Reggie sortierte die Fotos, die ihre Schwester ihr geschickt hatte, in chronologischer Reihenfolge. Die Slideshow sollte ungefähr fünfzehn Minuten lang werden, was bedeutete, dass sie gut und gerne zweihundert Fotos benötigte. Im Moment hatte sie hundertvierzig. Dena besaß jedoch noch ein paar Alben, die sie gemeinsam durchgehen wollten.
Sobald sie alles zusammengestellt hatte, startete sie die Slideshow auf ihrem Computer und lehnte sich zurück, um sie sich anzusehen. Sie hatte gerade die Anfangsphase der Beziehung ihrer Eltern durch, als sie hörte, wie Dena ihren Namen rief.
Belle stand von ihrem Kissen auf und ging zum Fuß der Treppe. Als sie sah, dass ihre Lieblingstante die Stufen herunterkam, fing sie an, heftig mit dem Schwanz zu wedeln.
»Sieh dich einer an, meine Hübsche«, gurrte Dena und klemmte sich die beiden dicken Fotoalben unter einen Arm, um die andere Hand nach Belle auszustrecken. »Genießt du es, von den Großeltern verwöhnt zu werden? Bist du ein glückliches Mädchen?«
Belle lehnte sich gegen Dena, was diese beinahe zum Stolpern brachte. Dena grinste.
»Ich vergesse immer, wie stark sie ist.«
»Körperlich wie auch spirituell.« Reggie lachte und stand auf, um ihrer Schwester die Fotoalben abzunehmen. »Jetzt, wo sie sich Burt gestellt hat, ist sie ganz schön großspurig.«
Dena ließ ihren Mantel und die Handschuhe neben ihre Tasche aufs Sofa fallen und setzte sich an den großen Tisch, an dem Reggie gearbeitet hatte.
»Wie geht es dir?«, fragte Reggie. »Du hast wieder mehr Farbe. Eine Weile hast du ziemlich blass ausgesehen.«
»Mir geht es super. Die morgendliche Übelkeit beschränkt sich jetzt tatsächlich hauptsächlich auf den Morgen.« Sie hob beide Arme. »Ich trage aber immer noch die Akupressurarmbänder, und sie helfen enorm.«
»Das freut mich. Die letzten Wochen waren hart für dich.«
»Das stimmt. Ich bin froh, dass sie vorbei sind.«
Reggie griff nach einem der Fotoalben. »Wenn wir noch dreißig gute Bilder finden, bin ich glücklich.«
Dena zeigte auf den Computer. »Lass mal die Slideshow laufen, damit wir die neuen Bilder mit denen vergleichen können, die du schon hast. Sie sollten in chronologischer Reihenfolge sein, oder?«
»Bisher sind sie das. Und du kennst Mom. Etwas anderes käme für sie nie infrage.«
Dena beugte sich über das Album, während Reggie zum nächsten Foto scrollte. Sie fanden mehrere Bilder aus der Zeit, als ihre Eltern noch nicht verheiratet waren, dazu ein paar Schnappschüsse von der Hochzeit, die sie zum Lachen brachten.
»Ihr Anzug war so bauschig«, sagte Dena. »Und diese Ärmel!«
»Das war damals Mode.«
»Ja. Sieh dir nur an, wie hübsch sie ist. Und wie verliebt in Dad.«
Da musste Reggie ihr zustimmen. Die Miene ihrer Mutter zeigte deutlich die Gefühle für den Mann, den sie im Begriff war zu heiraten.
»Ich weiß, wir sind erwachsen, und es sollte egal sein«, überlegte Reggie laut. »Aber ich bin froh, dass sie noch zusammen und glücklich sind.«
»Ich auch. Ich glaube, es ist nie leicht, wenn die Eltern sich nicht verstehen. Natürlich ist es nicht mehr so schlimm, wenn die Kinder erwachsen sind, aber es wird immer schwierig sein. Ich hasse es zu hören, wenn die Eltern einer meiner Schüler sich scheiden lassen. Das zerreißt mir jedes Mal das Herz.«
Dena steckte die Fotos an ihren Platz zurück und blätterte weiter. »Meistens liegt beiden Elternteilen das Wohlergehen ihrer Kinder am Herzen, aber nicht immer. Vor ein paar Jahren hatte ich einen Schüler, der wirklich gelitten hat, aber seine Mutter und sein Vater waren nur daran interessiert, einander wehzutun.«
Reggie sah sie an. »Du bist die Hüterin vieler Geheimnisse, oder?«
»Was meinst du damit?«
»Harrison hat mir von seiner Angst erzählt, in engen, dunklen Räumen eingesperrt zu sein.«
Dena riss die Augen auf. »Wirklich?«
Reggie berichtete ihr, was im Gemeindezentrum passiert war und dass Harrison sie eingeladen hatte, um ihr von seiner Vergangenheit zu erzählen.
