Rena Sunfrost fiel in einen tiefen Schlaf. Für einige Zeit schlief sie so tief wie ein Stein und selbst die schier unerträglichen Schmerzen waren für eine gewisse Zeit vergessen.
Aber der Instinkt für Gefahr ließ sie sofort aufmerken, als ungewöhnliche Geräusche diese künstliche Nacht erfüllen.
Ein Schrei war zu hören.
Ganz nah, so dachte Sunfrost. Vielleicht im Nachbarpferch. Sie hatte das Gefühl, dass der Ursprung dieses Schreis nicht weiter als höchstens fünfzig Meter entfernt sein konnte. Dazu dieses grausige Geräusch scharfer Lederschwingen, die heftig in der Luft flatterten wie bei einer Riesenfledermaus.
Rena war sofort hellwach.
Von einer Sekunde zur nächsten.
Sie schreckte hoch, saß aufmerksam da und ließ den Blick schweifen. Viel konnte man nicht sehen. Dazu war die Beleuchtung zu schwach. Man konnte die Lichtverhältnisse mit einer mondlosen, bewölkten Nacht abseits einer bewohnten Gegend auf der Erde vergleichen.
Alles, was Rena erkennen konnte, waren unterschiedliche Stufen der Finsternis.
Die Schwingen eines Xabo hoben sich dunkel ab. Aber da war noch etwas unter ihm. Etwas, das in der Luft hing und von seinen Pranken gehalten wurde.
Neben Rena war eine Bewegung zu spüren, dann ein brüllender Laut.
Xygor’an schnellte hoch.
Ihm machte die Dunkelheit nichts. Seine Augen unterschieden ohnehin nur grobe Umrisse und Helligkeitsgrade. Sein Hauptorientierungsorgan war ein Ultraschall-Sonar, das allerdings mindestens so präzise arbeitete wie die Augen eines Menschen.
Nur undeutlich konnte Rena die aufspringende Gestalt des Etnord-Pshagir erkennen. Dafür fühlte sie um so deutlicher den Boden unter den schweren Tritten des Giganten erzittern.
Xygor’an sprang mit einer erstaunlichen Behändigkeit, die man einem so kompakten Wesen eigentlich kaum zutraute, empor. Die enorme Beinmuskulatur, die sich unter dem Schuppenpanzer seiner Oberschenkel verbergen musste, ließ ihn regelrecht emporschießen. Wie ein Schatten stieg er hoch, streckte dabei seinen starken Arm voran und ergriff mit der Pranke jenes Etwas, dass der Xabo mit in die Höhe zu nehmen versuchte.
Der Xabo schrie. Das dumpfe Brüllen Xygor’ans mischte sich dazwischen und im Nu waren um Umkreis von mindestens zweihundert Metern sämtliche Sklaven wach – gleichgültig, welcher Spezies sie auch angehören mochten.
Der Etnord-Pshagir entriss dem Xabo das Bündel und verpasste ihm außerdem noch blitzschnelle Schläge mit seinen beiden zarten Greiforganen.
Der Dreiarmige taumelte daraufhin zu Boden. Das Bündel krachte neben ihn und kam mit einem dumpfen Laut auf, während sich der Xabo kreischend erhob und davon stob.
Die gesamte Gruppe von Herkon Lakiv versammelte sich in einem Halbkreis. Aber auch aus den anderen Pferchen kletterten Sklaven die Wände empor und setzten sich darauf.
Es gab unter den K'aradan einige wenige Lampen.
Wahrscheinlich schwer erkämpft, so wie alle technischen Geräte, dachte Sunfrost, die sich von ihrem kahlen, kalten Lager erhob und einen Schritt auf nach vorn machte. Sie wollte wisse, was der Xabo hatte mitnehmen wollen.
Es war ein blutiger Körper.
Haut und Kleider waren überall durch die Krallenhände der Xabo aufgerissen worden.
Herkon Lakiv trat an den Körper heran und leuchtete ihr mit einer Stablampe ins Gesicht und anschließend den Oberkörper entlang.
Erst jetzt konnte Rena erkennen, dass es sich um eine Frau handelte. Der Atem war flach. Ihre Haltung seltsam verrenkt. Wie hoch ihre Überlebenschancen waren konnte Sunfrost nicht sagen, dazu kannte sie sich zu schlecht mit der K'aradan-Physiologie aus.
Herkon Lakiv sagte ein paar Worte auf K'aradan.
Bran Larson, der inzwischen auf den Beinen war, übersetzte sie.
„Die Frau wird weggeschafft“, sagte er.
