![]() | ![]() |
Prolog
––––––––
Das »Kollektiv der Träumer« schuf einst eine neue Welt, doch ihr Traum geriet zum Alptraum, entglitt ihnen mehr und mehr. So schicken sie den SUCHER aus, um wieder Macht darüber zu bekommen. Er kennt das wahre Motiv seiner Odyssee nicht, um unvoreingenommen sein zu können. Für ihn ist die wahnsinnige Hölle schrecklicher Visionen tödliche Wirklichkeit.
Er heißt Bereter...
Und in diesem entscheidenden Moment setzt der STERNENVOGT, der HERR DER WELTEN, seinen Diener John Willard ein - als Bereter. Alles ist von langer Hand vorbereitet. Der glatte Tausch gelingt ihm mit Hilfe der überlegenen Technik seines Schiffes.
Denn er ist ja nicht umsonst der HERR DER WELTEN.
Und obwohl John Willard alle Erinnerungen des echten Bereter übernimmt, darf er nicht einmal ahnen, dass er nicht der echte Bereter ist: Um nicht das Misstrauen des »Kollektives der Träumer« zu wecken!
Seine Aufgabe ist indessen weitergehend als die Aufgabe des »echten« Bereter: Rettung vom PLANET DER TRÄUMER und Rückführung in die WIRKLICHKEIT! Damit dieser Planet in Zukunft wieder eine Chance haben wird, Mitglied der Sternengemeinschaft und somit Mitglied innerhalb der interstellaren Handelspartner zu werden.
Aber noch etwas ist vom STERNENVOGT gut vorbereitet: Diesmal geht John Willard als Bereter nicht ganz allein in den Kampf. Er hat einen starken Partner, denn der Sternenvogt tauscht unbemerkt eine weitere Figur aus.
Ihre Begegnung erfolgt wie zufällig. Das »Kollektiv der Träumer« darf niemals misstrauisch werden, um die Mission nicht zu gefährden.
Der Partner heißt deshalb nicht umsonst genauso wie derjenige, gegen den er ausgetauscht ist, nämlich...
» B R O N «
––––––––
1
––––––––
Wir standen zehn Schritte vor einer Oase. Bron deutete auf das erstaunlich üppige Grün inmitten der Steinwüste.
Auf den ersten Blick erschien es undurchdringlich, ein wildes Geflecht verschiedenartiger Pflanzen.
Stirnrunzelnd betrachtete ich es.
Und dann sah ich eine Bewegung. Etwas kroch träge über die mittlere Ebene. Es war so grün wie die Umgebung und deshalb nicht sofort erkennbar. Man musste schon genau hinsehen, um die Konturen zu erkennen.
Das Ding hatte die Länge eines Unterarms und war auch genauso dick. Die beiden Enden waren gleich.
Ich wollte näher gehen, ganz unbewusst, doch Bron hielt mich mit dem ausgestreckten Arm auf.
»Jedwedes Leben in der Oase hat seinen festen Platz. Die perfekte Ökologie, in sich abgeschlossen. Sobald ein Wesen versucht, in diese Ökologie einzudringen, wendet sie sich gegen es. Selbst die Brocken haben da keine Chance. Obwohl sie von den Oasen abhängig sind. Die Brocken leben von den Abfällen der Ökologie. Das heißt, wenn ein Tier die Unvorsichtigkeit begeht und die Oase verlässt, warten schon die Brocken darauf.«
Unwillkürlich schaute ich mich um. Weit und breit keine Felsbrocken. Also keine Gefahr für uns? Es war möglich, dass sie sich alle anderswo zu unserem Empfang bereitgestellt hatten und uns deshalb hier keiner mehr bedrohen konnte.
»Wie können wir unter solchen Umständen zu Proviant kommen?«, fragte ich missmutig.
»Abwarten, Bereter. Sobald sich dein Symbiont wieder vollkommen angepasst hat, ist es soweit.«
Bron deutete wieder auf die Oase. Das kriechende Schneckenwesen war nicht mehr zu entdecken, so sehr ich mich auch bemühte.
»Nein, schau höher hinauf, Bereter. Siehst du die grünen Früchte dort oben, in den Wipfeln der Bäume?«
Früchte? Meinte er die kopfgroßen Bälle?
»Ja«, bestätigte ich vorsichtig.
»Dort müssen wir heran, Bereter. Die SOOMEN sind sehr nahrhaft. Für uns unterwegs lebenswichtig, denn sie enthalten außer Eiweiß, Vitaminen und Mineralstoffen auch genügend Flüssigkeit.«
Und wie sollten wir da herankommen?
Ich wagte es nicht, zu fragen, sondern wartete mit gemischten Gefühlen, bis mein Symbiont wieder die Füße bedeckte. Sobald dies geschehen war, verschwanden die starken Schmerzen. Der Symbiont leitete den Heilprozess ein.
Es war wie ein Wunder. Ja, gewiss, Bron hatte nicht zuviel versprochen. Obwohl es mir als ein bitterer Preis erschien, als grünes Monstrum herumzulaufen.
Aber er hatte versprochen, dass wir dadurch in der Oase eine Chance hatten.
Noch einmal sicherte Bron nach allen Seiten.
»Viel Zeit bleibt uns leider nicht. Wir müssen mit unseren Verfolgern rechnen. Sie werden es nicht aufgeben, auch wenn sie recht langsam sind.«
»Und dann?«
»Dann geht es hinein in diese grüne Hölle. Das Grünvolk wird uns nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Wir müssen verflucht aufpassen und trotzdem schnell sein, damit wir unsere Beute eingeholt haben, bevor das Grünvolk auf uns reagieren kann.«
Es klang zwar nicht sonderlich schwierig, aber das hatte wohl nichts zu sagen.
»Jetzt!«, befahl Bron unvermittelt und lief los.
Die zehn Schritte waren für ihn nicht einmal drei Sätze. Er sprang mitten in die grüne Hölle hinein.
Die Oase hatte einen Durchmesser von vielleicht dreißig Schritten. Sie war fast kreisrund. Bron hatte mir erklärt, dass es inmitten eine Pflanze gab, die mit ihren Wurzeln Wasser tief aus dem Boden heraufsaugte. Alles Leben profitierte davon. Letztlich auch die Wesen, die sich als Felsbrocken getarnt hatten.
Die Brocken hatten eine gewisse Intelligenz bewiesen. Das machte sie erst recht tödlich gefährlich.
Und jetzt hechtete ich hinter Bron in dieses Grün hinein.
Bron hatte die Oase ›Grünvolk‹ genannt, als würden die Pflanzen und Tiere wirklich eine bewusste Gemeinschaft bilden.
Die ›Schnecke‹ fiel vor Schreck von ihrem Ast, als ich so ungestüm an ihr vorbeikletterte.
Ein ›Zweig‹ wickelte sich blitzschnell um meinen Arm. Ich streifte ihn rechtzeitig ab. Eine reine Reflexbewegung.
Bron hatte sein Ziel fast erreicht. Wie hatte er das geschafft?
Ich kämpfte mich hinauf. Die Äste und Zweige unter meinen Füßen gaben federnd nach und erschwerten damit das Vorankommen.
Aber ich hatte keine Wahl. Die Soomen waren eine Lebensversicherung. Wenn ich es nicht schaffte, an diese Früchte heranzukommen, war ich zum Tode verurteilt - auch ohne diese ›Brocken‹.
Ein Fauchen vor mir.
Ich hielt unwillkürlich inne und starrte in das Grün. Meinen Augen fiel es schwer, Unterscheidungen zu treffen. Für mich war das alles eine einzige grüne Masse, eng ineinander verwoben.
Und da sah ich endlich den weit geöffneten Rachen.
Das Biest fauchte wie eine Großkatze, dabei war es nicht größer als meine Faust. Aber ein Drittel des Körpers bestand aus Maul und dieses Maul war mit nadelspitzen Zähen bewehrt.
Es protestierte mit diesem Fauchen gegen mein rücksichtsloses Vorgehen. Als ich es mit einer raschen Handbewegung zur Seite fegen wollte, schnappte es zu.