Dena beugte sich zu ihr. »Ich konnte es dir nicht sagen. Ich hoffe, das verstehst du.«
»Natürlich. Du bist die Lehrerin. Was zwischen dir und deinen Schülern passiert, ist vertraulich. Wie gesagt, du bist die Hüterin von Geheimnissen.«
Denas Miene nahm einen mitfühlenden Ausdruck an. »Ich weiß, dass es nicht leicht war, die Geschichte zu hören. Ich würde gern diese Lori-Schlampe suchen und ihr etwas Schlimmes antun.«
»Ich versuche auch immer noch, einen Platz für all meine Emotionen zu finden«, gab Reggie zu. Kurz wandte sie den Blick ab. »Toby und ich haben ein wenig Zeit miteinander verbracht.«
Dena grinste. »Ja, das ist mir aufgefallen. Und Mom auch, nur, falls sie es nicht erwähnt hat. Und, sind da noch Funken? Er ist ein wirklich toller Vater, und damals war er deine Welt. Stört es dich, das über Harrison zu wissen?«
»Was? Nein. Ich bin wütend, aber natürlich nicht auf ihn. Ich finde ihn bezaubernd, tapfer und süß.«
»Der Gedanke, Stiefmutter zu sein, ist also interessant?«
»Das ist so weit weg von dem, wo wir sind, dass ich noch nicht mal darüber nachgedacht habe.« Reggie überlegte kurz, wie sie das Problem erklären sollte. Vermutlich wäre es am besten, wenn sie wiederholte, was Toby zu ihr gesagt hatte.
»Er meinte, er würde Harrisons Sicherheit nicht noch mal aufs Spiel setzen. Er ist nicht gewillt, jemandem so weit zu vertrauen, dass er sein Herz verschenken würde. Um ehrlich zu sein, hat er mich davor gewarnt, eine wie auch immer geartete Beziehung mit ihm einzugehen.«
Dena überraschte sie, indem sie abwinkte. »Das ist nicht der wahre Grund. Ich bin mir sicher, dass er fürchtet, noch einmal einen Fehler zu machen. Niemand macht das durch, was er durchgemacht hat, ohne dass es Narben hinterlässt. Aber das ist nicht der Grund, warum er sich nicht erlaubt, sich zu verlieben.«
Reggie lächelte. »Und du kennst den wahren Grund?«
»Natürlich. Sieh dir seine Vergangenheit an. Sein Vater war ein gemeiner Alkoholiker, der es genossen hat, ihn zu verprügeln. Judy, seine Großmutter, war keine große Hilfe. Sie hat Toby beschützt, als er noch klein war, aber sie hat sich ihren Enkel nie geschnappt und ist mit ihm weggezogen. Was ich nicht verstehe. Man muss doch das Kind beschützen. Doch stattdessen hat sie ihren Sohn bis zu seinem Tod begluckt.« Dena schüttelte den Kopf. »Sorry. Das ist ein ziemlich persönliches Thema für mich. Wie auch immer, er hat sich in dich verliebt, es vermasselt, dich dadurch verloren und ist weggezogen. In den nächsten Jahren war er auf gewisse Weise ein Herumtreiber, bis irgendeine Schickse, mit der er zusammen war, mit Harrison im Arm aufgetaucht ist.«
»Schickse?«, fragte Reggie lachend. »Das ist ein Wort, das du benutzt?«
»Du weißt, was ich meine. Aber was ich eigentlich sagen will: Niemand hat ihn je bedingungslos geliebt. Nicht auf eine Weise, dass er sich sicher und umsorgt gefühlt hat. Natürlich liebt Harrison ihn, aber in der Beziehung ist Toby der Beschützer. Er hat sein Herz niemals jemandem geben können in dem Wissen, dass er geliebt und beschützt wird. Aber danach sehnt sich jeder Mensch, und wenn es nicht passiert, machen die Leute dicht. Harrisons Trauma ist nur eine Ausrede. Toby gibt sich die Schuld an dem, was Lori getan hat, und auch wenn das ein Thema für eine andere Unterhaltung ist, ist es für ihn ein bequemer Grund. Er versteckt sich, weil er Angst hat zu vertrauen.«
