Toby starrte aus dem Fenster in den Himmel. Über Nacht waren dicke, graue Wolken gekommen. In jedem anderen Jahr wäre er sicher gewesen, dass es heute schneien würde, aber dieses Jahr war bisher für alle eine Enttäuschung. Trotzdem hatte er Hoffnung. Es war kalt genug, und die lokale Wettervorhersage hatte versprochen, dass es heute ab zwei Uhr nachmittags im Norden des Staates Washington für mindestens zwei Tage schneien würde.
Er hatte noch ausreichend zu tun, doch auf den Schnee zu warten fand er wesentlich interessanter. Und an Reggie zu denken. Seit ihrem Besuch, bei dem sie ihm die Pasteten-Halter geschenkt hatte, bekam er sie nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte die Hersteller kontaktiert und die Angebote bestätigen lassen, dann hatte er ein Zoom-Meeting mit seinem Team abgehalten. Alle waren von dem Design begeistert. Mit einem Kurier hatte er die Muster in seine Zentrale nach Seattle geschickt, und nun waren seine Mitarbeiter dabei, lebensmittelechtes Papier zu finden und einen Weg, sein Logo darauf drucken zu lassen.
Allerdings hatte er seinem Team verschwiegen, wie großzügig Reggie war. Er verstand immer noch nicht, warum sie ihm ihre Idee einfach geschenkt hatte. Ja, sie hatte gesagt, sie wolle einem Freund helfen, doch das leuchtete ihm einfach nicht ein. Oder war er es so gewohnt, Distanz zu anderen Menschen zu halten, dass er vergessen hatte, dass sie sich so wie Reggie verhalten konnten?
Die ersten weißen Flocken fielen zu Boden. Toby schaute auf die Uhr, um sich die Zeit zu merken, und versuchte dann mit Willenskraft, die Flocken weiterfallen zu lassen. Eine alberne Vorfreude erfüllte ihn. Nach fünf Minuten wurde der Schneefall stetiger, und die Flocken blieben liegen. Nach sieben Minuten schaltete er seinen Computer aus und nahm den Rucksack, den er gestern schon gepackt hatte. Darin befanden sich Plastikgläser, Servietten und Kekse, dazu mit Schokolade überzogene Erdbeeren, die er aus einem Impuls heraus gekauft hatte. Schnell sammelte er seine warmen Sachen ein und ging nach unten.
Shaye stand an der offenen Ladentür und beobachtete den Schneefall. Sie lächelte, als sie ihn sah.
»Es ist so still, als hielte die ganze Stadt den Atem an.«
»Stimmt. Wenn du die Sirenen hörst, kannst du den Laden abschließen und auf den Weihnachtskranz gehen. Schick Lawson eine Nachricht, dass er dich dort treffen soll.«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Wirklich? Bist du dir sicher?«
»Ja. Es ist der erste Schnee der Saison und dein erster Schnee in Wishing Tree. Genieß es.«
»Danke, Boss.« Sie zog sofort ihr Handy aus der Hosentasche.
Toby wartete noch ein paar Minuten, dann nahm auch er sein Handy zur Hand.
Wir kriegen weiße Weihnachten. Kommst du mit auf den Weihnachtskranz?
Reggies Antwort folgte prompt.
Supergern.
Ich gehe an der Schule vorbei, um Harrison abzuholen. Wir treffen uns dann dort.
Er ging nach hinten und öffnete den großen Kühlschrank. Darin befanden sich eine Flasche alkoholfreier Cidre und eine Flasche Champagner, die er am Morgen besorgt hatte. Beide packte er in den Rucksack, zog dann seinen Mantel und die Handschuhe an und ging zu Fuß den kurzen Weg zur Grundschule.
Die Kinder strömten bereits aus dem Gebäude und wurden von ebenso aufgeregten Eltern in Empfang genommen. Toby erblickte Harrison und rief ihn. Sein Sohn kam auf ihn zugelaufen und umarmte ihn in dem Moment, in dem die Sirenen und Hupen in der gesamten Stadt ertönten.
