Micah hatte sich von Wishing Tree etwas mehr Weihnachtsstimmung erhofft. Doch an diesem Samstagmorgen sah er auf seinem Spaziergang nur Thanksgiving-Dekorationen – Unmengen an Truthähnen und Kürbissen und Pilgern, aber keinen einzigen Elf oder Schneemann.
Laut Steve ging Weihnachten hier am Freitag nach Thanksgiving los, und er hatte auch gemeint, dass ihn die Stimmung und der Weihnachtsschmuck überwältigen würden. Micah hoffte, dass das stimmte – er brauchte dringend Inspiration. Bisher waren seine Versuche, ein weihnachtliches Liebeslied zu schreiben, grandios gescheitert. Er hatte es nicht geschafft, mehr als drei Akkorde aneinanderzuhängen, und der einzige halbwegs vollständige Satz, den er zustande gebracht hatte, war: »I love you at Christmas« – was ihm wohl kaum einen Grammy einbringen würde.
Nun stand er mitten auf dem Marktplatz, der, wie ihn jemand im B&B aufgeklärt hatte, Weihnachtskranz hieß – nach seiner runden Form in Anlehnung an einen ebensolchen. Der weite Platz könnte problemlos einen Weihnachtsmarkt oder einen riesigen Weihnachtsbaum beherbergen. Drum herum reihten sich Läden aneinander, darunter ein paar Restaurants, eine Tierboutique, eine Papeterie, die sich Schleifchen drum nannte, und – für ihn am wichtigsten – ein Coffeeshop.
Er betrat das Jingle Café und stellte sich in der Schlange an. Drinnen war es warm und voll. Man konnte verschiedene Kaffeebecher kaufen, und um eine Maschine, die heiße Schokolade ausgab, hatte sich eine Gruppe Kinder versammelt.
Nachdem er sich einen großen schwarzen Kaffee geholt hatte, ging er wieder Richtung Tür und blieb an einer Pinnwand stehen, auf der ein großer Kalender alle anstehenden Feierlichkeiten bis Neujahr kundtat. Daneben hingen verschiedene Flyer. Auf einem wurde ein »kaum benutztes Barbie-Traumhaus« zum Verkauf angeboten. Auf einem anderen stand, dass jemand in der Nähe des Buchladens eine Kette mit einem Haifischzahn daran gefunden hatte.
Es gab auch eine Erklärung zum ersten Schneefall: Es musste tatsächlich fünfzehn Minuten ohne Unterbrechung schneien, und der Boden musste von einer weißen Schicht bedeckt sein, damit es als erster Schneefall durchging. Wenn es so weit war, ertönten Hupen und Sirenen, und alle, die interessiert waren, sollten sich zum Feiern auf dem Weihnachtskranz treffen.
»Diese Leute sollten sich ein Leben suchen«, murmelte Micah vor sich hin.
Die Enthüllung des großen Adventskalenders würde am 1 . Dezember stattfinden. Die Bewohner der Stadt wurden daran erinnert, dass rege Teilnahme erwünscht war, vor allem bei den täglichen Vorschlägen zur Nachbarschaftshilfe.
Er trat auf die Straße hinaus und überlegte, wie sehr sich das Leben in dieser Stadt von seinem Leben in L. A. unterschied. Nicht, dass er in L. A. noch ein Leben hatte – seit über einem Jahr war er nicht mehr in seinem Haus gewesen. Nicht mehr, seit er Adriana und das Baby verloren hatte. Zuerst hatte er mehrere Wochen im Krankenhaus verbracht, dann beinahe fünf Monate in der Reha, wo er wieder gelernt hatte, zu laufen und sich allein anzuziehen. Danach war er einen Monat in Australien gewesen, weil er geglaubt hatte, ein Ortswechsel würde ihm helfen, sich zu erholen. Doch das hatte er nicht. Seitdem zog er von Ort zu Ort und suchte nach etwas, von dem er nicht wusste, was es war. Das machte es allerdings auch nahezu unmöglich, es zu finden.
