12. Kapitel

Nachdem sie aufgegessen und das Geschirr weggeräumt hatten, gingen sie nach oben. Harrison zeigte Reggie und Belle sein Zimmer, dann bettelte er seinen Vater an, dass er sich mit Belle noch einen Film ansehen durfte. Die Hündin war voll dabei, wenn es darum ging, mit ihrem Lieblingsjungen auf der Couch zu liegen. Also ließen Reggie und Toby die beiden allein und gingen in sein großes Büro am Ende des Flurs.

»Wie viele Zimmer hat das Haus?«, fragte Reggie, als Toby die Weinflasche und die Gläser abstellte, die er mit hochgebracht hatte.

»Die übliche Anzahl.«

Sie überlegte, was sie unten gesehen hatte. »Lass mich raten. Fünf Schlafzimmer, ein Extrazimmer, ein Büro und vermutlich ein Keller.«

Er lächelte ein bisschen verlegen. »Stimmt. Wir haben etwas mehr als vierhundertfünfzig Quadratmeter.«

»Nett.«

Sein Büro beherbergte einen großen Schreibtisch, eingebaute Bücherregale und ein bequem aussehendes Sofa, über dem Fotos hingen: Harrison in jeder Lebenslage als Baby bis heute, Judys Pasteten -Foodtrucks und eine Ladenfront, die sie nicht erkannte.

Er folgte ihrem Blick. »Das war der erste Laden«, sagte er. »Den habe ich in Austin eröffnet.«

»Du hast wirklich ein Imperium erschaffen.«

»So in der Art.«

Sie setzten sich aufs Sofa, und er schenkte ihnen Wein ein.

»Ich bin geschockt. Du hast dieses Zimmer gar nicht in ein Weihnachtsparadies verwandeln lassen. Warum nicht?«, fragte sie, als sie ihr Glas entgegennahm.

»Du weißt, dass mir dieser ganze Kram nicht wichtig ist. Ich mache das nur für Judy und Harrison.«

»Aber du magst Weihnachten doch auch.«

»Nicht so sehr wie die beiden.«

»Der Baum unten ist wunderschön. Wie direkt aus einem Magazin. Aber ich schätze, der, den du mit Judy und deinem Sohn schmücken wirst, hat für euch eine größere Bedeutung?«

»Das stimmt.«

Über den Rand ihres Glases hinweg musterte sie ihn. Er sah genau nach dem aus, was er war: ein erfolgreicher, zufriedener Mann. Seine goldblonden Haare waren ein wenig dunkler als damals in der Highschool, und seine Gesichtszüge schärfer. Aber seine Augen hatten noch die gleiche Farbe – mittelblau mit einem Hauch von Grau.

Das mit den Schülern heute hatte er super gemacht. Was sie nicht wirklich überraschen sollte. Er war ein toller Dad. Warum war er also nicht verheiratet? Und wo war Harrisons Mutter?

Sie wollte diese Fragen nicht freiheraus stellen, und so versuchte sie es etwas subtiler.

»Du warst sehr jung, als du Harrison bekommen hast«, sagte sie so lässig, wie sie konnte.

»Zweiundzwanzig.« Er stellte sein Glas ab. »Als ich im letzten Highschooljahr abgehauen bin, wollte ich einfach nur weg. Ich bin in Texas gelandet – weil es groß ist, und ich dachte, man könnte dort gut verschwinden.«

»Du wolltest verschwinden?«

»Ich war achtzehn. Ich dachte vermutlich ein wenig dramatisch.«

»Wie hast du dich über Wasser gehalten?«

»Mit Arbeit auf dem Bau. Ich habe an den Baustellen herumgelungert, und wenn ein Arbeiter nicht aufgetaucht ist, bin ich eingesprungen.« Er lächelte. »An die großen Maschinen haben sie mich zwar nicht rangelassen, aber es gab immer genügend Hilfsarbeiten, für die man keine Ausbildung brauchte. Irgendwann gehörte ich dann dazu und habe ganz gutes Geld verdient. Erst war ich in Lubbock, dann bin ich nach Dallas gegangen. Da habe ich ein Mädchen kennengelernt.«

»Nur eins?« Sie bemühte sich um einen leichten, neckenden Tonfall, weil sie wollte, dass er weitererzählte.

