Dena entdeckte vielleicht ein wenig spät in ihrem Leben, dass es ihr nicht lag, sich cool zu geben. Sie war das reinste Nervenbündel, und es gelang ihr nicht, oberflächliches Interesse oder mangelnde Besorgnis vorzutäuschen. Seitdem sie am Morgen erwacht war, war ihr übel. Inzwischen war es Viertel vor acht am Abend und sie ein Wrack.
»Vielleicht solltest du auf und ab gehen«, schlug Reggie vor, während sie braunen Zucker, Sirup und Butter unter Rühren schmolz, um daraus die Glasur für das Popcorn zu machen, das sie während der Liveshow essen wollten. »Um die angestaute Energie loszuwerden.«
»Ich bin nervös«, gab Dena zu.
»Der Mann schreibt dir mehrmals am Tag. Er vermisst dich.«
»Das hoffe ich.«
Vom Kopf her wusste sie, dass Reggie recht hatte. Micah meldete sich regelmäßig bei ihr. Aber ihr Herz machte sich in seiner Abwesenheit Sorgen. Er war in L. A., wo das Leben anders war. Sein altes Leben. Was, wenn er erkannte, dass ihm das besser gefiel als das langsame Tempo in Wishing Tree? Was, wenn er eine süße, nicht schwangere Frau kennenlernte?
Als wäre das nicht genug, machte sie sich auch Gedanken um den Song. Micah hatte gesagt, sie habe ihn dazu inspiriert, aber was bedeutete das? Bedeutete es überhaupt etwas? Oder war es ein albernes Weihnachtslied über Kaninchen, und sie interpretierte viel zu viel in seine Worte hinein?
Warum hatten sie vor seiner Abreise nicht über ihre Gefühle gesprochen? Was, wenn er nicht zurückkäme? Was, wenn sie schnarchte und ihn das anwiderte und er sie nie wiedersehen wollte?
Ihre Mom kam in die Küche. »Okay, Mädels. Es ist so weit.«
Sie nahmen die Schüssel mit dem Karamell-Popcorn mit ins Wohnzimmer. Die Werbung hatte gerade geendet, und nun tauchte eine wunderschön festlich dekorierte Bühne auf dem Bildschirm auf.
Aus dem Hintergrund verkündete eine Stimme: »Live aus Los Angeles, Kalifornien. Eine Weihnachtsfeier mit unseren Gästen.« Dann listete der Sprecher alle Künstler auf, wobei er Micah Ruiz besonders hervorhob. Denas Magen machte einen Salto. Die Sendung ging zwei Stunden, und Micah war erst gegen Ende dran. Sie wusste nicht, wie sie das so lange aushalten sollte.
Endlich, nach einem Dutzend Auftritten, fuhr die Kamera über ein großes Orchester, bevor sie auf Micah anhielt, der auf einem Barhocker saß. Stille senkte sich über das wartende Publikum.
Die ersten Noten der wunderschönen Melodie raubten Dena den Atem. Dann fing er an zu singen.
I thought I’d be alone this Christmas.
Again.
Wouldn’t have a home this Christmas.
Again.
And I was fine.
I was okay.
I’d loved and lost –
That’s just life’s way.
But then the snow fell.
The snow fell.
The snow fell.
The past was gone,
Only memories remained.
Dena starrte ihn an. Sie wusste nicht, was sie denken, was sie fühlen sollte. Ging es in dem Song um sie? Um ihren ersten Kuss?
There you were, with snowflakes sparkling in your hair.
There you were, teaching me to care.
Again…
Inviting me into your heart.
As the snow fell,
I fell
And you fell.
The past was gone,
Only love remained.
Reaching us and healing us and making us into one.
Now I’m going to spend Christmas
With you
And all my next Christmases,
Too.
Because the snow fell.
Die Geiger zogen den letzten Ton in die Länge, bis das Publikum anfing, jubelnd zu applaudieren. Dena blieb wie angewurzelt in ihrem Sessel sitzen. Es ist nur ein Lied, sagte sie sich panisch. Worte, die er aneinandergereiht hatte. Welche Inspiration sie ihm auch immer geliefert hatte, es bedeutete nicht, dass er den Song so meinte, wie er klang.
