schlief schon. Sie war weg gewesen, kaum dass sie sich hingelegt hatte; die Adrenalinflut, die sie den ganzen Tag überschwemmt hatte, hatte sie todmüde gemacht.

Diesmal war es Dana, die nicht schlafen konnte, denn sie wusste, wie schlimm der nächste Tag werden würde. Es war verlockend, Morgan zu Hause zu behalten, die Heuschrecken einen Tag lang an dem saftigen Leckerbissen des Skandals knabbern zu lassen und zu hoffen, dass er sie am Donnerstag schon nicht mehr reizen würde. So hatte es ihre eigene Mutter gemacht, als ihr Vater gegangen war: Sie hatte Dana und Connie erlaubt, zu Hause zu bleiben. Und Dana hatte sich daraufhin unter ihrer Ballerinabettdecke zusammengerollt und den unglaublich sinnlichen Blick von David Cassidy auf sich ruhen lassen, der aus dem Poster an der Zimmerdecke auf sie herabschaute. Während sie so dalag, dachte sie sich Geschichten aus, die das Verhalten ihres Vaters erklären könnten, denn sie wünschte sich verzweifelt, dass eine freudigere – oder zumindest nicht ganz so tragische – Erklärung ans Tageslicht käme. Beinahe glaubte sie selbst, dass das eines Tages passieren würde. Beinahe.

Am darauffolgenden Tag hatte sie mit Bedacht ihre beste Cordhose und eine Kunstseidenbluse angezogen und den Fön so lange betätigt, bis er ihr den Schädel verbrannte, während sie ihre Haare in eine Außenwelle à la Farrah Fawcett drehte. Vielleicht würde ja nicht die ganze siebte Klasse ihr aus dem Weg gehen, wenn sie normal aussähe – besser als sonst, aber nicht deutlich anders.

Es hatte nicht funktioniert. Selbst ihre besten Freundinnen waren ratlos gewesen und hatten sie zwar zum Mittagessen bei sich sitzen lassen, aber kein Wort mit ihr geredet. Was hätte sie nicht darum gegeben, wieder nach Hause und unter dieses Poster zu kriechen, in David Cassidys braun gebrannte, gefühlvolle Arme.

Connie lehnte das Angebot ihrer Mutter ab und ging zur Schule. »Ich bin in der dritten Klasse«, hatte sie gesagt. »Die wissen das wahrscheinlich gar nicht.« Als Dana sie nachmittags ausquetschte, war die Einzige, die etwas gesagt hatte, »Patsy McCarthy, die ganz im Ernst glaubt, dass sie eines Tages eine Heilige wird«, hatte Connie gespottet. »Als wär das ein richtiger Beruf.«

Besser, Morgan bringt es hinter sich, entschied Dana, die angespannt in ihrem Bett lag. Besser erst gar nicht schwach oder schuldig erscheinen. Doch die Vorstellung, wie sie am nächsten Tag ihre zerbrechliche Tochter in den Kampf schickte, ließ Danas Muskeln vor mitempfundenem Schmerz zucken. Morgan war mit nichts anderem als dem Glauben ihrer Mutter an sie bewaffnet, was in der primitiven Welt vorpubertärer Mädchen so gut wie nichts galt. Unfähig, die Augen länger als eine Minute geschlossen zu halten, warf sie die Bettdecke von sich, ging hinunter in die Küche, goss sich ein großes Glas zuckerfreie Limonade ein und riss eine Tüte Kartoffeln auf.

Es war ein größerer Berg, als sie ihn je zuvor gemacht hatte, und er schimmerte auf dem Teller, lauter Yukon-Goldklumpen, wie zur Segnung mit Öl besprenkelt. Jeder Bissen war eine verführerische Ablenkung von ihren Sorgen, und erst als sie mit dem Rücken ihrer Gabel die letzten knusprigen braunen Krümel zerdrückte, merkte sie, wie schwer und überladen ihr Magen sich anfühlte, so als hätte sie statt Bratkartoffeln Kugellager in Motorenöl gegessen. Diese neue Empfindung war keine Ablenkung mehr, sondern verstärkte nur ihre Unruhe.

