Reggie ermahnte sich, wegen des Dinners mit Toby nicht zu aufgeregt zu sein – was nicht so leicht war angesichts dessen, dass sie den ganzen Tag über an ihn gedacht hatte. Schlimmer noch, den Großteil der nachmittäglichen Strickstunde hatten sie damit zugebracht, einander anzusehen und zu lächeln. Es war wieder wie früher auf der Highschool.
Was Teil des Problems ist, dachte sie, während sie auf dem Weg ins Buon Natale – das unglaublich gute italienische Restaurant in der Stadt – die Straße überquerte. Highschool . Es gab zu viele gute Erinnerungen, zu viele Gewohnheiten und Muster, in die sie zurückfallen konnte. Sie durfte nicht vergessen, dass der erwachsene Toby anders war. Sicher, sein Charakter war noch der gleiche, und sie fühlte sich definitiv von ihm angezogen, aber sie musste klug sein und durfte nicht vergessen, dass er keine ernsthafte Beziehung wollte. Mit niemandem. Das hier war nur ein Abendessen mit einem Freund, und wenn sie mehr daraus machte, sollte sie sich schämen.
»Ein Dinner kann ich«, murmelte sie und zog die Tür zum Restaurant auf. »Ich esse mehrmals am Tag. Darin bin ich gut.«
Ihre Überlegungen wurden unterbrochen, als ihr der Duft von Knoblauch und Basilikum sowie anderen köstlichen Zutaten in die Nase stieg. Sofort lief ihr das Wasser im Mund zusammen, und ihr Magen knurrte. Was sie daran erinnerte, dass sie nur wenig zu Mittag gegessen hatte – und das war auch schon Stunden her.
Die Einrichtung war schlicht mit dunklen Wänden und weißen Tischdecken. Klassische Musik schwebte leise durch den Raum und verstärkte den Eindruck von Eleganz und Herzlichkeit. Ins Buon Natale ging man, wenn man etwas zu feiern hatte, wie einen Geburtstag oder eine Beförderung. Hier wurden Speisen wie Risotto mit Hummer und Trüffeln oder gegrillter Seebarsch mit Karottenpüree serviert.
Doch all diese Gedanken schwanden, als sie Toby im Wartebereich sah. Anstelle der üblichen Jeans mit Flanellhemd trug er eine schwarze Stoffhose und ein dunkelblaues Hemd unter einer perfekt sitzenden Lederjacke. Er sah so gut aus, dass sie ihn als Hauptgericht verspeisen könnte, und der Hauch von Bad Boy machte ihn nur noch interessanter.
Kurz war sie dankbar dafür, dass sie sich heute besondere Mühe mit ihrem Äußeren gegeben hatte und ihre sexy Stiefel trug. Außerdem hatte sie sich ein wenig stärker geschminkt als sonst. Sein Lächeln verriet ihr, dass ihm ihr Anblick gefiel.
»Wir essen heute also richtig schick«, sagte sie im Näherkommen.
»Das ist das Mindeste, wenn jemand es so vermasselt hat wie ich«, erwiderte er und gab ihr einen leichten Kuss auf die Wange. »Du siehst umwerfend aus.«
»Danke. Du aber auch nicht schlecht.«
Die Hostess führte sie zu einem Tisch am Fenster. Als sie saßen, beugte Toby sich zu Reggie hinüber.
»Ich hätte dich abholen können«, sagte er. »Es ist eiskalt heute.«
»Du darfst mich nach Hause fahren. Außerdem ist es zu Fuß keine zehn Minuten hierher. Das Haus meiner Eltern liegt perfekt.«
Er lächelte. »Fühlst du dich immer noch gut, nachdem du jetzt schon so lange bei ihnen bist?«
»Ja. Ich weiß, dass mein kleines Häuschen in Seattle einsam ist, aber es wird sich wieder erholen. Belle genießt die ganze Aufmerksamkeit, und seitdem sie sich Burt in den Weg gestellt hat, hat sich zwischen ihnen so etwas wie eine Freundschaft entwickelt.« Sie hielt inne. »Okay, Freundschaft ist vielleicht zu viel gesagt, aber es ist definitiv ein Waffenstillstand. Ich hoffe, dass sie auch in anderen Bereichen ihres Lebens ein wenig selbstbewusster wird.«
»Belle wird für immer einen Platz in meinem Herzen haben.«
Weil sie Harrison beschützt hat, dachte Reggie.
