»Wir könnten Belle doch hineinschmuggeln«, schlug Harrison hoffnungsvoll vor.
Toby stupste ihm gegen die Nase. »Belle ist zu groß, um in ein Kino geschmuggelt zu werden. Außerdem, wie sollte sie es sich auf einem der Sitze bequem machen? Die Hälfte von ihr würde herunterhängen.«
Bei der Vorstellung musste Harrison lachen. »Okay, also ohne Belle. Aber du solltest Reggie anrufen, Dad. Sie will sich ganz bestimmt den Film mit uns zusammen angucken.«
»Vielleicht nächstes Mal«, vertröstete er seinen Sohn.
Toby war sich nicht so sicher, dass Reggie den neuesten Animationsfilm zu Weihnachten sehen wollte, aber das war nicht der Grund, warum er den Vorschlag, sie einzuladen, abgelehnt hatte. Die Gründe dafür waren komplizierter und ein wenig widersprüchlich. Er mochte Reggie. Er hatte den Abend im Geist der Weihnacht mit ihr genossen, und seitdem spukte sie ihm ständig im Kopf herum. Was einiges aussagte, denn schon vorher hatte er sehr viel an sie gedacht.
Er wusste nicht, ob es an der Jahreszeit, ihrer Vergangenheit oder an Reggie lag, aber ständig fiel ihm etwas ein, worüber er mit ihr reden, weshalb er sie anrufen oder wohin er mit ihr gehen wollte. Und das alles kündete von einem Level an Problemen, von denen er sich lieber fernhielt.
Toby hatte sich zur Regel gemacht, mit keiner Frau etwas anzufangen. Und es war ihm immer leichtgefallen, sich daran zu halten. Nur selten hatte er überhaupt mal eine getroffen, die ihn die Richtigkeit dieser Regel hatte bezweifeln lassen. Aber Reggie stellte seine Entschlossenheit auf eine harte Probe, und er wusste nicht, was er deswegen unternehmen sollte.
Nun schloss er seinen Wagen ab und nahm Harrisons Hand, um mit ihm zusammen auf das Multiplex zuzugehen. Das Ist das Leben nicht schön? verfügte über sieben Kinosäle, und in einem von ihnen wurde das ganze Jahr über ein Weihnachtsklassiker gezeigt. Als sie noch ein Paar gewesen waren, hatte Reggie immer darauf bestanden, an jedem ersten Freitag im Monat einen Weihnachtsfilm zu sehen, egal, welcher großartige neue Film an diesem Wochenende gerade anlief. Den neuen Film hatte sie sich gern am Samstag mit ihm angeschaut, aber der erste Freitag des Monats war ihr Weihnachtsfilmtag, komme, was wolle.
Sie hatten den Kinosaal oft für sich allein, und wenn sie sich Sitze in der Ecke suchten, konnte er viele Küsse und ein bisschen Fummeln – natürlich mit Klamotten – ergattern. Und so war »Das Wunder von Manhattan« für ihn als Siebzehnjährigen auf einmal wesentlich interessanter geworden.
Die Erinnerung ließ ihn immer noch lächeln, als Harrison anfing, wie wild zu winken und zu rufen: »Reggie! Reggie!«
Toby wandte den Kopf nach links und sah besagte Frau ebenfalls auf das Kino zugehen. Auf Harrisons Rufen hin schwenkte sie um und kam auf sie beide zu. Toby schaute sich nach einer männlichen Begleitung um, aber offenbar war Reggie allein.
Harrison ließ Tobys Hand los und rannte auf Reggie zu, um sie fest zu umarmen. Reggie erwiderte die Umarmung und grinste dann Toby an.
»Na, was macht ihr beide denn hier?«, fragte sie.
»Wir wollen ins Kino«, antwortete er und bemühte sich, die Hitze zu ignorieren, die ihr Lächeln in ihm auslöste.