Das ist unkontrolliertes Essen, kam ihr der entsetzliche Gedanke. Ich mache es auch. Klirrend ließ Dana die Gabel auf den Teller fallen, den sie anschließend so heftig wegstieß, dass er beinahe über den Rand des Küchentischs gerutscht wäre. Schließlich gab sie den herzzerreißenden Schluchzern, die den ganzen Tag schon loszubrechen gedroht hatten, freien Lauf.

Nachdem die Tränen versiegt waren, legte sie den Kopf auf den Tisch, die Wange fest auf das harte, kühle Holz gepresst. Ihr Denken verlangsamte sich, und sie spürte, wie eine Leere sie überkam, die an Erleichterung grenzte, aber auch etwas beängstigend war. Sie fragte sich, ob sie überhaupt noch über irgendetwas Gewissheit haben konnte oder ob alles nur Lügen gewesen waren, die sie sich selbst erzählt hatte, um sich normal fühlen zu können – die Zufriedenheit ihrer Kinder, Pollys Loyalität, Kenneths Liebe, ihre eigene Selbstbeherrschung. Alles weg.

Dann kam ihr ein merkwürdiger Gedanke – sie hatte den Wunsch, ja sogar das Bedürfnis herauszufinden, wie alles so gekommen war. Sie wollte verstehen, wie das, was früher wahr gewesen war, sich in das verwandelt hatte, was jetzt wahr war. Es war an der Zeit weiterzugraben, zu den tiefer liegenden Wahrheiten vorzudringen.

So war sie zum Beispiel immer eine fürsorgliche Mutter gewesen, aber machte sie das wirklich zu einer guten Mutter? Gebe ich Morgan, was sie braucht?, fragte sie sich. Verstehe ich sie wirklich? Was sie sicher nicht verstand, war dieses Bedürfnis, das Morgan hatte, mit Gewalt Essen aus ihrem Körper hinauszubefördern. Dana sah keinen Sinn darin, und dennoch wünschte sie sich sehnlichst, es zu verstehen. Wie konnte etwas so Widerliches sich nur gut anfühlen?

Sie ging in den Keller, weit weg von den schlafenden Kindern, in die kleine Toilette neben dem Heizungsraum. Vor der alten, rostbefleckten Kloschüssel kniete sie sich hin, klappte die Brille hoch und starrte in die Schüssel. Kaum hatte sie sich den Finger hinten in die Kehle gesteckt, musste sie würgen, der Magen hob sich, die Zunge ging reflexartig nach oben, um die Invasion abzuwehren. Es war ein scheußliches Gefühl, aber sie steckte den Finger wieder und wieder hinein, und jedes Mal krampfte ihre Bauchmuskulatur wie ein überhitzter Motor. Schließlich kam etwas Flüssigkeit hoch und schoss in die Kloschüssel.

Okay, gut, ich hab’s gemacht. Die hochgeschwappte Flüssigkeit hatte jedoch ihren Würgereflex ausgelöst, und jetzt brachen in unkontrollierbaren Stößen zerkaute Kartoffeln aus ihrem Mund heraus und platschten ins Toilettenwasser, das ihr ins Gesicht spritzte. Der Geruch von etwas, das einmal Gemüse gewesen war, jetzt aber eher ranzigem Käse glich, überwältigte ihre Nase. Sie hielt den besudelten Rand der Kloschüssel umklammert, damit die Spasmen sie nicht kopfüber ins Wasser trieben. Halt! Um Himmels willen, halt!

Schließlich hörte ihr Magen auf, sich krampfartig zusammenzuziehen, und ohne sich darum zu scheren, dass ihre Haare in das Erbrochene unter ihr hineinhingen, atmete sie tief durch. Dann grapschte sie blindlings nach dem Klopapier und riss einen langen Streifen ab, mit dem sie sich das Gesicht abwischte. Erschöpft stand sie langsam auf und ging zum Waschbecken, um sich sauber zu machen.