Ihr Kellner trat an den Tisch und nahm ihre Getränkebestellungen auf. Toby hatte angedeutet, dass er zum Essen ein Glas Wein trinken würde, deshalb bestellte er jetzt erst einmal eine Cola. Reggie zögerte, nicht sicher, ob sie einen Cocktail trinken sollte.
»Bestell, was du willst«, sagte er. »Irgendetwas mit Schirmchen.«
Sie lachte und bestellte einen Cosmopolitan.
»Wie war dein Tag?«, fragte sie, als sie wieder allein waren.
»Ich musste mich mit mürrischen Touristen herumschlagen«, antwortete er. »Als ich zur Mittagspause nach unten kam, wurde Shaye gerade von diesem jungen Pärchen angeschrien, das extra gestern angereist ist, weil Schnee vorhergesagt worden war. Sie haben sich beschwert, dass die Stadt ihre Feier nicht abgehalten hat, obwohl es geschneit hat.«
»Aber nicht lang genug. Und warum haben sie deswegen Shaye angeschrien? Sie arbeitet im Pasteten-Laden.«
»Ich weiß. Das habe ich ihnen auch gesagt.« Er lächelte. »Was sie nur noch mehr aufgebracht hat. Sie sind dann rausgestapft und haben geschworen, nie wieder nach Wishing Tree zu kommen.«
»Es schneit, wenn es schneit«, sagte sie und dachte daran, das Dena vermutlich sehnsüchtig darauf wartete, in der Hoffnung, dass Micah sie wieder küssen würde. Auch wenn ihre Schwester darauf beharrte, dass er noch in seine verstorbene Frau verliebt war, hoffte Reggie, dass Micah es mit Dena ernst meinte.
»Worüber lächelst du?«, fragte Toby sie neckend. »Wenn es ein anderer Kerl ist, müssen wir darüber reden.«
Sie lachte. »Ich nehme an, technisch gesehen ist es ein anderer Kerl. Micah Ruiz.«
Er zog die Stirn kraus. »Der Sänger? Warum denkst du an ihn?«
»Er ist in der Stadt. Wusstest du das nicht? Er wohnt im B&B und flirtet mit meiner Schwester. Ich hoffe, dass es mehr ist als nur ein Flirt.«
»Dena und der Rockstar. Das gefällt mir.«
»Mir auch«, gab sie zu. »Ich freue mich, dass Dena ein Baby bekommt. Das wird für uns alle super. Aber ich wünschte, sie hätte die Liebe nicht so früh aufgegeben. Sie ist ein wundervoller Mensch und hat Liebe im Leben verdient.«
»Du bist eine gute Schwester.«
»Ich bemühe mich.« Sie sah ihn an. »Okay, genug davon. Was schenkst du Harrison zu Weihnachten?«
Während sie ihren Cocktail trank, unterhielten sie sich, dann bestellten sie ihr Essen. Toby war so interessant wie immer, und sie hatten noch den gleichen Humor. Gerade lachte sie über seine Beschreibungen von all den schiefgegangenen Geschmacksrichtungen seiner Pasteten, als sie spürte, dass sich jemand näherte. Sie drehte sich um, und das Lachen blieb ihr im Hals stecken, als sie Jake Crane an ihrem Tisch stehen sah.
»Hallo, Reggie.«
Tobys erste Reaktion war Genervtheit, gefolgt von dem heftigen Drang, Jake eine zu verpassen. Er und der andere Mann waren auf der Highschool Rivalen gewesen, was jetzt unwichtig war, aber sie hatten außerdem beide Reggie geliebt, was ihm mit einem Mal sehr wichtig erschien.