»Ich auch. Ich habe den ganzen Nachmittag damit zugebracht, Weihnachtskakteen umzutopfen. Das sind die Gastgeschenke auf der Hochzeit meiner Eltern, und ich musste sechzig Stück in winzige Tontöpfe pflanzen.«
»Du bist eine gute Tochter.«
»Ja, das sage ich mir auch.« Sie sah Harrison an. »Lass mich raten: Ihr seid hier, um euch ›Ist das Leben nicht schön?‹ anzusehen.«
Harrison lachte. »Nö. Den neuen Animationsfilm. Komm mit, Reggie. Das wird super.«
»Harrison, Reggie hat eigene Pläne.«
Sein Sohn schaute traurig drein und nickte.
»Ich dachte nur, es wäre schön, wenn sie mit uns käme.« Er überlegte kurz, dann ließ er ein strahlendes Lächeln aufblitzen. »Reggie, würdest du gern den Film aussuchen?«
»Guter Trick«, sagte sie lachend. »Ich würde sehr gern mit euch kommen. Und ich wähle den Animationsfilm.«
»Wirklich?«
Toby sah sie an. »Das musst du nicht tun.«
»Ich will es aber. ›Ist das Leben nicht schön?‹ kann ich mir auch später noch angucken. Außerdem ist es ja nicht so, als hätte ich ihn noch nie gesehen.«
Harrison hüpfte vor Freude auf und ab. »Ja! Dad, kann ich die Karten kaufen?«
Toby reichte ihm seine Kreditkarte, und Harrison lief los zu dem Kartenautomaten.
»Danke, dass du ihm die Freude machst«, sagte Toby zu Reggie.
»Sehr gern. Das wird bestimmt lustig.«
»Ich sehe schon, du bist länger nicht mehr mit einem Dutzend Kindern im Kino gewesen. Lustig ist nicht das richtige Wort. Laut trifft es eher. Sehr laut.«
»Das halte ich aus.«
Zu gern hätte Toby ihr angeboten, später in der Woche mit ihr einen Weihnachtsfilm ihrer Wahl anzusehen. Nur sie beide. Wie ein Date.
Nur ging er nicht auf Dates. Niemals. Das Risiko, sich auf eine Frau einzulassen, konnte er nicht eingehen. Denn damit brachte er Harrison in Gefahr, und das würde er nie, nie wieder tun.
Harrison kehrte mit den Eintrittskarten zurück, und sie gingen alle hinein und suchten sich gute Plätze. Kaum hatten sie ihre Mäntel ausgezogen, als Noah und zwei andere Jungs zu ihnen gelaufen kamen.
»Komm mit zu uns, Harrison«, bat Noah. »Wir sind ganz vorne.«
»Dad, kann ich?«
»Was ist damit, dass du den Film mit Reggie sehen wolltest?«
Harrison schaute sie an. »Bitte?«
»Für Freunde abgeschoben. Ich bin am Boden zerstört.« Sie milderte ihre Worte mit einem Lächeln ab. »Ich habe nichts dagegen, solange dein Dad einverstanden ist.«
Toby stand auf, damit Harrison an ihm vorbeischlüpfen konnte. »Wir treffen uns wieder hier, wenn der Film vorbei ist.«
»Okay. Danke, Dad.«
Die Jungs rannten nach vorn.
Toby schaute Reggie an.
»›Ist das Leben nicht schön?‹ hat noch nicht angefangen.«
»Jetzt habe ich mich schon auf diesen Film eingestellt.« Ihr Lächeln schwand. »Außer du würdest lieber nicht neben mir sitzen.«
»O doch, ich weiß die Gesellschaft zu schätzen. Wenn ich allein hier sitze, bin ich der komische alte Kauz, der allein in einen Kinderfilm geht.«
Sie lachte. »Stimmt. Lässt er dich oft im Stich?«
»Ab und zu. Aber ich gewöhne mich langsam daran. Ich wusste natürlich, dass das irgendwann passieren würde. Ich dachte nur, es kommt erst später.«
Sie standen auf, um eine Familie vorbeizulassen. Langsam füllte sich der Saal.