»Okay, mehr als eine, aber diese eine war wichtiger. Sie hieß Anne, und sie war …« Er hielt inne und musterte sie. »Sie war dir sehr ähnlich.«

»Also alles, was du je von einer Frau gewollt hast?«, witzelte sie.

Das Lächeln kehrte zurück. »Es war mehr ihre Persönlichkeit. Oder vielleicht ist Attitüde das bessere Wort. Wie auch immer, wir waren sechs Monate zusammen, aber dann wollte ich umziehen und sie nicht. Wir haben uns in Freundschaft getrennt, und ich bin nach Austin gezogen.«

Er nahm einen Schluck von seinem Wein. »Da hat es mir gefallen. Ich hatte einen festen Job – immer noch auf dem Bau – und eine nette kleine Wohnung anstelle eines miesen Zimmers. Also beschloss ich dortzubleiben.«

Interessant angesichts dessen, dass er jetzt wieder in Wishing Tree war. »Und?«

»Ungefähr zehn Monate später bekam ich eine Nachricht von Anne. Sie wollte mich sehen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich nahm an, sie würde mir sagen, dass sie nicht ohne mich leben könnte und nach Austin ziehen wollte, um wieder mit mir zusammen zu sein.« Er warf Reggie einen Blick zu. »Ich hatte mich geirrt.«

»Sie war schwanger? Nein, warte. Zehn Monate später bedeutet, dass sie das Kind schon zur Welt gebracht haben musste.«

»Ja, genau. Wir hatten verabredet, uns in einem Café zu treffen. Ich freute mich darauf, sie zu sehen, und hatte schon alle möglichen Pläne geschmiedet. Aber sie wollte gar nicht wieder mit mir zusammen sein. Sie kam mit Harrison auf dem Arm herein und eröffnete mir, er sei mein Sohn.«

Sein Blick verlor sich in der Ferne. »Ich wusste nicht, was ich denken oder sagen sollte. In der einen Sekunde war ich ein glücklicher Single, in der nächsten der Vater eines drei Monate alten Sohnes.«

Wieder schaute er sie an. »Sie meinte, sie könne das nicht – sie könne keine Mutter sein. Es sei zu schwer, und Harrison brauche zu viel. Sie hat ihn mir angeboten. Wenn ich ihn nicht wollte, würde sie ihn zur Adoption freigeben.«

»Was?« Reggie sprang beinahe vom Sofa auf, weil sie nicht glauben konnte, was sie da hörte. Das hatte Anne ernsthaft getan? Was für ein Mensch war sie? »Sie wollte ihn abgeben? Einfach so? Dann hat sie nichts mit mir gemeinsam. So etwas würde ich niemals tun.«

Er lächelte. »Ich weiß, aber entspann dich. Die Geschichte hat ein Happy End.«

»Willst du sie verteidigen und sagen, dass es nicht ihre Schuld ist? Sie ist die Mutter. Sie hätte es versuchen müssen. Und wo war ihre Familie? Hat die ihr nicht geholfen?«

Ein amüsiertes Funkeln trat in seine Augen. »Du scheinst eine Meinung zu dem Thema zu haben.«

»Natürlich habe ich die. Dena wird alleinerziehende Mutter, und du weißt, dass wir uns alle darum schlagen werden, Zeit mit dem Baby zu verbringen. Wir werden für sie da sein. Ich habe bereits geplant, für die ersten Monate nach der Geburt nach Wishing Tree zurückzuziehen, damit ich ihr helfen kann.«

»Das überrascht mich nicht.«

Sie nahm ihr Weinglas und wedelte damit in seine Richtung. »Okay, erzähl weiter. Ich werde dich nicht noch mal unterbrechen.«

»O doch, das wirst du.«

»Okay, vermutlich schon, aber wir dürfen hoffen, dass ich es nicht tue.«

Er lachte leise. »Ich habe ihr gesagt, dass ich ihn nehme. Sie hatte alle seine Sachen im Auto und hat mir sogar ein paar Anweisungen aufgeschrieben. Sobald sie mir alles gegeben hatte, meinte sie, ich solle mir einen Anwalt suchen, dann würde sie alles Nötige unterschreiben. Sie sei damit durch, Mutter zu sein. Damit ist sie abgefahren.«