Das scharfe Gebiss verfehlte mich nur knapp. Aber es war mir gelungen, das Biest von seinem Ast zu fegen.
Ich hatte allerdings nicht mit seiner Hartnäckigkeit gerechnet: Es war sofort wieder da und schnappte erneut nach mir.
Gerade rechtzeitig erwischte ich es im Genick und warf es im hohen Bogen nach außerhalb der Oase.
Diese Begegnung war mir Warnung genug. Vielleicht gab es noch mehr von diesen Biestern? Ich konnte mir vorstellen, dass sie vor allem dann gefährlich waren, wenn sie in Scharen auftraten. Ich würden mich in Sekunden bis auf die Knochen abnagen.
Mit noch wacheren Sinnen kletterte ich weiter.
In der Oase war große Unruhe entstanden. Bron hatte sein Ziel bereits erreicht. Ich jedoch war noch sträflich weit davon entfernt.
Bron hatte angedeutet, dass in dieser Umgebung der Symbiont besonders wichtig war. Durch ihn erschienen wir wie ein Teil von ›Grünvolk‹. Andernfalls hätte sich die gesamte Natur der Oase längst gegen uns gewendet. Sie hätte uns verschlungen und niemals wieder freigegeben.
Allmählich lernte ich daraus, dass scheinbar stabile Äste einfach nachgaben, wenn ich mich daran hochziehen wollte und dass ich auch mit meinen Füßen keinen rechten Halt fand. Aber vor allem durfte ich keine Sekunde an einer Stelle verharren, sondern musste ständig in Bewegung bleiben.
So gelangte ich an den ersten festen Stamm, der hoch oben die Soomen trug. Aber ich hatte gewaltig an Höhe verloren, hatte hinter mir einen regelrechten Tunnel erzeugt, der schräg nach unten führte und sich hinter mir langsam wieder schloss.
Der Stamm war sehr glatt und die grünen Äste waren viel zu elastisch, um mich wirklich tragen zu können.
Ich musste dennoch den Aufstieg versuchen.
Mein Symbiont saugte sich jedes mal fest, wenn meine Hand den glatten Stamm umschloss. Überrascht stellte ich mich darauf ein und so schaffte ich den Aufstieg tatsächlich.
Waren bislang Attacken gegen mich weitgehend ausgeblieben, so begannen jetzt winzige Insekten auf mich herabzuregnen. Sie bissen sich in mir als einem ungebetenen Eindringling fest, aber der Symbiont irritierte sie anscheinend so sehr, dass sie wieder von mir abließen.
Fluginsekten umschwirrten mich. Am besten, ich achtete überhaupt nicht auf sie. Mein Symbiont würde mich weitgehend schützen.
Als ich die halbe Strecke geschafft hatte, mehrten sich die Angriffe. Vor allem schien sich eine Art Strategie dabei zu entwickeln.
Als wäre das Grünvolk in seiner Gesamtheit eine Art Intelligenz, die sich jetzt von der ersten Überraschung erholte und sich zum gezielteren Handeln entschloss.
»Bereter!«, brüllte Bron. »Verdammt, wo bleibst du eigentlich, Kerl?«
Der hatte gut reden - mit solchen Muskeln und dieser unvergleichbaren Gewandtheit... Ich war zwar ein durchtrainierter Bursche, der sehr gut zu kämpfen verstand und ich würde es auch mit jedem aufnehmen können... aber was war ich schon gegen einen Mann wie Bron?
Verbissen arbeitete ich mich weiter empor. Schon stieß mein Kopf ins Freie. Die Baumwipfel überragten alles.
Vor meinen Augen tanzte die erste Soome. Ich packte sie am Stiel und versuchte, sie auszureißen.
Es klappte nicht. Ich musste mit meinem scharfen Messer nachhelfen.
Endlich fiel die Soome, aber sie entglitt mir und krachte durch das Gestrüpp hindurch. Irgendwo dort unten traf sie auf. Für mich war sie jedenfalls verloren.
Die Soomen waren wesentlich schwerer als ich vermutet hatte.
»He!«, brüllte Bron.
Ich schaute zur Seite. Er war längst wieder außerhalb. Ich sah ihn durch eine Schneise hindurch, wie er mir zuwinkte.
»Wirf mir deine Soomen zu! Dann komm sofort. Du hast keine Zeit mehr, Bereter, denn das Grünvolk befindet sich mächtig in Aufruhr. Es geht um Sekunden. Sie werden dich verschlingen und verdauen!«
Wenig nette Aussichten, wie ich fand. Verbissen schnitt ich die nächste Soome ab. Nicht vollständig allerdings. Ich kappte vielmehr den Stiel nur soweit, dass ich die Frucht pflücken konnte.
Sie war tatsächlich so schwer, als sei sie mit Metall gefüllt. Ich sollte sie Bron zuwerfen? Wie stellte er sich das vor?
Ich holte weit aus und stieß dann die Frucht mit aller Kraft in Richtung Bron.
Im hohen Bogen flog sie davon.
Würde sie die Strecke schaffen?
Sie traf auf dem grünen Dach auf, federte hoch und sprang weiter.
Ich hatte keine Zeit mehr, den Flug zu verfolgen.
»So ist es richtig!«, brüllte Bron außerhalb. Ich hatte bereits den nächsten Stiel gekappt und pflückte die Soome.
Nur keinen Fehler mehr machen. Nicht, dass diese Frucht mir auch wieder entglitt.
Zu meinen Füßen krachte und fauchte es. Der Baum wackelte bedenklich. Er begann, sich leicht zur Seite zu neigen.
Weg mit der Frucht. Und nun noch eine.
»Hör auf damit und komm jetzt!«, riet mir Bron sorgenvoll.
Aber ich wollte diese eine Soome noch. Das hatte ich mir nun mal in den Kopf gesetzt.
Dafür kletterte ich ein Stückchen höher.
Etwas verbiss sich in meinem Bein. Ein höllischer Schmerz.
Auf meiner Schulter saß plötzlich eine grüne Spinne, handtellergroß und mit einem tränenden Auge auf dem Rücken, das mich unentwegt anglotzte. Die Spinne zitterte und dann biss sie zu.
Meine Schulter wurde sofort lahm. Ich konnte mich nicht mehr festhalten.
Aber die Soome hatte ich bereits gepflückt und schleuderte sie mit dem gesunden Arm davon.
Dadurch verlor ich den Halt. Ich schrie entsetzt auf.
Ein Schwarm von Insekten bedeckte mich. Einige hatten es auf meine Augen abgesehen, denn diese wurden von meinem Symbionten nicht geschützt.
Ich kniff sie fest zu.
Blind sprang ich los. Ich fiel mitten auf das Dach der grünen Hölle, wie vorher die Soomen, die ich Bron zugeworfen hatte. Es hatte sich so dicht geschlossen, dass es auch mein Körpergewicht hoch federn konnte. Dabei schleuderte es mich weiter.
Das federnde Dickicht... Zuerst hatte ich es verflucht, als ich hatte darüber klettern wollen. Aber jetzt rettete es mir das Leben. Ich erreichte dadurch schnell den Rand der Oase.
Kopfüber stürzte ich schließlich in die Steinwüste hinunter, während nadelspitze Zähne an meinem Fleisch nagten und allerlei Getier über mich krabbelte, Ausschau nach geeigneten Stellen haltend, um mich erfolgreich zu zwicken, zu stechen und zu beißen.
Ich hätte mir wahrscheinlich bei diesem Sturz dank meiner lahmen Schulter das Genick gebrochen, hätte Bron nicht da gestanden und hätte mich aufgefangen - gerade so wie vorher die Soomen.
Er lachte rau und stellte mich wieder auf die Beine, als wäre ich nur so schwer wie eine Strohpuppe.
»Das war knapp, wie?«, lästerte er.
Ich fuchtelte mit den Armen herum, damit das Insektenvolk endlich wieder von mir abließ, aber dessen hätte es gar nicht bedurft, denn das Getier ließ von allein von mir ab, sobald ich mich außerhalb der Oase befand.
