- 35 -
Ich gehe mit Rita ins Galaxy!«, brüllte Morgan in ihr Handy, wobei einzelne Wortfetzen vom Schulbuslärm übertönt wurden. »Sie hat Geld! Wenn ich abgeholt werden muss, rufe ich an!«
Wer ist Rita?, überlegte Dana. Es war jedoch das erste Mal seit über einer Woche, dass Morgan nach der Schule etwas vorhatte, und im Übrigen hörte sie sich glücklich an. Oder jedenfalls nicht niedergeschlagen, wie sie bei allen anderen Anrufen seit der Fresserei mit Kimmi Kinnear geklungen hatte.
Grady lud Jav zu sich ein, und sie backten Schokochip-Kekse, indem sie die Schokoladenstückchen in den festen Teig drückten und dabei effektvoll stöhnten und Grimassen schnitten. Dann gingen sie nach hinten in den Garten, um einen Football auf das Baseballübungsnetz zu werfen. Dana setzte derweil mit einem Löffel den Teig auf Backbleche und schob sie in den Ofen. Den Blick auf die Jungen gerichtet, die den Ball in seiner unberechenbaren Flugkurve zu erwischen versuchten, wartete sie gerade darauf, dass der letzte Schwung Kekse abkühlte, als die Haustür aufschlug und die Stille von Mädchenstimmen zerrissen wurde.
»Diese Jungs sind fiese Schweine«, sagte eine, die Dana kannte, aber nicht so recht zuordnen konnte.
»Vor allem Calvin Ridger. Wenn der aufgedreht ist, werden seine Augen richtig glänzend und unheimlich!« Diesmal eine zwitschernde Stimme, die ihr völlig unbekannt war.
»Gott sei Dank bist du gekommen, Jet«, sagte Morgan. »Ich war kurz vorm Ausflippen.« Und dann wuselten die drei in die Küche herein, wo sie die Kekse mit vielen Ohs und Ahs bedachten. Jet nahm sich unaufgefordert einen. »Affengeil!«, verkündete sie, geschmolzene Schokolade wie eine Ölspur auf der Unterlippe.
Morgan stellte ihre neue Freundin Rita vor, die völlig wirre rote Haare hatte und der Bataillone von Sommersprossen am Hals hinauf und übers Gesicht marschierten. Ihre hellen Augen schienen in ständigem Erstaunen aufgerissen zu sein.
Alder kam herein und nahm Jet die Milchpackung weg, aus der sie gerade getrunken hatte. »Was ist passiert?«, fragte sie, während sie eine Tasse holte und Jet Milch eingoss.
»Mensch, das war vielleicht aufregend!«, schwärmte Rita. »Diese Jungs sind echt ins Galaxy gekommen, als würde es ihnen gehören!«
»Kimmi-Sklaven«, sagte Morgan. »In Wirklichkeit mag Kimmi sie nicht, aber sie hoffen, dass sie es eines Tages doch tut. Vielleicht, wenn sie mal alte Knacker sind.« Die Mädchen erzählten, die vier Jungen seien in die Pizzeria Galaxy gekommen, hätten ihre Bestellung aufgegeben und sich dann nach etwas umgeschaut, womit sie sich die Zeit bis zum Essen vertreiben könnten. Sie hätten Morgan und Rita ins Visier genommen, die jede ein Stück Pizza gegessen und sich eine Sprite geteilt hatten. Dann seien die Sticheleien losgegangen: simuliertes Kotzen, verdrehte Glupschaugen und Worte wie »tittenloses Wunder«.
»Und dann, ähm, ist sie …« Rita deutete auf die älteren Mädchen.
»Das ist Jet«, sagte Alder. Jet verzog den Mund zu einem breiten Grinsen, bei dem noch ein stibitzter Keks zum Vorschein kam.
»Genau, Jet ist reingekommen, und als sie gesehen hat, was sie da machten, hat sie sich zu ihnen gesetzt! Hat sich einfach mit an ihren Tisch gequetscht! Und sie sind ausgeflippt!«
Alder sah Jet an, die mit belustigter Miene die Schultern zuckte. »Das hat Spaß gemacht«, sagte sie.
»Sie hat angefangen, aus ihren Gläsern zu trinken und sie nach ihren Namen zu fragen und wo sie wohnten und so Zeug.« Morgan grinste. »Mannomann, Calvin Ridger hat ausgesehen, als würde er jeden Moment einen Anfall kriegen.«
Jet hatte sich eine Pizza bestellt, und als sie ging, hatte sie die Mädchen mitgenommen. »Die Vorstellung, sie dort zu lassen, fand ich nicht besonders verlockend«, erklärte sie.