Reggie schaute sich um. »Sie haben renoviert. Die Sitze sind neu.«
»Warte nur, bis du das Soundsystem hörst. Das ist auch ausgetauscht worden.«
»Auch wenn ich guten Sound zu schätzen weiß, gefällt mir an Wishing Tree so gut, dass alles irgendwie gleich bleibt. Ich mag die Traditionen und dass ich mich auf gewisse Dinge verlassen kann, wenn ich nach Hause komme.«
»Kommst du oft her?«, fragte er.
Sie zog die Nase kraus. »Ja. Auch wenn mein aktuelles Verhalten nicht darauf schließen lässt. Ich war über ein Jahr nicht hier.«
»Warum?«
»Wegen der Sache mit Jake.«
Stimmt ja. Weil Jake ihr das Herz gebrochen hatte.
»Ich dachte, dass es viel Gerede gibt, und damit konnte ich nicht umgehen«, gestand sie. »Ironischerweise hat niemand ein Wort gesagt. Abgesehen von meiner Mutter natürlich.«
»Soll ich über ihn reden, damit du dich besser fühlst?«
Sie lachte. »Das ist sehr süß von dir, aber danke, nein. Mir geht es gut. Ich wünschte nur, ich wäre schon eher gekommen. Normalerweise komme ich mehrmals im Jahr zurück, um meine Eltern und Dena zu sehen. Sie haben mich zwar besucht, aber das war nicht das Gleiche.«
»Du hast sozusagen das Eis gebrochen, also hast du jetzt keine Entschuldigung mehr, nicht mehr nach Hause zu kommen.«
»Stimmt. Ich habe übrigens ein wenig Zeit mit Shaye verbracht«, fügte sie an. »Ich mag sie sehr.«
»Ich auch. Als Verkäuferin im Laden ist sie großartig, und im kommenden Jahr will sie aufs College. Wenn sie da so gut ist, wie ich vermute, werde ich ihr ein paar der Marketingaufgaben übertragen.«
Er hielt inne, weil er sich nicht erklären konnte, warum er ihr das erzählte, denn bisher hatte er noch mit niemandem über diesen Plan gesprochen.
»Das wird sie bestimmt freuen.« Reggie tätschelte seinen Arm. »Keine Sorge, ich erzähle es nicht weiter.«
Und das glaubte er ihr. Reggie war immer gut darin gewesen, Geheimnisse für sich zu behalten. Sie hatte viele schlimme Dinge zwischen ihm und seinem Vater gesehen, aber nichts davon jemals erwähnt. Das einzige Mal, als sie darüber sprachen, war er es, der das Thema angeschnitten hatte.
»Du warst eine gute Freundin.«
Sie zog die Augenbrauen in die Höhe. »Das kam unerwartet, aber danke. Du warst auch ein guter Freund.«
Bis aufs Ende, dachte er. Nicht dass er sie auf die Weise hintergangen hatte, wie sie lange geglaubt hatte, aber dennoch hatte er ihr das Herz gebrochen. Und sie dann seins. Wie anders wären ihre Leben verlaufen, wenn sie sich hätten hinsetzen können, um über das zu reden, was vorgefallen war? Er hätte ihr gesagt, warum er die Stadt verlassen musste. Sie war immer noch auf der Highschool gewesen, also hätte sie nicht mit ihm gehen können, aber sie wären vielleicht in Kontakt geblieben. Wenn er gewusst hätte, dass Reggie auf ihn wartete, wäre dann alles anders gekommen?