Langsam schlenderte er an den Läden vorbei und betrachtete die Auslagen in den Schaufenstern. Dabei musste er ein paar Frauen mit Kinderwagen ausweichen – eine schmerzhafte Erinnerung daran, dass er und Adriana jetzt ein acht Monate altes Kind hätten, wäre der betrunkene Fahrer nach links und nicht nach rechts ausgewichen. Sie würden ihr erstes Weihnachten zusammen feiern. Doch stattdessen war Micah allein mit seiner angeschlagenen Psyche und genügend Erinnerungen, um ein Schiff zu versenken – oder einen Mann.
Er trank seinen Kaffee aus und warf den Becher in einen Mülleimer. Der Tag war klar und sonnig, aber bitterkalt, und seine dünne Jacke reichte nicht, um ihn zu wärmen. Zurück im B&B, würde er sich im Internet etwas Wärmeres bestellen und über Nacht liefern lassen. Vielleicht könnte er sich auch gleich ein paar karierte Flanellhemden kaufen, wenn er schon dabei war.
Bei der Vorstellung von ihm in einem Flanellhemd musste er lachen, bis ihn das Klingeln seines Handys aus seinen Gedanken riss. Ohne auf die Nummer zu achten, ging er ran, bereute es jedoch sofort, als er eine vertraute Frauenstimme fragen hörte: »Was ist so lustig?«
»Hallo, Electra.«
»Willst du es mir nicht verraten?«
»Das zu erklären würde zu lange dauern.«
Er hörte sie seufzen. »Ich sehe, du bist immer noch schwierig. Micah, ich habe dir eine Lösung vorgeschlagen. Komm nach L. A. zurück, wo du hingehörst. Ich weiß, dein Haus in Malibu hat zu viele Erinnerungen, also helfe ich dir, es zu verkaufen. Du kannst dir was Neues in Venice oder Hermosa Beach zulegen. Wenn du nichts am Wasser willst, es gibt umwerfende Villen in den Hollywood Hills.«
»Hast du mich angerufen, um über Häuser zu sprechen?«
»Nein. Ich rufe wegen der Show an. Ich will sicherstellen, dass du nicht kneifst. In letzter Zeit bist du in seltsamer Stimmung und ziemlich unvorhersehbar.«
In seltsamer Stimmung? Er hatte seine Familie verloren. Das war keine Stimmung. Aber er wusste, dass er besser den Mund hielt. Electra würde seine Worte nur so verdrehen, dass es um sie ging, und am Ende würde er sich für etwas entschuldigen, das er nicht getan hatte, nur weil sie besser darin war, Menschen zu manipulieren.
»Ich werde da sein«, versicherte er ihr. »Ich mache die Show.«
»Und du singst ›Moonlight for Christmas‹?«
»Ja.«
»Den Song lieben die Leute so sehr. Ich habe mit Billy überlegt, eine neue Version rauszubringen. Vielleicht können wir in den nächsten Tagen ins Studio und sie aufnehmen.«
»Ich werde erst für die Show zurückkommen.«
»Warum? Wenn wir die neue Version aufgenommen haben, könnten wir uns irgendwohin verziehen und zusammen schreiben. Ich weiß, dass du nicht allein schreibst, Micah. Du brauchst mich.«
Er brauchte dieser Tage vieles – neuen Lebensmut, Schlaf. Er brauchte einen Weg zurück zu seiner inneren Stimme; der Stimme, die ihm Texte und Melodien zuflüsterte. Doch auf keinen Fall brauchte er es, auch nur fünf Minuten mit seiner Ex-Frau zu verbringen.
»Nein danke«, sagte er bemüht freundlich. »Ich komme allein klar.«
»Du bist so stur! Na gut. Wir sehen uns in ein paar Wochen.«
»Sicher.«
Sie legte auf, ohne sich zu verabschieden, was typisch für sie war. Er steckte sein Handy wieder weg und machte sich auf den Weg zum B&B. Die Unterhaltung hatte seine gute Laune zerstört. Electra besaß die Gabe, jedem Moment jegliche Freude auszusaugen. Lustig, dass er sie vor zwanzig Jahren für die aufregendste Frau hielt, die er je getroffen hatte. Andererseits war er damals noch ein Kind gewesen, das es nicht besser wusste.