Er warf ihr einen Blick zu und versuchte zu ergründen, was sie dachte. Ihre weit aufgerissenen Augen machten eines deutlich: Offenbar hatte sie keine Ahnung gehabt, dass Jake wieder in Wishing Tree war. Geschweige denn im gleichen Restaurant.
»Jake«, sagte sie überrascht. »Hi.«
Jake lächelte sie an. »Als ich am Restaurant vorbeigegangen bin, habe ich dich gesehen und dachte, ich sage kurz Hallo. Es ist eine Weile her.«
»Das stimmt.«
»Ich bin über die Feiertage hier, um Weihnachten mit meiner Mom zu verbringen. Zu dieser Jahreszeit ist es für sie immer schwer, weil sie meinen Dad so sehr vermisst.« Er wandte sich Toby zu. »Newkirk.«
»Crane.«
Reggie schaute zwischen ihnen hin und her. »Ihr beide wisst aber schon, dass ihr jeder einen Vornamen habt, oder?«
Toby behielt den Blick auf Jake gerichtet. »Das ist so ein Männerding.«
Jake sah wieder Reggie an. »Ich lasse euch dann mal weiteressen. Es ist … schön, dich zu sehen.«
Schön, sie zu sehen? Was zum Teufel bedeutete das? Toby konnte nur spekulieren, und die Antwort gefiel ihm kein bisschen. Jake hatte Reggie einen Antrag gemacht und sie dann fallen lassen. Und das alles innerhalb von achtundvierzig Stunden. Kerle, die so etwas taten, durften nicht sagen, dass es schön war, sie zu sehen. Sie sollten sich in irgendeiner Höhle verkriechen und nie wieder herauskommen. Oder zumindest sollten sie sich von Wishing Tree fernhalten und keine romantischen Dinner stören.
Jake nickte ihnen beiden zu, bevor er sich umdrehte und ging. Reggie sah ihm nach, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Toby.
»Das war seltsam. Keiner hat mir erzählt, dass er zurück ist. Ich werde mal mit Paisley reden müssen, um herauszufinden, ob sie in ihrer Rolle als Quelle allen Klatsches im Ort versagt oder ob sie Angst hatte, es mir zu erzählen.«
Ihre Stimme klang eher fragend als besorgt, und wenn er raten müsste, hätte er gesagt, dass sie zwar überrascht war, Jake zu sehen, aber nicht überwältigt. Trotzdem, sie hatte mal eingewilligt, ihn zu heiraten und den Rest ihres Lebens mit ihm zu verbringen, also musste sie irgendetwas fühlen.
»Geht es dir gut?«, fragte er, immer noch irritiert, aber entschlossen, es nicht zu zeigen.
»Ja, prima.« Sie lächelte ihn an. »Außerdem bin ich bereit, das Thema zu wechseln.«
»Du musst doch irgendetwas empfinden, nachdem du ihn ein Jahr nicht gesehen hast.«
Sie schien zu überlegen. »Vermutlich. Es war seltsam und unerwartet.«
»Du wolltest ihn heiraten.«
»Ja, das wollte ich. Und dann haben wir uns getrennt.« Sie musterte ihn. »Toby, worauf willst du hinaus? Es tut mir leid, dass er unseren Abend gestört hat, aber davon abgesehen, warum sollte Jakes Auftauchen hier irgendeine Bedeutung für dich haben? Auch wenn ich viel Spaß mit dir habe, hast du sehr deutlich gemacht, dass du nicht daran interessiert bist, eine Beziehung mit mir einzugehen. Also was auch immer ich über meinen Ex-Verlobten denke oder nicht, sollte dich nicht interessieren.«
Ein guter Punkt, wie er eingestand. Es sollte ihm vollkommen egal sein. Doch das war es nicht, und das, was gerade passiert war, gefiel ihm gar nicht.
»Du hast recht«, lenkte er ein. »Wir sollten das Thema wechseln.«
Sie schauten einander an, und er versuchte, sich zu entspannen.