»Es ist offiziell«, sagte Toby und zog seinem Sohn die Mütze über die Ohren. »Komm, gehen wir auf den Weihnachtskranz.«
Sie eilten in Richtung Norden, winkten Freunden zu und gesellten sich zu der immer dichter werdenden Masse. Der runde Marktplatz füllte sich rasant. Aus den Lautsprechern erklang Musik, und wie von Zauberhand waren lauter Buden aufgetaucht, in denen alles von Vogelhäuschen bis zu heißer Schokolade verkauft wurde.
»Reggie wollte auch kommen«, sagte er zu Harrison. »Siehst du sie irgendwo?«
Sie beide ließen ihre Blicke über die Menge schweifen.
»Da!«, rief Harrison und zeigte in die Richtung. Dann lief er los und zog Reggie an der Hand dorthin, wo Toby wartete.
Lachend blieb sie vor ihm stehen.
»Es schneit!« Sie drehte sich im Kreis. »Ich freue mich so. Ich liebe Wishing Tree, wenn es schneit.« Sie lächelte ihn an. »Wie geht es dir?«
Aus einem Impuls heraus beugte er sich vor und gab ihr einen Kuss auf den Mund. Ihre Lippen waren weich und warm, und in der Sekunde, in der er sie berührte, wollte er so viel mehr tun. Ein beinahe schmerzhaft intensives Verlangen erfüllte ihn. Verlangen nach ihr, aber auch nach ihnen beiden. Nach dem, was sie sein könnten.
Doch das hier war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um das weiterzuverfolgen, deshalb zog er sich zurück und lächelte sie an.
»Mir geht es gut. Ich habe Champagner mitgebracht.«
Sie lachte. »Du bist ein sehr kluger Mann. Das gefällt mir.«
Er zog den Reißverschluss an seinem Rucksack auf und goss Harrison einen Becher Cidre ein, dann reichte er die Kekse herum. Danach öffnete er den Champagner und schenkte Reggie und sich ein Glas ein. Gemeinsam stießen sie auf den Schnee an. Harrison trank aus und bat dann darum, mit seinen Freunden spielen zu dürfen.
»Aber bleib auf dem Weihnachtskranz«, sagte Toby.
Harrison grinste. »Dad, ich gehe nirgendwohin. Du musst dir keine Sorgen machen.«
Toby wusste, dass das auf gewisse Weise stimmte. Aber er war auch ein Vater, was bedeutete, dass er sich immer Sorgen machen würde.
»Jetzt wird es endlich Schneemänner geben«, sagte Reggie und lehnte sich an ihn.
»Zum Kaufen?«
Sie lächelte. »In der Stadt. Erinnerst du dich noch? Bis zum ersten Schneefall gibt es keine Schneemänner als Dekoration. Aber in dieser Sekunde holen die Leute ihre Schneemänner raus. Ist das nicht wundervoll? Ich liebe diese Stadt.«
Während sie sprach, lächelte sie, und ihre Augen strahlten vor Glück. Er wollte sie noch einmal küssen, sich dieses Mal Zeit nehmen, sie schmecken, erregen, bis …
»Komm, lass uns shoppen gehen«, sagte sie und schraubte die Cidreflasche zu, um sie in den Rucksack zu stecken. Dann hielt sie die offene Champagnerflasche hoch. »Ich schätze, die müssen wir in der Hand tragen.«
»Oder trinken.«
Sie lachte. »Ja, das ginge auch. Ich möchte ein Vogelhäuschen kaufen, und die besten Angebote gibt es immer beim ersten Schnee.«
Er setzte den Rucksack auf und nahm Reggie dann die Flasche ab.