Die Insekten, kleinen Biester und Spinnen flohen panikerfüllt. Die tränenden Spinnenaugen waren nicht mehr auf mich gerichtet, sondern nur noch auf die rettende Wildnis.
Innerhalb der Oase krachte, zirpte, quietschte, knackte und raschelte es. Die Wildnis schüttelte sich wie der Rücken eines zornigen Riesen.
Erschrocken wich ich davor zurück.
Bron lachte wieder und hieb mir auf die gesunde Schulter.
»Du hättest dich sehen sollen, Bereter!« Er schien das alles äußerst amüsant zu finden. Ich konnte seine Heiterkeit allerdings nicht im geringsten teilen.
Ich war wieder einmal knapp dem Tode entronnen. Wie hätte ich darüber lachen können?
»Hör endlich auf!«, fauchte ich Bron wütend an.
Er gehorchte tatsächlich, wandte sich allerdings ab, damit ich sein Gesicht nicht mehr sehen konnte.
Besorgt untersuchte ich unterdessen den Symbionten. Er wirkte stark lädiert, würde sich aber in gewohnter Schnelligkeit erholen.
Schon spürte ich, wie er meine Wunden kühlte, mit denen ich über und über bedeckt war. Ohne den Symbionten hätte ich es niemals wagen dürfen, einer solchen Oase auch nur nahe zu kommen.
»Verdammtes Grünvolk!«, schimpfte ich erbost.
Und Bron lachte wieder. Er konnte sich nicht mehr länger beherrschen und ich hatte nicht mehr die Kraft, es ihm zu verbieten.
Er klopfte mir wieder auf die Schulter und sagte: »Nimm es mir nicht übel, Bereter. Im Grunde bin ich doch nur erleichtert darüber, dass es für dich nicht noch schlimmer ausgegangen ist!«
Damit war ich wieder versöhnt. Ich brachte sogar ein verzerrtes Lächeln zuwege, das unter dem Moos des grünen Symbionten allerdings kaum zur Geltung kam.
»Hätten wir noch Zeit für eine Rast?«, fragte ich Bron.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Bereter, wir müssen schnell weiter.«
»In die Wüste?«
»Dazu ist es noch zu früh, Bereter. Wir müssen aber in Bewegung bleiben, um nicht unseren Verfolgern zum Opfer zu fallen.«
»In Bewegung bleiben?« Nun gut. Ich humpelte hinter Bron her, über und über mit meinem Anteil an Soomen beladen.
Drei davon waren von mir, die anderen von Bron. Er hatte sie mir überlassen, weil er überreichlich davon gepflückt und nach außerhalb der Oase geworfen hatte.
Eigentlich hätte er gleich allein in die Oase gehen können, überlegte ich zerknirscht. Mir wäre einiges erspart geblieben und die Ausbeute wäre auch nicht viel kleiner gewesen.
Aber wahrscheinlich hatte mir Bron mehr zugetraut. Er schien andere nicht so richtig einschätzen zu können, weil er den Fehler machte, sich selbst zum Maßstab zu nehmen.
Ich war Bron nicht böse, dass er mich zu diesem Abenteuer überredet hatte. Auch nahm ich ihm die Heiterkeitsausbrüche nicht mehr übel.
Bron war mein Freund. Das hatte er oft und eindringlich genug bewiesen. Letztlich war ich ohne ihn in diesem Tal verloren. Ja, ich wäre längst schon nicht mehr am Leben gewesen, denn ich hätte vor Tagen schon in den Bergen den Tod gefunden.
Als Bron endlich anhielt, sank ich erschöpft zu Boden.
Bron teilte eine Soome mit einem einzigen Schwerthieb.
»Komm, Bereter, iss! Das wird dir gut tun.«
Er machte es mir vor, indem er ein Stück herausschnitt, die Flüssigkeit aufleckte, die dabei heraus quoll und sich das Stück in den Mund schob.
Dass er zum Schneiden dasselbe Messer benutzte, mit dem er die Brocken getötet hatte, schien ihn nicht im geringsten zu stören.
Mir krampfte es zwar zunächst den Magen zusammen, aber es war nicht die Zeit, empfindlich zu sein. Ich ließ mir von Bron lieber ein neues Stück herausschneiden und stopfte es mir in den Mund.
Die Frucht war so bitter, dass es mir das ganze Gesicht zusammenzog, aber die Flüssigkeit rann mir erfrischend in die Kehle.
Nach drei Bissen, während denen ich erst merkte, wie ausgehungert und durstig ich war, hatte ich das angenehme Gefühl, seit vielen Tagen zum ersten Mal wieder richtig satt zu sein.
Ich lag ausgestreckt auf dem Rücken und genoss es, während der Symbiont ebenfalls davon profitierte.
Ich spürte, wie er sich meinen Wunden widmete.
Und dann schlief ich ein. Ich konnte es nicht mehr verhindern.
––––––––
2
––––––––
Ich träumte und in meinem Traum fügten sich Grünvolk, Brocken und sogar die Berge als gigantische, lebende Riesen zu einem einzigen Angreiferheer zusammen. Sie stürzten sich mordgierig auf mich. Flucht war aussichtslos. Und sie nahmen mich und schüttelten mich durch...
»He, aufwachen, Bereter!«, raunte die Stimme von Bron an meinem Ohr. Er schüttelte mich wieder. »Los, komm schon, Bereter!«
Ich war schlagartig hellwach. Die letzten Fetzen des Alptraums flogen davon. Ich tauchte in der Wirklichkeit auf, wie jemand, den der starke Arm des Freundes gerade noch vor dem Ertrinken rettete.
Bron ließ mich los und richtete sich auf. Ich raffte rasch meine Ausrüstung zusammen.
»Was ist?«, fragte ich leise.
Der Himmel glühte sanft. Nacht hatte sich über DIE WELT gesenkt. Trotzdem konnte man noch genügend sehen. Nur war alles in rötliches Licht getaucht und erschien unwirklich.
Selbst das Grün unserer Symbionten hatte sich in diesem Licht verfärbt. Es wirkte jetzt ungesund braun.
Ich hatte mich zwar schon daran gewöhnt, aber diesmal erfüllte es mich mit Unruhe.
»Es ist soweit!«, raunte Bron.
»Was denn?«
»Stell dich doch nicht so an Bereter. Ich sagte doch schon, dass wir auf den richtigen Zeitpunkt warten müssen.«
»Um in die Wüste hinauszugehen? Ausgerechnet nachts? Wieso?«
»Frag nicht soviel, Bereter. Komm lieber mit.«
Als ich den Mund trotzdem öffnete, stopfte er mir ein besonders großes Stück Soome hinein.
Der bittere Geschmack schreckte mich nicht mehr. Es war reine Gewohnheitssache. Meine guten Erfahrungen, die ich mit Soomen gemacht hatte, ließen mich kauen und den erfrischenden Saft schlucken.
Bron hatte den Rest der Früchte mit den Stielen zusammengebunden und damit ein transportables Gebinde geschaffen, das wie ein kleines Gebirge aus lauter Kugeln auf seinem Rücken thronte.
Für mich blieb nichts mehr übrig zum Transportieren, aber ich beschwerte mich nicht, sondern war Bron dankbar.
Kurz blickte ich mich um. In der Nähe lagen ein paar dicke Felsbrocken herum. Waren diese echt? Sie rührten sich jedenfalls nicht. Oder vielleicht schliefen die Brocken grundsätzlich bei Nacht?
Ich wagte es nicht, Bron danach zu fragen. Er gab sich besonders ernst und schweigsam.
Ohne sich noch weiter um mich zu kümmern, verließ er den kleinen Rastplatz und ging voraus.
Wie lange hatte ich eigentlich geschlafen? Es hatte mir jedenfalls gut getan.
Mit frischen Kräften und völlig schmerzfrei, weil der Symbiont sein heilendes Werk bereits vollendet hatte, schritt ich hinter Bron her. Dabei beobachtete ich aufmerksam den Boden.
