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Dana wartete auf der Eingangsstufe, als Tony mit seinem Toyota RAV4 und einer aufs Dach geschnürten Metallleiter in ihre Einfahrt bog. Sie stieg auf der Beifahrerseite ein. »So, jetzt wissen Sie endgültig, dass ich verrückt bin«, sagte sie.
»Nur ein bisschen«, erwiderte er. »Aber es ist die spleenige, harmlose Art, sodass ich nicht um mein Leben fürchte oder so was.«
Auf dem Weg zur Grundschule erzählte sie ihm von ihrem Ausflug nach Watertown. »Ich glaube, jetzt weiß ich die kleinen, bedeutungslosen Dinge, die doch etwas bedeuten, ganz neu zu schätzen.« Als sie in den leeren Parkplatz einbogen, fragte sie: »Haben Sie etwas Besonderes von Ihrer Frau aufgehoben?«
»Nun ja, ich lebe immer noch im selben Haus, und da gibt’s eine Menge Sachen, die sie ausgesucht hat – Möbel und so weiter. Ich habe aber versucht, nicht einen Schrein daraus zu machen. Anfangs konnte ich nicht anders, mit der Zeit habe ich jedoch aufgehört, Dinge festzuhalten.« Seine Finger, die auf dem Lenkrad lagen, begannen einen kleinen Trommelwirbel zu spielen. »Eine Sache gibt es allerdings – einen Schal, den sie mir zu unserem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest gemacht hat. Er ist einfach scheußlich – danach hat sie nie mehr was gestrickt, und wenn Sie ihn sehen könnten, würden Sie verstehen, warum.« Er schaltete den Motor aus und sah zum Schulhof hinüber. »Ich trage ihn nicht mehr. Aber er ist das Einzige, was ich nie hergeben würde.«
Sie stiegen aus und hievten die Leiter vom Autodach. Nach Gradys Beschreibung entschieden sie sich für eine Stelle im hinteren Teil des Schulgeländes, wo Jav gestanden haben könnte, als der Golfball in die Luft flog, und dort stellten sie die Leiter auf. Tony stieg als Erster hoch und hielt sie von oben fest, als Dana hinaufkletterte. Ihre potenzielle Beute war nirgends zu sehen.
Der Wind, der über das Flachdach fegte, erschwerte ihnen die Unterhaltung, wenn sie sich zu weit voneinander entfernten, sodass sie in Hörweite blieben. Er berichtete ihr von Lizzies Entschuldigung dafür, dass sie zu Martine gehässig und abweisend gewesen war. Sehr zu ihrem Erstaunen ertappte Dana sich dabei, wie sie ihm erzählte, dass die Sehnsucht nach den Kindern und all die Veränderungen in ihrem Leben sie an ihre Fehlgeburt erinnert hätten.
»Ich hatte einmal eine Patientin, die zur Zahnreinigung kam«, sagte Tony, »und als ich ihr die übliche Frage nach gesundheitlichen Veränderungen gestellt habe, ist sie in Tränen ausgebrochen. Sie hat mir erzählt, sie habe gerade ein Baby verloren.«
»Oh«, sagte Dana. »Was haben Sie dann gemacht?«
»Ich bin bei ihr sitzen geblieben, während sie geweint hat. Da sie nicht in der Verfassung war, irgendjemanden in ihrem Mund herumstochern zu lassen, haben wir einen neuen Termin vereinbart. Und wissen Sie was? Als sie wiederkam, hat sie getan, als wäre nichts gewesen. Ich habe sie gefragt, wie es ihr gehe, und sie hat mit einem Lächeln geantwortet: ›Bestens.‹«
»Es ist so etwas Persönliches«, erklärte Dana. »So ein dunkles Gefühl der Leere. Es ist wirklich schwierig, darüber zu sprechen.« Und doch redete sie gerade mit ihm darüber, während sie das Dach eines öffentlichen Gebäudes nach einem Golfball absuchten, der von entscheidender Bedeutung war …
Sie empfand eine solche Zuneigung zu diesem Mann, eine solche Dankbarkeit. Und als er den Schatz fand, nach dem sie gesucht hatten, eingeklemmt zwischen einem Entlüftungsrohr und einer Art Generator, konnte sie nicht umhin, die Arme um seine Schultern zu schlingen und ihn auf die vom Wind gerötete Wange zu küssen.