»Und du standest allein mit einem Baby im Arm auf dem Bürgersteig? Das ist verrückt. Woher wusstest du, was du tun musst? Hattest du bis dahin überhaupt schon mal eine Windel gewechselt?«

»Du hast recht. Ich hatte keine Ahnung. Als Erstes habe ich Judy angerufen, um sie zu bitten, zu mir zu kommen. Mein zweiter Anruf ging an einen Typen, mit dem ich zusammengearbeitet habe. Er war verheiratet und hatte Kinder. Sie haben mich zu sich eingeladen, und seine Frau zeigte mir die Grundlagen. Als ich Judy am Flughafen abgeholt habe, konnte ich schon ein Fläschchen zubereiten und die Windel wechseln. Aber ich wusste immer noch nicht, wie ich überleben sollte. Wer würde sich um Harrison kümmern, während ich arbeitete?«

»Das Dilemma aller alleinerziehenden Eltern auf der Welt.«

»Stimmt. Judy war bereit, ein paar Wochen zu bleiben, aber dann musste sie zu meinem Dad zurück.«

Reggie hörte die Anspannung in seiner Stimme und ahnte, dass sie besser nicht nach seinem Vater fragte. Außerdem wollte sie mehr über seine ersten Jahre mit Harrison hören, und nach Tobys Vater zu fragen würde sie in Gefilde führen, die sie beide nicht besuchen wollten.

Sie war immer noch fassungslos, wie Anne sich verhalten hatte. Wenn sie das Kind nicht gewollt hatte, warum hatte sie es dann überhaupt bekommen? Und wenn sie nicht hatte abtreiben wollen, warum hatte sie dann nicht gleich nach der Geburt eine Adoption veranlasst? Es gab Tausende wundervolle Paare, die nur zu gern ein Baby zu sich nehmen wollten. Aber ihn zu behalten und dann ihre Meinung zu ändern? Das war nicht richtig.

»Wir haben überlegt, wie ich von zu Hause aus arbeiten und Geld verdienen könnte«, fuhr er fort. »Was schwerer ist, als man denkt. Keine unserer Ideen hat für mich funktioniert. Ich hatte keine besonderen Fähigkeiten, die ich nutzen konnte, und als Handwerker zu arbeiten hätte nichts an der Betreuungssituation geändert. Dann hat Judy vorgeschlagen, Pasteten zu verkaufen.«

Um seine Mundwinkel zuckte es. »Es gab oft Zeiten, in denen das Geld, das wir damit verdienten, alles war, was wir hatten. Erinnerst du dich, wie Judy sie immer an Freunde und Nachbarn verkauft hat?«

»Ja«, sagte Reggie leise. »Meine Mom wollte immer wissen, wie Judy sie macht. Wir haben sie gern zum Abendbrot gegessen.«

»Ich nahm mir ein paar Tage frei, und wir haben das ganze Wochenende über gebacken. Wir haben so viele gemacht, wie wir konnten. Am Montag habe ich sie auf der Baustelle verkauft. Sie waren innerhalb kürzester Zeit weg. Ich bin nach Hause gefahren, und wir haben noch mehr gebacken. Am Dienstag brachte ich sie zu einer anderen Baustelle, wo das Gleiche passierte. Als Judy so weit war, wieder nach Hause zu fliegen, hatten sich die Pasteten herumgesprochen, und die Jungs tauchten auf den beiden Baustellen auf, um welche zu kaufen. Damit hatte ich mein Geschäft.«

»Wie hast du das mit Harrison hinbekommen?«, fragte sie, während sie versuchte, das alles zu verarbeiten.