Da war die Grenzlinie zwischen Steinwüste und Sandwüste. Das sah merkwürdig aus: Als wäre dies der Rand eines Gefäßes, das mit Sand angefüllt war. Kein Wind hatte es geschafft, auch nur einzelne Sandkörner über den Beckenrand zu treiben. Der Sand blieb in seinem Element, die Steinwüste wurde von ihm nicht im geringsten behelligt.
Es wirkte völlig unnatürlich.
Bron zögerte kurz, ehe er die Sandwüste betrat.
Warum dieses Zaudern? Was hatte es mit der Sandwüste auf sich?
Jetzt bedauerte ich es zutiefst, ihn nicht rechtzeitig danach gefragt zu haben. Er hatte schon so seltsam reagiert, als wir von der Anhöhe aus die Wüste gesehen hatten.
Der Abstand zwischen uns vergrößerte sich rasch. Tatsächlich, ich war stehen geblieben und beobachtete, was mit Bron geschah, als er die Wüste betrat, Dabei hatte ich unwillkürlich den Atem angehalten.
Brons Füße knirschten auf dem Sand. Sonst war da nichts. Er ging weiter, hinterließ eine Fußspur, die die Sandoberfläche kaum verletzte, sondern sie nur leicht eindellte.
Ich schluckte schwer und riss mich zusammen. Dann ging ich ebenfalls hinaus.
Alles erschien zunächst ziemlich normal. Dieser unheimliche Sand schien nur in meiner Einbildung etwas Absonderliches zu sein.
Bron schritt eine sanfte Düne hinauf. Der Abstand zwischen uns hatte sich noch vergrößert.
Bron ging stumm, vielleicht ein wenig verbissen voran. Ich musste mich beeilen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Er erreichte den obersten Rand der Düne, ging weiter.
Ich sah ihn nur noch bis zur Brust und rannte jetzt fast.
Nur noch bis zum Kopf. Es war erschreckend anzusehen, wie sein Kopf auf und ab tanzte bei jedem Schritt, übergossen von dem düsteren Nachtschein.
Dann tauchte er vollends weg.
Schlagartig fühlte ich mich allein. In meinem Rücken wusste ich die tödlichen Gefahren der Steinwüste und vor mir die absolute Ungewissheit.
Wieso hatte Bron ausgerechnet die Nacht gewählt, um die Wüste zu durchqueren? Welchen Sinn ergab das?
Fast nahm ich an, er hätte es nur meinetwegen getan. Vielleicht, um mich zu foppen?
Auf allen vieren krabbelte ich den viel steileren Dünenhang empor. Er hatte so sanft ausgesehen, als Bron hinaufgegangen war. Aber jetzt...
Als hätte er sich inzwischen selbständig verändert.
Ich schluckte abermals, weil meine Kehle trocken geworden war.
Gern hätte ich nach Bron gerufen, aber das wagte ich nicht.
Fast hatte ich den Gipfel der Sanddüne erreicht, als ich zum ersten Mal die Stimmen hörte: Sie schallten über die Wüste herüber, laut, unverständlich und mit Widerhall. Als würde es irgendwo dort draußen Ausrufer geben.
Andere Geräusche mischten sich darein, wie von einem großen Fest. Ein Fest halt eben, auf dem Ausrufer eine besondere Rolle spielten.
Ich richtete mich auf, jetzt auf dem höchsten Punkt der Düne, schaute weit über das Sandmeer hinaus.
»Tu's nicht!«, warnte die Stimme von Bron.
Ich konnte ihn nirgendwo sehen, als hätte sich ein mächtiger Schatten über die Wüste geworfen, um die rote Düsterkeit aufzusaugen und auf andere Punkte zu konzentrieren.
»Bereter!«, sagte Bron eindringlich.
Es war zu spät. Er hätte mich besser vorher gewarnt. Wie hätte ich auch von einer Gefahr ahnen sollen, die sich so weit jenseits meines Vorstellungsvermögens befand?
Die laut herüberhallenden Rufe wurden deutlicher. Aber ich konnte nicht ihre Quelle sehen.
Die Berge, die wie zwei mächtige Arme dieses Gebiet vor mir umschlossen, ragten als bedrohliche, schwarze Schatten empor, alles beengend, jeden Augenblick sich schließend, um alles zu zerquetschen, einschließlich mich selbst, der ich so leichtsinnig gewesen war, mich des Nachts hierher zu wagen.
Kaum war dieser schreckliche Gedanke in mir entstanden, als ein Chor von Verzweifelten zu schreien begann, wie auf Kommando. Das war weiter vorn, wo ein leuchtendes Feld von Gestalten sich wog, wie die Ähren auf einem Kornfeld, vom Wind gepeitscht.
Ein Chor, der klagte, überschallt von den Ausrufern, deren Rufe schaurig von den Bergen widerhallten.
Und jetzt schlossen sich die mächtigen Arme des Bergmassivs wirklich.
Ich sah es ganz deutlich, wie die Gestalten empor gequetscht wurden, wie sie mit den Armen ruderten, schreiend, klagend, wie sie herumflogen, hilflos diesen Urgewalten der zupackenden Gigantenarme ausgeliefert.
Mir stockte der Herzschlag. Ich stierte hinüber und vergaß zu atmen.
Die Ausrufer wurden lauter und eindringlicher. Es waren herumhuschende Schatten. Sie flitzten hin und her, glitten über die schreienden Massen hinweg, befahlen ihnen, sich erneut zu formieren.
Und dann waren die Massen wieder ein einziger, klagender Chor, der sich hin- und herwiegte wie die glühenden Spitzen von Ähren auf einem Weizenfeld.
Ein Donnern löste sich von dem Gebirge. Die Erde grollte, erzeugte im Sandmeer Wellen, die hochschlugen wie die Wellen eines echten Meeres bei Sturm.
Bald würde sich die Wellenbewegung bis hin zu mir fortpflanzen. Ich sah es und wurde mir der tödlichen Gefahr bewusst. Es würde mich empor schleudern, dass ich vielleicht auf die Steinwüste weiter hinten fiel - vielleicht sogar inmitten eine Oase?
Ich konnte endlich den Blick von dem gespenstischen Geschehen lösen und schaute über die Schulter.
Die Steinwüste war von hellem Schein übergossen: Tausend Lichtquellen, die gewisse Punkte ausleuchteten, dabei selbst aber unsichtbar blieben.
In diesem Schein leuchteten die grünen Oasen ganz besonders. Sie standen stumm und schweigend. Zu ihren Füßen entstand Dunst, der sich rasch ausbreitete, um die wartenden Brocken herumspülte und die Steinwüste auszufüllen begann.
Der Dunst - lebte!
Er schillerte in allen Farben des Regenbogens, bildete auf der Oberfläche Strukturen wie narbige Haut, manchmal wie stumme Gesichter und dann wiederum wie klaffende Wunden, entstanden von furchtbaren Schwerthieben.
Eine Anklage an mich!
Ich hatte die Ökologie einer Oase gestört, ich hatte mich im Kampf gegen die Brocken gestellt.
Nicht sie waren im Unrecht, sondern ich, der Eindringling, der keinerlei Rücksicht hatte walten lassen.
Der Chor auf der anderen Seite klagte mit. Ich wandte den Blick wieder nach vorn.
Die hohe Welle raste heran wie eine Springflut. Ich riss die Arme hoch, als könnte ich sie damit aufhalten.
In diesem Augenblick zog jemand die Beine unter mir weg und brachte mich zu Fall. Er zerrte mich tiefer in das Dünental hinein, warf sich auf mich, mit seinem gesamten Körpergewicht, bedeckte mich, dass es mir die Luft aus der Lunge presste und ich vergeblich versuchte, mich wieder zu befreien.
Es war Bron, aber das war mir in diesem Augenblick keineswegs bewusst. Ich hatte panische Angst und wollte fliehen. Ich wollte nichts wie weg von hier, von diesem grausigen, bedrohlichen Ort in der Wüste. Ich hatte zwar keine Ahnung wohin, aber ich wollte rennen, nur noch rennen...
Und dann kam die Sturzflut tatsächlich, die ich nun nicht mehr sehen konnte.
