- 6 -
Habe ich Coach Ro dich Stelly rufen hören?«, fragte Dana Grady an diesem Nachmittag.
»Ja«, antwortete er, auf einer getrockneten Aprikose kauend. Das war die einzige Möglichkeit, ihn zum Obstessen zu bringen.
»Gefällt dir das? Ich habe noch nie jemanden dich so nennen hören.«
»Irgendwie ja und irgendwie nein.« Grady pulte sich ein Stück Aprikose aus den Zähnen. »Es macht Spaß, einen Spitznamen zu haben … aber Stelly klingt wie Stella. Eher wie ein Mädchenname.«
»Wenn du nicht willst, dass er dich so nennt, kannst du ihn höflich bitten, deinen richtigen Namen zu benutzen.«
Grady zuckte die Schultern. »So viel macht mir das auch nicht aus. Jedenfalls nicht genug, dass ich mich deswegen wie ein Baby verhalten würde.«
»Ich finde es nicht babyhaft, bei seinem richtigen Namen gerufen zu werden, Grady.« Für ihn war das Thema jedoch erledigt, und er ging nach oben in sein Zimmer, um an seinem neuesten Legogebilde weiterzuarbeiten.
An diesem Abend ging Dana nach dem Footballtraining zu Coach Ro, der gerade Trainingszubehör in einen schwarzen Matchsack stopfte. »Haben Sie einen Moment Zeit?«, fragte sie. Er hatte ein Knie gebeugt, als betete er vor dem Altar des Matchsacks. Selbst in kniender Haltung wirkte er noch einschüchternd.
»Klar«, sagte er, während er weiter Footballs und Plastikhütchen in den Sack quetschte. Als er aufblickte und Dana sah, hielt er inne, die Hand mit dem braunen Klemmbrett mitten in der Luft. An dem Brett fehlte eine Ecke, fiel ihr auf, so als hätte jemand ein Stück davon abgebissen.
»Also, erst mal möchte ich mich bei Ihnen für das Training bedanken.« Dana lächelte in der Hoffnung, ihn mit ihrer Freundlichkeit milde zu stimmen. »Sie machen das wunderbar, und ich weiß, dass die Jungs nicht immer einfach sind!«
Coach Ro nickte. »Manche von ihnen brauchen die Disziplin tatsächlich, das ist mal sicher.« Er stopfte das Klemmbrett in den Matchsack und zerrte am Reißverschluss, um ihn zuzumachen. Als er aufstand und die Schultern straffte, war er einen guten Kopf größer als sie. »Sie sind Stellys Mom«, sagte er. »Sie sind immer hier.«
»Na ja, ich versuche, sooft ich kann, zum Training zu kommen. Und ich wollte sagen …«
»Das ist gut. Manche Kids finden Football irgendwie beängstigend. Wenn Eltern da sind, macht ihnen das Mut.«
»Sie sind so eifrig damit beschäftigt, sich gegenseitig über den Haufen zu rennen, dass sie es kaum zu bemerken scheinen.«
»Sie kriegen es trotzdem mit«, sagte er.
Dana blickte zu Grady hinüber, der auf dem Spielfeld hockte und auf etwas zu warten schien. Dann kam ein anderer Junge angerannt und versuchte, einen Bocksprung über ihn zu machen, schaffte es aber nicht ganz über Gradys Helm hinüber. Während er von Gradys Rücken rutschte, hielt er sich die Hand zwischen die Beine. Die anderen Jungen lachten, und Dana konnte einen von ihnen sagen hören: »Mitten in die Eier!«
Coach Ro schmunzelte. »Deshalb hat Gott den Unterleibsschutz erfunden.«
Dana lächelte zögernd. »Ich wollte nur fragen … wenn es Ihnen nichts ausmacht … Ich glaube, Grady würde lieber bei seinem richtigen Namen genannt werden. Nicht Stelly.«
»Er hat mich gebeten, ihn Stelly zu nennen.« Coach Ro warf sich den Matchsack über die Schulter und wandte sich dem Parkplatz zu. Indem er Dana seine freie Hand auf die Schulter legte, lenkte er sie in dieselbe Richtung. Seine große Hand mit den dicken Fingern auf ihrem Rücken zu spüren, brachte sie durcheinander.
