Vorsichtig näherten sich Sunfrost und die anderen dem Heptaeder. Die Marines DiStefano und Levoiseur waren die ersten, die ihn erreichten.
Miller, Brasco und Nabiles – drei weitere Marines – kümmerten sich um ihre Kameraden Trockau und Ruben.
Aber da war nichts mehr zu machen.
Innerhalb der Anzüge war nichts weiter als ein graues Pulver zu finden, in das die Körper der von den blassrosa Strahlen getroffenen Marineinfanteristen umgewandelt worden waren.
Sunfrost schwebte hinzu und landete mit ihrem Antigrav-Pak bei den Marines.
„Captain, so etwas habe ich noch nie gesehen“, stellte Ali Miller sichtlich konsterniert fest. „Der Anzug ist vollkommen unversehrt – aber die Strahlung ist offenbar durch die Panzerung gedrungen und hat einen chemischen Umwandlungsprozess bewirkt.“
Sunfrost schluckte.
Es gab Dinge, an die sich auch der Captain eines Kriegsschiffs niemals gewöhnen konnte. Zumindest wenn dieser Captain Rena Sunfrost hieß. Und dazu gehörten Verluste unter der Mannschaft, ganz gleich ob die nun bei Außenmissionen oder im Gefecht zu beklagen waren.
Sunfrost hatte sich bewusst dafür entschieden, die Schiffsärztin Dr. Nikolaidev nicht an der Außenmission teilnehmen zu lassen. In diesem Fall wäre ihr die Aufgabe zugefallen, eine umfassende Analyse der Todesursache durchzuführen und natürlich bestand auf einer Außenmission immer ein erhöhtes Risiko für die Teilnehmer, die Hilfe eines Arztes in Anspruch nehmen zu müssen. Demgegenüber hatte Sunfrost aber abwägen müssen, was es möglicherweise für die Mannschaft bedeutete, wenn die STERNENKRIEGER II während eines zukünftigen Gefechts ohne Schiffsarzt war. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in Kürze erneut zu Kampfhandlungen kam, war sehr groß. Schließlich näherte sich eine Etnord-Flotte dem Nabman-System, deren Absichten noch völlig im Unklaren lagen.
Sunfrost wandte sich an die Marines. „Stellen Sie eine stabile Datenverbindung zur STERNENKRIEGER und Dr. Nikolaidevs Krankenstation her“, befahl sie. „Nehmen Sie Ihre Ortungsgeräte und scannen Sie die Körper der Gefallenen – oder das, was von ihnen übrig geblieben ist – mit einer größtmöglichen Auflösung ab und schicken Sie die Daten an unsere Schiffsärztin. Vielleicht bekommen wir dadurch ja ein paar brauchbare Hinweise.“
„Ja, Ma’am“, murmelte Miller.
Sein Kamerad Lew Brasco begann bereits mit der Arbeit und nahm den Ortungsscanner von der Magnethalterung seines schweren Kampfanzugs.
Rena schwebte zurück und landete in der Nähe des in den Boden eingesunkenen Heptaeders.
Riggs und Bruder Guillermo führten gerade ein paar Messungen durch.
„Energiestatus des Objekts ist mittlerweile auf Null gesunken“, meldete Lieutenant Riggs. „Ich denke, es geht keine Gefahr mehr von dem Objekt aus.“
„Vermutlich handelt es sich um irgendeine Art von automatischem Abwehrsystem“, schloss Corporal Terrifor.
„Aber wohl kaum um eine mechanische Abwehr, die noch von den Fulirr installiert wurde...“, äußerte sich Bruder Guillermo. Er hatte sich in der Zwischenzeit am weitesten an den Heptaeder herangewagt und berührte ihn schließlich, nachdem er ein paar Scans vorgenommen hatte. „Seltsam“, sagte er. „Die obere Hälfte des Objekts lässt sich abtasten, aber alles, was sich in der Gesteinsschicht befindet, ist scheinbar nicht mehr vorhanden.“
„Oder wurde abgeschirmt“, lautete Riggs’ Schluss.
Bruder Guillermo zuckte die Schultern. „Zugegeben, das ist auch eine Möglichkeit.“
„Jedenfalls dürfte es ausgeschlossen sein, den Heptaeder aus dem Gestein herauszuholen und ihn zu Untersuchungszwecken an Bord zu nehmen.“
„Jemand hat also die Mechanismen der uralten Anlage unterhalb des Doms in Betrieb genommen“, stellte Sunfrost fest, während sie den seltsam gewellten Boden berührte.
„Direkte Umwandlung von Energie in Materie und umgekehrt – das scheinen die Erbauer dieser ominösen Anlage perfekt zu beherrschen“, kommentierte Riggs den verwunderten Blick des Captains auf den wiederhergestellten Steinboden.
