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In meinem Zimmer kann sie nicht wohnen«, teilte Morgan ihrer Mutter nach dem Abendessen mit. Alder und Grady waren in den Hof gegangen, um sich einen Football zuzuwerfen. »Guck sie doch an, Mom. Sie ist eine richtige Goth! Oder wenigstens Emo!«

»Emu?«, fragte Dana.

Morgan verdrehte die Augen. »Das ist so was wie ein Strauß, Mom. Emo ist … ach, egal. Sie sieht freakig aus. Mit ihr in einem Zimmer kann ich garantiert nicht schlafen.«

Morgan war nie eine gute Schläferin gewesen, nicht einmal im Mutterleib, und selbst jetzt schlief sie nur selten durch. Dunkelheit und Einsamkeit wirkten wie Appetithappen zu einem mehrgängigen Menü der Sorge – über eine Englischarbeit oder über die Frage, ob ihr Haar am nächsten Morgen richtig liegen würde oder ob Kimmi Kinnear sie hasste oder nicht. Schlaf war die Trumpfkarte, und Morgan hatte sie ausgespielt.

»Also gut, dann schläft sie im Fernsehzimmer. Das bedeutet aber, dass ihr beide, du und Grady, im Keller fernsehen müsst. Ohne Streitereien. Verstehst du?« Dana biss sich auf die Daumenspitze. »Ich hoffe, sie fasst das nicht als Beleidigung auf.«

»Beleidigung?«, schnaubte Morgan. »Sie ist sechzehn, Mom. Mit einer dummen Sechstklässlerin will sie ganz bestimmt nichts zu tun haben.«

»Morgan, mein Schatz, du bist nicht …«

»Ich weiß, ich weiß.« Morgan aß auf, was Grady von seinem Steak mit Pommes übrig gelassen hatte, wobei ihre Hand zwischen Teller und Lippen nur so hin- und herflog. »Das sagt man nur so.«

»Dana«, sagte Alder, die auf der Ausziehcouch im Fernsehzimmer lag. Sie benutzte nie das formalere »Tante Dana«, so wie sie ihre Mutter auch nie »Mom« nannte. Connie fand die Begriffe für »Mutter« archaisch und einengend. Sie hatte Alder beigebracht, sie Connie zu nennen.

»Ja, meine Süße.« Dana deckte Alder bis über die spitzen Schultern mit der kaugummirosa Fleecedecke zu.

»Ich will auf keinen Fall zurück.«

Dana seufzte. »Da sollte ich mich wohl lieber raushalten.«

Alder schlug die Decke zurück und setzte sich auf. »Dana. Sie ist verrückt. Komm schon, das weißt du doch.«

»Deine Mutter ist sehr intelligent und absolut … Sie kann schwierig und stur sein, aber sie ist deine Mutter, und sie liebt dich. Das zählt.«

»Ich spreche nicht von Liebe. Ich spreche von dieser bescheuerten Schule, auf die sie mich geschickt hat. Das ist nicht mal eine richtige Kunstschule! Da geht’s nur um so Hippiezeug wie ›freie Meinungsäußerung‹ und so. Das hab ich ihr immer wieder gesagt, aber sie interessiert sich nur für den ›kreativen Flow‹, was immer das ist. Ich hab die Nase voll davon!« Verärgert schüttelte sie den Kopf. »Sie kapiert nicht, dass die Highschool langweilig und sinnlos sein muss. Und jetzt kann ich nicht mehr in meine langweilige, sinnlose Highschool zurück, weil ich das Trig-Girl mit der verrückten Mutter bin.«

»Und du möchtest wirklich wieder auf eine ganz normale Highschool gehen?«

Alder seufzte geduldig, so als erklärte sie einem begriffsstutzigen Kind die Regeln von Monopoly Junior. »Niemand hat so recht Bock darauf, Herrgott noch mal. Aber wenn man in Amerika aufwächst, gehören die vier Jahre Highschool einfach dazu – wie bei einem Kombi-Menü von McDonald’s. Vielleicht magst du die riesengroße Cola light ja gar nicht, aber sie ist einfach mit dabei. Sieh zu, was du damit machst.«

Darüber dachte Dana nach, während sie die rosafarbene Fleecedecke glatt strich. Alder hatte einen ungewohnt scharfen Ton, den sie vor Kurzem an etwas Schartigem gewetzt haben musste. Das Mädchen war nie zynisch gewesen – im Gegenteil, Connie hatte ihr eingeflößt, dass ihr Schicksal unmittelbar von ihr selbst abhing; sich mit dem Status quo abzufinden, heiße aufzugeben. Da könne sie sich genauso gut eine Schürze umbinden und für den Rest ihres Lebens Törtchen backen. »Törtchenbäckerinnen« war Connies spöttische Bezeichnung für die Frauen, deren Leben sich um die Oboenstunden ihrer Kinder drehten, die ihre Termine an die Geschäftsreisen ihrer Ehemänner anpassten, sich im Elternbeirat engagierten und Hot Yoga im Fitnessclub betrieben. Frauen, die sich nicht so sehr von Dana unterschieden.