»Anfangs war es schwer. Ich habe Harrison mit auf die Baustellen genommen. Sobald ich wieder zu Hause war, habe ich neue Pies gebacken. Jeden Tag habe ich bis Mitternacht gearbeitet, ein paar Stunden geschlafen und dann weitergemacht. Mehr habe ich in der Zeit nicht getan – entweder habe ich mich um ihn gekümmert oder gebacken oder verkauft. Sobald meine Rechnungen bezahlt waren, habe ich mir von dem Extrageld ein paar Öfen und einen zweiten Kühlschrank gekauft.« Er lächelte. »Ich bin mir sicher, dass ich gegen ein paar Gesundheitsrichtlinien verstoßen habe, aber ich bin nie erwischt worden.«

»Ah, das Herz eines bösen Jungen ändert sich nie.«

»Auf gewisse Weise hast du recht. Ich habe sechs Monate gebraucht, um genug Geld für einen Foodtruck zur Seite zu legen. Das hat sehr geholfen. Ich war jeden Tag der Woche an einem anderen Standort und fing langsam an, mir eine Fanbase aufzubauen.«

»Und aus einem Foodtruck wurden drei und so weiter?«, fragte sie.

»So in der Art. Innerhalb von zwei Jahren hatte ich eine ganze Flotte im Großraum Austin. Fünf Jahre später habe ich in die großen Städte wie Texas expandiert und bin nach Kalifornien gezogen. Außerdem hatte ich ein paar Läden eröffnet, die sehr erfolgreich liefen. Heute bin ich mit zweihundert Foodtrucks und zehn Läden in fünfzehn Städten vertreten.«

Meine Güte, das ist beeindruckend, dachte Reggie. Sie hatte gewusst, dass er erfolgreich war, aber die Geschichte von ihm zu hören war noch mal etwas anderes.

»Darunter Wishing Tree«, sagte sie lächelnd.

»Das ist mein Lieblingsladen. Durch ihn kann ich da sein, wann immer Harrison mich braucht.«

Reggie schaute zu der Wand mit den Fotos. »Du solltest ein Foto von dieser Filiale da hängen haben.« Stirnrunzelnd beugte sie sich vor, um die Bilder besser zu sehen. »Ist das da unten der alte Eisenwarenladen?«

»Ja.«

Sie sah ihn an. »Das überrascht mich. Zu dem hattest du doch immer eine komplizierte Beziehung.«

Er war zwölf gewesen, als er angefangen hatte, dort zu arbeiten. Es war ein Versuch, auszuhelfen, wenn sein Vater zu betrunken war, um sich um Dinge wie Öffnungszeiten oder Nachbestellungen zu kümmern. Im Laufe der Zeit hatte Toby immer mehr Verantwortung übernommen. Als er mit Reggie ging, verbrachten sie Stunden in dem Laden. Sie hatte alles über Werkzeuge gelernt und darüber, wie man Wasserhähne repariert oder Lampen anbringt.

»Es war nicht der Laden«, sagte er. »Sondern mein Dad.« Er atmete hörbar aus. »Judy hat das Bild für mich rahmen lassen, als ich die Fotos aufgehängt habe. Ich mochte ihr nicht sagen, dass ich es lieber nicht jedes Mal sehen würde, wenn ich hier reinkomme.«

Unwillkürlich streckte sie die Hand aus und berührte seinen Arm. »Es tut mir leid. Das ist bestimmt schwer für dich.«

»Es ist ein Bild. Damit komme ich klar.«

Sie ließ ihre Hand wieder in ihren Schoß fallen. »Dein Dad hat den Laden ungefähr zu der Zeit verkauft, als du gegangen bist, oder?«

Toby sah sie an. »Er hat ihn nicht verkauft, Reggie. Er hat ihn verloren. Er hat weder die Miete noch die Waren bezahlt, und sie haben ihm alles weggenommen. Daraufhin ist er wütend geworden und hat mir vorgeworfen, nicht genug zu tun.« Er wandte den Blick ab. »An dem Tag, an dem er den Laden verlor, ist er mit einem Baseballschläger auf mich losgegangen. Ich wusste, wenn ich bleiben würde, würde er mich umbringen. Deshalb bin ich gegangen.«

»Was?«

Das Wort platzte aus ihr heraus, bevor sie es aufhalten konnte.

Toby lächelte schief.