»Das war so schön«, sagte ihre Mutter mit unglaublich ruhiger Stimme. »Hast du das Lied vorher schon mal gehört, Dena?«
»Nein, er hat es mir nie vorgespielt.«
»Der Mann ist sehr talentiert. Das gefällt mir. Ich frage mich, was Taylor singen wird. Ich liebe sie.«
Vince lächelte. »Vielleicht eine Weihnachtsversion von ›Shake It Off‹?«
Leigh lachte. »Das wäre lustig, oder?«
»Geht es dir gut?«, fragte Reggie ihre Schwester.
»Klar. Natürlich. Warum fragst du?«
»Der Song. Hast du gewusst, was er geschrieben hat?«
Dena wehrte die Frage mit einem, wie sie hoffte, überzeugenden Lachen ab. »Ach, das sind nur Worte, die sich reimen.«
Reggies Blick schien sich in ihre Seele zu bohren. »Bist du dir sicher?«
In dem Moment klingelte ihr Handy. »Ich geh in die Küche!«, sagte sie und lief los, während sie den Anruf annahm.
»Hey.«
Beim Klang von Micahs Stimme wurden ihr die Knie weich. »Hi. Der Song war super. So wunderschön.«
Er sagte etwas, doch der Hintergrundlärm machte es ihr unmöglich, ihn zu verstehen. Sie hörte Leute, die seinen Namen riefen und ihm gratulierten. Jemand in der Nähe sagte etwas darüber, dass sie nachts noch ins Studio müssten.
»Micah? Ich verstehe dich nicht.«
»Ich muss eine Single aufnehmen und komme nicht schon morgen zurück.«
»Oh.«
Er sagte noch etwas, das sie nicht verstand, und dann etwas in der Art von: »Ich melde mich später.« Dann war er weg.
Sie stand allein in der Küche und wusste nicht, was sie denken sollte. Er hatte sie angerufen – das musste doch etwas bedeuten. Und der Song … Nun ja, sie hatte keine Ahnung, was der bedeutete. Durfte sie glauben, dass ihm etwas an ihr lag? War es sicher, ihm ihr Herz zu öffnen? Oder war es zu spät, diese Frage zu stellen? Denn die Wahrscheinlichkeit war groß, dass sie sich schon längst in ihn verliebt hatte. Und wenn der Liedtext nicht mehr als genau das war – ein Liedtext –, dann stand ihr ein sehr schmerzhafter Bruch ihres Herzens bevor.
Micah ertrug das Lob und die Glückwünsche. Er würde später noch mal mit Dena telefonieren, wenn es ruhiger war und sie reden konnten. Es gefiel ihm nicht, dass er das Gespräch mit ihr hatte abbrechen müssen. Nächstes Mal, versprach er sich. Nächstes Mal würde er sie mitnehmen. Oder sich von Wishing Tree aus zuschalten lassen, damit er gar nicht erst wegmusste. Mit der heutigen Technologie könnte er problemlos aus einem Studio vor Ort senden.
»Du hast nicht unseren Song gesungen!«
Die scharfe Anschuldigung sorgte dafür, dass er sich zu Electra umdrehte. Sie funkelte ihn wütend an.
»Du hast gesagt, dass du ›Moonlight for Christmas‹ singst. Darauf habe ich gezählt. Du hast mich angelogen.«
»Ich habe nicht gelogen. Es gab eine Planänderung.«
»Du hast mich nicht vorgewarnt, Micah. Du hast nichts darüber gesagt.«
»Warum sollte ich?« Er packte sie am Arm und zog sie daran von den Leuten weg in eine ruhige Ecke des Korridors. »Electra, wir haben seit Jahren nicht mehr zusammengearbeitet. Ich schulde dir gar nichts. Es tut mir leid, dass du enttäuscht bist, aber es ist an der Zeit, alleine weiterzumachen. Such dir jemand anderen, mit dem du schreiben kannst. Wir beide werden nicht zu dem zurückkehren, was mal war.«
Unerwarteterweise füllten sich ihre grünen Augen mit Tränen. »Aber sie ist nicht mehr da. Sie kann uns nicht mehr voneinander fernhalten. Warum willst du mich nicht, Micah?«
Er trat einen Schritt zurück. »So war es nicht. Sie war nicht der Grund, warum ich nicht mit dir schreiben wollte. Das war allein mein Wunsch.«
Mit Adriana zusammen zu sein hatte ihm erlaubt, Electra so zu sehen, wie sie war. Adriana hatte ihm gezeigt, was es hieß, ein guter Mensch zu sein – jemand, der sich um andere sorgte. Dena war genauso – vielleicht sogar noch mehr. Sie hatte ein ehrliches und offenes Herz.