»So hast du die Hände frei zum Shoppen.«
»Du bist süß. Danke.«
Immer noch hallte Musik über den Platz, und einige Paare tanzten in der Mitte des Weihnachtskranzes. Die jüngeren Kinder machten Schnee-Engel, wo immer sie unberührten Schnee fanden. Harrison und ein paar Jungs in seinem Alter steckten mitten in einer Schneeballschlacht.
Reggie ging voran zu den Buden und Imbisswagen und nahm sich dann Zeit, die Vogelhäuschen zu betrachten. Sie kaufte zwei und danach noch etwas Karamell an einer anderen Bude. Sie fanden eine freie Bank und setzten sich, um den restlichen Champagner zu trinken.
»Mein Team ist schwer beeindruckt von deinem Entwurf«, sagte Toby, während er ihr nachschenkte.
»Das freut mich. Ich hoffe, die Kosten rechnen sich.«
»Ich glaube schon.«
Er stellte die Flasche ab und drehte sich so, dass er Reggie ansehen konnte. Sie hatte einen dicken Mantel an, dazu Handschuhe und Mütze, und er war nicht sicher, ob sie jemals zuvor so schön gewesen war. Das hier war Reggie – er kannte sie. Er kannte sie schon fast sein ganzes Leben.
»Ich habe über das nachgedacht, was du gesagt hast«, setzte er an.
Ihr Blick fing seinen auf. »Das ist schön.«
»Mit einigem hattest du recht.«
Um ihre Mundwinkel zuckte es. »Nur mit einigem?«
»Ich mache mir immer noch Sorgen um Harrison.«
Ihr Lächeln schwand. »Ich weiß, und du hast allen Grund dazu. Wenn ich du wäre, würde ich ihn nicht aus dem Haus lassen.«
»Ich glaube nicht, dass ihn einzusperren ihm dabei hilft, zu heilen.«
»Aber das war deine erste, instinktive Reaktion?«
»Ja.«
Sie nahm seine Hand. »Das verstehe ich, Toby. Wirklich. Du bist ein guter Vater, und er ist ein toller Junge. Aber was den Rest angeht: Du weißt, dass da was zwischen uns ist. Etwas, von dem ich glaube, es ist wert, angeschaut zu werden. Glaub mir, es sind nicht nur nostalgische Gefühle. Ich bin mit Jake essen gegangen, und es war beinahe schmerzhaft offensichtlich, dass da nichts mehr zwischen uns ist. Doch bei dir und mir ist das anders.«
Sie senkte kurz den Blick, dann sah sie ihn wieder an. »Ich frage mich immer noch, was passiert wäre, wenn du die Stadt nicht hättest verlassen müssen. Wenn du stattdessen geblieben wärst und wir geredet hätten. Wenn ich zugehört hätte.«
Die Antwort darauf kannte er bereits. »Ich hätte dich davon überzeugt, mir eine zweite Chance zu geben.«
»Die hättest du nicht gebraucht, denn du hattest nichts falsch gemacht.«
»Du weißt, was ich meine.«
Sie nickte.
Was wäre passiert? Doch noch während er sich die Frage stellte, wusste er auch diese Antwort. Wenn sie wieder zusammengekommen wären, wären sie zusammengeblieben. Er hätte die Stadt niemals verlassen, hätte nie neu angefangen. Er hätte es hier irgendwie geschafft, damit sie immer zusammen sein konnten. Er hätte sie geheiratet.
»Wir könnten inzwischen schon drei Kinder haben«, sagte er gedankenverloren.
»Drei? Das sind ganz schön viele.«
»Dann zwei?«
»Ja, zwei Kinder.« Ihr Lächeln wurde wehmütig. »Aber es gibt kein Zurück. Nur ein Voran.«
Sie lehnte sich in seine Richtung. Er kam ihr entgegen und küsste sie. Sein Verlangen war noch genauso stark, aber dieses Mal wurde es von etwas anderem begleitet. Von einem Gefühl der Richtigkeit. Er wusste nicht, was das bedeutete, aber er würde es für eine Weile da sein lassen und es später analysieren. In der Zwischenzeit würde er so tun, als wäre er immer noch achtzehn und würde sein Mädchen küssen.