»Du hast gedacht, ich bin deinetwegen abgehauen?«

Die Wahrheit kann nicht geändert werden, dachte sie und kämpfte gegen ihr Schamgefühl an. »Ja, der Gedanke ist mir gekommen. Wir hatten gerade Schluss gemacht, und es war deine Schuld. Ich dachte, du kommst damit nicht klar.«

»Stimmt. Ich war am Boden zerstört. Aber ich bin nicht deinetwegen gegangen.«

»Wie peinlich.«

»Das muss es nicht sein. Es war eine logische Schlussfolgerung. Und wo wir gerade über Fehler reden: Ich habe nicht mit unserer Nacht angegeben.«

Unsicher, was sie darauf sagen sollte, starrte sie in ihren Wein.

Der Abend des Balls … Damals waren sie schon über ein Jahr zusammen gewesen. Reggie wusste mittlerweile, dass sie Toby für immer lieben würde, und sah sich endlich bereit, mit ihm zu schlafen. Ein Dutzend Male waren sie schon kurz davor gewesen, doch im entscheidenden Moment hatte sie sich immer zurückgehalten. In jener Nacht aber schenkte sie ihm ihre Jungfräulichkeit. Am Morgen danach, ein Dienstag, hatte Paisley sie in der Schule gewarnt, dass alle über sie tuschelten, denn offenbar hatte Toby dem gesamten Footballteam erzählt, dass er mit ihr den besten Sex seines Lebens gehabt hatte.

Wegen seines Verrats und der Demütigung war sie am Boden zerstört gewesen. Sie rief ihre Mutter an und fragte, ob sie nach Hause kommen dürfe. Als ihr Dad von der Sache erfuhr, drohte er, Toby eine Lektion zu erteilen, doch sie hatte gesagt, sie würde sich selbst darum kümmern. Dann hatte sie mit ihm Schluss gemacht. Drei Tage später war er fort gewesen.

»Ich war das nicht«, wiederholte er. »Reggie, du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass ich so etwas nie tun würde.«

Sie hob ihren Kopf und schaute ihn an. »Ja, das hatte ich gedacht, aber wie ist es dann passiert?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe es nur Brian erzählt.« Er verzog das Gesicht. »Das war in der Umkleide, also denke ich, dass uns jemand gehört hat. Anders kann ich es mir nicht erklären.« Er sah ihr in die Augen. »Ich habe dich geliebt und hätte dir niemals absichtlich wehgetan.«

Trotz all der Jahre verspürte sie bei diesen Worten noch immer das gleiche Kribbeln wie damals mit siebzehn.

»Ich weiß«, sagte sie. »Anfangs wusste ich es nicht, aber jetzt schon, und ich glaube dir. Es war nur so ein Schock und so schrecklich. Selbst nachdem wir Schluss gemacht hatten, dachte ich, wir würden einen Weg finden, aber dann warst du weg.«

»Das tut mir leid.«

»Es ist nicht deine Schuld.«

»Ich hätte dir sagen sollen, warum ich gehe.«

Sie lächelte. »Und ich hätte zuhören sollen, als du es mir erklären wolltest.«

Reggie spürte, wie sich etwas in der Energie zwischen ihnen veränderte, hatte aber keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Sie wusste nur, dass sie das Thema nicht weiter verfolgen würde.

»Du warst ein guter Freund. Ich schätze, das ist immer noch so, also warum hast du keine Frau mit nach Wishing Tree gebracht?«

Sie erwartete eine lustige Antwort, doch stattdessen wurde seine Miene ausdruckslos, und er wandte sich ab.

»Ich werde in naher Zukunft nicht heiraten.«

Da war etwas in seiner Stimme – eine Bestimmtheit, die auf ein dunkles Geheimnis hindeutete. Doch sie spürte, dass es besser war, nicht weiter nachzubohren.

So schnell, wie seine Stimmung sich verdüstert hatte, wurde er wieder zu dem lockeren, entspannten Toby.

»Was ist mit dir? Es ist über ein Jahr her, dass Jake und du euch getrennt habt. Es muss doch einen Typen in deinem Leben geben?«

»Das würde man meinen«, sagte sie leichthin. »Aber da würde man sich irren.« Sie zuckte mit den Schultern. »Es hat eine Weile gedauert, bis ich über ihn hinweg war, und seitdem hatte ich zwar ein paar Dates, es war aber niemand dabei, mit dem ich eine Beziehung eingehen wollte.«

Dieses Eingeständnis macht die Situation zwischen uns vermutlich etwas unangenehm, dachte sie und stellte ihr Weinglas ab, um aufzustehen.