Er schüttelte den Kopf. »Lass es los, Electra. Es gibt unzählige Songwriter, die töten würden, um mit dir zu arbeiten. Führe ein paar Gespräche, finde gute Leute und mach mit deinem Leben weiter.«
»Fahr zur Hölle.«
Er kehrte in seine Garderobe zurück, wo sein Manager schon auf ihn wartete. Nun würde er nur noch Denas Song aufnehmen und dann endlich nach Hause zurückkehren. Weihnachten stand vor der Tür, und er war auf eine Hochzeit eingeladen. Doch vor allem musste er Dena sehen. Denn ohne sie fühlte sich nichts richtig an.
»Belle, meine Süße, da ist nicht genug Platz.« Reggie schaute in die seelenvollen Augen ihrer Hündin.
Belle stupste ihre Hand mit der Nase an und winselte.
»Ja, ich weiß, dass Harrison kommt, aber es ist sein Projekt. Er darf helfen, die Mützen auszuliefern.«
Belle hob den Blick und winselte erneut. Reggie spürte, wie ihre Entschlossenheit bröckelte.
»Warum bin ich so ein Softie, wenn es um dich geht?«
Reggie kehrte zu ihrem Auto zurück und fing an, Kartons von der Rückbank auf den Beifahrersitz zu stapeln. Wenn sie einen in den Fußraum quetschte und zwei weitere auf den Sitz, könnte der Platz für Belle reichen.
Sie schob und drückte und nutzte schließlich den Gurt, um die Kartons an Ort und Stelle zu halten.
»Bist du nun glücklich?«, fragte sie ihre Hündin.
Belle wedelte mit dem Schwanz.
Sie ging ins Haus und zog Belle einen wärmeren Pullover an, dann rief Reggie ihrer Mutter zu, dass sie jetzt losfuhr.
»Ich bin gegen kurz nach fünf zurück«, sagte sie, denn es war ungefähr eine Stunde pro Strecke. Die Wohltätigkeitsorganisation aus Seattle hatte arrangiert, das sie einen ihrer Fahrer auf einer Raststätte am Highway 2 treffen würde. Damit ersparte sie sich die fünfstündige Fahrt in die Stadt.
Sobald sie Belle auf der Rückbank gesichert hatte, fuhr Reggie an der Grundschule vorbei, wo gerade Schulschluss war. Sie sah Harrison und hupte. Er kam sofort auf sie zugelaufen.
»Ich kann nicht glauben, dass wir das Projekt tatsächlich geschafft haben«, rief er und umarmte sie, bevor er sich auf den Rücksitz setzte. »Belle! Du bist auch da.«
»Sie hat darauf bestanden«, sagte Reggie und überprüfte noch einmal, ob er richtig angeschnallt war. »Sobald ich ihr gesagt habe, dass du mitkommst, wollte sie nicht mehr zu Hause bleiben.«
Sie setzte sich hinters Lenkrad und startete den Motor. »Bereit?«
»Ja!« Er schaute sich um. »Das sind ganz schön viele Kartons.«
»Das stimmt. Du hast da was Tolles in die Wege geleitet, Harrison. Nun haben viele Kinder eine Mütze zu Weihnachten, die sie warm hält. Und das haben sie allein dir zu verdanken.«
Er grinste. Sie lächelte und schaute in den Rückspiegel, bevor sie sich in den Verkehr einfädelte.
Nach ein paar Minuten erreichten sie den Pacific Silver Highway, der sie in Richtung Süden zu ihrem Treffpunkt am Highway 2 bringen würde. Reggie hatte dem Fahrer des Trucks schon eine Nachricht geschickt. Offenbar reiste der Mann in Begleitung eines Chihuahuas namens Rex. Er schien sehr stolz auf seinen Hund zu sein, und Reggie hatte ihm lieber kein Foto von Belle zurückgeschickt. Rex sollte schließlich keine Komplexe bekommen.