Alders Niedergeschlagenheit machte Dana heimlich Sorgen. Es konnte alles Mögliche dahinterstecken – Rebellion gegen ihre Mutter, aber vielleicht auch irgendein Teenagerhormon, das eine Spritztour durch ihr Gehirn machte und sie aufforderte, irgendetwas Untypisches zu tun. Vielleicht, dachte Dana, war sie auch nur müde. Anders zu sein, sich ständig einen neuen Weg durch den Hindernisparcours der Pubertät zu bahnen, musste anstrengend sein. »Alder, Liebes«, sagte sie zögernd, »ist mit dir alles in Ordnung?«

Alder blinzelte sie mit gespielter Verblüffung an. »Machst du dir Sorgen um mich, weil ich meine, ich sollte eigentlich in der Schule sein? Ist mit dir alles in Ordnung?« Ihre Frotzelei war eine Erleichterung für Dana, die zurückblinzelte und ihre Nichte spielerisch an den Haaren zog.

Nachdem Dana ihre Kinder am nächsten Morgen in die Schule geschickt hatte, ging sie nach Alder sehen. Die schlief noch mit angezogenen Knien und schützend über die Brust gelegten Armen. Die zarte Haut unter ihren Augen war von einem schwachen Blauviolett, wie verblasste Hämatome. Sie sah aus, als hätte sie monatelang nicht gut geschlafen, und Dana wollte sie nicht wecken. Sie schrieb eine Nachricht auf einen Block, den sie noch von vor der Scheidung hatte. Am oberen Rand stand in poppiger Schrift DIE STELLGARTENS und rundherum wie eine Borte ihre Namen – Kenneth, Dana, Morgan, Grady. Das vermittelte zwar jetzt einen falschen Eindruck von Einheit, aber der Block war praktisch, und Dana brachte es nicht fertig, ihn wegzuwerfen.

»Gehe mit Polly walken, bin gegen zehn zurück. Cornflakes im Küchenschrank. Alles Liebe, D«, hieß es in der Nachricht.

Die Luft war trocken und kühl, ein typischer Oktobertag in New England, als Dana zügig ihre Einfahrt hinunterschritt. Sie und Polly waren nicht von Anfang an befreundet gewesen; sie hatten lediglich in derselben Straße gewohnt. Eines Morgens war Dana mit der kleinen Morgan im Buggy zu einem Spaziergang aufgebrochen und hatte genau in dem Moment Pollys Einfahrt gekreuzt, als diese mit schwingenden Armen und forschen Schrittes auf sie zukam, nachdem eine unzuverlässige Freundin sie versetzt hatte. »Kein Verlass«, hatte Polly geschnaubt, während sie ihr Tempo verlangsamt hatte, um ihren Schritt an Dana anzupassen. »Alles andere ist ihr wichtiger.«

Na ja, hatte Dana sich gedacht. Was kann an einer Walking-Runde schon wichtig sein? Natürlich hatte sie das nicht laut ausgesprochen. »Wie schade«, hatte sie nur gesagt und den Buggy etwas schneller geschoben, bemüht, sich dieser unerwarteten Einladung würdig zu erweisen. Sie hatte noch nicht lange in dem Viertel gewohnt, hatte ihre Stelle als Büroleiterin einer Anwaltskanzlei in Hartford aufgegeben und fühlte sich jetzt ohne ihre Freundinnen einsam und gelangweilt.

»Sie sind ganz schön schnell mit dem Kinderwagen«, hatte Polly gesagt. »Das Kind hat eine Zukunft in der Raumfahrt, wenn es jeden Tag so ausgefahren wird.«

Dana, in deren Kopf es vor Stolz knisterte, war dankbar für jedes Zeichen, dass sie etwas richtig gemacht hatte. Der Mutterschaft, fand sie, fehlten diese kleinen Gradmesser für Erfolg und Wertschätzung. Bei einem Teamtreffen gelobt, zu einem neuen Paar Ohrringe beglückwünscht oder von Kollegen zum Mittagessen eingeladen zu werden – so etwas passierte jetzt nicht einmal im Entferntesten. Sie fragte sich schon, ob sie als Mutter überhaupt gut genug war.