»Ich denke, die Seahawks haben eine gute Chance, die Playoffs zu erreichen.«
Sie grinste. »Im Zweifel über Sport reden?«
»Das ist immer ein gutes Thema.«
»Du bist so ein typischer Mann.«
»Das bin ich.«
Der Rest des Abends verlief glatt. Sie nahmen eine normale Unterhaltung auf, und Toby gelang es beinahe zu vergessen, dass Jake überhaupt aufgetaucht war. Nachdem er die Rechnung bezahlt hatte, begleitete er Reggie zu seinem Wagen und fuhr sie nach Hause. Dort stieg er aus und ging um das Auto herum, um ihr die Tür aufzuhalten, nahm dann ihre Hand und geleitete sie zur Haustür.
»Danke fürs Essen«, sagte Reggie, die in der Kälte leicht zitterte. »Ich hatte sehr viel Spaß.«
»Ich auch.«
Eine Sekunde lang schauten sie einander an. Er beugte sich für einen kurzen Abschiedskuss vor, doch in der Sekunde, in der seine Lippen die ihren streiften, veränderte sich alles.
Verlangen explodierte in ihm und jagte Hitzewellen durch seinen Körper. Er zog Reggie an sich, musste sie spüren. Ihre Arme legten sich um seinen Hals, als würde auch sie von diesem Moment mitgerissen. Der Kuss wurde hungriger, intimer, während ihre Zungen einander umtanzten.
Die Vergangenheit und die Gegenwart verschwammen miteinander, und er erinnerte sich daran, dass Reggie zu küssen immer der beste Teil seines Tages gewesen war. Er wollte sie berühren und von ihr berührt werden, wollte, dass sie einander langsam erkundeten und sich gegenseitig vor Lust in den Wahnsinn trieben.
Die Begierde wuchs, bis sie zu einer Kraft wurde, die stärker war als alles, woran er sich erinnerte. Nur eisenharte Selbstkontrolle hielt ihn davon zurück, sich an den Knöpfen ihres Mantels zu schaffen zu machen und ihre Kurven gleich hier auf der Veranda ihres Elternhauses zu erforschen.
Verzweifelt nach Halt suchend, zog er sich zurück. Sein Atem ging schwer, seine Erektion drängte schmerzhaft gegen seine Hose. Reggie sah so verblüfft aus, wie er sich fühlte. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen vor Überraschung ganz groß. Zitternd atmete sie ein.
»Also«, murmelte sie. »Die Chemie ist noch da.«
»Ja, das ist sie.«
»Was für eine unerwartete Wendung der Ereignisse.«
»Wem sagst du das.«
Sie lächelte. »Okay. Äh, danke für einen wirklich schönen Abend.«
Er nickte und sah zu, wie sie im Haus verschwand. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, atmete er tief die kalte Luft ein und wartete darauf, dass sein Körper sich beruhigte. Doch fünf Minuten später war er immer noch genauso erregt. Mit einem schweren Seufzer ging er zu seinem Wagen, ahnend, dass es eine sehr lange Nacht würde.
Eine saubere Planung aufstellen zu können war eine ihrer besten Qualitäten, das wusste Dena. Sie sorgte für ein organisiertes Leben und erlaubte ihr, ihre Tage möglichst stressfrei durchzustehen. Sie war beinahe immer vorbereitet, und das gefiel ihr. Wenn es in ihrem Leben Probleme gab, durchdachte sie sie und entwickelte einen Plan. Was erklärte, warum sie nun vor Micahs Suite stand, bereit, ihm zu sagen, dass sie eine Lösung gefunden hatte.
Nicht, dass sie den Kuss wirklich als Problem bezeichnen würde. Er war mehr ein … Thema. Eine Komplikation. Und dieser würde sie sich direkt stellen, denn so war sie nun mal. Also meistens.
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf klopfte sie und trat dann einen Schritt zurück. Sekunden später ging die Tür auf. Micah lächelte, als er sie sah.
»Dena, hi.«
Ihn wiederzusehen, noch dazu mit diesem unglaublich sexy Lächeln, war erregender, als sie erwartet hatte. Sie ballte kurz die Hände zu Fäusten und spürte dann, dass sie das Lächeln instinktiv erwiderte.