Verstehen kann ich es immer noch nicht, dachte sie. Aber wenigstens weiß ich jetzt, wie es ist.

Obwohl Dana ihren Zähnen eine Art Strafbürstung verpasst hatte, erinnerte der Geschmack, den sie beim Aufwachen im Mund hatte, an den einer dicken, geronnenen Soße. Durch den Nebel hindurch, der ihr an Schlafentzug leidendes Gehirn verhüllte, versuchte sie fieberhaft, sich an den Reinigungstee zu erinnern, den sie mit Dermott McPherson getrunken hatte. War das erst fünf Tage her? Zitronen, fiel es ihr wieder ein, und sie schleppte sich nach unten.

»Wir machen Arme Ritter!«, rief Grady, als sie die Küche betrat. »Guck mal, Mom, hier. Guck mir zu, ich kann’s jetzt!« Er nahm ein Ei aus dem Karton, streckte die Hand nach oben aus und ließ sie mit Karacho auf den Rand der Schüssel hinabsausen. Das Ei brach auseinander, Schalenstücke flogen herum, glänzendes Eiweiß rann auf die Arbeitsfläche. »Verdammt«, murmelte er.

»Immer sachte, G«, sagte Alder in bewunderndem Ton. »Wer bist du, Iron Man oder was?« Nach der Küchenrolle greifend sagte sie zu Dana: »Ich glaube, Morgan liegt noch im Bett.«

Dana fand ihre Tochter, vollständig angezogen, bis zum Kinn unter der Decke. »Ich schaff’s nicht«, sagte sie. Und obwohl Dana versuchte, sie davon zu überzeugen, dass es am nächsten Tag nur noch schlimmer sein würde, rührte Morgan sich nicht. »Ich kann einfach nicht.« Damit drehte sie sich zur Wand.

Dana schickte Grady und Alder los. Dann brühte sie sich, da es im Haus keine Zitronen gab, einen kochend heißen Schwarztee auf, der zwar im Hals brannte, aber half, den Geschmack von geronnener Hollandaise aus ihrer Kehle zu vertreiben. Ihre Mittwochsliste, eine Aufstellung sämtlicher Hausarbeiten, die sie vor der Arbeit erledigen wollte, starrte sie von ihrem Platz am Kühlschrank an, gefangen von einem Magnetbutton mit der Aufschrift SCHÖNE SAUEREI!

Das Telefon klingelte. »Ich bin’s«, sagte Kenneth. »Ich habe ein Meeting verschoben, damit ich heute Nachmittag da sein kann, während du arbeitest.«

»Danke«, sagte Dana. »Ich habe gestern zur Mittagspause aufgehört und bin nicht wieder hingegangen. Vielleicht sollte ich versuchen, heute so viel wie möglich zu arbeiten.«

»Ich glaube, es ist nicht gut, sie unbeaufsichtigt zu lassen«, sagte er steif.

»Kenneth, wenn du nur eine Minute lang denkst …«

»Moment«, unterbrach er sie. »Ich wollte nicht so klingen, als ob … Ich wollte dir nur sagen, dass ich kommen werde.«

Es klopfte in der Leitung. »Gut«, sagte sie. »Ich muss auflegen. Jemand klopft an.«

»Ich finde, wir sollten versuchen, uns nicht zu streiten«, verkündete er.

»Einverstanden. Ich muss auflegen.« Sie drückte die R-Taste an ihrem Handy.

»Hallo, wunderhübsches Mädchen.«

Wer zum …?, dachte Dana für den Bruchteil einer Sekunde. Dann erinnerte sie sich. »Hallo, Jack.«

»Heute pfeifen wir aufs Hebron Diner. Ich finde, heute lassen wir’s krachen und gehen ins Sheraton!«

Ach du liebes bisschen!, dachte Dana. Als ob ich am helllichten Tag Zeit für Sex hätte.