Wie mache ich mich?, hatte sie Klein-Morgan hin und wieder zugeflüstert. Bist du zufrieden, dass du mich angeheuert hast?

Bald war Dana Pollys zuverlässigste Walkingpartnerin geworden, und schließlich fingen sie an, sich abends zu treffen. Kenneth und Pollys Mann Victor hatten sich von Anfang an verstanden, und die vier aßen oft zusammen zu Abend, klagten sich gegenseitig ihr Leid über die harte Probe, auf die man als Eltern gestellt wurde, und schmunzelten über die Mätzchen exzentrischer Nachbarn. Von Jahr zu Jahr wurzelte ihre Freundschaft tiefer im festen Boden ihres Lebens. Als Kenneth zehn Jahre später die Scheidung einreichte, hatte es Polly und Victor fast ebenso hart getroffen wie Dana. Victors und Kenneths Freundschaft überdauerte; Polly schlug sich ganz offen auf Danas Seite. Was würde ich ohne sie machen?, überlegte Dana jetzt, als sie mit großen Schritten auf das Haus ihrer Freundin zuging.

Polly kam ihre Einfahrt herunter und ließ dabei die Arme kreisen, als übte sie das Rückenschwimmen. »Was für ein Tag!«, rief sie. Obwohl sie fünfzehn Zentimeter kleiner war als Dana und durch die Feinheit ihrer Gesichtszüge wie eine Elfe wirkte, war sie eine zähe, kleine Walkerin, die ihr gemeinsames Tempo bis an die Grenze des Angenehmen steigerte. Wenn es bergauf ging, stellte Dana Polly gerne eine philosophische oder anderweitig komplizierte Frage. Sollte Polly doch reden. Nur so konnte Dana vermeiden, ins Keuchen zu geraten.

»Und wie läuft’s so auf der Middle School?«, fragte Polly. »Hat sich Morgan eingelebt?«

»Mehr oder weniger«, sagte Dana. »Hat Gina mal Ms Cripton gehabt?«

»Kryptonit?«, sagte Polly, deren kurzes schwarzes Haar im Rhythmus hüpfte. »Ja, die ist furchtbar. Gina konnte sie nicht ausstehen. Jede Menge Halsketten aus Plastikperlen. Ständig unangekündigte Tests.«

»Morgan reißt sich noch ein Bein aus. Sie lernt ununterbrochen, weil diese dämlichen Tests ihr so Angst machen.«

»Sag ihr, sie soll sich entspannen. Sie ist doch erst in der sechsten Klasse.«

»Das sag du ihr mal lieber.«

Die Frauen lächelten sich an. Wer konnte Kindern schon etwas sagen? Und wem wurde weniger Sendezeit gewährt als den eigenen Erzeugern? Polly wusste das. Ihre zwei Kinder, Gina und Peter, waren älter und hatten ihr schon einige Jahre mehr an Sorge und Wut abgerungen. Dana beneidete Polly darum, dass sie sich als Mutter nie infrage zu stellen schien. Sie kämpfte mit ihren Kindern, fragte sie aus, folgte ihnen in die Hochsicherheitstrakte ihrer Schlafzimmer, verlangte Zutritt ohne ausdrückliche Erlaubnis. Gelegentlich warf sie, wenn sie aufgebracht war, mit Essen nach ihnen.

Und Gina und Peter schienen diesem Sperrfeuer mit überraschender Gelassenheit standzuhalten. Oder sie brüllten zurück, schreckliche Dinge, von denen Dana hoffte, dass sie sie von ihren eigenen Kindern nie zu hören bekommen würde. Einmal hatte Dana mitgekriegt, wie Peter seiner Mutter ins Gesicht sagte, sie sei eine »kreischende Zicke«. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte Polly zurückgeraunzt: »Und was meinst du, wie ich dazu geworden bin? Glaubst du, ich war schon so, bevor ich Kinder gekriegt hab? Nie in deinem undankbaren, kleinen Leben!«

Obwohl Dana sich nie so verhalten könnte, war sie beeindruckt davon, dass das niemanden von ihnen zu stören schien. »Gina hasst mich«, bemerkte Polly hin und wieder, so als träfe sie eine Aussage über eine vorüberziehende Schlechtwetterfront.