Er trat beiseite, um sie hereinzubitten.
»Ich habe an dich gedacht«, sagte er und nahm ihr den Mantel ab. »Kommst du gerade aus der Schule?«
»Ja.«
Er nahm ihre Hand und führte sie zum Sofa. Seine Finger waren warm, als er sie neben sich zog. Sie wollte näher an ihn heranrücken, wollte, dass er seine Arme um sie schlang und …
Ahhh! Sie rutschte ein Stück zur Seite. Nein! Sie hatte eine Mission. Sie hatte einen Plan.
»Wir müssen über den Kuss reden«, sagte sie.
Sein Lächeln kehrte zurück und war noch sexyer als vorher, was sie nicht für möglich gehalten hätte.
»Ich würde sehr gern über den Kuss reden«, erwiderte er und nahm ihre Hand in seine. Dann fing er an, mit dem Daumen über ihren Handrücken zu streichen. Sofort schossen Blitze durch ihren Körper, direkt in ihre Mitte.
Aufzugeben scheint mir die einfachste Lösung, dachte sie und schwankte ein wenig. Ihm widerstehen zu wollen war sinnlos. Dieser Mann war …
Der Plan, ermahnte sie sich. Es ging hier um den Plan.
»Wir können nicht«, sagte sie sowohl zu ihm als auch zu sich selbst und entzog ihre Hand seiner faszinierenden Berührung. »Küssen. Wir können uns nicht noch mal küssen.«
Sein Lächeln schwand. »Wieso nicht?«
»Du bist noch nicht bereit. Auf gewisse Weise erholst du dich immer noch von deinem Unfall. Noch wichtiger, du kämpfst mit dem Verlust von Adriana. Sie war deine eine wahre Liebe, und das verändert die Dinge. Du musst den Schmerz willkommen heißen, den du fühlst. Ich denke, deshalb kannst du nicht schreiben, aber das musst du, Micah. Ich weiß, dass es dir fehlt. Ich möchte dir gern helfen.«
Er runzelte die Stirn. »Du triffst ganz schön viele Annahmen.«
»Ich weiß, aber ich liege nicht falsch. Das ist im Moment keine gute Zeit für Küsse.«
»Also, mir kam es wie der perfekte Moment vor.«
Sie ignorierte ihn. »Wir sind Freunde. Lass uns das bleiben. Wir verstehen uns gut und haben Spaß miteinander. Es ist wichtig, Menschen in deinem Leben zu haben, vor allem während der Feiertage. Das hätte ich gern.«
Sein Blick war stetig. »Mich als Freund?«
»Ja. Das ist das Sinnvollste.«
Er erhob sich und zog sie auf die Füße. »Weißt du was? Du solltest gehen, denn ich hatte gerade eine großartige Idee für einen Song, den ich schreiben will.«
Sie erstrahlte. »Wirklich?«
»Ja. Und du bist die Inspiration.«
Sie presste die Hände zusammen und versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen. »Ich fasse es nicht. Ich habe dich inspiriert?«
Er hielt ihr den Mantel hin. »Das hast du. Der Song wird heißen: ›Die verrückten Frauen, die ich kannte‹.«
Ihre Glücksblase platzte. »Du machst dich über mich lustig.«
»Ja, und das hast du verdient.« Er umfasste ihre Oberarme, beugte sich vor und strich mit den Lippen über ihren Mund. »Du bist nicht diejenige, die entscheidet, wann ich bereit bin, jemanden zu küssen, Dena. Nur, damit wir uns da verstehen.«
Bevor sie noch begreifen konnte, was er da sagte, fand sie sich auch schon draußen in der Kälte wieder, und die Tür zu seiner Suite fiel vor ihrer Nase zu. Einen Moment blieb sie reglos stehen, nicht sicher, was gerade passiert war. Das Einzige, was sie mit Sicherheit wusste, war, dass sie einen anderen Plan brauchte.