Mit ihr kam die Kälte, diese unbeschreibliche Kälte, die auch von dem Symbionten nicht mehr aufgehalten werden konnte, tief in mich eindrang, auch dem letzten warmen Lebensfunken nachjagte, um ihn endgültig und für immer auszulöschen.
Ich wurde geschlagen und getreten. Die Last war von mir gewichen. Die Kälte war geblieben. Ich fühlte die Schläge und Tritte wie aus weiter Ferne, als würden sie überhaupt nicht meinen eigenen Körper treffen.
Darein mischte sich das Klagen des Chores und jetzt klagten auch die Oasen. Sie schickten nicht nur farbigen Nebel, der mich anklagte, sondern riefen selbst nach mir.
Ich verstand ihre Worte nicht, aber deren Sinn. Sie bezeichneten mich als Frevler, der des Todes war.
Jemand packte mich an den Schultern und schleppte mich davon. Ich war längst nicht mehr in der Lage, mich dagegen zu wehren, sondern wimmerte nur noch vor mich hin.
Ich wollte jetzt nur noch sterben, um von all diesem Grauen befreit zu werden.
Da war der Dünenrand. Ich wurde gezwungen, darüber hinwegzuschauen.
»Was siehst du, Bereter?«, brüllte jemand in mein Ohr, dass ich schmerzerfüllt zusammenzuckte.
»Was siehst du, sprich, Bereter?«
»Die - die Geister - der Wüste, Bron!«, stammelte ich.
Ich starrte über die Dünen hinweg und versuchte, etwas zu erkennen.
Die Sandwüste lag im düsteren Schein, den der Himmel darüber goss. Auch die Berge schimmerten rot. Dunst verbarg ihre höchsten Gipfel.
Alles war ruhig.
Ich weinte und meine Tränen tropften in den Sand, bevor der Symbiont begann, sie zu absorbieren.
Der Symbiont hatte noch nie so langsam reagiert.
Bron hielt meine Schultern gepackt und belauerte mich.
Ich schüttelte den Kopf.
»Oh, mein Gott!«
»Bist du wieder in Ordnung, Bereter?«, erkundigte sich Bron besorgt.
»Ja, Bron, ich glaube schon.«
»Ich kenne das, Bereter. Selbst der Symbiont ist davon betroffen - durch dich. Es ist der Wahnsinn der Wüste. Es sind die Geister der Wüste.«
»Geister? Gibt es die wirklich hier, Bron?«
»Ja, Bereter und das, was du erlebt hast, war erst der Vorgeschmack. Sie schicken uns den Wahnsinn und treiben uns in den Tod, wenn wir nicht stark genug sind, uns gegen sie zu wehren.«
»Du warst stark genug, Bron? Schon beim ersten Mal?«
»Gewiss, Bereter, sonst wäre ich nicht mehr am Leben.«
»Und mich hast du mal wieder gerettet, Bron«, gestand ich beschämt.
»Das sollte dich nicht grämen, Bereter. Denke stets daran, du wärst normalerweise sowieso nicht mehr am Leben. Jede Minute, die wir zusammen sind, ist ein zusätzliches Geschenk der Zeit. Deshalb bitte ich dich, mir zu verzeihen, Bereter, denn ich bringe dir kein Glück. Ich bringe dir tödliche Gefahren. Es ist meine eigene Schuld, dass ich dich ständig retten muss. Ohne mich wärst du nämlich überhaupt nicht hier.«
»Eine eigenartige Philosophie hast du dir da zurechtgelegt, Bron, das muss man dir schon lassen«, brummte ich missmutig und richtete mich auf.
Bron hinderte mich nicht daran. Er warnte nur: »Schau niemals direkt zum Horizont, was immer auch geschieht. Richte deinen Blick lieber stets nach unten. Und - vertraue mir!«
»Und wir müssen wirklich da durch?«, fragte ich bang.
Er sagte nichts mehr dazu.
Ich sollte ihm also vertrauen...?
Nun, etwas anderes blieb mir ohnedies nicht übrig...
––––––––
3
––––––––
Ich fand den Vorgang entwürdigend, im nachhinein betrachtet. Ich hatte mich nicht gut angestellt. Ich war ein Narr gewesen, Gefangener der irrsinnigsten Visionen.
Aber was hatte diese Visionen letztlich denn eigentlich verursacht?
Bron hatte nicht geleugnet, dass es die Geister der Wüste möglicherweise tatsächlich gab.
Was hatten sie damit bezweckt? Und wieso hatte ich diese Visionen allein, während sich Bron offenbar mühelos dagegen wehren konnte?
Es bewies mir, dass man nicht unbedingt ganz und gar ihnen ausgeliefert war. Die Geister der Wüste suchten offenbar nur denjenigen heim, der sich nicht ausreichend gegen sie verwahrte, sondern seinen Verstand vielmehr offen ließ für solcherlei Einflüsse.
Zumindest hatte man die Chance, sich dagegen zu wehren, wenn man weit genug von ihnen entfernt war. Ob sich Bron auch dann noch so mit Leichtigkeit gegen sie durchsetzen konnte, wenn wir tiefer in die Wüste vordrangen?
Ich blieb unwillkürlich stehen.
Bron kümmerte sich gar nicht mehr um mich. Er schritt unbeirrt weiter. Ich musste mich beeilen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Das fehlte mir gerade noch: ganz auf mich allein gestellt in dieser mehr als unheimlichen Wüste!
Bron benahm sich nicht umsonst so abwesend: Er war voller Konzentration, gewappnet für jeden Angriff, wie es schien. Er kannte die Gefahren, war er doch eigenen Worten zufolge der bisher einzige, der jemals diese Wüste überlebt hatte.
Mir schauderte bei diesem Gedanken. Was war mit mir? Diese gewaltige Gestalt von Bron, diese nicht nur körperliche Überlegenheit... Und ich dagegen?
Mein Herz pochte heftig. Ich war gewiss keine ängstliche Natur, sondern ein bewährter Krieger, aber das Erlebte steckte mir noch zu sehr in den Knochen. Ohne Bron wäre ich längst verloren gewesen.
Er vermied bewusst die Dünenrücken. Lieber nahm er weite Umwege in Kauf, um sie zu umgehen.
In der Regel gelang das, aber wir gerieten dabei auch in Sackgassen und mussten es wagen, nach oben zu steigen.
So wie jetzt!
Ich schluckte schwer und richtete meinen Blick beinahe krampfhaft zu Boden, dem Rat von Bron folgend, auf keinen Fall den Blick zu heben.
Der immerwährende rote Schein des Nachthimmels beleuchtete gespenstisch meine Füße, die über den Sand knirschten. Es ging recht steil hinauf. Der Sand gab beim Aufstieg kaum nach, als hätten ihn mir unbekannte Naturkräfte im Laufe der Zeit fest zusammen gebacken.
Da prallte ich gegen Bron, der unvermittelt stehen geblieben war.
Ein eiskalter Wind war aufgekommen, der in das Moos meines Symbionten fuhr. Einen Teil der Kälte bekam ich noch mit, ehe der Symbiont sich vollends darauf eingestellt hatte. Obwohl er es diesmal nicht gänzlich schaffte, die Kälte von mir fernzuhalten.
Als würde zumindest ein Teil dieser Kälte direkt in mir selbst entstehen!
Bron stand vor mir wie ein Fels in der Brandung, den Kopf gesenkt, breitbeinig, irgendwie lauernd.
Hielt er den Blick zu Boden gesenkt, wie er es auch mir empfohlen hatte? Ich konnte es nicht sehen. Oder schaute er jetzt vielmehr hinüber, dorthin, wo die Geister der Wüste in dieser Nacht bereits ihr Unwesen getrieben hatten?
Aber hatte er mich nicht gewarnt, dies sei ein tödlicher Fehler?
Ihr Götter, wenn er jetzt einen Fehler machte, war dieser nicht nur tödlich für ihn, sondern auch - für mich! Ich würde niemals allein wieder den Weg hinausfinden aus dieser tödlichen Wüste mit all ihren unbeschreiblichen Schrecken!