Er legte ihr einen Arm um die Taille, mit der anderen Hand hob er den Ball in die Luft, und dann standen sie einen Moment lang einfach da, stolz auf ihren Erfolg, und grinsten einander an. Der Wind wehte Dana ein Haarbüschel über die Augen, und als Tony es ihr hinter den Kopf strich, ließ er seine Hand in ihrem Nacken liegen. Und dann kam sein Gesicht langsam näher und drückte sich sanft an das ihre, der leichte Pfefferminzgeruch seines Atems durchdrang den ihren, als er sie küsste, Lippen wanderten aufeinander, bis sie nicht mehr wusste, wo seine aufhörten und ihre anfingen. Ihre Brust wurde von Wärme durchströmt, ihr Herz begann zu hämmern, und irgendwie kam sie sich völlig losgelöst vor, so als raste sie ohne die Sicherheit eines Airbags oder eines Rückhaltegurts mit Warpgeschwindigkeit durchs All. Es war beängstigend.
Als seine Lippen sich von ihren getrennt hatten, küsste er sie auf die Wange, ehe er ein klein wenig zurückwich. »Wow. Das war völlig unangemessen«, nuschelte er ohne einen Hauch von Bedauern. Er hatte denselben halb benommenen, halb hungrigen Blick, den sie am Abend zuvor in Dermott McPhersons Gesicht gesehen hatte.
»Wir sollten lieber wieder runtergehen, bevor irgendjemand uns hier entdeckt«, sagte sie. Und er ließ sie los.
Während sie die Leiter hinabstiegen, sie zum Parkplatz trugen und aufs Dach schnürten, sprachen sie nur das Nötigste miteinander, und bald saßen sie wieder in seinem Auto.
»Alles okay?«, fragte er und sah sie nur flüchtig an, so als könnte ein unverwandt auf ihr ruhender Blick dazu führen, dass sie völlig verschwand. »Du hast etwas ängstlich gewirkt, da oben.«
»Tja … das war ich wohl auch ein bisschen.«
»Und jetzt?«
»Immer noch«, gab sie sorgenvoll zu.
»Okay«, sagte er, während er den Wagen startete. »Gut zu wissen.« Den Blick auf die kahlen Bäume draußen gerichtet, ließ er den Motor noch einen Moment im Leerlauf. »Lust, im Keeney’s einen Happen zu essen?«
»Ja«, sagte sie, ungeheuer dankbar, dass ihre Furcht ihn nicht vertrieben hatte. »Ich sterbe vor Hunger.«
Sie bestellten Burger und Pommes und für jeden ein Bier. Er wollte mehr über ihre Kindheit in Watertown erfahren, und sie erzählte ihm alles, woran sie sich erinnern konnte; alles, was ihr auch nur im Entferntesten interessant erschien. Connie war es zu verdanken, dass sie sogar über den Selbstmord ihres Vaters sprach.
Er erzählte ihr, wie er in Cranston, Rhode Island, als einziges Kind von Dorotea Consilina Sakimoto und Takashi Sakimoto aufwuchs – außerdem als das einzige europäisch-asiatische Kind, das man in seinem Viertel je gesehen hatte. »Nicht so einfach. Sie haben mich ›Mischling‹ genannt, oder – mein persönlicher Lieblingsausdruck – vereinzelt auch ›Halb-Schlitzauge‹«, sagte er trocken. »Andererseits könnte ich dir auch eine verdammt gute Pasta e fagioli oder eine Misosuppe machen, je nachdem, wonach dir gerade ist. Ungewöhnliche Situationen haben auch ihre Vorteile.«
Lichtfetzen bestäubten den Nipmuc Pond, als die Sonne hinter den immergrünen Pflanzen am gegenüberliegenden Ufer unterging. Er brachte sie nach Hause. Sie befürchtete, dass er sie wieder küssen könnte, und dann, dass sie vielleicht enttäuscht wäre, wenn er es nicht tat.
Eine knappe Stunde später kamen die Kinder an – müde von der Fahrt, übertönten sie sich dennoch gegenseitig in dem Bemühen, ihr von den Höhepunkten der Woche zu erzählen; trotz eines leichten Sonnenbrands hatten sie das Bedürfnis, ihre Gesichter an sie zu drücken, an ihren Ellbogen zu ziehen, sich an sie zu schmiegen, als wäre sie die einzige Wärmequelle in der stürmischen Kühle der Nacht. Kenneth schleppte ihre Reisetaschen herein, küsste und umarmte die Kinder mit einer größeren Vertrautheit, als er es seit Monaten getan hatte, und nickte ihr erschöpft zu. »Danke«, murmelte er. »Es war eine tolle Woche.«
»Gut.«
»Ich rufe dich morgen an.« Damit ging er zu Tina zurück, die bei laufendem Motor im Auto wartete.