»Ich bin schwer enttäuscht von dir«, sagte Reggie lachend, während sie vor dem Gemeindezentrum in ihrem Auto saß. Sie nahm das Handy ans andere Ohr.
»Ich weiß. Ich schäme mich so, weil ich nicht gewusst habe, dass Jake wieder in der Stadt ist.« In Paisleys Stimme schwang Humor mit. »Normalerweise kenne ich allen örtlichen Klatsch. Mein Netzwerk hat mich im Stich gelassen, und ich verspreche, dass ich mit allen ein ernstes Wörtchen reden werde.« Sie hielt inne. »Aber mal ernst. Geht es dir gut?«
Reggie dachte einen Moment nach. »Ihn wiederzusehen war seltsam und überraschend. Und dass ich ihn ausgerechnet bei einem Dinner mit Toby wiedergesehen habe, hat es mir fast unmöglich gemacht zu kapieren, was da passiert. Ich empfinde aber kein Bedauern, falls du das wissen wolltest. Ich bin wirklich über ihn hinweg.«
Selbst wenn sie das bis zu dem Zeitpunkt nicht gewesen wäre – die Leidenschaft, die sie während des kurzen Kusses mit Toby verspürt hatte, hätte sie ganz schnell über Jake hinwegkommen lassen.
»Ich schätze, er könnte wirklich wegen seiner Mutter in der Stadt sein«, überlegte Paisley laut. »Sie haben sich immer nahegestanden, und mit dem Verlust seines Dads … Aber es kommt mir ein wenig früh vor für die Feiertage. Ich frage mich, ob im Resort irgendetwas vor sich geht. Ich werde mich mal umhören.«
»Aber nicht meinetwegen. Ich muss nichts über Jake wissen.«
»Ich frage für mich. Jobsicherheit und so. Also, wie war euer Date?«
Reggie lächelte. »Es war kein Date. Wir sind nur zusammen essen gegangen.«
»Hat er dich geküsst?«
Das Lächeln wurde breiter, als ihr Körper sich an den unglaublichen Kuss erinnerte.
»Vielleicht.«
Paisley lachte. »Dann war es definitiv ein Date, und ich will Einzelheiten wissen. Aber nicht jetzt, weil ich in zwei Minuten ein Meeting habe. Wir treffen und bald, okay?«
»Okay. Bye.«
Reggie ließ das Handy in ihre Handtasche fallen, stieg aus und ging aufs Gemeindezentrum zu. Auch wenn sie gern behaupten würde, dass der gestrige Abend keine große Sache gewesen war, Paisley hatte recht – der Kuss veränderte alles.
Immer noch lächelnd schob sie einen Wagen zum Materialschrank und belud ihn mit allem, was sie für die Strickstunde benötigten. Der Stapel an Kartons mit fertigen Mützen wuchs täglich. In ein paar Wochen, wenn sie die Mützen ausliefern würden, hätten sie einen ganzen Lieferwagen voll.
Als sie in ihrem Raum ankam, sah sie, dass einige Eltern bereits mit dem Aufbau angefangen hatten, was nicht ungewöhnlich war. Allerdings war Micah ebenfalls dort, und das überraschte sie dann schon. Er stand mit seinem Gitarrenkoffer in der Hand mitten im Raum und wirkte etwas verloren. Als er sie sah, kam er zu ihr.
»Ich bin fürs Entertainment hier«, sagte er und lächelte so umwerfend, dass sie beinahe gestolpert wäre. Wie um alles in der Welt schaffte Dena es, nicht jedes Mal in Ohnmacht zu fallen, wenn sie ihn sah?