Mit einer Hand tastete er nach meinem Arm. Er packte so fest zu, dass ich unwillkürlich vor Schmerz aufschrie.
»Bereter!«, befahl er heiser, »knie nieder!«
Ich zögerte.
»Knie nieder, Bereter!«, wiederholte er eindringlich.
Er ließ mich los und ich fiel weisungsgemäß auf die Knie.
Auch Bron tat dies jetzt.
Der mächtige, der starke Bron? Vor wem beugte ein solcher Mann die Knie?
Ich wagte es nicht, den Blick zu heben und wartete bang. Brons Atem indessen ging schwer. Was sah er? Was beeindruckte ihn so sehr?
»Was willst du von uns, GEWALTIGER?«, rief er auf einmal mit donnernder Stimme. Ich zuckte unwillkürlich zusammen.
Gewaltiger?
Eine Stimme antwortete ihm, so mächtig, dass die Erde erbebte: »Ich bin dein GOTT, du nichtsnutziger WURM!«
Ein heftiger Wind fauchte über uns hinweg. War es der Atem des Gewaltigen?
Ich duckte mich unwillkürlich tiefer hinab, um nicht von diesem Sturm erfasst und weggerissen zu werden.
»Ja, gewiss, du bist mein Gott!«, bestätigte Bron ohne Unterwürfigkeit.
»Dann huldige mir, wie es einem Gott allein gebührt, Unwürdiger. Senke dein Haupt und wage es niemals mehr, mein Antlitz zu schauen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein!«
Die Stimme war so unerträglich, dass ich verzweifelt die Hände gegen die Ohren presste.
»Gehorche!«, grollte es, begleitet von einem weiteren Sturmwind.
Und wenn ich noch so fest die Hände auf die Ohren presste, nutzte es nichts. Es tat weh, diese Stimme hören zu müssen, als wollte mein Schädel in tausend Teile zerspringen.
Zitternd schickte ich mich an, aufzustehen.
Bron merkte es anscheinend. »Nein!«, warnte er gedämpft.
Ich hörte nicht auf ihn. Diesmal nicht. Ich ging rückwärts nach unten. Ich wollte weg vom Gipfel dieser Düne, wollte dieser mächtigen Stimme entfliehen, weil ich es nicht mehr ertragen konnte.
Erst als ich unten war, fühlte ich mich ein wenig sicherer.
»Wie heißt du, mein Gott?«, fragte Bron oben mit fester Stimme.
Ein noch stärkerer Sturm antwortete ihm. Ich wagte es, hinaufzuschauen. Ich sah Bron oben kauern, sah auch, dass er alle Mühe hatte, nicht von diesem Sturm fortgerissen zu werden. Aber Bron hielt sich tapfer.
Die Stimme des Gewaltigen, gegen die selbst der stärkste Gewitterdonner ein eher angenehmes Geräusch war: »Du weißt nicht einmal meinen Namen, Unwürdiger? Wie kannst du es dann wagen, mein Antlitz zu schauen? Das Antlitz deines obersten Herrn und Meisters!«
Erst jetzt erkannte ich den gigantischen Schatten, der über der Wüste stand, wie eine gewaltige Gewitterfront. Ich sah ihn, weil er sich weiter ausgebreitet hatte. Und jetzt ballten sich seine vordersten Ausläufer zu einer gigantischen Faust zusammen, die sich von der Hauptwolke trennte und herabraste.
Mir stockte der Atem, denn diese Faust raste genau auf Bron zu, um ihn zu zerschmettern.
Aber kurz vor dem Ziel verharrte die Faust plötzlich. Sie zitterte wie zögernd und dann war sie nur noch ein schwarzes Schemen, das unstet flatterte.
Da stand Bron auf, trotz des über ihn hinwegfauchenden Sturmes. Stolz stand er da, breitbeinig, den Blick fest auf die schwarze Wolke über der Wüste gerichtet, von der ich nur sicher nur die äußersten Ausläufer sehen konnte. Mein Glück!
War Bron aufgestanden, weil er sowieso keine Chance mehr sah? Wollte er aufrecht sterben, anstatt in Demutshaltung?
»Gut, Gewaltiger, ich pfeife also auf deinen Namen! Was bist du doch für ein elender Gott, der sich mit donnernden Worten Respekt verschaffen muss. Wer sollte sich vor dir beugen, wenn nicht alte Weiber und schwache Kinder?«
»Du wagst es?«, heulte es über der Wüste. »Du wagst es tatsächlich, mir in solchem Maße zu freveln?«
»Verhindere es doch, so du kannst!«, forderte Bron ihn großspurig auf.
»Bereter!«, rief ich hinauf, zitternd vor Todesangst. »Nenne ihm einfach den Namen Bereter! Begreife doch: Jeder Name ist richtig und Bereter ist der beste, wenn wir überleben wollen!«
»Wie?«, rief Bron verständnislos zurück. Anscheinend hielt er mich für verrückt.
»Eine List!«, drängte ich. »Es ist nur eine List: Du musst schlauer sein als er. Nur so kannst du ihn besiegen!«
Einen Augenblick zögerte er noch, während der namenlose Gott in seinem tödlichen Zorn seine Macht konzentrierte.
»Ich werde dich zerschmettern!«, kündigte er an.
Ich glaubte ihm aufs Wort. Bron hatte ihn zu sehr gereizt. Damit hatte er einen entscheidenden Fehler begangen.
Und dann hörte er endlich auf mich, beugte wieder sein Haupt und rief ein wenig kleinlaut: »Ich bitte um Gnade, mein Gott Bereter!«
»Wie nennst du mich?«, rief der Gott überrascht.
»Ich nenne dich bei deinem richtigen Namen: Bereter!«, behauptete Bron und beugte auch wieder die Knie. »Bitte, verzeih mir noch einmal, dass ich es an nötigem Respekt fehlen ließ, dass ich für einen Moment daran zweifelte, dass du es wirklich selbst bist, mein wahrer Gott Bereter. Aber du hast mich überzeugt. Deshalb nenne ich erst jetzt deinen wahren Namen. Weil ich ihn niemals einem anderen als dir verraten würde. Denn du allein bist der einzig wahre Gott, der Mächtige, der Gewaltige, mein einziger Beherrscher. Dir allein gehöre ich, mein Leben, meine Seele. Alles dies befehle ich in deine Hand, Bereter, du mein Gott und Beherrscher der Wüste und allem Lebendigen und allem Toten, der du gütig genug bist, mir, deinem ergebenen Sklaven, den Frevel noch einmal zu verzeihen, der ich meinen Irrtum eingesehen habe!«
Ich rang die Hände in schierer Verzweiflung. Musste denn Bron jetzt so übertreiben? Hätte denn nicht weniger bereits voll und ganz genügt?
Aber er hatte es scheinbar richtig getan. Die schwarze Wolke begann unruhig zu flattern. Ein sanfter Laut klang auf, wie Sphärenklänge. Keine donnernde Stimme mehr, kein Sturm. Nur noch ein lauer Hauch ging über Bron hinweg und ich spürte endgültig keine Kälte mehr.
Du hast genau das falsch gemacht, wovor du mich gewarnt hast: Du hast den Blick gehoben, als du oben angelangt warst. Vielleicht nur Sekundenbruchteile, aber die haben genügt. So wurdest du das Opfer dieser schrecklichen Kräfte, die die Wüste beherrschen. Aber meine List wird uns vielleicht das Leben retten?
Der Gott ohne Namen - jetzt hieß er Bereter. Aber auch ich war Bereter. Ich wagte es, wieder hinaufzuklettern. Dabei konnte ich den Blick leider nicht mehr senken. Zu lange hatte ich die Ausläufer der schwarzen Wolke beobachtet. Sie hatten mich in ihren Bann gezogen und hielten meinen Blick auch noch weiterhin gefangen. Wenn auch mein Verstand ansonsten frei blieb von ihrer Beeinflussung.
Bron hörte mich kommen.
»Wie bist du nur auf diese Idee gekommen?«, wunderte er sich.