»Zum Frühstück«, fügte er rasch hinzu. »Nicht um ein Zimmer zu nehmen oder so … Es sei denn, du möchtest …«

Sie schloss die Augen, zwang sich, ihn nicht anzufahren. »Das ist wirklich eine nette Idee, Jack, aber hier ist der Teufel los, sodass ich leider gar nicht mit frühstücken gehen kann. Morgan ist heute zu Hause geblieben – sie hat, äh … ihr geht es nicht gut –, und ich muss noch ungefähr eine Million Sachen erledigen.«

»Oh.« Enttäuschung schwappte durch die Leitung herüber.

»Aber wir sehen uns ja am Wochenende«, sagte sie von Gewissensbissen geplagt. »Ach, halt. Dieses Wochenende habe ich die Kinder … Lass uns nächsten Mittwoch ins Auge fassen, ja?«

»Nächsten Mittwoch?« Er klang wie Grady, der nicht glauben wollte, dass er Kenneth erst in zwei Wochen wiedersehen würde.

»Ich wünschte, die Dinge wären nicht so kompliziert. Aber es liegt nicht in meiner Macht – das verstehst du doch, oder?« Er antwortete nicht sofort, und die Gewissensbisse drückten sie noch mehr. »Ich würde wirklich gerne mit dir frühstücken, Jack. Ehrlich. Ich wünschte, wir könnten uns einfach ein Zimmer mieten und den ganzen Tag zusammen verbringen.«

»Wirklich?«

»Ganz bestimmt.«

Und er schien zufrieden, fand sie. Wenigstens ein Mensch, der nicht findet, dass ich auf ganzer Linie versage.

Die Mittwochsliste blieb eine Gefangene des Magneten am Kühlschrank: Absolut nichts davon wurde erledigt. Dana saß im Schlafanzug am Küchentisch, trank heißen Tee und fühlte sich abwechselnd ängstlich und wütend. Was sie wirklich brauchte, war jemanden zum Reden, aber es gab niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte, ohne befürchten zu müssen, dass sie verurteilt oder die Gerüchteküche angefeuert würde – oder beides.

Allerdings gab es einen Menschen, der gewiss sein Urteil über sie abgeben, sich jedoch über alle anderen Personen in diesem schrecklichen Drama noch viel angewiderter äußern und mit größtem Vergnügen die Wut zum Ausdruck bringen würde, für die Dana kaum Worte fand. Sie griff nach dem Telefon. »Connie, ich bin’s.«

»Mann, das wird aber auch Zeit. So viel dazu, dass du mich über mein Kind auf dem Laufenden halten wolltest.«

Dana musste unwillkürlich lächeln. Connie nicht anzurufen war der geringste Fehler, den sie begangen hatte. »Ich trage mich mit dem Gedanken, das Rauchen anzufangen«, sagte sie.

»Wahnsinn!«, sagte Connie. »Marlboro Light, hoffe ich.«

»Worüber willst du zuerst was hören – Alder oder mein verkorkstes Leben?«

»Schwierige Entscheidung«, sagte Connie. »Alder ist die Frucht meines Leibes, und dein verkorkstes Leben klingt wie eine Episode aus Verzweifelte Törtchenbäckerinnen

Dana biss fest die Backenzähne zusammen. »Du bist meine Schwester, Herrgott noch mal. Kannst du dich nicht ein lausiges Telefonat lang mal nicht wie ein tollwütiger Luchs aufführen?«

Am anderen Ende der Leitung trat für kurze Zeit Schweigen ein – das erste Mal, solange Dana denken konnte, dass ihre chronisch besserwisserische Schwester anscheinend perplex war.

»Hm«, sagte Connie schließlich. »Ich könnte es ja einfach mal probieren. Was ist los?«

Dana erzählte ihr alles, angefangen bei Morgans Kotzerei.

