Der Erdmensch führte Rena ein ganzes Stück den Korridor entlang. Dabei bildete der Pshagir stets die Nachhut, so als befürchteten die beiden, dass ihnen noch jemand folgen könnte.
Tatsächlich folgten ihnen aber nur die beiden Xabo. Sie erhoben sich bis hoch unter das Kuppeldach des gewaltigen, kathedralenartigen Raumes – eine Frachthalle, wie Rena annahm – und setzten sich schließlich in gebührendem Abstand wieder auf eine der Wände.
„Lästige Biester!“, meinte der Erdmensch. „Nehmen Sie sich vor denen in Acht, die folgen Ihnen überall hin und Sie wissen nie in wessen Auftrag sie unterwegs sind.“
„Das politische System der Xabo sieht Mord als legale Möglichkeit des Führungswechsels vor“, sagte Rena. „Ich nehme an, dass es für sie daher nicht besonders schwierig war, sich hier einzugewöhnen!“
„Das können Sie laut sagen!“
Eine Gänsehaut überzog Renas nackten Körper. Ein kalter Luftzug fegte jetzt durch das Labyrinth der Sklavenpferche. Das Irritierende war, dass dieser Wind von mehreren Seiten und von oben gleichzeitig zu kommen schien.
Rena verschränkte die Arme vor der Brust und zitterte.
„Das ist die Frischluftzufuhr“, erklärte der Erdmensch. „Die geht einmal am Tag für eine bis anderthalb Stunden an.“
„Tag?“, echote Rena irritiert.
„28 Erdstunden.“ Er deutete auf einen Ring an seinem linken Mittelfinger. „Das ist das Chronometer eines Belbujaar.“
„Nie gehört?“
„Eine Spezies, die ich auch nicht kannte, bevor es mich in diese Hölle verschlagen hat. Stellen Sie sich einen aufrecht gehenden Lurch mit fünf Extremitäten vor, wovon er drei zum Laufen benötigt. Er war ein Amphibienabkömmling und ich würde sagen, es war hier einfach zu trocken für ihn. Bevor er starb hat er mir das Ding geschenkt.“
„Da klingt, als wären Sie schon länger hier.“
„Schon viel zu lange, wenn Sie mich fragen. Aber ich schätze, wir stellen uns alle besser darauf ein, hier den Rest unseres Lebens zu verbringen. So ist es jedenfalls von unseren Gastgebern gedacht.“
Sie erreichten eine Abzweigung, die in einen Raum führte, in dem sich etwa ein Dutzend K'aradan aufhielten. Männer, Frauen, auch Kinder.
Rena zögerte zunächst.
„Das sind Freunde“, sagte der Erdmensch. „Sie können natürlich auch auf eigene Faust weitergehen, wenn Sie wollen. Ich werde Ihnen keine Vorschriften machen.“
Nackt unter Wölfen. Sehr witzig.
Zögernd folgte Rena ihrem Retter. Einer der K'aradan-Männer kam ihnen entgegen. Der Erdmensch wechselte ein paar Worte mit ihm in der K'aradan-Sprache, die er offenbar nahezu perfekt zu beherrschen schien.
Der K'aradan-Mann, der innerhalb dieser Gruppe eine Art Anführerposition zu haben schien, rief nun seinerseits etwas zu seinen Leuten. Dem Tonfall nach waren es Anweisungen.
Eine der Frauen kam herbei. Sie trug ein zusammengefaltetes Stück Stoff in den Händen. Zunächst musterte die K'aradan-Frau Rena von oben bis unten, dann sagte sie etwas an den Erdmenschen gerichtet.
Dieser antwortete.
Daraufhin reichte die K'aradan-Frau Rena den Stoff.
„Nehmen Sie das und ziehen Sie es sich an.“
Das ließ sich Rena nicht zweimal sagen.
Bei dem zusammengefalteten Stück Stoff handelte es sich um ein tunikaartiges Gewand. Da ein Gürtel fehlte, hing es ihr wie ein Sack am Leib. Immerhin reichte es bis fast zu den Knien. Besser als nichts, überlegte sie.
„Mein Name ist übrigens Bran Larson“, sagte der Erdmensch, in dessen Gesicht sich zum ersten Mal die Ahnung eines Lächelns stahl. Rena sah ihn sich zum ersten Mal wirklich mit Verstand an. Die Kombination mit dem DIT-Logo wies starke Abnutzungserscheinungen auf und war an einer Stelle bereits geflickt.
Das Alter dieses Mannes schätzte Rena auf Anfang vierzig. Die Haare waren hinten zu einem Zopf zusammengefasst. Rena hatte gehört, dass dies auf manchen Außenwelten der K'aradan üblich war.