»Ah. Hi.« Sie sah erst seinen Gitarrenkoffer, dann ihn an. »Du willst wirklich für uns spielen?«
Er hob den Koffer an. »Der ist nicht leer.«
»Aber das ist von mir nur ein Scherz gewesen. Ich meine, du bist du.«
»Das habe ich gehört. Ich bin ich, und du bist du, und sie sind sie.« Er runzelte die Stirn. »Das klingt irgendwie falsch.«
Sie lachte. »Und doch weiß ich, was du sagen willst. Wenn du es ernst meinst, hören dir alle bestimmt gerne zu. Aber ich gebe dir die Chance abzuhauen, solange du noch kannst.«
»Ich bin nicht so leicht zu verscheuchen.«
»Gut zu wissen.« Sie deutete in den Raum. »Wir arbeiten an den Tischen. Setz dich, wo immer es für dich am besten ist.«
Er nickte und trug einen Stuhl in eine Ecke des Raumes. Die Eltern, die in der Nähe gewartet hatten, kamen näher.
»Ist das … Ich meine, das kann nicht sein, aber er sieht aus wie …« Brittany, die Mutter von einer von Harrisons Schulkameradinnen, hatte Mühe zu sprechen. »Ist das Micah Ruiz?«
»Ja. Er ist mit meiner Schwester befreundet und hat angeboten, bei unserem Projekt zu helfen. Ich habe einen Witz gemacht und gesagt, dass es wesentlich unterhaltsamer wäre, wenn er für uns singt, als wenn er eine Mütze strickt. Und nun ist er hier.«
Brittany, eine hübsche Frau Mitte dreißig mit drei Kindern, sah ihn an. »Er ist so sexy, dass ich es kaum ertrage.«
Die beiden Väter, die in der Nähe standen, verzogen das Gesicht, aber das war Reggie egal. Sexy war ein gutes Wort, um Micah zu beschreiben.
Sie stellte ihm die Erwachsenen vor und machte sich dann daran, ihren Wagen abzuladen. Gerade griff sie nach der letzten Tüte, als sie eine vertraute Stimme hörte.
»Du hättest auf mich warten sollen«, sagte Toby und gesellte sich zu ihr. »Ich hätte dir geholfen.«
Und einfach so war Micah, der strahlende Stern, nichts Besonderes mehr. Reggie schaute zu Toby, der sie anlächelte. Der Schwung seiner Lippen ließ alles um sie herum verblassen, bis es nur noch sie beide gab und das, was am Vorabend passiert war.
»Das ist doch keine schwere Arbeit«, wiegelte sie ab und widerstand dem Drang, sich in seine Arme zu schmiegen und sich erneut von ihm küssen zu lassen. Denn das würde nicht passieren – zumindest nicht während ihrer Strickstunde.
Wie um das zu beweisen, strömte ein Dutzend Kinder in den Raum. Sie begrüßte alle mit Namen und half ihnen, sich einzurichten. Als sie das nächste Mal einen Blick zu Toby werfen konnte, saß er bei Harrison, unterhielt sich mit den Jungs an seinem Tisch und strickte.
Micah war der Hit. Er spielte und sang, nahm ein paar Songwünsche entgegen und ließ die Zeit nur so verfliegen. Reggie wusste, dass sie nicht die Einzige war, die versuchte zu verstehen, dass Micah Ruiz ihnen hier gerade ein Privatkonzert gab. Als die Stunde zu Ende war, gingen ein paar Eltern zu ihm, um ihm Fragen zu stellen und um Fotos zu bitten. Reggie fragte sich, ob sie eingreifen sollte, doch als Micah ihren Blick auffing, lächelte er und schüttelte den Kopf.
»Ich mach das schon.«
»Vermutlich hast du Erfahrung damit.«
»Ein wenig.«
Toby holte eine noch nicht ganz gefüllte Kiste mit Mützen aus dem Schrank, und gemeinsam legten sie die neuen Mützen hinein.
»Ich zähle noch schnell durch«, sagte sie und mochte es, wie sehr sie sich seiner bewusst war. Das Vibrieren der sexuellen Anziehung zwischen ihnen war irgendwie nett. Küsse wären noch besser, aber mit den anderen im Raum würde sie nehmen, was sie kriegen konnte.
Als sie fertig waren, hatte auch Micah sich um alle seine Fans gekümmert. Er kam herüber und stellte sich Toby vor.