Die Lichter wurden gedimmt, und die Vorschauen starteten. Der Saal war voll, und der Geräuschpegel um sie herum blieb auch während des ersten Trailers hoch. Reggie packte die Mäntel, die zwischen ihnen auf dem Sitz lagen, auf ihre andere Seite und setzte sich neben Toby. Ohne zu überlegen, was er da tat, klappte er automatisch die Armlehne hoch. Reggie rückte noch ein Stück näher an ihn heran, und er legte einen Arm um ihre Schultern.
Auch wenn sie beide sich inzwischen verändert hatten, dachte er: So war es vor all den Jahren. Einfach nur er und Reggie. Sie hatten so viele erste Male miteinander geteilt.
Aber es hielt nicht, und jetzt waren sie andere Menschen. Doch für den Moment war es schön, so zu tun, als hätte sich nichts geändert.
Reggie musterte den Schnitt des roten Kleids. Etwas für eine Dänische Dogge – oder überhaupt einen Hund – zu entwerfen war eine Herausforderung. Bisher hatte Reggie nur Erfahrungen mit Belle. Sie wollte etwas Schickes, aber Einfaches und hatte sich deshalb gegen Ärmel entschieden. Belle würde das Blumenmädchen bei der Hochzeit sein, und für Burt hatte ihre Mutter bereits ein kleines Smokingjackett gekauft.
»Mit der Spitze bin ich mir nicht sicher«, murmelte sie und hielt sie an den Ausschnitt des Kleids.
Belle saß geduldig da und wartete darauf, dass Reggie fertig wurde.
»Du bist ein gutes Mädchen«, lobte Reggie sie. »Danke, dass du meine Unentschlossenheit so tapfer erträgst. Irgendwie kann ich mich heute nicht konzentrieren.«
In der Nacht zuvor hatte sie auch kaum geschlafen, und beides war vermutlich Tobys Schuld.
Der Abend war schön gewesen. Im Kino, mit seinem Arm um sie, hatte sie daran denken müssen, wie es all die Jahre zuvor gewesen war. Nach dem Kino waren sie mit Harrison zusammen essen gegangen und hatten dabei viel gelacht. Sie genoss seine und Harrisons Gesellschaft, und den Rest der Nacht hatte sie damit zugebracht, sich zu wünschen, dass er sie geküsst hätte, und sich vorzustellen, was dann weiter passiert wäre.
Es war wirklich seltsam: Jahrelang hatte sie nicht an ihn gedacht, und jetzt konnte sie nicht damit aufhören. Sie wollte mehr Zeit mit dem erwachsenen Toby verbringen. Alles, was sie bisher gesehen hatte – wie er mit Harrison war, wie er während der Strickstunden mit allen anderen umging –, sagte ihr, dass er immer noch jemand war, den sie sehr mögen könnte.
»Verwicklungen«, murmelte sie und ließ die Spitze auf den Boden fallen, bevor sie Belle das Kleid auszog.
»Danke, dass du mir geholfen hast«, sagte sie zu ihrer Hündin. »Ich mache später damit weiter, wenn ich wieder in der Lage bin, Entscheidungen zu treffen.«
Belle rückte näher an sie heran, und Reggie schlang die Arme um sie.
»Du bist ein gutes Mädchen«, flüsterte sie. »Meine Beste.«
Burt beobachtete das alles aus sicherer Entfernung. Seitdem Belle ihn angeknurrt hatte, behandelte er die Dogge mit mehr Respekt.
»Siehst du, was passiert, wenn du dich gegen einen Rüpel wehrst?«, fragte Reggie. »Wenn jemand dich schlecht behandelt, musst du mutig sein und für dich einstehen.«
Sie hatte noch weitere wichtige Lektionen, die sie mit ihrer Hündin teilen könnte, wurde aber von dem Geräusch von Schritten auf der Kellertreppe unterbrochen.
»Reggie, Liebes, du hast Besuch«, sagte ihre Mutter und blieb stehen, um demjenigen, der hinter ihr ging, zu bedeuten, weiterzugehen.