Das Reich der Söhne Aradans umfasste ein Raum-Ellipsoid von mehr als tausend Lichtjahren Durchmesser. Aber jenseits dieser fest zum Reich gehörenden Zone gab es noch Hunderte von mehr oder minder unabhängigen K'aradan-Welten in einem Korridor, der fast zweihundert Lichtjahre breit war und sich an den eigentlichen Herrschaftsbereich des Erbtriumvirats anschloss.
Die Herrschaft der Zentralwelt Aradan endete nicht abrupt, sondern franste an den Rändern aus. Es gab Welten, die nominell noch unter der Oberherrschaft Aradans standen, andere waren lediglich durch Bündnisverpflichtungen mit dem Reich verbunden und wieder andere, teilweise noch viel weiter entfernt gelegene K'aradan-Kolonien, hatten sich schon vor langer Zeit vom Reich losgesagt und ihre Unabhängigkeit im Streit gegen das Erbtriumvirat erkämpft. Die Ursachen waren vielfältig und reichten von verfemten Adelshäusern, denen das Triumvirat die Herrschaft über ein planetares Lehen wieder abzunehmen versucht hatte bis hin zur Auflehnung gegen Handelsbeschränkungen und bürokratische Drangsalierung durch die Zentralregierung.
Ein Großteil der Sklaven, die sich an Bord dieses Mutterschiffs befanden, stammte zweifellos von jenen entlegenen Kolonien, von denen sich gewiss nicht alle gegen die plündernden Morrhm hatten wehren können.
Zumindest stand für Rena fest, dass der Großteil der Sklaven sich schon sehr lange an Bord der LASHGRA befinden musste. Wahrscheinlich Jahre, gemessen an irdischen Maßstäben. Anders war es einfach nicht erklärlich, dass sich offenbar bereits so etwas wie eine Sklavengesellschaft herausgebildet hatte, in der es feste Hierarchien gab. Den Morrhm schien es dabei weitgehend gleichgültig zu sein, wie die Sklaven ihre Streitigkeiten untereinander regelten.
Nur wenn Stammeseigentum vernichtet wurde, wurden sie ungehalten, wie jener Morrhm, der Rena hierher brachte, bereits mehr als deutlich zum Ausdruck gebracht hatte. Das war nichts anderes als eine Warnung gewesen. Schlage jeden, töte niemanden – sonst gibt es Ärger.
Bran Larsons Züge wirkten hart und entschlossen.
„Warum tun Sie das alles für mich?“, fragte Rena.
„Ich denke, Menschen sollten zusammenhalten. Es gibt nämlich nur sehr wenige hier von uns. Und da wir den K'aradan körperlich und vom Reaktionsvermögen her unterlegen sind, empfiehlt es sich nicht gerade, darauf zu setzen, sich als Einzelkämpfer durchzuboxen.“
Der Anführer der K'aradan-Gruppe stand noch immer in der Nähe und hörte dem Gespräch der beiden Menschen interessiert, aber auch mit einer deutlichen Portion Misstrauen in den Gesichtszügen zu. Zumindest sofern man die Mimik von Menschen einfach auf K'aradan übertragen kann, dachte Rena.
Jedenfalls hielt es Bran Larson wohl für angemessen, den K'aradan in das Gespräch mit einzubeziehen.
„Dies ist Herkon Lakiv, der Anführer dieser Gruppe. Ihm sind Sie jetzt Gehorsam schuldig.“
„Wie bitte?“
„So ist das hier nun einmal. Für die Morrhm sind Sie eine K'aradan-Frau. Die machen da keine Unterschiede. Und wie die Sklaven sich untereinander organisieren, ist ihnen überlassen. Hauptsache, die Verluste sind möglichst nicht tödlich und die anstehende Arbeit wird zuverlässig verrichtet. Alles andere interessiert unsere Gastgeber nicht.“
Rena atmete tief.
Ich wusste doch, dass das alles einen Haken hat. Ein Kleid gegen Gehorsam. Klingt nach Dienst im Space Army Corps bei gestrichenem Sold.
„Wenn es Sie tröstet, dann sollten Sie wissen, das Herkon Lakiv auch nicht an der Spitze der Hierarchie steht. Das Ganze ist organisiert wie in den Mafia-Epen, die Sie als Computerspiele oder Multimediadramen kennen. Man schützt sich gegenseitig und verlangt dafür eine Gegenleistung, die in der Regel in der Gefolgschaft besteht. Irgendwer ist dann der Ober-Pate, der direkt mit den Morrhm spricht.“
Herkon Lakiv sagte etwas.