Als sie in raschem Tempo die Straße zum Nipmuc Pond entlangschritten, sagte Dana: »Gestern ist meine Nichte Alder aufgetaucht.«

»Das Mädchen von deiner Schwester Connie.«

»Genau. Sechzehn, fährt so eine Klapperkiste, die ich abschleppen lassen musste. Hat meinen Briefkasten über den Haufen gefahren.«

»Reizend.«

»Sie ist ein liebes Kind. Ein bisschen seltsam, aber das ist nicht ihre Schuld. Connie ist nicht gerade eine Bilderbuchmutter.«

»Wie nennt sie uns noch mal?«

»Nicht uns speziell«, relativierte Dana. Sie war nicht gerne der Ursprung verletzter Gefühle, auch nicht indirekt.

»Doch, uns speziell«, erwiderte Polly grinsend.

Dana lächelte. Worüber zerbrach sie sich eigentlich den Kopf? Polly war ganz egal, was Connie dachte. »Törtchenbäckerinnen.«

»Super«, sagte Polly trocken.

Dana erzählte ihr, dass Alder gerne bei ihr einziehen wollte. »Was hältst du davon?«, fragte sie.

»Ich glaube, du willst sie gerne aufnehmen.«

»Will ich nicht! Ich würde mich nie einmischen wollen!«

»Einmischen nicht, nur … ich weiß nicht … Es ist, als würdest du sie gerne in die Finger bekommen.«

Herrje, sie hat recht, dachte Dana.

»Es tut dir leid, wie sie aufgewachsen ist«, fuhr Polly fort, »und du möchtest es wiedergutmachen.«

»Wie sollte das gehen?«, fragte Dana, wohl wissend, dass das keine Rolle spielte. Sie liebte ihre Nichte und würde alles tun, um das Mädchen glücklich zu machen.

»Ich weiß es nicht.« Polly grinste. »Törtchen?«

Nach dem Walken rief Dana in der Einfahrt von ihrem Handy aus Connie an. Für den Fall, dass es schlecht ausging, sollte Alder das Gespräch lieber nicht mithören. »Jetzt fängt ja gerade das zweite Viertel des Schuljahrs an«, begann sie mit Bedacht. »Wie wäre es, wenn sie einfach bis zum Ende davon hierbliebe? Das wäre im Januar. Zum nächsten Halbjahr wäre sie dann wieder in der Peak … Artistic …«

»Es geht nicht einfach darum, dass es zeitlich passt, Dana. Es geht darum, sich in einem Umfeld zu befinden, in dem die schöpferische Energie fließen kann.«

»Gut, wenn Alder also merkt, dass ihre Energie hier nicht … fließt, kann sie sofort nach Hause in die Berkshires fahren. In einer Stunde wäre sie dort.«

Connie schwieg. Dana wusste, dass sie nicht nachgeben würde – sie würde es so formulieren, dass es nach ihren eigenen Vorstellungen stimmte. »Sie ist blockiert«, sagte Connie schließlich. »Ein Tapetenwechsel könnte tatsächlich das Richtige sein. Vielleicht lässt sie sich einen visuellen Kommentar über die Seelenlosigkeit der Vorstadt einfallen.«

»Prima«, sagte Dana und ließ erleichtert die Schultern sinken. »Kannst du ihr dann ein paar Klamotten schicken? Sie hat nämlich nur zwei Garnituren Unterwäsche dabei.«

Alder in der Cotters Rock High anzumelden, war kein Problem; genau genommen war es sogar erstaunlich einfach.

»Haben Sie ihre Geburtsurkunde?«, fragte die ältere Sekretärin in der Verwaltung. »Schul- und Gesundheitszeugnisse?«

»Nein, ich …«

»Dann bringen Sie sie einfach vorbei, sobald Sie können.«

Dana füllte Formulare aus, während die Sekretärin langsam auf ihrer Tastatur herumhackte. »Jetzt ist sie im System«, erklärte sie. »Sagen Sie ihr, wenn sie morgen in die Schule geht, soll sie im Büro vorbeischauen, dann gebe ich ihr ihren Stundenplan. Und vergessen Sie nicht, mir diese ganzen Zeugnisse und Unterlagen vorbeizubringen.«

»Sie kann morgen schon anfangen?«

»Soll sie nicht? Die meisten Leute können es gar nicht abwarten, ihre Kinder aus dem Haus zu kriegen.«

Als Dana nach Hause kam, berichtete sie Alder: »Die Formalitäten sind erledigt. Morgen fängst du an.«

»Super«, sagte Alder und starrte dabei ausdruckslos das fallende Laub draußen an.