»Er hat Sie gebeten …?«
»Also wissen Sie, mit einem Namen wie Grady …«, sagte Coach Ro, als wäre das offensichtlich. »Wie kommt’s, dass sein Vater nie da ist? Spätschicht?«
»Also, ja … Er ist …« Was war er doch gleich? »Er ist im Vertrieb tätig und viel auf Reisen.« Und was stimmte mit dem Namen Grady nicht? »Also … er lebt jetzt in Hartford. Er ist nicht … Wir sind nicht …« Den Blick auf sie gerichtet, wartete Coach Ro geduldig darauf, dass sie aus ihrem Wörtersalat richtige Sätze bildete, und das verwirrte sie ebenfalls. »Wir sind geschieden.«
Seine Ohren rutschten ein paar Millimeter in seinen rotblonden Bürstenschnitt zurück. »Ach.« Einen Herzschlag später fuhr er fort: »Dann macht es Ihnen also nichts aus, wenn ich ihn Stelly nenne, oder? Für ein Kind ist es gut, einen Spitznamen zu haben.«
Ja, schon, einen Spitznamen wie Buddy oder Chip oder sogar G, wie Alder ihn nannte. Aber Stelly?
Der Trainer wandte sich zum Gehen und rief ihr über die Schulter zu: »Kommen Sie weiterhin zum Training. Es ist gut, wenn Sie hier sind.« Mit einem Lächeln drehte er sich noch einmal zu ihr um und winkte ihr zu. Dann stieß er an den Kotflügel seines wuchtigen schwarzen Pick-ups und wäre fast vornübergestolpert. Sein Blick huschte zu ihr hinüber, um zu sehen, ob sie es bemerkt hatte. Dana wandte rasch die Augen ab, um ihn nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen.
Als sie Grady von seinen bockspringenden Mannschaftskameraden wegholte, murmelte sie ihm zu: »Warum hast du ihn gebeten, dich Stelly zu nennen?«
Er zuckte die Schultern und gab ihr seinen Helm. »Klang einfach cooler als Grady.«
Morgan war nach der Schule mit zu einer Freundin nach Hause gegangen. Na ja, also nicht direkt einer Freundin, sondern einem Mädchen, das wie Morgan im Orchester der Middle School Cello spielte. Morgan war mit dem Stück, das sie für ein bevorstehendes Konzert einüben musste, nicht zurechtgekommen und hatte Dana damit in den Ohren gelegen, dass sie ihr helfen solle.
»Wie oft habe ich dir schon erklärt, dass ich keine Noten lesen kann, mein Schatz!«, hatte Dana letzte Woche in ziemlich heftigem Ton zu ihr gesagt. »Genauso gut könntest du mich bitten, dir … keine Ahnung … Boxen beizubringen.«
Sie hatte angeboten, ihr einen Lehrer zu suchen, worauf Morgan geantwortet hatte: »Vergiss es. Auf gar keinen Fall soll irgend so ein musikalisches Genie herkommen, um mir zu sagen, wie schlecht ich bin. Das weiß ich schon selbst.«
Dana wusste sich keinen Rat. Es war hoffnungslos. An diesem Morgen hatte ihre Tochter dann erwähnt, dass sie zum Üben mit zu diesem Mädchen nach Hause gehen würde, und gefragt, ob Dana das Cello nach der Schule dort abgeben könne. Problem gelöst.
»Du hilfst ihnen zu viel«, sagte Kenneth oft. Er war aber nicht da und konnte die Tränen und die Enttäuschung nicht sehen, ebenso wenig wie er da war, als so ein muskelbepackter Trainer anfing, seinen Sohn Stelly zu nennen. Kenneth konnte seinen Rat getrost für sich behalten.