Reggie rappelte sich auf, erstaunt, Toby zu sehen. Ihr Herz machte einen kleinen Satz, und mit einem Mal wusste sie nicht mehr, was sie mit ihren Händen anfangen sollte.
»Ich lasse euch zwei dann mal allein«, sagte ihre Mutter und ging die Treppe wieder hinauf.
»Danke, Mom!«, rief Reggie ihr nach, bevor sie sich an Toby wandte. »Sie muss sich endlich ein eigenes Leben zulegen.«
Toby lächelte nicht über ihren Versuch, humorvoll zu sein. Erst da fiel ihr auf, dass seine Schultern ganz angespannt waren und er sie nicht anschaute.
Belle beschnüffelte ihn kurz und zog sich dann auf ihr Kissen zurück.
»Was ist los?«, fragte Reggie, als Toby weiterhin nichts sagte. »Geht es Harrison gut?«
»Ja. Er ist in der Schule. Wieso fragst du?«
»Du bist wegen irgendetwas aufgebracht.«
Er musterte sie mit unlesbarem Blick. »Ich bin nicht aufgebracht. So was sind Männer nicht.«
»Aber irgendetwas ist los. Hat es was mit Judy zu tun?«
»Es geht allen gut. Deshalb bin ich nicht hier.«
Da war ein Unterton in seiner Stimme, der sie warnte, dass sie sich auf Terrain begaben, das ihr nicht gefallen würde. Sie konnte das Gefühl nicht beschreiben, nur dass sie damals Toby genauso gut gekannt hatte wie ihre eigene Familie. Sie hatte seine Stimmungen lesen können, bevor er sich ihrer selbst bewusst gewesen war, und im Moment wusste sie, dass er etwas sagen würde, das ihr unangenehm wäre.
Sie zeigte aufs Sofa. »Möchtest du dich setzen?«
»Ich bleibe lieber stehen.« Er sah sie an. »Ich werde nicht heiraten.«
Was?
»Was?«
Nicht heiraten . Das war nicht nur eine unerwartete Aussage, sie ergab auch überhaupt keinen Sinn. Reggie wollte mit etwas ähnlich Seltsamem antworten, wie Fische fahren kein Fahrrad , nur fürchtete sie, dass das hier gerade kein Moment für Witze war und …
Mit einem Mal klickte es, und sie spürte sowohl Gereiztheit als auch Scham in sich aufsteigen. »Du hältst es offensichtlich für notwendig, mich davor zu warnen, dass du und ich niemals heiraten werden.«
Sein Blick fing ihren auf, doch er schwieg.
Diese Arroganz, dachte Reggie, während ihre Gereiztheit wuchs. Es waren ein paar Stunden im Kino gewesen, gefolgt von einem Dinner. Nichts war passiert. Ihr Wunsch, dass er sie küssen möge, hatte nichts hiermit zu tun. Sie hatte ihm keinerlei Hinweise darauf gegeben, also wusste er nicht, was sie gedacht hatte. Zu seinem Glück war diese Kusssache mit einem Mal wesentlich weniger ansprechend als vorher.
»Da ich mich nicht erinnern kann, etwas in der Art vorgeschlagen zu haben«, fuhr sie fort, »kann ich nur annehmen, dass du davon ausgehst, dass ein einziger Abend in deiner Gesellschaft so überwältigend ist, dass Frauen dich automatisch heiraten wollen. Es war bestimmt nicht leicht, damit zu leben. Zum Glück scheine ich dagegen immun zu sein.«
»Reggie, ich kann das nicht. Nicht, während Harrison noch so jung ist. Das Risiko kann ich nicht eingehen.«
»Gut. Dann ist jetzt ja alles klar. Ich hasse es allerdings, den Ring zurückgeben zu müssen. Oh, warte. Wir sind ja gar nicht verlobt.« Sie schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Ich Dummerchen.«
»Sei ernst.«
»Warum? Das ist einfach lächerlich. Du willst nicht heiraten? Wer redet davon? Wer denkt das? Glaubst du wirklich, ich habe mein Leben damit verbracht, dir nachzutrauern? Das habe ich nicht. Ich habe seit Jahren nicht mehr an dich gedacht.«
Er sah sie an. »Gestern Abend war anders.«
»Wir sind ins Kino gegangen. Ui, große Sache.«
»Es war mehr als das.«
War es das? Hatte er es auch gefühlt? Doch das konnte sie nicht fragen, weil er sich gerade wie ein Idiot benahm – oder in den Wahnsinn abrutschte.