Über die Prachtallee ging er zum Glöckchenstieg und bog dann rechts ab. Das B&B stand in einer Reihe mit anderen viktorianischen Häusern, war aber mit Abstand das größte von ihnen. In letzter Sekunde entschied er sich, ins Haupthaus zu gehen, um sich eine weitere Tasse Kaffee zu gönnen und zu gucken, ob vielleicht noch ein paar Scones vom Frühstück übrig waren.
Als er das Wohnzimmer betrat, wurde er von der willkommenen Wärme des offenen Kamins empfangen, in dem ein Feuer prasselte. Dazu ertönte aus den Lautsprechern Dolly Partons »With Bells On«. Seine über ihm wohnende Nachbarin – Dena, wenn er sich recht erinnerte – stand auf einer Trittleiter und war dabei, den Spiegel über dem Kamin abzustauben.
Ihre langen braunen Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten, der ihr über den Rücken hing, und sie trug Jeans und ein Washington State Cougars -Sweatshirt. Als sie ihn im Spiegel erblickte, stieg sie von der Leiter herunter und eilte zur Wand, wo sie ein paar Knöpfe drückte. Sofort verstummte Dolly Parton.
»Sorry«, sagte sie grinsend. »Ich dachte, dass keine Gäste mehr da sind, bevor ich die Anlage aufgedreht habe. Nicht alle wissen meinen Musikgeschmack zu schätzen.«
»Dolly Parton ist eine Ikone.«
»Stimmt, aber Sie wären überrascht, wie viele Leute keine Countrymusik mögen. Vor allem die älteren Stücke. Sie finden sie zu … country.«
»Aber Ihnen gefällt es?«
»Sehr sogar. Was meine kleine Schwester sehr peinlich findet. Ein weiterer Gewinn. Waren Sie in der Stadt?«
»Ja. Ganz schön umtriebig.«
Sie hat Sommersprossen, dachte er überrascht. Und große Augen. Sie war weder geschminkt noch trug sie Schmuck, und sie hatte sich ganz eindeutig nicht angezogen, um zu beeindrucken.
»Ich bin mir nicht sicher, ob umtriebig das richtige Wort für Wishing Tree ist, aber ja, die Leute genießen es, am Samstagmorgen auszugehen.« Sie hielt inne. »Sie sehen halb erfroren aus. Kann ich Ihnen einen Kaffee bringen? Wir haben auch Scones.«
»Genau darauf hatte ich gehofft.«
»Gut.« Ihr Lächeln kehrte zurück. »Vielleicht mache ich eine kleine Pause. Die Scones waren heute besonders gut.«
Er folgte ihr in das große Esszimmer, in dem ein gutes Dutzend Tische verteilt waren – einige für zwei Personen, andere für sechs oder acht. Vor der weißen Wandvertäfelung standen mehrere hübsche Sideboards und Kommoden.
Dena ging in die Küche und wusch sich die Hände, dann kehrte sie mit einem Teller Scones zurück, den sie auf einen der größeren Tische stellte, bevor sie zur Kaffeethermoskanne hinüberging und ihm einen Becher einschenkte.
»Wie trinken Sie ihn?«, fragte sie.
»Schwarz.«
Sie stellte ihm seinen Becher hin, nahm sich selbst einen, gab heißes Wasser und einen Teebeutel hinein und setzte sich. Micah nahm über Eck von ihr Platz.
Ihm fiel auf, dass sie wesentlich mehr an seinem Kaffee interessiert zu sein schien als an ihm. Verwirrend, aber okay. Ob sie vielleicht nicht wusste, wer er war? Das kam zwar selten, aber doch ab und zu vor.
»Ursula macht den besten Kaffee«, sagte sie sehnsüchtig.