»Ganz einfach, Bron. Diese Mächte haben keinen Verstand. Nicht wirklich jedenfalls. Sie wirken aus sich heraus, unberechenbar, gefährlich. Solche Kräfte musst du kanalisieren. Sie reagieren mit deinem eigenen Verstand. Deshalb können sie nur auf dich wirken, wenn es dir nicht gelingt, dich dagegen zu verschließen. Sie wirken nicht über die Natur um dich herum auf dich, sondern durch dich selbst. Und Bereter, das bin ich und ich bin doch dein Freund? Also reagieren die freundschaftlichen Gefühle in dir mit dieser Macht. Während du dich vorher aufgelehnt hast, mit feindseligen Gedanken, die von den Kräften dort draußen verstärkt wurden. Ja, alles, was du empfindest, wird von ihnen verstärkt - und wendet sich gegen dich.«
»Dann ist der Kampf noch längst nicht entschieden!«, sagte Bron, der endlich begriffen hatte. »Es ist zu spät, sich weiter vor den Mächten verschließen zu wollen. Wir müssen weiter. Aber wenn wir nicht ohne sie und auch nicht gegen sie sein können, dann schaffen wir es nur noch - mit ihnen!«
»Was soll ich nun tun, mächtiger Bereter?«, rief er aus, der Wolke zugewandt.
––––––––
4
––––––––
Der Gott der Wüste grollte: »Du bist in mein Reich eingedrungen, aber ich will großmütig sein und dir dein Leben schenken. Weil du wie ein Freund bist. Aber kehre um, ehe ich es mir anders überlege!«
»Tu es!«, riet ich geistesgegenwärtig und lief schon voraus, bis zur tiefsten Stelle zwischen den mächtigen Dünen, die wie Hügel uns umgaben.
Bron folgte mir zögernd.
Erst als ich ganz unten war, wagte ich es, den Blick zu wenden.
Der Himmel war so wie vorher. Keine Wolke war sichtbar.
Bron blinzelte überrascht. »Er ist weg? Ich sehe ihn nicht mehr und - ich spüre ihn nicht mehr!«
»Warum hast du nur den Fehler gemacht und hast zu ihm aufgeschaut?«, tadelte ich ihn.
»Das habe ich gar nicht!«, behauptete er.
Ich ging kopfschüttelnd an ihm vorbei und machte mich wieder an den Aufstieg.
»He, was hast du vor?«, rief er mir nach.
»Ich muss herausfinden, ob du recht hast, Bron. Nur wenn wir ausreichend Wissen gesammelt haben, werden wir hier überleben können!«
»Bleib!«, rief er erschrocken.
Ich reagierte gar nicht darauf.
Kaum hatte ich den obersten Punkt der Düne erreicht, natürlich bemüht, den Blick niemals vom Boden zu lösen, als der Spuk wieder von vorn begann, fast so wie vorher bei Bron.
»Ich bin es, dein ergebenster Diener, oh mein Gott Bron!«, rief ich dem Gewaltigen zu, immer noch den Blick gesenkt. Ich sah ihn nicht und dennoch wirkte er auf mich.
Aber weil ich ihm den Namen meines Freundes gab, blieb er gnädig - und schickte mich zurück, wie vordem Bron.
»Eine Falle, die automatisch zuschnappt!«, sagte ich zu Bron, als ich wieder bei ihm war.
Bron schüttelte den Kopf. »Als ich das letzte Mal die Wüste durchquert habe, war das noch nicht so gewesen!«
»Die Geister der Wüste sind anscheinend lernfähig«, vermutete ich. »So wird unsere List vielleicht in der nächsten Nacht schon nicht mehr anwendbar sein.« Ich legte den Kopf schief. »He, wieso glaubtest du eigentlich, wir müssten unbedingt nachts die Wüste durchqueren? Wieso nicht tagsüber?«
»Weil es hier bei Tag zu heiß ist, Bereter, darum! Die Symbionten nehmen zwar die größte Hitze von uns, aber sie sollten nicht unbedingt überfordert werden. Außerdem ist der Weg noch weit, bis wir wieder einmal Proviant fassen können.«
»Glaubst du denn, dass die Geister der Wüste auch tagsüber wirken?«
»Das habe ich noch nicht ausprobiert, Bereter.«
»Ich glaube fast, das Risiko der Tageshitze hätte sich sogar gelohnt, um dies herauszufinden. Wie es im Moment aussieht, kommen wir hier nicht mehr weiter.«
»Willst du denn wirklich aufgeben und - umkehren?«
»Du weißt, dass wir das nicht können. Wir müssen weiter. Vielleicht gelingt es uns ja auch, die Schutzlinie der Wüstengeister großräumig zu umgehen?«
»Ich kann mir kaum vorstellen, Bereter, dass ihr mächtiger Gott nur an dieser einen Stelle wirkt.«
»Dann mach halt einen Gegenvorschlag!«, forderte ich ihn auf.
»Wir müssen es erneut wagen - mit ihm!«
Ich schüttelte den Kopf. »Du bist verrückt, Bron! Hast du nicht begriffen, dass wir keine Chance gegen ihn haben? Er schützt die Wüste, als Inkarnation ihrer Macht. Wir können uns nicht direkt gegen ihn wenden und das müssten wir.«
»Versuchen wir es trotzdem!«, schlug Bron ungerührt vor. »Wir sind ihm einmal entronnen, durch unsere List. Und wir habend dabei gelernt. Warm sollten wir die List nicht auf den Höhepunkt treiben?«
Er ging schon voraus.
Ich hatte erbärmliche Angst, als ich ihm folgte, sagte aber nichts mehr, denn ich vermutete, dass es völlig sinnlos gewesen wäre. Wenn Bron sich wirklich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte...
––––––––
5
––––––––
Kaum waren wir oben, als der mächtige Gott der Wüste erneut auftauchte. Diesmal hielt ich meinen Blick nicht mehr gesenkt. Es nutzte ja ohnehin nichts. Und ich sah ihn zum ersten Mal in aller Deutlichkeit.
Er war nicht etwa ein flatterndes Schemen, unbeständig und ohne feste Form, sondern ein Gigant, der hoch über uns stand, den Himmel verdunkelnd und mit glühenden Augen auf uns herabschaute.
Seine Blicke schienen glatt durch uns hindurchzugehen. Ich spürte sie tief in meinem Innern und wurde mir dieser unbeschreiblichen Macht bewusst, die er verkörperte. Was waren wir doch ihm gegenüber für erbärmliche Winzlinge...
Ja, der Gewaltige, diese mächtige Inkarnation aller Geister dieser mysteriösen Wüste, hatte die Macht eines wahren Gottes. Daran war nicht mehr zu zweifeln. Welch ein Leichtsinn, dass ich mich auf den Vorschlag von Bron eingelassen hatte.
Ich hielt die ungeheure nervliche Belastung einfach nicht mehr aus, warf mich herum und wandte mich zur Flucht.
Doch eine Gigantenhand schoss mir nach und griff nach mir. Ich wurde frei schwebend hochgehoben, als hätte ich nicht das geringste Gewicht.
»Bereter!«, brüllte Bron entsetzt.
Aber es war zu spät für mich. Ich verschwand fast in dieser Faust. Verzweifelt wollte ich mich losstrampeln. Lieber wollte ich in den tödlichen Abgrund stürzen, der sich unter mir ausbreitete, als in der Gewalt des Mächtigen zu bleiben.
Wie dumm war doch der Vorschlag von Bron gewesen! Und wie schrecklich in seinen Folgen!
Wie eine winzige Puppe hob mich der Mächtige seinem Gesicht entgegen. Ich sah es schräg von unten und das war, als würde ich an einem mächtigen Gebirge emporschauen.
Es war bärtig. Der Mund war leicht geöffnet. Darin waren prächtige Zähne zu sehen.
Die Nasenflügel bebten. Dabei entfachten sie einen Sturm, der mächtig über das Land brauste.
Der Gigant betrachtete mich aus seinen glühenden Augen.
»Hilfe!«, schrie ich verzweifelt.