Auf dem Heimweg genoss Reggie den stetigen Schneefall und ihr generelles Glücksgefühl. Wie es die Tradition verlangte, waren überall in den Vorgärten Schneemänner aufgetaucht. Sie standen auf Veranden, Treppen und Beeten, und die Mitarbeiter der Stadt hatten sogar Schneemannbanner zwischen den Straßenlaternen gespannt. Der Schnee war gekommen, und jetzt war die Welt in Wishing Tree wieder in Ordnung.
Zu ihrem Hochgefühl trug auch bei, dass die Hochzeit ihrer Eltern in weniger als einer Woche anstand und sie mit allem fertig war. Die Weihnachtskakteen waren mit Schleifen versehen, das Kleid ihrer Mutter war von der Änderungsschneiderei zurück, und laut ihrem letzten Telefonat mit Paisley war auch im Resort alles bereit. Was bedeutete, sie hatte alle Freiheit, um über Tobys Küsse nachzudenken.
Sie waren ziemlich gut gewesen – auf gewisse Weise sogar besser, als sie sie in Erinnerung hatte. Aber vielleicht waren auch alle anderen Küsse in ihrem Leben nur zweite Wahl gewesen.
Toby hatte heute anders gewirkt. Entspannter. Offener. Sie war nicht so dumm, sich Hoffnungen zu machen – er hatte noch viel zu verarbeiten, bevor er gewillt wäre, eine Beziehung einzugehen. Aber vielleicht hatten sie einen kleinen Fortschritt erzielt.
Und das war es, was sie wollte. Sie wollte Toby und Harrison in ihrem Leben haben. Wann genau sie das beschlossen hatte, wusste sie nicht mehr, aber seit heute, seit sie gemeinsam den ersten Schneefall gefeiert hatten, konnte sie es nicht mehr leugnen. Er war schon damals auf der Highschool ein toller Kerl gewesen, und jetzt war er ein noch besserer Mann. Er war ein großartiger Vater, ein intelligenter Geschäftsmann und eine liebevolle Seele. Und er liebte seine Großmutter. Außerdem küsste er fabelhaft.
Mit Toby fühlte sie Dinge, die sie nie zuvor mit einem anderen Mann gefühlt hatte. Ihr Gespräch darüber, wie anders ihre Leben verlaufen wären, hätte er die Stadt nicht verlassen, hatte ihr geholfen, zu sehen, was wirklich wichtig war. Toby war der Eine. Vielleicht war er das schon immer gewesen. Dieser Gedanke machte sie beinahe schwindelig vor Glück. Außer natürlich wenn er sich schwierig anstellen würde. Er war schon immer stur gewesen, und sobald er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er nur schwer davon abzubringen.
»Das ist kein Problem, das heute gelöst werden muss«, sagte sie sich auf dem Weg zur Haustür.
Ein großer, aufblasbarer Schneemann stand mitten im Vorgarten. An der Haustür gab es eine ganze Schneemannfamilie, die Reggie ein Lächeln ins Gesicht zauberte.
»Du warst ja ganz schön fleißig, Mom«, sagte sie, als sie das Haus betrat und anfing, sich auszuziehen.
Mantel und Schal hängte sie an die Garderobe, die Mütze kam auf das kleine Regal daneben, und die dicken Stiefel ließ sie auf der Matte an der Haustür stehen.
Hm, ihre Mutter hatte nicht geantwortet, und Belle und Burt kamen nicht angerannt.
»Mom?«
»Reggie, bist du das? Wir sind im Keller.«
Reggie ging die Treppe hinunter. Auf halbem Weg sah sie ihre Mutter unten stehen.
»Sei nicht sauer«, sagte Leigh, und ihre Miene drückte zu gleichen Teilen Schuldbewusstsein und Amüsiertheit aus.