»Sie trinken keinen Kaffee?«
»Ich übe mich gerade in Verzicht.« Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Aber ich kann Scones essen, also ist nicht alles verloren. Außerdem habe ich mit der ganzen Staubwischerei mindestens die Kalorien eines Scones verbrannt.« Sie brach einen Blaubeer-Scone auf ihrem Teller entzwei. »Das Putzteam geht jeden Tag durch alle Gemeinschaftsräume, aber ich versuche, einmal in der Woche richtig gründlich Staub zu wischen, um zu helfen. Dabei kann ich außerdem gut nachdenken und, wenn niemand da ist, meine Musik hören.«
»Dolly Parton und alles andere, was zu country ist.«
Sie lachte. »Ganz genau. Das ist nach einem Tag im Job sehr entspannend.«
Er biss von seinem Scone ab. »Warten Sie. Sie haben gesagt, dass Ihnen das B&B gehört. Haben Sie noch einen weiteren Job?«
»Ja. Ich bin Lehrerin. Das B&B habe ich vor ein paar Jahren von meiner Großmutter Regina geerbt. Winona, meine Managerin, kümmert sich um das Tagesgeschäft. Ich springe ein, wenn ich kann, und genieße dafür ein paar Vorteile, wie einen Vorabblick auf die Speisekarte.«
»Sie sind eine viel beschäftigte Frau.«
»Ich könnte nicht einfach nur den ganzen Tag herumsitzen und nichts tun.«
Als er seinen Kaffeebecher in die Hand nahm, ging ihm auf, dass »den ganzen Tag herumsitzen und nichts tun« ziemlich gut auf sein derzeitiges Leben passte. Er schrieb nicht, er trat nicht auf, und er hatte keinen Wochenendjob, um »auszuhelfen«. Mit einem Mal fühlte er sich ziemlich nutzlos.
»Sie wissen dann also, welche Snacks es heute Abend gibt«, zog er sie auf.
»Das tue ich. Mini-Pizzen, was nicht besonders klingt, es aber ist. Ursula macht einen Mörder-Pizzateig, und auch die Soße ist selbst gemacht. Es wird eine Auswahl geben – Margherita, Peperoni, Champignons.« Sie schluckte und lachte dann. »Allein der Gedanke daran macht mir den Mund wässrig. Sie müssen heute Abend unbedingt kommen und sie probieren.«
»Woher wissen Sie, dass ich nicht jeden Abend hier bin?«
»Weil ich üblicherweise da bin und Sie noch nicht gesehen habe. Außerdem erstattet man mir Bericht, wer kommt und wer nicht.«
»Sie behalten Ihre Gäste im Auge.«
»Ich möchte sicherstellen, dass sie eine gute Zeit haben. Wir schicken jedem Gast nach seinem Aufenthalt einen Fragebogen, um zu erfahren, was ihm gut gefallen hat und was nicht. Wenn die Snack- und Weinstunde nicht Ihr Ding ist, ist das in Ordnung, aber wenn Ihnen das Essen, die Atmosphäre oder die Musikauswahl nicht gefällt, muss ich das wissen, damit wir entsprechende Veränderungen vornehmen können.«
Sie klang so ernsthaft, als würde sie meinen, was sie sagte. Das tun die meisten Menschen, rief er sich in Erinnerung, sie möchten ihre Aufgaben gut erledigen und andere Menschen glücklich machen. Er hörte ja auch gern, dass einer seiner Songs jemanden zutiefst berührt hatte oder auf einer Hochzeit gespielt worden war. Ihm gefiel, dass seine Musik in dem Leben seiner Fans ihren Platz hatte.