»Zwischen uns herrscht eine gewisse Chemie«, fuhr er fort. »Die ist immer noch da. Aber du bist nicht der Typ für lockeren Sex, und etwas anderes gibt es mit mir nicht.«
Reggie nahm sich eine Sekunde, um das alles zu verdauen. Ja, ein Idiot .
»Wow«, sagte sie und ließ den Ärger raus. »Nur, um das kurz zusammenzufassen: Du hast angenommen, dass ich dich heiraten will, und du wolltest mir klarmachen, dass das niemals passiert. Jetzt sagst du mir, wie ich Sex sehe. Du brauchst mich für diese Unterhaltung eigentlich gar nicht, oder? Was stimmt nicht mit dir? Das ist eine ernsthafte Frage, denn du hast das hier in der Sekunde vermasselt, in der du den Mund aufgemacht hast. Ich schlage vor, du gehst jetzt nach Hause und findest heraus, wie du deinen Kopf aus deinem Hintern kriegst. Sobald dir das gelungen ist, wirst du dich schätzungsweise wie ein erstklassiger Trottel fühlen, was gut ist, denn genau das bist du.«
Sie zeigte zur Treppe. »Geh.«
»Reggie, wir müssen reden.«
»Nein, müssen wir nicht. Verschwinde. Das meine ich ernst. Geh.«
Er nickte und ging die Treppe hinauf. Reggie ließ sich aufs Sofa fallen. Sie hatte keine Ahnung, was da gerade passiert war. Wo war das alles hergekommen, und warum hatte er das Gefühl gehabt, das auf ihr abladen zu müssen?
Sie schaute Belle an. »Lass dich bloß nie auf einen Kerl ein. Das meine ich ernst. Die bedeuten nur Probleme.«
Wut brodelte in ihr, zusammen mit einem Anflug von Traurigkeit. So viel dazu, dass er noch der gleiche Mann war, den sie einst gekannt hatte. Wenn das hier der wahre erwachsene Toby war, wollte sie nichts mit ihm zu tun haben.
»Du bist grundlos schwierig«, sagte Electra und zog einen Schmollmund.
Micah wandte den Blick vom Computer ab und wünschte, er hätte sich nicht auf den Videoanruf eingelassen. Er hatte gewusst, worüber sie reden wollte, und war fälschlicherweise davon ausgegangen, dass er ihre Meinung ändern konnte.
»Ich bin nicht daran interessiert, mit dir wegzufahren«, sagte er ausdruckslos. »Ich werde nicht mit dir schreiben, und ich werde auch nicht nach L. A. zurückkommen.«
Sie warf sich die langen roten Haare über die Schulter. »Warum bist du so? Du weißt, dass wir gut zusammen schreiben. Warum versuchst du, dich vor dem Unvermeidlichen zu drücken?«
»Es gibt nichts Unvermeidliches. Electra, sieh mich an. Nein. Ich sage Nein.«
Sie verengte ihre grünen Augen. »Du brauchst mich, Micah. Alleine kannst du nicht schreiben. Denn wenn du es könntest, hätte ich davon gehört. Ich könnte deine Inspiration sein.«
»Das bezweifle ich.«
»Du versuchst es ja nicht einmal.«
»Ich muss jetzt los«, sagte er in dem Moment, in dem jemand an seine Tür klopfte.