»Armes Kind«, sagte Connie. »Sie hat die Waffe gegen sich selbst gerichtet.«

»Was soll denn das bitte heißen?«

»Hey«, sagte Connie. »Wir tragen alle Waffen – sogar du. Ich meine ja nur, dass es nicht immer einfach ist, sie gesichert zu lassen. Vor allem für junge Mädchen.«

Dana erzählte, wie sie Morgan und Kimmi im Bad angetroffen hatte, berichtete von Kimmis Lüge und Noras Reaktion.

»Ach du Scheiße!«, schrie Connie auf. »Die ist doch ein verfluchter Rottweiler mit ’ner Prada-Tasche! Der solltest du mal einen kräftigen Arschtritt verpassen!« Ihre von Flüchen durchsetzte Empörung war Balsam auf Danas Wunden.

Pollys Verrat kommentierte Connie nur mit: »Wow, das hätte ich jetzt nicht gedacht.«

»Ich auch nicht«, sagte Dana, die spürte, wie ihre Brust sich zusammenzog. »Sie ist meine beste Freundin.«

»Irgendwie hab ich Polly immer gemocht, aber da hat sie ja richtig Scheiße gebaut.« Connie fragte nach Grady, und Dana erzählte ihr von dem Ärger mit Freunden und seinen verzweifelten Versuchen, Kenneths Aufmerksamkeit zu gewinnen. »Ken, das Arschloch«, murmelte Connie. »Der Typ ist doch der letzte Idiot.«

»Ich weiß, dass du ihn nie gemocht hast, aber …«

»Natürlich habe ich ihn nie gemocht. Herrgott, Day, gibt es denn einen fantasieloseren Typ als Ken?«

Day, dachte Dana. So hat sie mich seit Jahren nicht mehr genannt. »Ach so, fantasielos. Mir war gar nicht klar, dass dich das am meisten an ihm gestört hat«, stichelte sie.

»Am meisten vielleicht, aber bestimmt nicht als Einziges.«

»Na ja, meine Liste ist auch um einiges länger geworden. Ich habe seine Freundin kennengelernt – totales Püppchen. Dafür hat er mich verlassen, eine Frisur in einem bauschigen Mantel.« Es tat gut, über Tina herzuziehen. Allerdings machte es sie auch realer. Dana stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich glaube, das wird was Ernstes.«

»Musste so kommen«, sagte Connie. »Endlich ist er auf das Niveau gesunken, das ihm entspricht.«

Zwischen ihnen trat kameradschaftliches Schweigen ein. Nach einer Weile sagte Connie: »Gut, können wir jetzt über mein Kind reden, oder gibt’s noch andere Arschlöcher, von denen du mir erzählen willst?«

Dana zögerte.

»Herrgott«, sagte Connie. »Wie schlimm ist es denn?«

»Also … es war schlimm, aber ich glaube, jetzt geht es ihr besser. Connie, du musst mir versprechen, dass du nicht ausrastest. Sie kriegt es auf die Reihe, aber die Heilung muss in ihrem eigenen Tempo passieren.« Als Dana mit ihrem Bericht darüber, wie Ethan Alders Freundschaft grausam ausgenutzt hatte, fertig war, gab Connie eine Reihe von Kraftausdrücken von sich, die in ihrer üppigen, anschaulichen Bildersprache beinahe poetisch anmuteten.

»Stimmt«, sagte Dana. »Aber ganz ehrlich, ich glaube, sie kriegt gerade die Kurve. Sie hat neue Freundinnen und Freunde, und mit Morgan und Grady kommt sie unglaublich gut klar.« Der Gedanke an Alders liebevollen Umgang mit ihren beiden angeschlagenen Kids gab Dana Auftrieb. »Da hast du vielleicht ein Mädchen großgezogen, Con. Sie ist etwas ganz Besonderes.«

Dana konnte den Stolz in Connies Antwort hören. »Du machst dir keinen Begriff.«

»Doch«, sagte Dana, »das mache ich.«