»Sie sind eine sehr gute B&B-Inhaberin.«
»Das hoffe ich. Wobei ich noch dabei bin zu lernen. Winona ist seit fast zehn Jahren hier, deshalb verlasse ich mich in vielem auf sie.« Sie sah ihn fragend an. »Also ist das eine Zusage für Snacks und Wein heute Abend? Wir servieren dazu einen gehaltvollen Cabernet vom Weingut Painted Moon. Alle unsere Weine stammen aus dem Staat Washington.«
»Regional einkaufen«, sagte er leichthin. »Okay. Wir sehen uns um fünf.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht da sein. Ich wünschte, ich könnte, aber meine Schwester Reggie ist über die Feiertage zurück, und ich gehe mit ihr und ein paar Freundinnen aus. Ein Mädelsabend im Geist der Weihnacht . Das liegt am Weihnachtskranz.«
»Ist es gut oder schlecht, dass Ihre Schwester wieder hier ist?«
Ihr Lächeln blendete ihn förmlich. »Sehr gut. Wir stehen uns sehr nahe, und sie ist seit fast einem Jahr nicht mehr hier gewesen. Letztes Thanksgiving hatte sie eine schmerzhafte Trennung. Der Mann, der ihr am Freitag einen Antrag gemacht und am Samstag eine Party zur Verlobung gegeben hat, hat sie am Sonntag sitzen lassen. Wenn ich groß und kräftig wäre, hätte ich ihn verprügelt.«
»Sie wirken nicht besonders rachsüchtig.«
»Das bin ich normalerweise auch nicht, aber das waren besondere Umstände.«
»Ich bin mir sicher, dass ein Richter und die Geschworenen das genauso gesehen hätten.«
Sie lachte. »Ich weiß, es ist falsch, jemandem wehzutun, aber er hat mich so wütend gemacht. Wer tut so etwas? Wenn Sie mich fragen …« Sie brach abrupt ab und sah ihn an. »Sorry. Ich plappere hier vor mich hin, und es war sehr nett von Ihnen, mir zuzuhören. Aber jetzt werde ich Sie Ihren Morgen weiter genießen lassen und mich wieder dem Staubwischen widmen.«
»Und Dolly«, neckte er sie.
»Ja. Und Dolly.«
Dena stand auf, nahm die Teller und ihren Teebecher und brachte alles in die Küche. Micah blieb noch einen Moment sitzen und lächelte, als erneut Musik ertönte. Am Ende des Liedes stand er auf und ging durch eine Seitentür nach draußen. Sobald er in seiner Suite im Kutschenhaus war, griff er nach seiner Gitarre und einem Block, setzte sich aufs Sofa und wartete auf Inspiration.
Zwei Stunden später hatte er genauso viele Zeilen durchgestrichen, wie er geschrieben hatte, und ihm war nicht mal der Anfang einer Melodie eingefallen. Er hatte gehofft, dass Wishing Tree seiner Kreativität auf die Sprünge helfen würde, aber bisher konnte er noch keine Magie spüren. Wenn sie nicht hier ist, gibt es sie dann überhaupt?, fragte er sich. Und wenn nicht, dann war das Problem nicht die Magie – sondern er.
Reggie zitterte in der kalten Abendluft. Um diese Jahreszeit ging die Sonne um kurz nach vier unter, und um sieben Uhr waren die Temperaturen bereits merklich gefallen. Sie trug zwar einen Schal, Handschuhe und Mütze, fror aber dennoch, als sie und ihre Schwester am Weihnachtskranz eintrafen.
»Wie kann es so kalt sein und nicht schneien?«, fragte Dena lachend, während sie die Tür vom Geist der Weihnacht aufzog. »Das ist einfach nicht richtig.«
»Vielleicht, aber die Sterne machen das irgendwie wieder wett. Der Himmel ist heute unglaublich.«
Das Gebäude war lang und schmal. An einem Ende stand eine Jukebox, die eine Wand war von Sitznischen gesäumt, und auf der anderen zog sich der lange Tresen hin. Die Einrichtung war rustikal, die Getränkekarte hingegen auserlesen. Bier oder Wein bekam man zwar, aber nur ungern. Im Geist der Weihnacht drehte sich alles um harte Spirituosen.
Die Angebote des Tages standen auf einer Tafel. Auf den verspiegelten Regalen fanden sich unzählige verschiedene Flaschen. Meistens gab es nur winzigste Snacks, aber alle paar Monate wurde ein sogenanntes Cocktail-Menü angeboten, bestehend aus fünf verschiedenen Gängen mit jeweils dazu passenden Cocktails. Hierfür wurden sowohl eine Reservierung als auch ein Fahrer benötigt.