Am Sonntag kamen Alder und Jet wieder, in Connies VW-Bus. »Mein Auto ist noch nicht fertig«, erklärte Alder. »Wir mussten aber zurück.«
Sie standen in der Diele. Über ihrem Sweatshirt trug Jet eine Jeansjacke – anscheinend die wärmste Überbekleidung, die sie besaß. Der Rucksack hing ihr immer noch von der Schulter. Ohne den schwarzen Eyeliner wirkte sie blass und sehr jung. Dana legte Jet die Hände auf die kühlen Wangen. »Sollen wir den Cousin deiner Mom fragen, ob du noch eine Weile bei uns bleiben kannst?«, fragte sie. Die Augen des Mädchens wurden groß und glänzend, und mit einem dumpfen Geräusch ließ sie den Rucksack zu Boden sinken.
Später, als Morgan und Grady im Bett lagen und Jet in der Badewanne saß, suchte Alder Dana in ihrem Arbeitszimmer auf, wo sie mit zusammengekniffenen Augen eine Computertabelle betrachtete, die sie erstellt hatte, um ihr Budget zu verfolgen.
»Wie sieht’s aus?«, fragte Alder.
»Sogar etwas besser, als ich gedacht hatte. Nicht viel, aber ich krieg’s hin.«
»Ich wollte mich nur bedanken für Jet und alles. Sie ist gerade ein bisschen durch den Wind.«
»Natürlich ist sie das. Und ich freue mich, wenn sie hierbleibt.« Dana grinste ein wenig. »Aber das wusstest du schon vorher.«
Alder zuckte die Schultern. »Du hast eine Schwäche für Streuner. Du bist so was wie … eine Adoptivmutter.«
»Dazu kann ich nichts sagen. Ich wusste gar nicht so genau, ob ich dich aufnehmen sollte.«
»Oh, bitte. Das war doch so sicher wie das Amen in der Kirche. Du hattest nur keine Lust, es mit Connie aufzunehmen.«
Dana lachte laut auf und drohte ihrer Nichte mit dem Finger. »Alder Garrett, du bist … Ich weiß nicht, aber du bist echt eine Marke!«
Alder grinste und lehnte sich an den Schreibtisch an. »Gut, dann habe ich, glaube ich, einen Plan.«
Ein Hauch von Besorgnis regte sich in Danas Brust. »Lass hören«, sagte sie.
»Also, Jets Mom ist für vier Wochen in der Reha, das heißt, sie kommt zwei Tage vor Weihnachten raus. In der letzten Woche soll sie Besuch bekommen und so was, und Jet ist ein bisschen, ähm …«
»Verunsichert.«
»Ja, sie ist total verunsichert. Deshalb hab ich gedacht, ich bleibe hier, bis sie da durch ist.«
»Hast du mit deiner Mutter darüber gesprochen?«
»Ja, sie ist nicht gerade ausgeflippt vor Freude, aber ich habe ziemlich hart verhandelt.«
»Was kriegt sie denn dafür, dass sie dich noch einen Monat länger hierbleiben lässt?«
Alder wickelte sich die Kordel ihrer Kapuze um den Finger. »An Neujahr zu Hause«, sagte sie. »Endgültig. Ohne Scheiß.«
»Das klingt nach einem guten Deal.«
»Einem sehr guten sogar.«
Dana seufzte. Die Vorstellung, Alder zu verlieren, war schlimm, aber andererseits war ein ganzer zusätzlicher Monat wirklich mehr, als sie hatte erwarten können. Die Spitze von Alders Finger wurde von der fest darum gewickelten Kapuzenkordel allmählich dunkelrot, und Dana zog an ihrer Hand, um den Blutstau zu lösen. »Sie kann von Glück sagen, dass sie dich hat«, sagte sie zu Alder. »Und ich, dass sie so großzügig ist, dich mit mir zu teilen.«
Alder lächelte verlegen. »Ich habe ihr noch nichts von Weihnachten gesagt.«
»Wo wird Weihnachten sein?«
»Hier.«