Irgendetwas störte die Stille des Hauses, bemerkte Dana, als sie für Grady ein Sandwich mit Erdnussbutter und Ketchup bestrich. Das Haus gab ein brummendes Geräusch von sich, ein leises Konzert aus den elektrischen Seufzern von Kühlschrank, Heizkessel und verschiedenen kleineren Geräten. In das gewohnte Haushaltsbrummen mischte sich jedoch eine eigenartige Schwingung. Und wo war Alder?
Dana ging den Flur entlang zum Fernsehzimmer. Zeitschriften und Bücher lagen auf dem Boden verstreut, als wären sie aus einem niedrig fliegenden Flugzeug abgeworfen worden. Sie fragte sich flüchtig, ob jemand eingebrochen war. Aber Morgans und Gradys Zimmer waren oft durcheinander. Gradys sah manchmal aus, als hätten dort die Vandalen gehaust.
Und dennoch stimmte etwas nicht. Dana hörte ein ganz leises Schnaufen, bevor sie Alder mit an die Brust gezogenen Knien entdeckte, zwischen das hintere Ende der Couch und die Wand gequetscht. Sie hatte offensichtlich geweint und versuchte jetzt, mit aller Macht aufzuhören. Dana kauerte sich zu ihr in die Ecke und berührte das Mädchen. »Alder, Liebes!«, murmelte sie. »Was ist passiert?«
Alder sackte an ihr zusammen und ließ sich in den Arm nehmen. »Es ist dumm … Es ist nichts … Nur die Hormone.«
Dana strich Alder über das glatte schwarze Haar. Natürlich war etwas. Irgendetwas hatte diesen kleinen Anfall ausgelöst. Da sie sich im vergangenen Jahr selbst mehr als ein Mal in der winzigsten Ecke verkrochen hatte, kam Dana sich vor wie die Königin von Dumm-Nichts-Hormonien. »Wann hat das angefangen?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht. Vor einer Stunde vielleicht.« Alder wischte sich die Nase am Saum ihres T-Shirts ab.
»Hat jemand angerufen? Hat deine Mutter …«
»Nein, sie war es nicht«, murmelte Alder. »Ich war dabei, diesen dämlichen Aufsatz zu schreiben, und dann hab ich angefangen, zu viel nachzudenken.«
»Worüber denn?«, fragte Dana.
»Etwas, worüber ich gar nicht nachdenken will. Auch nicht sprechen.« Ihr Gesicht sah absolut düster aus. Bei Morgan war Dana an Launen gewohnt, aber Alder hatte immer den Eindruck erweckt, als könnten die üblichen Fallstricke des Mädchenseins ihr nichts anhaben. Als wäre sie mit einem inneren Geigerzähler zur Welt gekommen, seltsam empfänglich für den Unterschied zwischen nur oberflächlichem Gerumpel und der echten Gefahr einer Plattenverschiebung.
»Gut.« Dana drückte Alders Hand und half dem Mädchen, sich aus dem Eckchen herauszuschälen. »Wenn du aber deine Meinung änderst, kannst du jederzeit zu mir kommen – Tag und Nacht, okay? Ich bin immer da, wenn du mich brauchst.«
»Ich weiß«, sagte Alder. »So bist du eben.«
Am Freitag hatte Morgan einen Zahnarzttermin. Sie und Dana saßen, beide eine People in der Hand, im Wartezimmer. Auf dem Titelbild von Morgans Nummer war ein weiblicher Teenager-Superstar zu sehen, der, eine Flasche Grey Goose Wodka im Schoß und zur Freude der Paparazzi bei geöffnetem Fenster, im Fond einer Limousine eingeschlafen war. Das kleinere Nebenbild zeigte den Star und dessen Mutter beim Verlassen eines Gerichtsgebäudes. Die Mutter hielt die Hand hoch, so als könnte ihre kleine Handfläche mit den kurzen Fingern den Angriff lärmender Reporter und das Schnellfeuer von maschinengewehrgroßen Kameras abwehren. Das Mädchen, das sich an seine Mutter drängte, sah aschfahl aus. Und durchschnittlich, fand Dana. Diese Millionärsteenagerin, die ganz sicher in jeder Wellblechhütte in jedem beliebigen Land der Dritten Welt erkannt wurde, sah aus, als hätte man sie aufs Geratewohl aus der Feldhockeymannschaft irgendeiner Highschool herausgepickt.