Reggie lächelte. Sie hatte diese Bar mit ihrer Attitüde und den schicken Drinks schon immer geliebt. Als Teenager träumte sie von dem Tag, an dem sie endlich alt genug wäre, um herzukommen. Hier hatte sie an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag ihren ersten … nun ja, legalen Drink. Viele ihrer Dates hatten hier geendet, aber hauptsächlich war der Geist der Weihnacht der Ort, an dem sie sich mit ihren Freundinnen traf.
Sie erblickte Paisley, die in einer der Nischen saß und frenetisch winkte.
»Da«, sagte Reggie.
Paisley kam ihnen auf halbem Weg entgegen und umarmte erst Dena, dann Reggie. »Du bist zurück! Wie geht es Belle?«
»Die schmollt. Sie war aufgebracht, als ich gegangen bin, also lässt Mom sie auf dem Fernsehsessel schlafen, während ich weg bin.«
Und zwar unter einer Decke, dachte sie und grinste bei der Erinnerung an das Bild, wie ihre Hündin es sich für den Abend gemütlich gemacht hatte.
»Ich freue mich so, dich zu sehen. Hör auf, immer wegzufahren. Das macht mich traurig.«
Reggie lachte. »Ich wohne in Seattle.«
»Tja, damit war ich nie einverstanden, oder?« Paisley, eine wunderhübsche, langbeinige Blondine mit viel Köpfchen und ausreichend Sarkasmus, um interessant zu sein, wandte sich an Dena. »Wie geht es dir? Ich denke, du solltest am Rand sitzen, für den Fall, dass du schnell … du weißt schon.«
»Sich übergeben muss?«, fragte Reggie fröhlich.
Paisley zuckte zusammen. »Bitte, sag das nicht. Ich habe einen sehr empfindlichen Würgereflex.«
Reggie hängte ihren und den Mantel ihrer Schwester an den Haken an ihrer Sitzecke auf und registrierte erst dann, dass schon eine weitere Frau auf der Bank saß. Eine zierliche Rothaarige mit zögerlichem Lächeln.
»Hi.« Reggie streckte ihr die Hand hin. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht. Ich bin Reggie.«
»Shaye.«
Paisley, Reggie und Dena setzten sich.
»Ich habe dir von Shaye erzählt«, sagte Paisley. »Sie ist im Sommer hergezogen und hat sich mit Lawson Easley verlobt.«
Shaye hob ihre linke Hand. »Es scheint offiziell zu sein.«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Reggie. »Sowohl Paisley als auch meine Schwester haben mir nur Gutes über dich erzählt.«
»Danke, dass ich heute dabei sein darf«, sagte Shaye.
»Du bist immer willkommen«, versicherte Dena ihr und zog dann die Nase kraus. »Ich habe versucht, Camryn zu überreden mitzukommen, aber sie wollte die Zwillinge nicht allein lassen.«
Howard Troll, der Besitzer der Bar, kam an ihren Tisch. »Was darf es für die Ladys sein?«
»Für mich einen Coquito«, sagte Paisley.
Reggie zog eine Grimasse. »Das ist mir zu viel Kokosnuss. Howard, ich träume seit Wochen von einem Santa’s Sleigh.«
»Was ist das?«, fragte Shaye. »Die Drinks hier sind alle so exotisch.«
Dena seufzte. »Ein Santa’s Sleigh besteht aus Brandy, Amaretto, Eierlikör und Eiscreme.«
»Praktisch eine ganze Mahlzeit«, warf Reggie lachend ein. »Probier ihn mal, Shaye. Wenn du ihn nicht magst, trinke ich ihn.«
Shaye lächelte. »Klingt köstlich.«
Howard schaute Dena an, die entschuldigend mit den Schultern zuckte. »Einen alkoholfreien Strawberry-Daiquiri, bitte.«
»Alkoholfrei?« Howard klang entsetzt.