»Micah, warte. Ich muss dir was sagen.«
»Herein!«, rief er, auch wenn er nicht wusste, wer auf der anderen Seite der Tür stand. Aber das war ihm egal, denn jede Ablenkung war ihm willkommen.
Er musterte das perfekte Gesicht seiner Ex-Frau. Sie war schön – das musste er ihr lassen –, aber nichts an ihr zog ihn noch an.
»Oh, Entschuldigung. Ich wusste nicht, dass Sie beschäftigt sind.«
Die leisen Worte ließen ihn herumwirbeln. Er sah Dena, die sich gerade wieder aus seiner Suite zurückziehen wollte, stand halb auf und winkte sie zu sich.
»Nein, gehen Sie nicht. Ich bin hier fertig.«
»Wage es ja nicht, einfach aufzulegen«, warnte Electra ihn.
Micah lächelte. »Ich muss wirklich los.«
Damit beendete er den Videoanruf und schaute Dena an.
»Tut mir leid.«
Sie wirkte überrascht. »Ihre, äh, Freundin?«
»Nein. Meine Ex-Frau.«
»Oh. Sie ist umwerfend.«
»Ja, aber das Innere passt nicht zum Äußeren.«
Dena wirkte immer noch so, als wollte sie flüchten, aber Micah wollte nicht, dass sie ging. Deshalb klappte er den Laptop zu und ging auf sie zu. »Was ist los?«
»Ich, äh … Oh, es schneit. Ich weiß nicht, ob es so bleibt, aber da draußen fällt echter Schnee. Ich dachte, das wollten Sie vielleicht sehen …« Ihre Stimme verebbte. »Das ist hier eine große Sache. Also der erste Schneefall.«
»Davon habe ich gehört.«
»Es muss für volle fünfzehn Minuten schneien. Ich fürchte allerdings, es wird gleich regnen.« Sie schaute kurz zu Boden, dann wieder zu ihm. »Ich hätte Sie nicht stören sollen.«
»Sie stören nie. Ich hole schnell meinen Mantel, dann können wir uns den Schnee gemeinsam ansehen.«
Dena schaute zu seinem Laptop. »Sie beide stehen noch in Kontakt?«
»Nicht wirklich. Wir haben früher zusammen Songs geschrieben, was nach der Scheidung irgendwie seltsam war. Wir haben geheiratet, weil wir noch Kinder waren und dachten, dass Erwachsene das tun. Aber es war von Anfang an ein Fehler. Wir waren nie wirklich ineinander verliebt.«
Er zog seinen Mantel und Handschuhe an. »Sie will, dass wir wieder zusammen schreiben.«
»Und was wollen Sie?«
»Nicht mit ihr schreiben. Damals war alles anders. Aber heutzutage möchte ich etwas Substanzielleres, als sie mir bieten kann.«
Sie lächelte. »Ich verstehe zwar die Worte, aber nicht ihre Bedeutung. Ich habe so gar nichts von einer Künstlerin in mir.«
»Sie sind etwas viel Besseres«, versicherte er ihr und öffnete die Tür. »Sie sind Lehrerin.«
»Viele Menschen sind Lehrer.«
»Aber nur die besten.«
Sie gingen hinaus. Der Schnee fiel immer noch, doch Micah spürte keine Kälte. Nicht dass er etwas über Schnee wusste, außer dass er sich in den Wolken oder im Himmel bildete, also war die Temperatur da oben vielleicht wichtiger als die hier unten.
»Schreibt sie immer noch?«, wollte Dena wissen.