Am Vortag hatte es aufgehört zu schneien, später sollte es weitere Schneefälle geben, aber jetzt waren die Straßen noch relativ frei. Reggie fuhr auf den Highway und hielt Ausschau nach vereisten Stellen. Es war ziemlich kalt, und sie wollte keinen Unfall riskieren.
Während der Fahrt unterhielten sie und Harrison sich über seinen Tag in der Schule und darüber, wie sehr er sich auf Weihnachten freute. Er sei zu groß, um noch an den Weihnachtsmann zu glauben, erzählte er, sie hängten aber am Heiligabend immer noch Socken an den Kamin.
»Das machen Dena und ich auch«, erklärte sie ihm lachend. »Meine Mom besteht darauf, und ehrlich gesagt wäre ich enttäuscht, wenn ich am Weihnachtsmorgen aufwachen und keinen vollen Socken vorfinden würde.«
Ein Pick-up raste mit gut zwanzig Meilen über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit an ihnen vorbei. Reggie sah ihm nach. Was für ein Idiot, dachte sie. In einer Stunde würde es dunkel werden, und sie hatten gerade den ersten Schnee des Jahres gehabt. Es war besser, vorsichtig zu sein.
Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass ein weiterer Pick-up hinter ihr näher kam. Er fuhr auch viel zu schnell, und Reggies Magen zog sich angespannt zusammen.
»Fahr rüber, du Trottel«, murmelte sie, den Blick weiter auf den Rückspiegel geheftet.
Der Fahrer schien unaufmerksam zu sein, denn der Wagen kam immer näher. Reggie beschleunigte, doch er folgte. Dann riss er den Wagen nach links rüber, als wollte er sie überholen. Doch dabei hatte der Fahrer sich verkalkuliert, sodass er sie rechts hinten streifte.
Sofort fing ihr SUV an, sich zu drehen. Reggie löste ihre Finger bewusst vom Lenkrad und wartete darauf, dass ihr Wagen sich für eine Richtung entschied. Dann lenkte sie in die Gegenrichtung und nahm den Fuß vom Gas, um das Fahrzeug langsam wieder unter ihre Kontrolle zu bringen.
»Alles gut, Harrison«, rief sie. »Halt dich an Belle fest.«
Die Anschnallgurte würden sie schützen. Zum Glück war auch Belle gesichert.
Sie hatte gerade die Kontrolle über ihren Wagen zurückgewonnen, da sah sie, dass der Pick-up, der sie gestreift hatte, sich immer noch auf dem Highway drehte. Er schleuderte wild von rechts nach links, als wüsste der Fahrer nicht, was er tat. Mit einem Mal schoss er auf sie zu. Sie versuchte, ihm auszuweichen, doch er krachte in sie hinein und schob sie von der Straße.
Die Welt drehte sich um sie, als ihr Wagen sich überschlug. Harrison schrie auf, Belle fiepte, und Reggie verspürte einen heftigen Schlag auf den Kopf.
Ganz langsam kam Reggie wieder zu sich. Ihr erster Gedanke galt Harrison. Doch gleich darauf fürchtete sie, sich übergeben zu müssen. Erst da explodierte der Schmerz in ihrem Kopf und ihrer Seite.
Sie wusste genau, was passiert war. Sie waren zweimal getroffen worden, und ihr Auto hatte sich überschlagen. Jetzt stand es wieder auf den Rädern, aber die Windschutzscheibe war zersplittert und der Motor aus.
Mit einem Mal wurde sie sich der Stille bewusst.
»Harrison?«, brachte sie heraus. »Harrison?«
»Mir geht es gut.«
Die Stimme kam von hinter ihr.
Sie drehte den Kopf und sah ihn auf der Rückbank, Belle neben sich. Sie sahen beide erschüttert aus.
»Bist du verletzt?«, fragte sie über Belles Wimmern hinweg.
»Reggie, du blutest.«
»Mir geht es gut.«
Die Worte kamen ihr automatisch über die Lippen. Sie löste den Gurt und schätzte den Schaden ein. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie laufen konnte. Mit der Hand strich sie sich übers Gesicht und merkte, dass sie sich irgendwo den Kopf gestoßen haben musste. Das Blut war warm und klebrig.