»Das war sehr schön«, sagte sie. »Aber ich muss Belle nach Hause bringen. Sie wird unleidlich, wenn sie nicht ausreichend Schlaf bekommt.«

Kurz dachte sie, dass Toby ihren plötzlichen Aufbruch ansprechen würde, doch er nickte nur und erhob sich ebenfalls.

»Eine übellaunige Dänische Dogge ist bestimmt kein Spaß. Komm, ich begleite dich nach unten.«

Als sie eine Viertelstunde später nach Hause fuhr, beglückwünschte Reggie sich zu ihrer klugen Entscheidung. Zu bleiben hätte nur dazu geführt, dass sie … Nun, keine Ahnung, wozu es geführt hätte, aber bestimmt zu etwas Kompliziertem. Sie und Toby hatten eine gemeinsame Vergangenheit, aber das war kein Grund, anzunehmen, dass sie auch eine Zukunft hatten. Besser, sie hielten es locker und freundschaftlich. Wobei … vielleicht war das auch einfach nur sicherer.

Micah schätzte, dass er ungefähr zehn Meilen gegangen war, seitdem er das B&B verlassen hatte. Seine Unfähigkeit, etwas zu schreiben, frustrierte ihn immer mehr, deshalb hatte er beschlossen, einen Spaziergang zu machen, bis ihm ein kreativer Gedanke kam.

Er hatte mehrere Wohngebiete passiert, bevor er in westlicher Richtung zum Gray Wolf Lake spaziert war. Danach hatte er sich nach Süden gewandt und seinen Schal enger gegen die Eiseskälte um sich geschlungen.

Alle Häuser, an denen er vorbeikam, waren für die Feiertage geschmückt. Weihnachtsmänner und Rentiere standen in den Vorgärten, und in den Fenstern hingen Weihnachtskränze. Nach ungefähr einer Stunde fiel ihm auf, dass er noch keinen einzigen Schneemann gesehen hatte. Natürlich keinen echten, denn dazu müsste es Schnee geben, aber auch keine aus Kunststoff oder Keramik. Jetzt, wo er darüber nachdachte, erinnerte er sich, dass auch Dena keine Schneemänner in ihrer Weihnachtsdeko hatte. War das irgendeine Absprache hier in der Stadt? Eine Tradition, die er nicht kannte? Danach würde er sie fragen müssen.

Nachdem er sich umgeschaut hatte, ob ein Auto kam, überquerte er die Straße. Es waren nicht viele Leute unterwegs, und es herrschte kaum Verkehr. Wenn er in Richtung Zentrum ginge, würde er mehr Fußgänger treffen. Vor allem rund um den Weihnachtskranz herum.

Was hätte Adriana wohl von Wishing Tree gehalten?, fragte er sich. Hätte sie den Charme des Städtchens gesehen, so wie er, oder wäre es für sie zu klein gewesen? Keiner von ihnen war in einer solchen Gemeinschaft aufgewachsen. Seine längste Zeit an einem Ort war damals in der Highschool gewesen, als er bei Steve gewohnt hatte. Er und Adriana hatten sich das Haus in Malibu gekauft – das Haus, zu dem er nicht zurückkehren mochte. Nicht so sehr wegen der Erinnerungen, sondern weil er keinen Grund für eine Rückkehr sah. Es war für sie beide nie ein wirkliches Zuhause gewesen.

Wenn sie nicht gestorben wäre, hätten sie wohl mit ihrem Baby in dem Haus gelebt, hätten dort Erinnerungen erschaffen. Doch so war es nicht gekommen, vermutlich sollte er es besser verkaufen. Und das würde er auch tun – sobald er herausgefunden hatte, wo er sich niederlassen wollte.

Auf dem Celebration Pass ging er weiter nach Süden und bog dann links auf die Virginiastraße ab. Ungefähr ein Dutzend Kinder kam ihm entgegengelaufen und rannte mit einem solchen Eifer an ihm vorbei, dass ihm sofort klar war, es musste ungefähr drei Uhr und damit Schulschluss sein. Seine Schritte beschleunigten sich, als er die Stufen zur Schule hinauflief und das Hauptgebäude betrat. Das war zwar nicht sein Ziel gewesen, aber jetzt, wo er schon mal hier war, wäre es ihm unhöflich erschienen, nicht eben Hallo zu sagen.