Dana hätte Morgan gerne gefragt, was sie von diesem Mädchen hielt. Ob es befriedigend war zu sehen, wie eine, die vermutlich alles hatte, ebenso zur Rechenschaft gezogen wurde. Oder ob Morgan genau wie Dana erkannte, dass das Mädchen irgendwo hinter den überteuerten Klamotten und überkronten Zähnen eine reale Person war, mit realem Schmerz, und viel zu jung, um auf diese Weise Missbrauch an sich selbst zu üben. Doch Morgans Augen huschten jedes Detail einsaugend über die Seiten, und Dana wusste, dass sie, wenn sie sie unterbrach, lediglich ein gereiztes Schulterzucken ernten würde.
Danas Blick fiel auf die Zeitschrift in ihrer Hand. Das Titelbild zeigte eine ältere Schauspielerin, die Hände auf schmalen Hüften, ein durch glänzenden Lippenstift betontes, siegreiches Lächeln. Auf dem körnigen Nebenbild war sie zu sehen, wie sie, eine Plastikeinkaufstüte an die Brust gedrückt, vom Bordstein auf die Straße trat. Sie trug eine Jogginghose und eine Jacke in Übergröße, die sich auf einer Seite bauschte und sie korpulent und abgerissen aussehen ließ. Die Bildunterschrift lautete: »Wieder in Größe 36, ich bin wieder ich!«
Dana hatte diese Schauspielerin als die süße Ulknudel aus einer Fernsehkomödie der Achtziger vor Augen. Eine Art Comeback also. Und Dana freute sich für sie, wenn auch mit einem Hauch von Eifersucht. Größe 36, dachte sie. Ich wäre ja schon mit Größe 40 zufrieden. Doch dann ging es ihr auf: Ein Comeback wozu? Die Karriere der Frau war nicht wiederaufgelebt. Sie war jetzt nur dünner.
Die Tür des Wartezimmers ging auf, und Marie, die Zahnhygienikerin, sagte: »Morgan, jetzt bist du dran.« Morgan bemühte sich, Marie ein höfliches, kleines Lächeln zu schenken, ein Versuch, ihre Aufregung zu überdecken. Dana hätte ihr gerne irgendein Zeichen mütterlicher Ermutigung gegeben, doch sie kannte die Regeln. Elterliche Zuneigung verboten, außer im Schutz völliger Ungestörtheit und – falls möglich – Dunkelheit.
Die schillernden Starlets und attraktiven Knabenmänner, deren Namen sie nicht kannte, langweilten Dana bald. Sie schloss die Augen, lehnte den Kopf an die Stuhllehne und ging in Gedanken eine Checkliste durch. Papierteller für Morgans Party kaufen … Auto waschen lassen – auf dem Fußboden sind mehr Krümel als in einer Keksfabrik … Gradys Spiel am Sonntag … Football. Coach Ro. Diese hochgezogenen Augenbrauen, als sie sagte, dass sie geschieden sei. Seine Ehrlichkeit, die warme, bratpfannengroße Hand auf ihrem Rücken … Größer als Kenneth und breiter, wenn auch nicht ganz so gut aussehend … aber ziemlich nett … und ziemlich warmherzig …
»Mrs Stellgarten?«, sagte eine tiefe Stimme.