Danas und Alders Blicke trafen sich, und Alder zog die Augenbrauen hoch, was einem stummen Hab ich doch gesagt gleichkam. Dana nickte. Alder hatte recht gehabt mit Jet. Hinter der schwarzen Fassade und den schlechten Manieren hatte das Mädchen durchaus Herz. »Hey Süße«, sagte Dana, »möchtest du noch einen Keks?«
Beim Mittagessen am Freitag starrte Dana auf ihren Joghurt. Die gelatineartige Masse verursachte ihr Übelkeit. »Morgen fahren sie«, erzählte sie Tony.
»Ich weiß«, sagte er.
Natürlich wusste er Bescheid. Sie hatte ihm bereits alles erzählt. Doch das stille Mitgefühl, das sie jetzt in seiner Stimme hörte, war genau das, wonach sie sich sehnte. »Nächste Woche arbeite ich ganztags, ja?«, sagte sie. »Sie brauchen mich für die zusätzlichen Stunden nicht zu bezahlen, ich will nur nicht zu Hause hocken.«
»Es wird mir ein Vergnügen sein, und selbstverständlich werde ich Sie bezahlen.«
»Nein, tun Sie das nicht.« Er fing an zu protestieren, doch sie schnitt ihm das Wort ab. »Ich meine es ernst, Tony. Ich hätte das Gefühl, etwas Gutes zu tun.«
»Okay, das verstehe ich«, sagte er. »Aber sehen Sie’s mal aus meiner Perspektive. Was wäre ich denn für ein Ekeltyp, wenn ich Ihre traurige Stimmung ausnützen würde?« Schon den Gedanken wischte er mit einer Handbewegung beiseite. »Kommt nicht infrage.« Angesichts seines widerspenstigen Auftretens gab sie sich dankbar geschlagen.
Von der Eingangstür her war lautes Klopfen zu hören, und sie schreckten beide von ihren Stühlen hoch und gingen rasch nach vorne, um zu öffnen. Dort hinter der Glasscheibe stand Jack Roburtin, sein körperlicher Ausdruck eine seltsame Mischung aus Wut und Hoffnung. Einen Moment lang standen Tony und Dana einfach nur da. »Ich kümmere mich darum«, murmelte sie.
»Ich bin in meinem Büro«, sagte er. »Und horche.«
Dana schloss die Tür auf. »Hallo«, sagte Jack merkwürdig unsicher, so als wüsste er nicht, welche Rolle er in seinem eigenen kleinen Film spielte.
»Hallo«, sagte sie.
Er straffte die Schultern und kniff seine ohnehin eng stehenden Augen zusammen. »Mir bleiben noch ein paar Minuten, bis meine Schicht losgeht, und ich hab mir gedacht, wir sollten vielleicht vor dem Wochenende reinen Tisch machen.«
»Gut«, sagte sie, obwohl sie seit ihrem ungehaltenen Telefonat Anfang der Woche nicht einmal einen flüchtigen Gedanken auf ihn verwendet hatte.
»Du hast bestimmt viel um die Ohren«, äußerte er.
»Ja, das habe ich.«
»Also, da hast du mein vollstes Verständnis. Mir geht es ja im Grunde nicht anders.« Um eine lässige Haltung bemüht, verschränkte er die Arme und verlagerte sein Gewicht, allerdings zu weit auf eine Seite. Jetzt sah er aus wie eine Ken-Puppe, die eine neue Hüfte brauchte. Dana biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszulachen.
»Was ist daran so witzig?«, wollte er wissen. »Glaubst du, du bist die Einzige, die Sorgen hat? Herrgott noch mal, die Verkäufe sind zurückgegangen! Bei mir eigentlich nicht, aber bei vielen anderen. Und an Thanksgiving besuche ich meine Mutter in Florida, dabei hasse ich das Fliegen! Aber was soll ich machen – mit dem Auto fahren?«
»Nein, nein, entschuldige!«, beharrte sie, obwohl es ihr nicht gelang, das Glucksen in ihrer Kehle unter Kontrolle zu bringen. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, was es jedoch nur schlimmer machte.
»Okay, so langsam hab ich endgültig den Eindruck, dass du nicht an einer Versöhnung interessiert bist«, sagte er warnend.
»Versöhnung?«, sagte sie. »Ich dachte, du wolltest nur reinen Tisch machen.«
»Wozu sollte ich reinen Tisch machen, wenn wir danach nicht wieder zusammen sind?«
Zusammen sein. Mit Jack. War es das, was sie wollte? Nach ihrem kleinen verbalen Scharmützel hatte Dana nicht einmal über die Frage nachgedacht, ob sie sich getrennt hatten. Und jetzt sah es so aus, als müssten Friedensangebote gemacht werden. Schon bei der Vorstellung schienen ihre Glieder bleischwer zu werden.
»Oh«, sagte sie.