»Ich habe gehört, dass du im B&B wohnst«, sagte Toby. »Dena macht das fabelhaft. Mein Sohn und ich haben anfangs da gewohnt, als wir nach Wishing Tree gekommen sind.«
»Du wohnst noch nicht lange hier?«, fragte Micah, während er seine Gitarre wegpackte.
Toby grinste. »Ja und nein. Ich bin hier aufgewachsen, aber mit achtzehn weggezogen. Harrison und ich sind letztes Jahr zurückgekommen.«
»Habt es nicht ausgehalten?«, fragte Micah.
»So in der Art.«
»Ich verstehe die Anziehung.« Micah lachte leise. »Es ist irgendwie pittoresk.« Er wandte sich an Reggie. »Danke, dass ich dabei sein durfte.«
»Machst du Witze? Wir hatten ein Privatkonzert. Das war großartig.«
»Gern geschehen.«
Er winkte und ging. Reggie sah ihm nach und wünschte, sie hätte einen Weg gefunden, ihn nach Dena zu fragen. Was die Gefühle ihrer Schwester anging, hatte sie eine ziemlich gute Vorstellung, aber sie war sich nicht sicher, ob Micahs Herz in die gleiche Richtung schlug. Er wirkte komplett normal – wenn sie das mit seiner verstorbenen Frau nicht wüsste, hätte sie nie gedacht, dass er noch in Trauer war. War er also einigermaßen geheilt und bereit, der Liebe noch eine Chance zu geben, oder war er, wie Dena glaubte, glücklich damit, die wahre Liebe erlebt zu haben, und deshalb an keiner anderen Frau interessiert?
»Diese Frage wird nicht so schnell eine Antwort bekommen«, murmelte sie.
Toby sah sie an, aber bevor er fragen konnte, was sie meinte, hielt Harrison eine Tüte mit Wolle hoch.
»Die haben wir vergessen«, sagte er. »Ich bring sie schnell in den Schrank.«
»Danke, Harrison«, sagte Reggie und sah sich um, ob noch etwas zurückgelassen worden war.
Toby fing an, die Stühle zusammenzustellen. Als Harrison außer Hörweite war, sah er Reggie mit heißem Blick an. »Also, was gestern Abend angeht …«
Sie lächelte. »Ja. Das war sehr …«
Ein lauter Schrei aus dem hinteren Teil des Gebäudes ließ sie verstummen. Bevor Reggie überlegen konnte, was los war, rannte Toby schon in die Richtung. Mit jeder Sekunde wurden die Schreie panischer. Reggie lief ihm nach und erkannte schnell, dass das grauenhafte Geräusch aus dem Materialschrank kam.
»Er ist da drin eingesperrt«, sagte sie, aber Toby zerrte schon heftig an der Tür, bis sie schließlich aufschwang.
Harrison stürzte heraus und warf sich seinem Vater in die Arme. Er war blass, und Tränen rollten ihm über die Wangen. Selbst aus einiger Entfernung konnte Reggie sehen, dass er am ganzen Körper zitterte.
»Ich hab dich«, sagte Toby und zog ihn an sich. »Ich hab dich, Harrison. Ich bin hier. Atme, mein Sohn. Einfach atmen. Ich bin da.«
Reggie zögerte, nicht sicher, was sie tun sollte. Toby sah zu ihr herüber.
»Kannst du uns unsere Jacken holen?«
Sie nickte, eilte den Flur hinunter und kehrte mit Mänteln, Schals und Handschuhen zurück. Harrison weinte immer noch, aber nicht mehr so herzzerreißend. Widerstrebend ließ er seinen Vater lange genug los, um seinen Mantel anzuziehen. Toby half ihm mit den Handschuhen und zog sich dann selbst an, bevor er seinen Sohn auf den Arm nahm und aus dem Gebäude trug.
Reggie stand allein im Flur, nicht sicher, was da gerade passiert war. Doch sie wusste instinktiv, dass Harrisons Reaktion darauf, im Schrank eingeschlossen zu sein, nicht der eines normalen Achtjährigen entsprach. Er war auf eine Weise panisch gewesen, die ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen ließ.