»Beweg mal deine Finger und Zehen«, sagte sie, während sie nach ihrer Handtasche suchte. »Geht das?«
»Ja. Meine Brust tut etwas weh vom Gurt, aber sonst bin ich okay.«
Sie öffnete die Tür. Sie musste ihre Handtasche finden und Hilfe rufen. Auf dem Highway hatten Autos angehalten, die Fahrer würden den Notruf wählen, aber Toby musste wissen, was passiert war.
»Ich brauche mein Handy.«
»Ich hole es.«
Harrison löste seinen und Belles Gurt und stieg aus. Belle folgte ihm. Sie schüttelte sich einmal und trottete nach vorn, um Reggie abzuschnüffeln, wie um sicherzugehen, dass es ihr gut ging. Harrison öffnete die Beifahrertür.
»Ich hab sie.«
Er rannte um den Wagen herum und reichte Reggie die Handtasche. Sie holte ihr Handy heraus und suchte Tobys Nummer, fand sie jedoch nicht. Erst da merkte sie, dass sie nicht klar sehen konnte. Ihr Blick war verschwommen und die Übelkeit zurückgekehrt.
»Ruf deinen Dad an.« Ihr Bewusstsein schwand langsam. »Hör mir genau zu, Harrison«, stieß sie hervor. »Ruf deinen Dad an und sag ihm, was passiert ist. Dann steig mit Belle wieder hinten ein. Halte dich an ihr fest, um nicht auszukühlen. Sie wird dich beschützen.«
Sie deutete auf die Leute, die auf sie zugelaufen kamen. »Bitte sie um eine Decke. Sorge dafür, dass jemand den Notruf wählt. Okay?«
Er trat auf sie zu. »Geht es dir gut?« Tränen rannen über seine Wangen. »Reggie, nicht sterben.«
Sie brachte ein Lächeln zustande. »Ich werde nicht sterben. Ich habe mir den Kopf angeschlagen. Halte dich warm und kümmere dich um Belle.«
»Okay.«
Er wählte die Nummer seines Vaters. Zwei Männer erreichten sie. Einer von ihnen sah Reggie an und fluchte leise.
»Hilfe ist unterwegs«, sagte er, und das war das Letzte, was sie noch mitbekam.
Dena war dankbar, dass sie an diesem Tag so viel zu tun gehabt hatte – somit war ihr weniger Zeit zum Nachdenken geblieben. Sie hatte unterrichtet und war danach nach Hause geeilt, um den Empfang im B&B zu übernehmen. Winona musste etwas erledigen, und Dena sprang für sie ein. Da es mitten in der Woche war, checkten nicht viele Gäste ein oder aus. Die meisten würden über die Feiertage bleiben. Von den Pinkertons bekam sie immer noch regelmäßig E-Mails, in denen sie ihre Hoffnung auf eine Stornierung in letzter Sekunde ausdrückten, aber bisher hatte es die nicht gegeben.
Das alles war eine sehr willkommene Ablenkung davon, dass sie den ganzen Tag nichts von Micah gehört hatte. Nach der Achterbahnfahrt ihrer Gefühle gestern am Tag der Show hätte sie zu gern gewusst, was der Song zu bedeuten hatte. Nicht dass sie ihn das hatte fragen können. Als er um kurz nach Mitternacht noch einmal anrief, wollte er sie nicht allzu lang aufhalten, weil es schon so spät war. Bevor sie sagen konnte, dass ihr das nichts ausmachte, hatte er schon wieder aufgelegt. Und sie verstört und verwirrt zurückgelassen.
»Er ist bald zurück«, redete sie sich gut zu. Das hatte er versprochen, und er würde sein Wort ganz sicher halten.
Sie ging in die Küche und machte sich an die Vorbereitung für die Snack- und Weinstunde. Ursula hatte heute Blätterteigtaschen mit Shrimp- und mit Wildpilzfüllung vorbereitet. Dena versuchte, sich nur ein paar von jeder Sorte zu gönnen. Sie musste wirklich mehr Gemüse essen, und wenn sie sich mit diesen fluffigen Köstlichkeiten vollstopfte, würde sie das niemals tun.
Gerade war sie mit dem Arrangieren der Weinflaschen fertig, als sie die Glocke an der Haustür hörte. Sofort waren alle ihre Sinne alarmiert. Wollte Micah sie überraschen, indem er früher zurückkam? War er hier?