„Er möchte, dass Sie ihm Gefolgschaft versichern“, übersetzte Bran Larson. „Ich würde nicht lange überlegen. Sie haben gesehen, was mit denen passiert, die niemanden haben, der sie schützt.“
„Dann sagen Sie ihm, dass ich einverstanden bin.“
„In Ordnung.“
Larson sagte ein paar Worte auf K'aradan. Herkon Lakiv schien zufrieden zu sein. Er wandte sich zu den anderen und hielt eine kleine Ansprache an sie.
„Was sagt er?“, fragte Rena an Larson gewandt.
„Nicht weiter der Rede wert.“
„Und wer ist dieser Ober-Pate?“
„Der Don des Sklavenschiffs?“ Larson zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ob er wirklich der Höchste ist. Aber er ist der Höchste, den ich kenne. Sein Name ist Milan D’aerte, ein K'aradan der wahrscheinlich schon vor seiner Gefangennahme kein angenehmer Charakter war. Herkon Lakiv ist einer seiner Unterführer. Auf sich allein gestellt überlebt hier niemand. Es geht um die Verteilung der Nahrungsmittel, die Einteilung der Arbeit und so weiter. Wer außerhalb der Organisation steht, muss sehen, was übrig bleibt.“
„Ich verstehe.“
„Sie können hier irgendwo schlafen. Ihnen wird nichts passieren – zumindest so lange Sie Herkon Lakiv die Treue nicht aufkündigen.“
„Danke.“
„Ich habe Sie bisher noch nicht nach Ihrem Namen gefragt.“
Rena blickte auf. „Ich bin Captain Rena Sunfrost, Kommandantin des Space Army Corps Schiffs STERNENKRIEGER II.“
Larson hob die Augenbrauen. „Das Space Army Corps so weit draußen?“
„Wie lange sind Sie schon in Gefangenschaft, Larson?“
„Nenn mich Bran.“
„In Ordnung, Bran.“ Rena lächelte schwach. Das Kinn schmerzte dabei höllisch – und außerdem noch ein paar andere Stellen im Gesicht, die etwas von dem Trommelfeuer an Schlägen abbekommen hatten. Überall gab es kleinere und größere Schwellungen. Gut, dass es hier keine Spiegel gibt, dachte sie. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Ich werde meinerseits auch nicht darauf bestehen, dass ich mit meinem Rang angesprochen werde.“
„Das freut mich zu hören“, lächelte Larson.
„Meine Frage ist dennoch nicht beantwortet.“
„Ich bin ein paar Monate an Bord dieses Schiffes.“ Er deutete auf das DIT-Emblem auf seiner Kleidung. „Wie du siehst, war ich für eine Firma aus den Humanen Welten tätig und leitete eine Niederlassung der K'aradan-Welt Kenandra. Schon seit Jahren bin ich als Geschäftsmann im Reich von Aradan unterwegs. Auch in den Zeiten, als Menschen dort aus außenpolitischen Gründen keine besonders hohe Wertschätzung genossen. Saurierfreund und Echsenspion hat man mich genannt, aber ich habe mich durchgebissen und bis auf die sprichwörtlichen Reflexe, die man den K'aradan zuschreibt, bin ich fast einer der ihren geworden.“
„Erstaunlich, dass du dich durchsetzen konntest, Bran“, fand Sunfrost. „Schließlich ist es erst kaum ein Jahr her, dass sich das Verhältnis zu den K'aradan ins Positive gewandelt hat.“
„Mag sein. Aber das Reich der K'aradan ist wirklich unermesslich groß – und genau das war mein Vorteil. Auf der uns zugewandten Seite dieses Imperiums mag man sich ja dafür interessieren, dass die Menschheit lange Zeit mehr oder weniger offiziell mit den Fulirr paktiert hat. Aber auf der anderen Seite dieses Riesenreichs wissen die Bewohner der dortigen K'aradan-Welten noch nicht einmal, was die ‚Söhne der Erde’ oder ‚K'erde’ eigentlich sind. Mag sein, dass Olvanorer-Expeditionen es bis dorthin geschafft haben, aber die sind niemandem unangenehm aufgefallen.“
„Inzwischen fallen wir nicht einmal mehr unangenehm auf, wenn wir mit Kriegsschiffen kommen“, warf Sunfrost ein. „Im Gegenteil. Wir wurden gegen die Morrhm um Hilfe gebeten.“
Larson nickte. „Die Zeiten ändern sich eben. Der Krieg um Wurmloch Alpha hat die Wende gebracht. Ich habe natürlich davon profitiert. Aber da draußen bei Kenandra und auf den äußersten Randwelten der K'aradan wird ohnehin mit Rassen Handel getrieben, von denen man auf der Erde noch nie etwas gehört hat. Einige von ihnen findet man auch hier an Bord. Die Gesharianer, Morkoniden oder Q’Eworn zum Beispiel. Du wirst sie früher oder später kennen lernen.“
Rena wandte sich dem Pshagir zu, der bisher schweigend neben ihnen gestanden hatte.