»Nein. Electra ist nicht am Songschreiben als Kunst interessiert. Sie möchte wieder Fuß im Musikgeschäft fassen. Sie möchte wichtig sein und sieht mich als ihren Weg, das zu schaffen. Nun, wo Adriana fort ist, hat sie es wieder auf mich abgesehen.«
»Während Sie verheiratet waren, wollte sie nicht mit Ihnen schreiben?«
»Doch, aber Adriana war dagegen. Sie hat Electra nicht vertraut.«
Dena überraschte ihn mit einem Lächeln. »Ich glaube, ich hätte Adriana sehr gemocht.«
Er lachte. »Und sie hätte Sie gemocht.«
Er nahm ihre behandschuhte Hand und zog sie daran in den Schneefall hinaus. Die Flocken waren leicht und klein. Er schaute zum Himmel.
»Müssen wir jetzt irgendetwas tun? Uns dreimal im Kreis drehen oder summen?«
»Wir warten.«
»Im Warten bin ich nicht sonderlich gut«, gestand er.
»Atmen Sie einfach und genießen Sie den Moment. Schnee kann magisch sein.«
Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Winzige Schneeflocken landeten auf ihrem Gesicht und schmolzen. Micah betrachtete sie. Sie hat etwas an sich, dachte er. Etwas Unerwartetes und Anziehendes und …
Aus einem Impuls heraus beugte er sich vor und strich kurz mit seinem Mund über ihre Lippen. Sie riss die Augen auf und starrte ihn an.
»Sie haben mich geküsst.«
»Das habe ich.«
Er trat einen Schritt näher und küsste sie wieder, wobei er sich dieses Mal Zeit ließ. Ihr Mund war so weich. Verlangen regte sich in ihm, aber noch wichtiger war das Gefühl, dass er sie mochte. Sie war ein guter Mensch, der ihn zum Lachen brachte, und wenn er mit ihr zusammen war, fühlte er sich im Frieden mit der Welt.
Langsam zog er seine Handschuhe aus und steckte sie in die Manteltaschen. Dann legte er seine Hände an Denas Wangen und küsste sie noch einmal. Ihre Lippen öffneten sich in einer uralten Einladung. Er vertiefte den Kuss, schmeckte sie und …
Kalter Regen prasselte auf sie herab. Dena schrie auf und zog ihn zurück in Richtung Kutschenhaus. Er folgte ihr und duckte sich unter das Vordach.
So geschützt vor den Elementen, schauten sie einander an. Er hatte keine Ahnung, was Dena dachte, doch soweit es ihn betraf, hatte der Tag gerade eine sehr schöne Wendung genommen.
Er überlegte, was er jetzt tun sollte. Sie zu sich einladen, um da weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten, kam ihm wie die offensichtlichste Option vor. Wobei er sie nicht in Richtung Bett drängen würde. Dafür war es noch zu früh, und er ahnte, dass sie noch nicht dazu bereit wäre. Aber er mochte den Gedanken, dass er irgendwann mit ihr dort landen wollte.
Ihre großen braunen Augen schienen jeden Zentimeter seines Gesichts zu erfassen, als versuche sie, seine Gedanken zu lesen. Er lächelte.
»Geht es dir gut?«, fragte er.
Sie nickte. »Du und Electra, ihr seid nicht … äh, du weißt schon?«
»Nein, sind wir nicht. Darauf gebe ich dir mein Wort.«
»Okay. Dann sollte ich dich vermutlich weiterarbeiten lassen.« Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln, bevor sie davoneilte.
Micah sah ihr nach. Sie ist wirklich umwerfend, dachte er. Dann ging er hinein. Nachdem er seinen Mantel ausgezogen und aufgehängt hatte, griff er nach seiner Gitarre.
Noch bevor er sich aufs Sofa setzen konnte, hörte er die Worte in seinem Kopf. Aber dann fiel der Schnee. Du warst da, mit Schneeflocken im Haar. Du warst da, meinem Herzen so nah. Als der Schnee fiel, fiel auch ich.
Er unterbrach sein Spiel nur kurz, um den Rekorder auf seinem Handy anzuschalten. Dann fing er noch einmal von vorne an.