Danas Augen zuckten, und sie setzte sich kerzengerade hin. »Mmm?«, murmelte sie, »ja?«
Dr. Sakimotos Gesicht schwebte vor ihr. »Ich wecke Sie höchst ungern«, sagte er. »Sie sehen so friedlich aus.«
»Oh!« Sie fuhr sich mit der Hand über den Mund, um sicherzugehen, dass sie nicht gesabbert hatte. »Ich habe gerade …«
»Es ist Freitag«, sagte er lächelnd. »Wer braucht da nicht ein Schläfchen? Manchmal gehe ich in mein Büro, mache die Augen zu – und bin ausgeknipst wie ein Licht. Dann muss Marie irgendwas nach mir werfen.«
Dana seufzte. Dr. Sakimoto besaß ein solches Talent, Leuten die Befangenheit zu nehmen. »Ist sie schon fertig?«, fragte sie.
»Nein, noch nicht ganz.« Sein Gesicht bekam einen seltsam nachdenklichen Ausdruck. »Könnte ich Sie bitte kurz in meinem Büro sprechen?«
Dana stand auf und folgte ihm. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Dr. Sakimoto rief sie nie in sein Büro. Die Krankenversicherung, dachte sie. Kenneth versuchte immer, »die beste Ware für sein Geld zu bekommen«. Es war so typisch für ihn, den Leistungsumfang für sie zu ändern, ohne ihr etwas zu sagen.
»Bitte, nehmen Sie Platz. Dieser hier ist bequemer«, sagte er, auf einen Polsterstuhl mit einem blassgrünen Paisleymuster deutend. Das ist der Schlechte-Nachrichten-Stuhl!, dachte Dana. Dazu bestimmt, den Schlag abzufedern, den unbezahlte Rechnungen oder die Notwendigkeit einer Wurzelbehandlung einem versetzten. Er selbst ließ sich auf dem anderen Stuhl nieder, einem ramponierten Windsor-Stuhl, dessen Farbe an den Armlehnen verblichen war. »Mrs Stellgarten«, fing er an.
»Bitte nennen Sie mich Dana«, sagte sie und bemerkte, dass ihr in all den Jahren nie der Gedanke gekommen war, ihm das Recht zu dieser Vertrautheit einzuräumen. Erst jetzt, mit der Aussicht auf etwas offenkundig Unangenehmes, bezog sie ihn in den Kreis ihrer Freunde ein, für den unwahrscheinlichen Fall, dass ihr das einen gewissen Schutz gewähren könnte … vor was auch immer.
Die glatte Haut um seine braunen Augen herum legte sich in freundlich wirkende, kleine Fältchen. »Gut, dann also Dana.« Er holte Luft. »Also. An Morgans Zahnschmelz sehe ich eine Veränderung, die mir etwas Sorgen macht.« Ehe er fortfuhr, schien er auf ihr Einverständnis zu warten, vielleicht wollte er ihr aber auch einen Moment Zeit geben, sich vorzubereiten.
»Aha …«, sagte sie.
»Zahnschmelz ist so ähnlich wie Glas – sehr glatt, vor allem in Morgans Alter. Die bleibenden Zähne sind alle noch ziemlich neu, müssten also in recht gutem Zustand sein. Was ich bei Morgan sehe, ist eine beginnende Erosion, insbesondere auf der Rückseite der Schneidezähne und den Innenseiten der Backenzähne.« Wieder hielt er inne. »Dieses Erosionsmuster – das passt zum Erbrechen, Dana.«
Für einen ganz kurzen Augenblick weigerte sich Danas Gehirn, ihn zu verstehen. Erbrechen, beschwichtigte es sie, Zeug loswerden, das man nicht brauchte, das war doch gut, oder? Doch dann kam es ihr allmählich zu Bewusstsein. Morgan wurde anscheinend etwas los, was sie brauchte.
»Könnte es einen anderen Grund geben für dieses … Muster?«, fragte Dana knapp, bemüht, die Panik einzudämmen, die in stetem Fluss in ihre Brust sickerte.