»Ich bin schwanger.«
Howard, der stramm auf die sechzig zuging, starrte sie an. »Aber du bist nicht verheiratet.«
»Ja, ich weiß.«
Er schnalzte mit der Zunge. »Ihr jungen Leute heutzutage. Aber gut, alkoholfrei soll es sein.« Damit wandte er sich zum Gehen, drehte sich aber noch mal um. »Möchtest du ein Truthahn-Sandwich mit Salatbeilage?«
Paisley riss ihre blauen Augen auf. »Aber Howard, du hasst es zu kochen.«
»Wir müssen uns um sie kümmern.«
»Innerhalb von acht Sekunden von missbilligend zu fürsorglich?«
Er grinste. »Ich gehe eben mit der Zeit.«
»Mir geht es gut, Howard«, sagte Dena. »Aber danke.«
Nachdem er gegangen war, streckte Paisley ihre Hände zu Reggie aus. »Wie geht es dir? Ist es in Ordnung, wieder hier zu sein? Bist du nervös, oder hast du Flashbacks?«
Reggie dachte über ihren Tag nach. »Abgesehen von einem Spaziergang mit Belle habe ich das Haus bis eben nicht verlassen. Mir geht es gut. Weder bin ich nervös noch habe ich Flashbacks.«
Paisley gab Shaye einen kurzen Überblick über Reggies Verlobung und die darauffolgende Trennung. Während ihre Freundin sprach, checkte Reggie ihr Herz nach Traurigkeit. Doch die größte Emotion, die sie finden konnte, war Bedauern über vergeudete Zeit, die sie damit verbracht hatte, eine Beziehung zu betrauern, die augenscheinlich nicht hatte sein sollen.
»Ich fühle mich schrecklich«, gestand Paisley. »Ich habe die Verlobungsparty gegeben.«
»Schuldgefühle sind nicht erlaubt«, beschied Reggie ihr. »Du hast gemacht, was eine gute Freundin macht. Niemand hat gewusst, dass Jake so ein Arsch ist. Wir sind fertig miteinander. Ich bin wirklich über ihn hinweg, und ich habe meinen Weg nach Hause gefunden. Ich schlage vor, wir lassen das Thema für alle Zeiten ruhen.«
»Dem stimme ich zu«, sagte Dena entschlossen. »Also, was gibt es Neues?«
»Das Resort hält mich ganz schön auf Trab«, erzählte Paisley. »So viele Weihnachtsfeiern.« Sie lächelte. »Und die Hochzeit eurer Eltern. Darauf freue ich mich.«
»Wir versuchen, es locker zu halten«, sagte Reggie.
Paisley sah Dena an. »Weiß sie es?«
Sofort war Reggie alarmiert. Sie war sich nicht sicher, wie viel weitere »Überraschungen« sie ertragen konnte.
»Ja. Ich hab es ihr gestern erzählt.« Dena lächelte Shaye an. »Sorry, dass wir so viele Informationen auf einmal auf dir abladen. Aber es gibt da diesen Typen …«
»Den gibt es immer«, sagte Shaye lachend.
»Reggie war auf der Highschool mit ihm zusammen.«
Howard kam mit ihren Drinks und einer kleinen Käseplatte.
»Nur Hartkäse«, erklärte er Dena. »Der ist sowohl für dich als auch fürs Baby sicher. Und gesund.«
»Danke«, sagte Dena aufrichtig. »Das ist sehr süß von dir.«
»Ja. Pass nur auf, dass das nicht die Runde macht.«
Paisley schaute ihm nach, als er ging. »Diese Seite an Howard habe ich noch nie gesehen. Sie macht mir ein wenig Angst.«
»Mir auch.« Reggie nahm ihr Glas in die Hand. »Auf gute Freunde.«
Sie stießen miteinander an. Dann sagte Shaye: »Also, dieser Typ?«
»Lass mich erzählen.« Reggie trank noch einen Schluck von ihrem köstlichen Cocktail. »Auf der Highschool waren wir wahnsinnig verliebt, und dann haben wir Schluss gemacht. Er ist weggezogen, und ich habe ihn seitdem nie wiedergesehen.«
»Und dann hat er Judys Pasteten gegründet«, fügte Dena an. »Benannt nach seiner Großmutter.«
Shaye riss die Augen auf. »Mein Toby?«
Reggie sah erfreut, dass Paisley und Dena genauso überrascht wirkten wie sie.