Reggie war nicht sicher, was sie von der Analyse ihrer Schwester halten sollte, war aber von der Tiefe der Argumente beeindruckt. »Wow. Du hast viel darüber nachgedacht.«
Dena verlagerte unbehaglich das Gewicht. »Stimmt.« Ihre Stimme klang schuldbewusst. »Okay, da ist noch etwas. Das muss aber unter uns bleiben. Versprich es mir.«
»Klar. Ich werde nichts sagen.«
Ihre Schwester sah sie an. »Als Harrison und Toby letztes Jahr nach Wishing Tree zurückgezogen sind, wurde Harrison in meine Klasse gesteckt. Ich hatte eine lange Unterhaltung mit Toby. Er hat mir von Harrison und Lori erzählt, und ich gebe zu, ein Teil von mir hat sich gefragt, ob die Geschichte stimmt. Ich wusste von seiner Vergangenheit mit seinem Vater. Und oft werden Kinder, die Opfer waren, später selbst zu Tätern.«
Reggie starrte ihre Schwester an. »Du warst nicht sicher, ob es überhaupt eine Lori gegeben hat. Du hast dir Sorgen gemacht, dass er derjenige war, der Harrison in den Schrank gesperrt hat.«
»Das war eine begründete Sorge«, sagte Dena verteidigend. »Deshalb habe ich ein wenig Extrazeit mit Harrison verbracht und weitere Gespräche mit Toby anberaumt.« Sie seufzte. »Ich habe schnell gesehen, dass er ein warmherziger, liebevoller Vater ist, der alles für seinen Sohn tun würde. Harrison ist immer mehr aus sich herausgekommen und war von Tag zu Tag glücklicher. Jetzt ist er ein Junge, der sich gut eingelebt hat, mit vielen Freunden und einem gesunden Selbstbewusstsein.«
»Das ist er«, sagte Reggie. »Und du bist eine großartige Lehrerin.«
Dena grinste. »An meinen guten Tagen. Während einer unserer Unterhaltungen hat Toby zugegeben, dass er sich wegen Lori schuldig fühlt. Nicht nur wegen der Misshandlungen, sondern weil die ganze Sache so unnötig gewesen war. Er war nicht in sie verliebt – er wollte sie nur heiraten, um Harrison eine Mutter zu geben. Das ist nicht die Tat eines Mannes, der glaubt, es wäre sicher, sein Herz zu verschenken. Deshalb hat er dir gesagt, dass er nichts Ernsthaftes mit dir anfangen wird.«
»Du bist sehr weise, Obi-Wan.«
»Ich wünschte, dem wäre so. Die Frage an dich lautet: Was empfindest du? Bist du gewillt, dich auf ihn einzulassen, obwohl du weißt, dass er dir möglicherweise nie weit genug vertraut, um sich in dich zu verlieben? Oder kehrst du dem Ganzen den Rücken?«
»Sind das die einzigen beiden Optionen?«
Dena lächelte. »Du bist die Einzige, die das beantworten kann.«
»Ich weiß. Ich mag ihn, aber ich bin nicht in ihn verliebt.« Wie könnte sie auch? So viel Zeit hatten sie nun auch wieder nicht zusammen verbracht. Sicher, sie sah ihn ein paarmal die Woche bei den Strickstunden, und sie hatten gemeinsam zu Abend gegessen, aber sie gingen nicht offiziell miteinander aus.