„Na ja, fast perfekt“, schränkte Rena Sunfrost ein.
Riggs hob die Augenbrauen. „Offenbar war dieser Mechanismus nicht dafür geschaffen, dass mitten in der Rematerialisierungsphase der Heptaeder in den betroffenen Bereich gerät.“
„Trotzdem ist es eine eigenartige Vorstellung, dass Teile dieses Gebäudes offenbar aus nichts weiter als in Form gebrachte Energie bestehen“, meinte Nirat-Son.
Bruder Guillermo hielt sein Gerät auf eine der Außenwände. „Ehrlich gesagt, sind mir von Anfang an gewisse Strukturanomalien des Materials auf subatomarer Ebene aufgefallen“, erklärte der Olvanorer nun. „Allerdings habe ich sie als Ergebnisse eines Materialveredlungsprozesses angesehen, der bei diesem Gestein irgendwann einmal durchgeführt wurde.“
„Achtung! Da oben!“, rief Terrifor.
Die Blicke gingen ins Kuppeldach, wo das Material plötzlich in Bewegung geraten zu sein schien. Für Augenblicke schien es transparent zu werden. Bruder Guillermo ortete eine kurzzeitige energetische Spitze.
Dann waren die Einschusslöcher verschwunden, die durch die abgeprallten Gauss-Geschosse verursacht worden waren.
„Der Konsensdom erhält sich selbst“, stellte Sunfrost fest. „Kein Wunder, dass er schon eine Ewigkeit steht...“
„Mal vorausgesetzt, das gesamte Gebäude verfügt über diese regenerativen Eigenschaften, dann können wir sämtliche Spekulationen über das Alter des Doms ad acta legen“, erklärte Bruder Guillermo. „Sämtliche Altersbestimmungen, die wir auf Grund von Strukturuntersuchungen durchgeführt haben, sind wertlos geworden. Was wir bestimmen können, ist allenfalls den Zeitpunkt der letzten Restrukturierung.“
„Das bedeutet, dieses Bauwerk könnte tatsächlich eine Million Jahre alt sein“, schloss Sunfrost.
„Oder eine Milliarde“, sagte Bruder Guillermo. „Niemand kann das sagen und wenn das Material eine auf subatomarer Ebene gesicherte Information zu seiner eigenen Wiederherstellung enthält, kann es sich auch geologischen Umwälzungen anpassen, die innerhalb derartiger Zeiträume mit Sicherheit stattgefunden haben.“
Plötzlich ertönte ein schabendes Geräusch.
Das Innenschott, an dem sich Erixon und Nirat-Son bereits eine ganze Weile versucht hatten, öffnete sich jetzt endlich.
Dahinter gähnte ein breiter, hoher Korridor, an dessen Ende sich in einer Entfernung von gut hundert Metern ein weiteres Schott befand.
Nirat-Son, Sunfrost und der Marine James Levoiseur schwebten zum gerade geöffneten Innenschott und landeten dort.
„Das ganze scheint als Hindernisrennen konzipiert zu sein“, seufzte Erixon.
„Glauben Sie tatsächlich, dass diese Anlage zu sportlichen Zwecke erschaffen wurde?“, erkundigte sich Nirat-Son sichtlich irritiert. „Oder ist das ein Beispiel für eine Botschaft, die in Wahrheit etwas ganz anderes aussagt, als es ihrer Semantik entspricht? Ich glaube, Ironie wird dieses Phänomen bei Ihnen genannt.“
„Sie haben richtig vermutet“, nickte Erixon, dessen Lächeln im Zusammenspiel mit den nicht menschlich wirkenden Facettenaugen immer einen sehr zwiespältigen Eindruck hinterließ und für seine Gesprächspartner schwer einzuschätzen war. „Sie kennen so etwas nicht?“
„Im Anfang war das Wort und das Wort hatte heiligen Ernst, so heißt es in den Schriften des Ersten Aarriid“, erwiderte Nirat-Son. „Ich erinnere mich daran, dass mein Schiffskommandant während des ersten Menschen-Krieges einmal sehr verwirrt war, als wir einen Funkspruch auffingen. Darin kündigte ein Kommandant an, künftig seine Gauss-Kanonen gegen das eigene Oberkommando zu richten und wir glaubten daher an eine bevorstehende Rebellion innerhalb des Space Army Corps. In Wahrheit gehörte diese Bemerkung wohl auch in die Rubrik Ironie und Sarkasmus, die zu verstehen ich mich nach wie vor vergeblich bemühe.“
„Das schaffen Sie schon“, grinste Erixon.