„Oder Angehörige seiner Art“, stellte Rena fest und deutete dabei auf den Dreiarmigen. Im Brustbereich wiesen dessen schuppenartige Panzerplatten Unregelmäßigkeiten, Verletzungen und Verwachsungen auf. Die Pshagir-Entsprechung einer Narbe. Es lag sicher nicht nur an den schlechten Lichtverhältnissen, dass Sunfrost dieses Detail bis jetzt entgangen war.
Zu viel war auf einmal auf sie eingestürzt.
Jetzt zuckte sie regelrecht zusammen.
Ein Etnord, durchfuhr es sie.
Diese Narbe war eigentlich ein ziemlich sicheres Zeichen dafür, dass ihm einer dieser Parasiten implantiert worden war. Verdickungen an den Handgelenken und am Hals wurden wohl durch austretende Ganglien des faustgroßen Implantats hervorgerufen, über die sich wiederum eine frische Panzerschicht gebildet hatte.
Bran Larson lächelte hintergründig. „Ich hatte schon gedacht, du würdest gar nicht mehr danach fragen, Rena.“
„Er ist ein Etnord.“
„Das mag sein, aber er ist meine Lebensversicherung. Sein Name ist übrigens Xygor’an.“
„Wie kommt der hier her?“
„Ich habe keine Ahnung. Dafür können wir uns ehrlich gesagt nicht gut genug unterhalten. Ich spreche kein Pshagir, aber ich habe etwas Sutrubu gelernt, weil ich geschäftlich mit dieser Spezies zu tun hatte.“
„Und der Pshagir spricht ebenfalls Sutrubu?“
„Ein bisschen. Wie du zugeben wirst, eine schmale Kommunikationsbasis. Aber sie funktioniert.“
„Ich habe nie von einer Sprache namens Sutrubu gehört.“
„Die Sutrubu bewohnen zwei Planeten eines Systems, das jenseits des K'aradan-Reichs liegt. Aber diese Planeten sind sehr Rohstoffreich. Die K'aradan wären zu stolz, um deren Sprache zu lernen. Ich war es nicht und konnte daher ihr Vertrauen gewinnen. Für DIT konnte ich deswegen kurz vor meiner Entführung eine Monopolvertretung der Sutrubu-Rohstoffe erreichen. Mein größter Deal. Ich hätte damit eigentlich ausgesorgt.“ Larson seufzte. Sein Gesicht wirkte nachdenklich. Die Entführung durch die Morrhm hatte Bran Larsons Traum jäh beendet.
Es muss schwer gewesen sein, damit fertig zu werden, dachte Sunfrost. Aber Bran scheint eine Art Stehaufmännchen zu sein, das in jeder Situation zurechtkommt und irgendwann nach oben schwimmt.
Der Pshagir brachte ein paar Laute hervor, die dumpf und kehlig klangen.
Aber Bran schien sie zu verstehen, denn er antwortete in ähnlichen Lauten.
„Was will er?“, fragte Sunfrost.
„Er fragt, ob es nicht ein übertriebener Einsatz war, dich zu retten, Rena.“
„Wie charmant!“
„Na ja, ich gebe zu, ich habe nicht alles verstanden, was er gesagt hat.“
„Ich hoffe, er hat wenigstens deine Gegenargumentation verstanden!“
„Wer sagt denn, das ich dagegen argumentiert habe“, lachte Bran. „Die Sache ist ganz einfach: Der Pshagir und ich sind hier weit und breit die einzigen, die mehr schlecht als recht Sutrubu sprechen. Allerdings spricht der Pshagir im Gegensatz zu mir sonst nichts, was hier irgendjemand verstehen würde und daher ist er von mir so lange abhängig, wie er sich keinen Translator erobert. Ich hingegen brauche ihn, um ab und zu ein paar K'aradan zu verhauen, gegen die ich als Mensch sonst schlechte Karten hätte. Das nenne ich Symbiose, Rena.“
„Ah, ja.“
Ich frage mich, welche Art von Symbiose ihm wohl mit mir vorschwebt, ging es Sunfrost dabei durch den Kopf.