»Wenn du dich nicht für ein anderes Geschenk für deine Hochzeitsgäste entschieden hast, gibt es keinen Grund für mich, sauer zu sein. Was ist los?«
Leigh zeigte zum hinteren Ende des Kellers, wo Belle mit Burt neben sich auf dem Teppich ausgestreckt lag. Zuerst erkannte Reggie nicht, was ihre Hündin dort machte, aber dann sah sie die zerbrochenen Teile von dem, was einst Gizmos Staubsauger gewesen war. Belle kaute gerade auf einem Stück Gehäuse herum.
»Das ist meine Schuld«, sagte ihre Mutter schnell. »Ich war spät dran, also dachte ich, dass ich deine kleine Erfindung oben ihre Arbeit machen lassen könnte. Als ich von meinen Einkäufen zurückkam, habe ich mir erst nichts gedacht, aber als Belle nicht ankam, um mich zu begrüßen, habe ich mich auf die Suche nach ihr begeben – und das hier gefunden. Sie muss ihn nach unten gebracht haben, um ihn zu töten.«
»Ach Belle.« Reggie versuchte, streng zu klingen. »Darüber wird Gizmo nicht sehr erfreut sein.«
Belle wedelte mit dem Schwanz.
In Wahrheit machte Reggie sich keine allzu großen Sorgen um ihren Klienten. Gizmo hatte mindestens ein halbes Dutzend der Staubsauger in seiner Werkstatt. Belle hatte also nicht das einzige Exemplar kaputtgemacht, aber trotzdem, das Ganze passte so gar nicht zu ihr.
»Du bist ganz schön frech geworden«, sagte sie und holte ihr Handy heraus, um ein Foto von dem Schaden zu machen. »Wenn wir wieder zu Hause sind, müssen wir wohl ein paar Trainingsstunden extra einlegen.«
Sie schickte Gizmo das Foto samt einer Erklärung.
Stell mir die Kosten für den Staubsauger in Rechnung. Und versuch vielleicht, ihn ein wenig hundesicherer zu machen. Belle wird nicht die Einzige sein, die auf ihn losgeht.
Die drei Punkte tauchten auf.
Belle ist großartig. Und du hast recht. Das Gehäuse ist nicht stabil genug. Nach Neujahr werde ich mich darum kümmern.
Reggie steckte ihr Handy weg und schaute ihre Mom an. »Ich räume das eben auf.«
Ihre Mutter hatte Schwierigkeiten, ihr Lächeln zu unterdrücken. »Zu schade, dass wir keinen schicken Staubsaugerroboter haben, der sich darum kümmern kann.«
Reggie brach in lautes Lachen aus.
Micah stand auf der Terrasse seines Hauses in Malibu und schaute auf das unglaubliche Blau des kalifornischen Himmels und des Pazifiks hinaus. Obwohl es bis Weihnachten nur noch zehn Tage waren, herrschten hier milde zweiundzwanzig Grad. Er roch die salzige Seeluft, bewunderte die schöne Aussicht und wollte doch nichts mehr, als wieder in Wishing Tree zu sein und neben Dena aufzuwachen.
Die Proben für die Sendung waren gut gelaufen. Die Producer waren ganz verrückt nach dem neuen Song und hatten ein Orchester engagiert, das ihn begleiten würde. Heute Vormittag würde es noch einen letzten Durchlauf vor der Show heute Abend geben.
Mit dem Kaffeebecher in der Hand ging er wieder hinein. Das Reinigungsteam hatte den Kühlschrank für ihn gut gefüllt. Das Bett im Hauptschlafzimmer war frisch bezogen gewesen, das Bad mit ausreichend Handtüchern bestückt. Er konnte sich weder über den Service noch den Ausblick noch das Haus selbst beschweren. Das Einzige, was hier nicht hergehörte, war er.