Am Empfang fragte er, ob er zu Denas Klassenraum gehen dürfte. Die Empfangsfrau erkannte ihn von seinem letzten Besuch und winkte ihn durch.

»Sie ist noch da«, sagte sie mit einem Lächeln.

Micah ging den Flur hinunter. Ein paar ältere Schüler standen in eine, wie es aussah, ernste Unterhaltung vertieft im Gang. Die Tür zu Denas Klasse war offen, und er trat ein. Dena unterhielt sich gerade mit einer Frau – vermutlich eine Mutter. Beide schauten sich zu ihm um.

Er blieb stehen. »Sorry. Ich wollte nicht stören. Ich warte draußen.«

Dena lächelte ihn an, aber bevor sie etwas sagen konnte, rief die andere Frau – eine hübsche Rothaarige Anfang dreißig: »O mein Gott! Sie sind Micah Ruiz. Nein, das kann nicht sein.« Sie wandte sich an Dena. »Ist er es? O mein Gott, sind Sie es wirklich?«

Dena lachte. »Ja, er ist es wirklich. Micah, das ist Lindsey, eine der Mütter aus meiner Klasse.«

Lindsey sah ihn mit großen Augen an. »Ich liebe Sie. Ich meine, ich liebe Ihre Musik. Das ist einfach unglaublich. Wie sind Sie hierhergekommen? Was ist hier los?« Sie sah Dena an. »Du kennst ihn?«

»Wir sind alte Freunde«, zog Micah sie auf. »Und wie ich hergekommen bin: Ich bin geflogen. Natürlich nicht selbst.«

»Ich zittere am ganzen Körper«, rief Lindsey und hob wie zum Beweis ihre zitternde Hand. »Können wir ein Foto machen? Bitte? Das ist einfach unglaublich.«

Micah stellte sich neben sie. »Klar. Machen wir gleich ein paar.«

Er reichte Dena das Handy, die leicht amüsiert mehrmals auf den Auslöser drückte. Lindsey schaute sich die Fotos an und nickte dann.

»Die sind super. Vielen Dank. Was für ein großartiger Tag. Ich bin nur vorbeigekommen, um Dena zu sagen, dass ich meine Pflicht als Klassenmutter diesen Monat nicht weiter erfüllen kann. Mein Mann ist in der Armee und derzeit in Deutschland stationiert. Meine Eltern haben mich mit einem Flugticket für mich und die Kinder überrascht, um ihn zu besuchen. Wir fliegen in drei Tagen. Und nun treffe ich Sie.«

Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich vermisse ihn so sehr, und er ist auch ein großer Fan.«

Micah spürte, dass die Gefühle außer Kontrolle zu geraten drohten. »Ihre Kinder werden sich sicher riesig freuen, ihren Vater zu sehen«, sagte er in dem Versuch, sie von ihm abzulenken. »An diese Reise werden sie sich länger erinnern als an jedes andere Weihnachtsgeschenk. Ist es ein Direktflug?«

»Was? Oh, ja, wir fliegen nach Frankfurt und fahren dann mit dem Auto weiter. Sie freuen sich so auf ihn. Und ich auch.«

»Dann musst du jetzt nach Hause, um alles vorzubereiten«, schaltete Dena sich ein. »Lindsey, mach dir um die Klasse keine Sorgen. Ich finde jemanden, der für dich einspringt. Was Martinas Hausaufgaben angeht, ich lasse sie für sie zusammenstellen und schicke sie dir, bevor ihr fliegt. Sie ist so ein kluges Mädchen und immer motiviert. Mach dir keine Gedanken, dass sie was verpasst. Das holt sie schnell wieder auf. Außerdem ist das die Reise ihres Lebens. Sie wird so viel daraus ziehen können.«

»Ja, oder?« Lindsey nahm ihre Handtasche. »Danke für dein Verständnis.« Sie schaute Micah an und wedelte mit ihrem Handy. »Und danke für die Fotos.«

»Gern geschehen.«

Nachdem sie gegangen war, setzte Dena sich auf die Ecke ihres Pults. »Um Lindsey zu zitieren: ›O mein Gott‹. Sie ist total durchgedreht.«