»Findest du es nicht bedeutend, dass er dich gewarnt hat? Wenn er nicht interessiert wäre, hätte er sich die Mühe doch bestimmt nicht gemacht.« Dena beugte sich erneut vor. »Ich glaube, er hat das mindestens so sehr zu sich gesagt wie zu dir.«
»Ich glaube, ich muss über das alles nachdenken. Du hast mich in eine unerwartete Richtung geschickt.« Sie hielt das Fotoalbum hoch. »Wir müssen das hier noch durchgehen.«
»Stimmt.«
Sie wählten noch ein Dutzend weitere Fotos aus, darunter einige, auf denen ihre Mutter hochschwanger war.
»Bezaubernd«, sagte Reggie und legte das Foto auf den Scanner.
Dena blätterte um und erstarrte. »War das mein Bettchen?«
Reggie schaute ihr über die Schulter. »Ich glaube schon. Denn das bist du als Baby.« Lächelnd betrachtete sie das handgemalte Schloss auf dem Kopf- und Fußteil und den durchscheinenden Stoff, der wie ein Baldachin über das Bettchen fiel. »Ein Prinzessinnenbett. Bei mir hatte Mom sich für Teddybären entschieden. Vermutlich, weil ich das zweite Kind war und dieses Prinzessinnenzeug zu viel Arbeit war.« Sie lachte leise. »Stell dir nur vor, wir hätten noch eine Schwester. Die hätte vermutlich in einem Zelt schlafen müssen.«
Sie warf Dena einen Blick zu, weil sie einen Kommentar erwartete, doch ihre Schwester schaute das Foto an, als hätte sie es noch nie gesehen.
»Was ist?«, hakte Reggie nach.
»Das Prinzessinnenbett hatte ich total vergessen«, flüsterte Dena. »Aber wenn ich ein Mädchen kriege …«
Reggie sah sie fassungslos an. »Weinst du etwa? Was ist los? Weißt du schon, ob es ein Mädchen wird? Ist das nicht noch zu früh? Hast du eine Blutuntersuchung gemacht? Geht es dir gut?«
Dena wedelte mit den Händen vor dem Gesicht, ein vergeblicher Versuch, die Tränen zurückzuhalten.
»Mir geht es gut«, sagte sie erstickt. »Total gut. Das hat mit meiner Gesundheit nichts zu tun. Ich habe mich nur nicht daran erinnern können, wie mein Babyzimmer ausgesehen hat. Natürlich habe ich Fotos gesehen, aber als ich in dem Laden war und mir Kinderzimmermöbel angeguckt habe, sind mir die Ähnlichkeiten nicht aufgefallen.«
Reggie setzte sich so hin, dass sie ihre Schwester geradeheraus anschauen konnte. »Hey, wovon redest du da? Wann hast du dir Möbel fürs Kinderzimmer angeguckt? Hier gibt es doch gar keinen solchen Laden.«
Offensichtlich mit Schuldgefühlen kämpfend, zuckte Dena zurück. »Ja, äh, also, ich war vor ein paar Abenden in Seattle.«
»Was? Wie? Du kannst auf keinen Fall unterrichtet haben und danach mit dem Auto gefahren sein. Dann hätten die Läden schon längst zugehabt. Außerdem wärst du am nächsten Morgen nicht pünktlich zum Unterricht zurück gewesen. Das ist verrückt. Sag mir nicht, dass du nachts allein über den Pass gefahren bist.«
»Ich bin geflogen.«
»Okay, du redest wirres Zeug. Du bist geflogen? Dena, das alles ergibt keinen Sinn.«
Ihre Schwester überraschte sie, indem sie lächelte. »Micah hat einen Privatjet gechartert und ist mit mir nach Seattle geflogen. Wir haben uns in einem Laden für Babybedarf umgeschaut und dann zusammen zu Abend gegessen.«
Während Dena ausführlicher von dem Abend erzählte, hatte Reggie Probleme, aufrecht auf ihrem Stuhl sitzen zu bleiben. Ohnmächtig auf den Boden zu sinken kam ihr wie die logische Reaktion auf das vor, was sie da hörte.