Adriana und er hatten das Haus gekauft, als sie noch verlobt waren. Sie wollten es eigentlich zu ihrem Zuhause machen, doch irgendwie waren sie nie dazu gekommen. Lieber gingen sie zusammen auf Reisen, genossen es, die Welt zu sehen. Mit seiner Band war er ab und zu noch aufgetreten, was ihn auf Trab hielt, genau wie das Schreiben neuer Songs. Erst in den letzten Monaten, als Adriana schwanger gewesen war, hatten sie mehr Zeit hier im Haus verbracht.
Doch trotz dieser gemeinsamen Zeit, trotz der Fotos von ihr an den Wänden und ihrer Kleidung im Schrank, war sie nicht hier. Micah hatte im Haus nach Spuren von ihr gesucht, hatte versucht, sie wiederzufinden, zu fühlen, was er gefühlt hatte, als sie noch am Leben gewesen war, doch sie war fort. Er hatte sie geliebt und würde sie immer lieben, aber sie war kein Teil mehr von ihm. Er hatte sich weiterentwickelt.
Langsam ging er in sein Büro, wo sich mehrere Kartons stapelten. Er hatte nicht schlafen können und deshalb den Großteil der Nacht damit verbracht, seine persönlichen Sachen zusammenzusuchen und sie hierherzubringen. Ein paar Erinnerungen aus seiner Ehe, Fotos, einige Kunstwerke, die er im Laufe der Jahre gekauft hatte. Bevor er nach Wishing Tree zurückkehrte, würde er jemanden herholen und mit ihm durchgehen, was er behalten wollte. Die Sachen in seinem Büro, seine Klamotten und alles aus dem Studio unten im Haus. Nicht nur die Gitarren und sein Klavier, sondern auch den Schrank voller halb geschriebener Songs und Ideen, dazu die Notizen von allem, was er je mit seiner Band aufgeführt hatte. Das würde er mitnehmen. Der Rest sollte im Haus bleiben. Er würde es möbliert verkaufen. Irgendein aufstrebender Rockstar oder Filmproduzent würde es sicher zu schätzen wissen, dass er keine Möbel kaufen musste.
Nachdem er geduscht und sich umgezogen hatte, ging er noch mal auf die Terrasse hinaus und machte ein Foto, um es Dena zu schicken.
Du würdest hier gut aussehen.
Inzwischen war sie schon in der Schule, also würde er eine Weile nichts von ihr hören, aber das war in Ordnung.
Sie zu vermissen fühlte sich gut an. Sie zu wollen, sich zu wünschen, dass sie hier bei ihm wäre, gab ihm das Gefühl, lebendig zu sein. Nach so vielen Monaten, in denen er innerlich wie tot gewesen war, hatte er die andere Seite erreicht und fing endlich wieder an, sein Leben zu leben. Es mussten noch Einzelheiten ausgearbeitet und Entscheidungen getroffen werden – einige, die mit seiner Karriere zu tun hatten, andere, die seinen Umzug nach Wishing Tree betrafen.
Sein Handy summte. Er schaute auf das Display in der Hoffnung, eine Nachricht von Dena erhalten zu haben. Doch nein, es war nur der Fahrer seiner Limousine, der Micah ins Studio bringen sollte und nun Bescheid gab, dass er eben vorgefahren war.
Der Verkehr floss erstaunlich leicht dahin, und nach knapp vierzig Minuten waren sie schon da. Micah nahm seine Gitarre, stieg aus und wurde sofort von einem der Assistenten begrüßt, die ihm während der Probe zur Seite stehen würden. Bevor er sich vorstellen konnte, tauchte Electra wie aus dem Nichts auf und warf sich ihm an den Hals.