Sie lief nach vorn in der Hoffnung, ihn am Empfang stehen zu sehen, doch leider war es nicht Micah, sondern eine Frau – eine schlanke, wunderschöne Rothaarige mit wütend funkelnden Augen und gereizter Miene.
»Ich suche nach diesem Zimmer«, sagte Electra und knallte Micahs Schlüssel auf den Tresen. »Micah Ruiz hat mich geschickt, um für ihn auszuchecken und seine Sachen packen zu lassen.« Sie schaute sich um. »Was für ein Albtraum. Wer auch immer hier dekoriert hat, hat wohl noch nie den Ausdruck ›Weniger ist mehr‹ gehört.« Sie wandte sich an Dena. »Sein Zimmer? Wo finde ich das?«
Dena hatte Schwierigkeiten zu verstehen, was vor sich ging. Electra war hier, um Micahs Sachen zu holen? Aber er kam doch zurück. Das hatte er versprochen.
»Mr. Ruiz hat keine Anweisungen hinterlassen, jemand anderem Zutritt zu seinem Zimmer zu gewähren«, sagte sie und zwang sich zu einem freundlichen Lächeln.
Electra wedelte mit dem Schlüssel. »Ich brauche keine Erlaubnis, oder? Ich habe den Schlüssel. Er hat im Studio zu tun und kann sich nicht um solche Belanglosigkeiten kümmern, wie seine Sachen selbst zu holen.«
Dena wusste nicht, was sie glauben sollte. Micah konnte nicht wieder mit Electra zusammen sein. Nicht so schnell. Er hatte geschworen, dass er sie nicht einmal sonderlich mochte. Aber Electra hatte seinen Schlüssel. Woher sollte sie den haben, wenn nicht von ihm?
»Ich zeige Ihnen das Zimmer«, sagte sie steif und ging in Richtung Haustür. »Es befindet sich im Kutschenhaus.«
»Es ist so kalt hier. Und der ganze Schnee. Was soll das? Wenn er mit den Aufnahmen im Studio fertig ist, werden wir irgendwo in die Tropen fliegen. Nur wir beide. Ich kann es kaum erwarten. Drei Wochen voller Sonne, Strand und Sex. Dann fliegen wir wieder heim und fangen an zu schreiben. Das wird wundervoll.«
Dena blieb vor der Tür zu Micahs Suite stehen. Electra schloss auf und trat ein. Dann schaute sie sich um und rümpfte die Nase.
»Was für ein Loch. Wie hat er es hier so lange ausgehalten?«
Sie ging durchs Wohnzimmer ins Schlafzimmer und kehrte kurz darauf zurück. »Ich nehme seine Gitarren mit. Den Rest können Sie seinem Manager schicken. Hier ist die Adresse.«
Sie reichte Dena eine Visitenkarte.
»Stellen Sie ihm den Versand in Rechnung.«
Keine fünf Minuten später war Electra wieder weg. Sie hatte die zwei Gitarren mitgenommen und alles andere zurückgelassen – darunter eine verblüffte Dena, die in Micahs Wohnzimmer stand und versuchte, sich daran zu erinnern, wie man atmete.
Er war weg. Einfach so. Ohne ihr etwas zu sagen, ohne auch nur die geringste Andeutung zu machen. Er hatte einfach nur diese grauenhafte Frau geschickt, um seine Gitarren zu holen. Und nun sollte sie, Dena, seine Sachen einpacken und zu ihm schicken? Als hätte ihre gemeinsame Zeit überhaupt nichts bedeutet? Als hätte sie nichts bedeutet?
Was war mit dem Song? Was mit ihrer gemeinsamen Nacht? Was mit den Küssen und den Dingen, die er gesagt hatte? Sie hatte gehofft, dass sie …
Sie ließ sich aufs Sofa sinken und schlug die Hände vors Gesicht. Das hier konnte nicht wahr sein. Es passierte nicht wirklich. Sie hatte ihm ihr Herz geschenkt, und er war wieder mit Electra zusammen?
Ihr Handy klingelte. Sie holte es in der Hoffnung heraus, dass es Micah war. Doch es war nur ihre Mutter.
»Hi, Mom.« Sie bemühte sich, nicht so zu klingen, als würde sie weinen.
»Dena, Reggie hatte einen Unfall. Ihr Wagen hat sich überschlagen, und sie hat das Bewusstsein verloren.«