»Warte mal«, sagte sie und machte mit den Händen das Zeichen für eine Auszeit. »Rockstar Micah ist mit dir im Privatjet nach Seattle geflogen, damit du dir Möbel für dein Baby angucken kannst?«
»Ja. Und dann waren wir essen. Ich hatte einen schlechten Tag. Er wollte mich aufmuntern.«
»Heilige Scheiße. Er ist dabei, sich in dich zu verlieben.«
Dena wandte sich errötend ab. »Das ist er nicht. Er ist sehr süß, aber das hat nichts zu bedeuten.« Sie berührte Reggies Arm. »Im Laden hat er hauptsächlich darüber gesprochen, dass er seine Frau vermisst, Reggie. Es geht hier nicht um mich. Es geht darum, dass ich schwanger bin. Auf gewisse Weise erlebt er seine Beziehung mit ihr noch mal nach. Ich denke, das hat was mit dem Baby und den anstehenden Feiertagen zu tun.«
Sie seufzte. »Glaube mir, ich wünschte, es wäre etwas anderes. Ich wünschte, es wäre, weil zwischen uns eine gewisse Chemie herrscht und wir Spaß zusammen haben. Aber das ist es nicht.«
Reggie rauchte der Kopf. Sie war nicht sicher, wie viele Enthüllungen sie noch ertragen würde.
»Ich glaube nicht, dass das alles mit seiner verstorbenen Frau zu tun hat«, sagte sie. »Ich glaube, die Chancen stehen gut, dass er ernsthaft an dir interessiert ist.«
Dena schüttelte den Kopf. »Er ist ein sehr süßer Mann. Vertrau mir, wenn ich auch nur für eine Sekunde glauben würde, dass ich Chancen bei ihm hätte, wäre ich sofort dabei. Aber die habe ich nicht. Er ist noch nicht über Adriana hinweg. Und ich bin mir nicht sicher, ob er das je sein wird. Nach Weihnachten reist er ab, und ich werde ihn nie wiedersehen.«
»Das macht mich traurig.«
»Mich auch«, gab Dena zu. »Ich versuche, klug zu sein und mich nicht zu sehr auf ihn einzulassen, aber das ist schwer. Er ist einfach so unglaublich.«
»Und sexy.«
Dena grinste. »Ja, das auch.« Sie sah Reggie an. »Männer sind so schwierig.«
»Wem sagst du das.«
Es ist an der Zeit, sich wieder den Weihnachtskakteen zu stellen, dachte Reggie und holte die Gießkanne und eine Spule mit Geschenkband. Alle sechzig Pflanzen mussten gegossen werden, und dann würde sie eine Schleife um jeden Topf binden. Warum hatte ihre Mutter nicht Kekse bestellen können, die in einer süßen kleinen Schachtel geliefert wurden? Dann hätte sie nur einen Aufkleber draufkleben müssen. Darin war sie gut. Aber nein …
Sie goss gerade die Pflanzen und achtete darauf, ihnen nicht zu viel Wasser zu geben, als ihr Handy klingelte. Dankbar für jegliche Ablenkung, ging sie ran.
»Hallo?«
»Reggie? Hey, ich bin’s, Jake.«
Was für eine Überraschung, dachte sie. »Hi. Äh, wie geht’s?«
Er lachte leise. »Ungefähr so, wie du es dir vorstellst. Meine Mom lässt mich das Haus schmücken. Mir ist nie aufgefallen, wie viele Weihnachtsbäume sie aufstellt. Wusstest du, dass sie einen hat, der nur mit kleinen Teetassen dekoriert ist? Die sind alle weihnachtlich bemalt und hängen an bunten Bändern. Oh, und einige sind aus anderen Ländern und haben kleine Flaggen.«
Reggie versuchte, nicht zu lachen. »Nein, das wusste ich nicht. Es ist nett von dir, ihr zu helfen.«
»Die Feiertage sind für uns beide hart. Ich bin froh, dass ich eine Ablenkung für sie bin. Wenn nur die Teetassen nicht wären.«
Sie konnte sein Grinsen förmlich hören. »Oh, du musst mir unbedingt ein Foto schicken.«
»Damit du dich über mich lustig machen kannst? Ich glaube nicht.«
Jetzt musste Reggie wirklich lachen. »Ach Jake. Gefangen mit einer wilden Frau, die Teetassen liebt. Die Dinge, die wir für unsere Eltern tun. Meine Mom hat beschlossen, dass jedes Paar, das zu ihrer Hochzeit kommt, einen Weihnachtskaktus mit nach Hause nehmen soll. Ich musste sie alle umtopfen, und nun bin ich dabei, an die Töpfe kleine Schleifen zu binden.«
»Das ist immer noch nicht so schlimm wie Teetassen.«
Sie kicherte. »Vielleicht hast du recht.«
»Also, ich habe mich gefragt, ob du vielleicht mal mit mir essen gehen möchtest.«
Dieser abrupte Themenwechsel erwischte sie eiskalt. Ein Dinner mit Jake?