»Eine sehr vernünftige Frage.« Er nickte. »Ständiges Saugen an etwas Saurem wie zum Beispiel Zitronen oder das Kauen klebriger Bonbons verursachen den Abbau von Zahnschmelz.«
Morgan mochte Zitronen nicht, und Schokolade war ihr lieber als klebrige Bonbons. In diesem Moment jedoch bedeutete die Tatsache, dass etwas anderes – irgendetwas anderes – die Ursache sein könnte, eine Erleichterung.
»Dana«, sagte er freundlich. »Süßigkeiten bauen den Schmelz an ganz bestimmten Stellen ab, hauptsächlich an der Zahnkrone. Und Zitrone führt in der Regel zur Erosion an den Zahnvorder- und nicht den Zahninnenseiten. Es war aber keins von beiden.«
»Das wüsste ich doch«, beharrte Dana, die verzweifelt versuchte, die Panik zu verbergen, die jetzt wie ein Sturzbach ihren Kopf erfüllte. In einem gleichmäßigen Fluss presste sie die Worte durch ihre Lippen. »Ich wüsste ganz bestimmt, wenn sie … das … machte.«
»Sie sind eine sehr besorgte, gewissenhafte Mutter. Das sieht ein Blinder. Und Mädchen im Teenageralter können unglaublich verschlossen sein. Mit meinen hatte ich auch zu kämpfen, das können Sie mir glauben.«
Dr. Sakimoto war Vater? Wie an einen Rettungsring klammerte sich Dana an diese Ablenkung. »Wie alt sind sie?«
»Ich habe zwei Töchter – eine im zweiten Collegejahr und eine an der medizinischen Fakultät.«
»Das ist ja wunderbar! Welche Fachrichtung schlägt sie denn ein?«
»Noch unentschieden«, sagte er. »Dana, wir müssen darüber nachdenken, wie wir Morgan dazu bringen, mit dem Erbrechen aufzuhören. Ich kann Ihnen eine Liste mit Informationsquellen geben …«
Erbrechen. Dieses Wort würde für sie nie mehr so klingen wie vorher. »Nein«, sagte sie, unfähig, noch irgendeine weitere Information aufzunehmen. »Im Moment nicht.«
Es klopfte an der Tür, und Maries leicht erhobene Stimme sagte: »Morgan ist jetzt fertig.« Dana schnellte von dem Schlechte-Nachrichten-Stuhl hoch und stürzte geradezu zum Ausgang.
Auf der Heimfahrt klappte Morgan im Auto die Sonnenblende mit dem Schminkspiegel herunter und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. »Ich finde es einfach toll, wenn sie alle glatt und sauber sind«, sagte sie. »Es ist, als dürfte man mit ganz neuen Zähnen noch mal von vorne anfangen.«
Darfst du aber nicht, hätte Dana gerne gesagt. Der Körper, in den du geboren wurdest, ist der, in dem du sterben wirst. Während sie mit ihrer möglicherweise bulimischen Tochter nach Hause fuhr, wurde Dana bewusst, dass sie sich nicht länger der Vorstellung hingeben konnte, eines Tages mit einem hübscheren Körper wach zu werden. Einen zweiten Versuch gab es nicht. Ruinierte Zähne würden nie wieder neu, der Körper einer Fünfundvierzigjährigen wäre nie wieder jung. Eine gescheiterte Ehe würde nie wieder an den Punkt zurückkehren, an dem man noch nicht wusste, dass es vorbei war.
Als sie in die Sicherheit ihrer Einfahrt einbog, konnte Dana die Reibeisenstimme ihrer Mutter sagen hören: Du musst die Dinge nehmen wie sie sind. Dann warf Ma einen flüchtigen Blick zu ihrem Mann hinüber, der, ausdruckslos in Richtung Fernseher starrend, in der anderen Ecke der Couch saß, ehe sie wie so oft neuen Mut aus ihrer Marlboro Light sog.