»Endlich!«, sagte sie mit einem dramatischen Unterton. »Verdammt, Micah, warum hast du mich nicht angerufen? Ich fasse es nicht, dass du seit zwei Tagen in der Stadt bist und dich nicht gemeldet hast.«
Sie schlang ihre langen, dünnen Arme um seinen Nacken und presste sich an ihn. Sie roch nach teurem Parfüm, und ihr Schmuck klimperte bei jeder Bewegung. Diese Frau bestand nur aus Ecken und Kanten, und als sie versuchte, ihn zu küssen, trat er schnell zurück und wandte sich ab.
Ihre grünen Augen wurden groß vor Überraschung. »Was ist los?«
»Es ist schön, dich zu sehen«, log er.
»Das reicht nicht.« Sie zog einen Schmollmund. »Micah, was geht hier vor? Du lässt mich immer wissen, wenn du in der Stadt bist.«
Das war Unsinn. Als er und Adriana zusammen gewesen waren, hatte er Electra überhaupt nicht mehr gesehen. Sie hatten vielleicht zweimal im Jahr miteinander telefoniert, aber mehr auch nicht. Und nachdem er Adriana verloren hatte, war Electra zu treffen das Letzte, was er im Kopf gehabt hatte.
»Ich dachte, wir könnten zusammen zu Abend essen«, sagte sie und berührte ihn leicht am Arm. »Ich habe dich so vermisst.«
»Ich habe heute Abend schon Pläne.«
Die leichte Berührung wurde zu einem Klaps. »Nein, hast du nicht.« Sie funkelte ihn an. »Ich will darüber reden, dass wir wieder zusammenarbeiten. Komm schon. Ich weiß, dass du nicht schreibst, und wir waren immer ein tolles Team. Das können wir wieder sein.«
Sie ließ sich einfach nicht abwimmeln. Wie hatte er nur vergessen können, wie hartnäckig sie war? Nachdem er den Gitarrenkoffer in die andere Hand genommen hatte, schenkte er Electra seine volle Aufmerksamkeit.
»Mein Schreiben läuft im Moment sehr gut«, sagte er. »Ich danke dir für dein Angebot, aber ich bin nicht daran interessiert zurückzugehen. Du hast großes Talent. Du wirst jemand anderen finden, mit dem du schreiben kannst.«
»Aber niemanden, der so gut ist wie du.«
Er täuschte ein Lächeln vor. »Danke für das Kompliment, aber nein. Es tut mir leid.«
Sie glaubte wahrscheinlich, sein »Es tut mir leid« gelte dem Songschreiben. Doch wenn sie später am Abend merkte, dass er nicht »Moonlight for Christmas« sang, dann würde die Hölle losbrechen. Zu dem Zeitpunkt aber wären schon sein Manager und seine Agenten an seiner Seite, und er zählte die Stunden, bis er endlich nach Wishing Tree zurückkehren konnte.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte sie: »In dieser dummen kleinen Stadt ist etwas passiert, oder? Da hast du wieder angefangen zu schreiben.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
»Wir wissen beide, dass das nicht stimmt.« Ihr scharfer Blick glitt über sein Gesicht. »Du hast dich wirklich verändert.«
Er dachte daran, wie er Denas Schülern das Gitarrespielen beigebracht hatte, an das B&B und an Reggies Ermahnung, achtsam mit Denas Herz umzugehen.
»Ja, das habe ich.«
»Es gefällt mir nicht.«
Sie drehte sich um und stolzierte davon. Ihre hochhackigen Stiefel klapperten auf dem Betonboden. Er sah ihr nach. Da habe ich wohl noch mal Glück gehabt, dachte er.
Zu Hause würde er Dena von der Begegnung erzählen. Dann würde er sie in die Arme nehmen und küssen. Er würde ihr sagen, was er empfand, und sie würden über die Zukunft reden. Vielleicht würden sie in ihre Wohnung gehen und einander zum ersten Mal lieben. Die Einzelheiten waren ihm noch nicht ganz klar, aber er wusste, dass er mit ihr etwas Kostbares gefunden hatte, das er nie wieder loslassen würde.