»Du bittest mich um eine Verabredung?«
»Ja.«
»Als Freund oder als Date?«
»Ich dachte eher an ein Date.«
Reggie nahm das Handy vom Ohr und starrte es an. Meinte er das ernst? Sie wollte gerade nachfragen, als sie ein dumpfes Poltern gefolgt von einem hohen Fiepen hörte. Belle sprang sofort auf und rannte die Treppe hinauf. Das Fiepen wurde immer mehr zu einem Schrei.
»Da ist was passiert«, sagte Reggie und folgte Belle ins Erdgeschoss. »Ich muss dich zurückrufen.«
Sie fand ihre Mutter auf den Knien neben Burt, der vor Schmerzen schreiend auf dem Boden lag.
»Ich weiß nicht, was passiert ist.« Ihre Mutter rang die Hände. »Ich glaube, er ist vom Sofa gefallen. Ich habe deinem Vater immer wieder gesagt, dass er mit Burts Rücken vorsichtig sein muss.«
»Wir müssen ihn zum Tierarzt bringen.«
Leigh holte ihr Handy heraus. »Die Nummer habe ich gespeichert. Ich rufe schnell an und sage ihnen, dass wir kommen.« Dann griff sie nach Burt, um ihn hochzuheben, doch als sie ihn berührte, schrie er erneut.
»Ich kann das nicht«, sagte ihre Mutter. »Ich kann ihn nicht hochheben. Was machen wir denn jetzt?«
Reggie schnappte sich eine Decke vom Sofa. Belle tänzelte leise wimmernd um sie herum, während Burt weiter jämmerlich weinte.
Sobald die Decke neben dem armen Hund lag, konnte Leigh ihn darauflegen. Obwohl er offensichtlich Schmerzen hatte, versuchte er nicht, sie zu beißen. Reggies Magen war ganz aufgewühlt, als sie den Tierarzt anrief und ihm Bescheid gab, dass sie auf dem Weg wären. Schnell holten sie Mäntel und Handschuhe. Belle bellte protestierend, als wolle sie nicht allein zurückgelassen werden.
»Du musst tapfer sein«, erklärte Reggie ihr und eilte zu Burt zurück. »Bitte, Belle.«
Ihre Hündin setzte sich, fuhr aber fort zu winseln.
Reggie und ihre Mutter fassten die Decke an beiden Enden.
»Auf drei«, sagte Leigh. Sie hoben Burt zusammen hoch, was ihn noch einmal aufjaulen ließ, bevor er sich etwas beruhigte und nur noch heftig hechelte. Nachdem sie ihn vorsichtig auf die Rückbank von Reggies Wagen gelegt hatten, stiegen sie ein. Leigh setzte sich neben Burt und streichelte seinen Kopf.
»Alles wird gut, mein Kleiner. Der Tierarzt wird dir helfen.« Sie wischte sich die Tränen fort. »Aber ich muss deinem Dad erzählen, was passiert ist.«
»Warte damit, bis wir in der Praxis sind«, sagte Reggie und fuhr los. Kurz darauf bogen sie auf den Parkplatz ein. »Du kannst ihn anrufen, während Burt untersucht wird.«
Sie trugen ihn auf der Decke hinein, wo schon eine Helferin wartete, um sie in eines der Behandlungszimmer zu führen.
Zwei Stunden später brachten sie einen stark sedierten Burt zurück ins Auto. Laut der Tierärztin hatte er sich bei dem Sturz nichts gebrochen und auch keine seiner Bandscheiben angeknackst. Aber seine Sehnen hatten gelitten, und er brauchte Zeit, um sich zu erholen.