»Oh? Oh?« Die Unbeholfenheit verlor sich, als er seinen Bizeps anspannte und den Brustkorb dehnte. »Ich komme hierher, bereit, dich wieder aufzunehmen, und du sagst nur ›oh‹? Ich glaube nicht!« Er blickte sich in dem kleinen Wartezimmer um, als gäbe es dort ein Publikum, das nur er sehen konnte. »Ist das zu fassen?«, fragte er seine unsichtbaren Zuschauer.
»Jack, es tut mir leid«, fing sie an, ohne jedoch genau zu wissen, was ihr leidtat. Hinter sich hörte sie Geräusche, das Zuschlagen von Schubladen und ein Räuspern. Tony machte sich bemerkbar.
»Mir war nicht klar, dass du so eine bist, Dana. Eine, die mit einem Mann spielt und ihn nur zum Ausgehen und zum Sex benutzt!«
Ach du lieber Himmel, dachte Dana, wissend, dass Tony zuhörte. Das ist so peinlich.
»Ich dachte, wir wären dabei, etwas aufzubauen«, ging sein Wutanfall weiter, »und du … hattest nichts als Strümpfestricken im Sinn! Rumvögeln und deinen Spaß haben!«
Eigentlich hatte sie es wie früher mit ihren Kindern machen wollen: erst mal abwarten, bis er Dampf abgelassen, sich mit seinem Gebrüll und Getue verausgabt hatte. Doch er schien sich eher hochzuschaukeln als zu beruhigen. »Jack, es tut mir leid, aber ich muss jetzt wieder zurück an die Arbeit. Du musst gehen.«
»Du machst Schluss? Du glaubst, dass du so einfach mit mir Schluss machen kannst? Jetzt erzähle ich DIR mal was!« Seine kräftigen Arme schossen nach vorne, dicke Finger bohrten sich durch die Luft auf ihre Schultern zu. »Du bist es nicht wert! Du bist nicht hübsch genug, nicht liebenswert genug, überhaupt GAR NICHTS genug! Ich hoffe, du hast vor, lange allein zu bleiben, denn kein Mann, der auch nur ein bisschen was auf sich hält, wird dich haben wollen!«
In dem Moment fühlte sie sich, als hätte er einen Eimer Säure über ihr ausgekippt, sie mit seinen Worten entstellt. Und als er merkte, dass sein Angriff gesessen hatte, bedachte er sie mit einem rachsüchtigen Lächeln und ging mit großen Schritten zur Tür hinaus.
Dana stand immer noch da, als Tony neben sie trat und ihr eine Hand auf die Schulter legte. »Gut gemacht«, murmelte er. »Hab noch nie jemanden das Wort ›Oh‹ mit so befriedigenden Konsequenzen sagen hören.« Sie starrte weiter durch die Glastür. »Am Ende fand ich ihn etwas unheimlich«, fuhr Tony fort. »Sie scheinen sich ja wacker geschlagen zu haben. Aber vielleicht hätte ich doch rauskommen sollen.«
»Das hätte ihn nur noch rasender gemacht.«
»Das habe ich mir auch gedacht. Ich hab mich schon darauf gefasst gemacht, die Polizei anzurufen. Fürchten Sie sich vor ihm? Sollen wir eine einstweilige Verfügung in Betracht ziehen?«
Sie schüttelte den Kopf. Angst hatte sie keine vor ihm. Den Schaden, den er anrichten wollte, hatte er bereits angerichtet. »Ich glaube nicht, dass er noch mal wiederkommt.«
»Hören Sie«, sagte er. »Dieser ganze Quatsch von wegen, Sie sind nicht gut genug – Sie wissen, dass das völliger Unsinn ist, nicht wahr?«
»Ich vermute schon.«
»Vermuten Sie nicht«, sagte er leise. »Seien Sie sicher. Sie sind nämlich etwas ganz Besonderes, Dana Stellgarten.«
Sie fühlte sich nicht wie etwas ganz Besonderes. Im Moment hatte sie eher das Gefühl, ein Niemand zu sein. Hätte Tonys Hand nicht nach wie vor fest auf ihrer Schulter gelegen, hätte sie sich womöglich in Nichts aufgelöst.
»Hey«, sagte er und schüttelte sie sanft.
Als sie zu ihm aufblickte, war sein Gesicht freundlich und besorgt, und augenscheinlich war sie nicht verschwunden, da er sie unverwandt ansah. »Okay«, sagte sie.
Sie gingen in die Teeküche zurück. »Und was hat es mit dem Strümpfestricken auf sich?«, fragte er sie. »Ist dieser Idiot ein Garnfetischist?«
Ein Lachen brach so plötzlich aus ihr heraus, dass beim nächsten Einatmen ihre Nase einen peinlichen Schnarchlaut von sich gab.
»Nett!« Er nickte bewundernd. Worauf sie noch heftiger lachen musste.