»Ach was, das war gar nichts. Sie war höflich, hat in ganzen Sätzen gesprochen und mich nicht gebeten, ihr irgendwo auf ihrem Körper ein Autogramm zu geben oder Sex mit ihr zu haben.«

»So was kommt vor?«

»Jupp.« Er seufzte. »Sie sind nicht ein einziges Mal meinetwegen ins Schwärmen geraten. Ich gebe zu, dass ich ein wenig enttäuscht bin.«

Etwas flackerte in ihren Augen auf, verschwand aber sofort wieder. »Ich war nie der Typ fürs Schwärmen, aber ich könnte es mal versuchen.«

»Nein. Wenn es nicht ernst gemeint ist, zählt es nicht.« Er ließ die Schultern sacken. »Ich werde mit dem Schmerz leben lernen.«

Sie lachte. »Freut mich, das zu hören. Ich wäre nur ungern dafür verantwortlich, den Geist eines berühmten Rockstars gebrochen zu haben.«

Er richtete sich auf. »Danke, dass Sie sie abgelenkt haben, indem Sie sie subtil gebeten haben zu gehen.«

»Ich habe sie nicht gebeten zu gehen«, widersprach Dena. »Ich habe sie nur darauf aufmerksam gemacht, dass sie noch viel zu tun hat. Und jetzt, wo ich weiß, wie schwierig solche Begegnungen für Sie sein können, bin ich froh darüber.«

»Was macht eine Klassenmutter?«

»Manchmal ist es auch ein Klassenvater«, erklärte sie. »Er oder sie kommt jede Woche für ein paar Stunden, üblicherweise mit ein paar Snacks, und macht etwas mit den Schülern. Entweder basteln oder irgendeine Aktivität. Manchmal lesen sie ihnen auch nur etwas vor.«

Sie ging um ihr Pult herum und setzte sich. »Der Sinn dahinter ist, dem Lehrer oder der Lehrerin ein wenig Zeit zu geben, sich um administrative Aufgaben zu kümmern oder um sonstige Dinge, die liegen geblieben sind.«

»Könnte ich das auch?«

Sie starrte ihn an. »Warum sollten Sie das wollen?«

»Sie brauchen Hilfe. Ich habe Zeit. Und ich mag Kinder.«

»Micah, das ist sehr süß von Ihnen, aber das müssen Sie nicht machen. Allein das mit den Snacks ist kompliziert. Sie müssen lecker sein, dürfen aber keine Nüsse und nur wenig Zucker enthalten. Und es sind zwei Stunden. Das ist eine ganz schön lange Zeit, wenn einen fünfzehn Achtjährige anstarren.«

Er zuckte mit den Schultern. »Es wär nur für den Dezember, richtig? Und bald fangen die Ferien an. Also geht es um was, dreimal? Damit komme ich klar.«

»Aber …«

»Die Leute haben viel zu tun«, fügte er an, entschlossen, sie zu überzeugen. In ihrer Klasse zu sein würde ihm etwas geben, worauf er sich freuen konnte. Und es wäre eine gute Ablenkung. Angesichts seiner kompletten Talentlosigkeit im Moment brauchte er die dringend. »So kurzfristig werden Sie niemanden finden, deshalb melde ich mich freiwillig. Sie sollten Ja sagen.«

»Sie versuchen doch aber, einen Song zu schreiben.«

»Nun ja, das läuft gerade nicht so gut. Außerdem hat mir der Berufsorientierungstag gefallen.«

»Ich schätze, Sie könnten Musik machen. Das würde den Schülern gefallen.«

Er wollte fragen, ob es ihr auch gefallen würde, sagte sich aber, dass das die Sache zwischen ihnen komisch machen könnte. Und ihm gefiel, wie es gerade war.

»Gut. Nennen Sie mir die Anforderungen, und ich mache mich gleich an einen Unterrichtsplan.«

Um ihre Lippen zuckte es, als versuche sie, nicht zu lächeln. »Es sind zwei Stunden und ein Snack, Micah. Dafür brauchen Sie keinen Unterrichtsplan.«

»Ich bin gerne gut vorbereitet.«