»Sie hat gesagt, dass er nicht springen darf«, sagte Leigh, die wieder hinten neben dem Hund saß. »Hat sie schon mal einen Hund gesehen?« Sie presste die Lippen zusammen. »Wir haben Rampen für ihn, aber er weigert sich, sie zu benutzen. Ich schätze, wir müssen energischer mit ihm sein. Ich bin nur froh, dass alles in Ordnung ist.«
»Ich auch.« Reggie war immer noch erschüttert. »Das war schrecklich. Der arme kleine Kerl.«
Zu Hause wartete Reggies Vater schon auf sie. Gemeinsam mit Belle tigerte er im Wohnzimmer auf und ab, und beide eilten herbei, um Reggie und Leigh mit Burt zu helfen.«
»Geht es ihm gut?«, fragte Vince angespannt. »Ich weiß, du hast gesagt Ja, aber stimmt das auch?«
Leigh drückte ihm den Hund in die Arme.
»Er hat ein entzündungshemmendes Mittel und etwas gegen die Schmerzen bekommen. Alle acht Stunden können wir ihm eine Tablette geben, damit er besser schläft. Er muss es die nächsten paar Wochen ruhig angehen lassen, also müssen wir besonders auf ihn achtgeben.«
Zärtlich streichelte Vince seinen Hund. Burt versuchte, den Kopf zu heben, seufzte dann aber nur und schloss die Augen wieder.
»Die haben ihm aber ordentlich was gegeben«, sagte Reggie, während sie Belle umarmte, um sie zu trösten. »Die Ärztin meinte, er würde für den Rest des Tages schlafen.«
»Das ist sicher das Beste für ihn«, murmelte ihr Vater und sah Leigh an. »Wir müssen die Rampen herausholen und dafür sorgen, dass er sie benutzt. Keine Sprünge mehr.«
Ihre Mutter lächelte ihn an. »Das ist eine gute Idee.«
»Ich hole sie aus dem Keller.«
Er ging nach unten. Leigh schaute den Hund an und schüttelte den Kopf. »Ich bin gerade um zehn Jahre gealtert.«
»Du siehst aber immer noch gut aus.«
»Danke. Es ist, wie wieder ein Kind zu haben.«
»Nur will Burt sich nicht irgendwann das Auto ausleihen.«
»Stimmt. Ich setze Kaffee auf. Oder willst du lieber einen Cocktail?«
Es war erst zwei Uhr nachmittags, aber Reggie nickte trotzdem. »Das wäre super. Danke, Mom.«
Leigh zog sich in die Küche zurück. Reggie beobachtete, wie Belle ängstlich um Burt herumschlich, bevor sie sich neben ihm niederließ, den großen Kopf auf den Rand seines Körbchens gestützt, sodass ihre Nasen sich beinahe berührten. Burt streckte sich gerade so weit, dass er Belle übers Gesicht schlecken konnte, dann schloss er die Augen und seufzte noch mal.
Reggie holte ihr Handy heraus und scrollte durch die Kontakte, bis sie Jakes Nummer fand. Dann schrieb sie ihm eine Nachricht, in der sie erklärte, was vorgefallen war.
Ich habe das Gefühl, es ist besser, wenn ich heute Abend hierbleibe. Wir sind alle etwas aufgewühlt.
Drei Punkte tauchten auf. Sekunden später folgte seine Antwort.
Kein Problem. Das verstehe ich. Armer Kerl. Ich hoffe, es geht ihm bald besser. Was das Dinner angeht: Soll ich dich noch mal fragen oder lieber in Ruhe lassen?
Das ist eine interessante Frage, dachte sie. Jake wieder in ihrem Leben zu haben kam unerwartet. Aber ihn wiederzusehen? Mit ihm auszugehen? Gebranntes Kind und so weiter.
Nur glaubte sie nicht, dass er sie absichtlich hintergangen hatte. Er hatte sich von den Ereignissen und seiner Vergangenheit mitreißen lassen. Es war falsch gewesen, ihr nichts davon zu erzählen, aber ansonsten war er nicht absichtlich grausam gewesen. Noch vor einem Jahr hatte sie vorgehabt, den Rest ihres Lebens mit ihm zu verbringen.
Eine Weile starrte sie ihr Handy an, dann tippte sie.
Frag noch mal.