„Weggeschafft?“, fragte Sunfrost. „Was soll das heißen?“
„Sie muss verschwinden. Ein paar von Herkons Männern werden sie an einen Ort bringen, wo man sie nicht findet. Es gibt an verschiedenen Stellen Bodenplatten geben, die sich abnehmen lassen und über die man in weitere Bereiche des Schiffes gelangen kann. Dort sind Maschinen und Müllkonverter...“
„Das ist nicht dein Ernst, Bran!“, stieß Sunfrost so laut hervor, dass einige von Herkons Leuten schon auf sie aufmerksam wurden.
„Es ist nicht meine Entscheidung, Rena.“
„Sie lebt noch – und man will sie in einen Müllkonverter werfen?“
Rena war fassungslos. Dass in der Sklavenhalle an Bord der LASHGRA auf Grund der furchtbaren Verhältnisse, unter denen die Gefangenen leben mussten, die blanke Barbarei herrschte, hatte sie ja inzwischen bitter lernen müssen.
Aber dieser Vorfall stellte das alles nach ihrem Empfinden noch einmal in den Schatten.
Zwei Männer packten die K'aradan-Frau an Armen und Beinen und hoben sie vom Boden auf. Sie waren dabei nicht sonderlich vorsichtig. Die Frau stöhnte auf. Blut tropfte aus ihren Wunden.
Der Lichtkegel einer Stablampe suchte danach und sofort kamen mehrere der Frauen, die das Blut aufwischten.
„Nein, so nicht!“, schritt Rena ein. Alle drehten sich in ihre Richtung. „Diese Frau lebt, lasst sie los! Übersetze ihnen das, Bran!“
„Sorry, aber du bist hier nicht der Captain. Hier gilt dein Rang nichts.“
„Ich habe gesagt, du sollst es ihnen übersetzen!“
„Den Teufel werde ich tun! Diese Frau wird sterben.“
„Wer sagt das?“
„Die K'aradan! Die wissen schließlich am besten, wann es mit einem von ihnen zu Ende geht!“
„Aber...“
„Rena!“ Bran fasste sie bei den Schultern. Von seinem Gesicht konnte sie kaum etwas sehen. Lediglich für einen Moment streifte der Kegel einer Stablampe sein Gesicht und sie sah blanke Verzweiflung darin.
Und Furcht.
„Wenn diese Frau stirbt und bei Anbruch der Helligkeitsphase bei uns entdeckt wird, bekommt die gesamte Hallensektion Ärger von den Morrhm, weil die dann denken, dass sie bei internen Streitereien ums Leben kam. Vernichtung von Stammeseigentum, verstehst du? So sehen diese Barbaren das! Ich habe schon erlebt, wie sie einfach nur, um ihre Macht zu demonstrieren und uns zur Räson zu bringen mit ihren verfluchten Monoschwertern ein paar von uns so zerstückelten, dass man hinterher nicht mehr die Spezis erkennen konnte, der der zurückgelassene Fleischklumpen mal angehörte! Ist dir das vielleicht lieber? Also spiel dich nicht als Moralapostel auf, wo du es noch nicht einmal geschafft hättest, deine erste Nacht in der Sklavenhalle zu überleben! Misch dich nicht in Dinge ein, von denen du keine Ahnung hast!“
Die K'aradan-Männer trugen die verletzte Frau davon und verschwanden in einem der Korridore.
Einige Augenblicke konnte man noch ihr Stöhnen hören, dann ging es in dem Gemurmel der Sklaven unter.
Herkon wandte sich an Sunfrost.
Er leuchtete ihr mit einer Stablampe ins Gesicht.
Ein paar Worte in K'aradan folgten.
„Weißt du dein Glück nicht zu schätzen, in unserer Gruppe zu schlafen?“, fragte Herkon – und Bran übersetzte seine Worte für Sunfrost.
„Sie weiß das Glück sehr wohl zu schätzen“, antwortete Bran Larson an Sunfrosts statt.
„Hat sie das wirklich gesagt, Bran? Ich habe sie nicht einmal den Mund bewegen sehen und so weit ich weiß, werden in der Sprache der K'erde keinerlei Tonhöhen verwendet, die außerhalb des Spektrums eines durchschnittlichen K'aradan-Gehörs liegen!“
„Wenn du jetzt nichts sagst, befehle ich dem Pshagir, dich mit dem Kopf zuerst in den Boden zu rammen“, zischte Bran.
Rena schluckte.
Dann wandte sie sich an Herkon, trat auf ihn zu und senkte den Blick dabei. „Ich weiß es sehr wohl zu schätzen, dass ich in deiner Gruppe Aufnahme gefunden habe“, murmelte sie. „Übersetz das, Bran.“
„Ich werde es noch etwas blumiger formulieren. Herkon gefällt sich in der Rolle eines gütigen Paten.“