»Ich meine, ich arbeite für ihn«, erklärte Shaye.
»Ah, dieses mein Toby «, sagte Dena.
»Ist er Single?« Paisley nippte an ihrem Drink. »Ich frage für eine Freundin.«
»Soweit ich weiß, ja«, antwortete Shaye.
Reggie stieß Paisley an. »Deine sogenannte Freundin ist nicht interessiert.«
»Vielleicht habe ich für Dena gefragt.«
»Hast du nicht.«
Paisley ließ sich nicht beirren. »Stimmt. Du solltest wieder mit ihm zusammenkommen. Jeder liebt eine Geschichte über eine erste Liebe, die wieder aufflammt. Außerdem ist bald Weihnachten.«
»Na und?«
»Also ist das ein vielleicht?«
»Ja, Paisley. Toby und ich kommen wieder zusammen. Ich habe ihm die letzten zehn Jahre nachgeweint und kann es kaum erwarten, dass wir uns wieder ineinander verlieben. Das wird episch.«
Paisley grinste. »Sarkasmus steht dir.«
Reggie hob ihr Glas. »Es ist ein klassischer Look, den alle Frauen tragen können.«
Die Freundinnen lachten. Reggie sah ihre Schwester an. »Bitte wechsle das Thema.«
»Nun, ich habe Neuigkeiten«, verkündete Paisley aufgeregt. »In der Stadt geht das Gerücht um, dass es wieder einen Schneekönig und eine Schneekönigin geben soll.«
Reggie und Dena tauschten einen erfreuten Blick.
»Wirklich?«, fragte Dena. »Mir fehlt das königliche Paar an den Feiertagen.«
»Was sind Schneekönig und Schneekönigin?«, wollte Shaye wissen.
»Menschen, die zufällig – oder nicht so zufällig – gewählt werden, um Gastgeber ehrenhalber für die Feiertage zu sein«, erklärte Paisley. »Sie richten bei Backwettbewerben, machen bei den Adventsaktivitäten mit. Früher war es immer ein Ehepaar. Dann wurden einfach Namen aus einem Hut gezogen. Oh, wenn es wieder Schneekönig und Schneekönigin gibt, wird es vielleicht auch wieder einen Weihnachtsball geben. Das wäre toll.«
Reggie lauschte ihren Freundinnen und ihrer Schwester, die sich über die vielen Möglichkeiten unterhielten. Trotz der Vorfreude darauf, wieder einen Schneekönig und eine Schneekönigin zu haben, wanderten ihre Gedanken immer wieder zu Toby und der Tatsache, dass er nach Wishing Tree zurückgezogen war. Der Gedanke, ihn wiederzusehen, faszinierte sie ein bisschen, das musste sie zugeben. Nur aus Neugierde, ergänzte sie im Stillen. Ja, sie waren mal zusammen gewesen. Ja, er hatte ihr das Herz gebrochen. Aber na und? Sie war über ihn hinweg und hatte absolut kein romantisches Interesse mehr an dem Mann. Gar keins. Kein bisschen.
Eigentlich wollte sie nur sehen, wie er sich verändert hatte von dem Teenager, in den sie so verzweifelt verliebt gewesen war, zu dem Mann heute. Sie war damals verrückt nach ihm gewesen und hatte immer gedacht, dass er auch an ihr interessiert wäre, doch er sprach sie nie an. Irgendwann beschloss sie dann, ihn herauszufordern. Das erschien ihr als der beste Weg, seine Aufmerksamkeit zu erringen. Als ihre Taktik aufging, war sie zugleich schockiert und aufgeregt gewesen.
Ziemlich schnell hatte sie herausgefunden, dass Toby niemand war, der mit den Gefühlen anderer Leute spielte. Er war immer ehrlich zu ihr gewesen, hatte geradeheraus gesagt, was er meinte, und seine Versprechen immer gehalten. Was das, was er getan hatte, nachdem sie ihm ihre Jungfräulichkeit geschenkt hatte, umso unverzeihlicher machte.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Gegenwart. Das Ganze ist lange her, sagte sie sich. Sie war nur neugierig, mehr nicht.