»Schrei du nur, erbärmliche Kreatur, die du meiner freveln wolltest. Ich habe dich weggeschickt, nachdem du mir den Namen deines Gottes gegeben hattest. Du hast mich Bron genannt und ich musste annehmen, dass Bron tatsächlich der Name des Gottes ist, den du am meisten verehrst und den du dir als dein Freund wünschst. Das war deine einzige Chance gewesen, zu überleben. Wärst du nur für immer verschwunden, hätte ich dir verzeihen können. Nun aber...«
Seine Stimme marterte mein Trommelfell. Hätte der Symbiont nicht schützend meine Ohren bedeckt, wäre ich möglicherweise taub geworden.
Seine Faust drückte jetzt so fest zu, dass ich kaum noch atmen konnte. Nein, dies war gewiss keine Illusion mehr. Dies konnte doch nur die Wirklichkeit sein! Und ich hatte die Geister der Wüste in ihrer Lernfähigkeit offensichtlich gewaltig unterschätzt, wie die Ansprache des Giganten deutlich genug bewiesen hatte.
Was hatte er nun mit mir vor? Wollte er mich mit Haut und Haaren einfach verschlingen?
»Du bist des Todes, Frevler«, versprach er grollend. »Dein Leben ist nun endgültig verwirkt.«
Ich lachte ihm ins Gesicht, trotz meiner schrecklichen Lage. »Mein Leben - verwirkt? Das behauptest du, Gott Bron! Aber glaubst du wirklich, du hättest die Macht dazu?«
Er schaute mich überrascht an.
Ich fuhr ungerührt fort: »Ja, ich habe tatsächlich geglaubt, du seiest es persönlich, mein mächtiger Gott Bron und dann bin ich deiner Weisung gefolgt und habe mich entfernt. Dort aber, wo ich mich hinwandte, traf ich ihn wirklich: meinen einzigen Gott Bron! Und er hat mich auf meinen Irrtum aufmerksam gemacht! Er hat mich darüber aufgeklärt, dass ich einem Betrüger aufgesessen bin, einem, der nur behauptet, mein wahrer Gott Bron zu sein. Er war im übrigen sehr erzürnt über diesen Umstand, dass du es tatsächlich gewagt hast, seine Stelle einnehmen zu wollen. Und deshalb bin ich wieder hergekommen. Ich habe ihm den Weg zu dir gezeigt. Ja, er kam gleich selber mit.«
Er runzelte überrascht die Stirn. »Was faselst du da?«
»Du bist zwar mächtig, gewiss und das hast du mir schon wiederholt bewiesen, aber du bist noch nicht einmal allwissend. Ja, du bist sogar ein angeberischer Narr, weil du noch nicht einmal meinen Namen weißt! Dafür muss ich dich sogar bedauern!«
»Deinen Namen? Und wie - nennst du dich nun?«
»Ich bin - Bereter! Der einzig wahre - Bereter!«, schrie ich ihn an.
Ich war laut genug, dass mich Bron hören und verstehen musste.
»Bereter?«, echote der Gigant irritiert.
Bron stand unten und brüllte zu uns herauf: »Und Bereter, das ist mein einziger Gott! Ich ging weg von dir und traf ihn unterwegs. Ich brachte ihn mit hierher, um dich zu entlarven, du verlogenste aller Gottheiten! Du schmückst dich wohl gern mit den Federn anderer Gottheiten, nicht wahr?
Weil du selber nichts zuwege bringst. Du bist ein Niemand, denn du hast noch nicht einmal einen eigenen Namen. Wer sollte sich denn einem solchen selbsternannten Gott je beugen?«
»Bereter und - Bron?«, murmelte der Gigant verstört.
»Er ist mein wahrer Gott, denn er ist - Bron!«, rief ich und deutete hinunter. »Und ich bin sein einziger Gott, denn ich bin der wahre - Bereter!«, fügte ich hinzu.
»Wo - wo liegt da denn der Sinn?«, murmelte der Gigant fassungslos.
»Dieser Sinn ist doch ganz klar«, behauptete ich. »Nur fehlt es dir am nötigen Verstand. Du bist dumm und deshalb will ich es dir erklären: Geister und Götter sind keine Materie. Aber sie existieren zu allen Zeiten. Nur können sie nicht wirken - ohne die Menschen, die an sie glauben. Denn ohne diese Menschen sind sie - gar nichts. Nimm nur einmal an, es würde keinerlei Menschen geben, nicht in dieser Welt und auch in keiner anderen Welt: keine Menschen oder wie auch sonst geratene denkende Wesen! Was wäre dann mit allen Welten? Wer würde sie denn sehen und bewundern? Und mit all den mächtigen Göttern: Welchen Sinn hätten sie ohne jene, die an sie glauben können, weil sie denken? Nein, sie nähren sich allein von Verehrung, von Glauben, manche auch von Demut und sogar unterwürfiger Furcht derer, die an sie denken. Und so habt ihr Götter nur eure Gläubigen, durch die ihr wirkt - und seid machtlos, wenn jemand ohne Glauben an euch ist!«
Der Riese rollte verzweifelt mit den Augen. Er ließ mich sinken.
Ich schaute nach unten und sah Bron, der mir zuwinkte.
»Ich glaube an ihn, meinen einzigen Gott, an Bereter!«, brüllte Bron. »Er allein da ist Bereter, mein einziger Gott. Neben ihm kann ich keine anderen Götter haben. Ich sehe ihn, kann ihn sogar spüren. Ich kann mit ihm sprechen, denn er ist Wirklichkeit. Ich brauche nicht nur an ihn zu glauben, weil ich ihn darüber hinaus sogar sehe und fühle. Er existiert: Bereter! Es kann keinen anderen Gott für mich geben und du, der du dich als ihn ausgegeben hast, wirst niemals Macht über mich erlangen! Und wenn du dich in noch so imposante Größe aufbläst, bleibst du doch ein elendes Nichts - ohne Namen! Wie sollte jemand an so etwas glauben?
Versuche doch, mich zu zerschmettern - um festzustellen, dass auch ich ein mächtigerer Gott bin als du es jemals sein könntest. Weil ich als Gott existiere, so lange jemand an mich als ein Gott glaubt.«
Bron lachte verächtlich. »Komm, Bereter, zeige ihm, wie gering seine Macht wirklich ist. Zeige ihm, dass er nur so lange existiert, wie wir es wollen. Und sobald wir es nicht mehr wollen, muss er für immer vergehen. Er ist verloren. Er hat uns herausgefordert und wird dafür büßen müssen - mit seiner Existenz.«
Und auch ich lachte jetzt verächtlich. Obwohl der Riese mit mir grollend zum Wurf ausholte. Ja, er holte weit aus, um mich hinüber bis zu den Bergen zu schleudern.
Ich lachte darüber und dieses Lachen nahm mir den letzten Rest von Frucht. Es war meine letzte Chance: Entweder ich flog hinüber und kam dadurch zu Tode oder...
Ja, was war die Alternative? Lagen wir mit unserer Theorie wirklich richtig? Hatten wir die Sache wirklich richtig angepackt?
Ich zweifelte nicht mehr daran, denn jegliche Furcht, jegliche Zweifel kostete mich das Leben. Nur wenn ich über alles lachte und nicht länger zuließ, dass diese tödlichen Visionen auf mich wirkten...
Ich lachte mir schier die Kehle aus dem Hals. So lange, bis mir jemand eine schallende Ohrfeige verpasste und damit den Lachkrampf löste.
Ich kam zu mir und blinzelte überrascht.
Bron stand über mich gebeugt. Ich lag offensichtlich am Boden.
Stirnrunzelnd schaute ich an ihm vorbei. Es gab keinen Giganten mehr. Wir hatten den Kampf gewonnen. Wir hatten ihn besiegt, weil wir den Glauben an ihn besiegt hatten - an ihn, die tödliche Illusion.
»Es - es hat funktioniert!«, stammelte ich fassungslos.
Bron musste lachen. »Erstaunlich, Bereter. Du bist ein weiser Mann, wie du bewiesen hast, aber wenn du wirklich so weise bist, wie kommt es dann, dass du so oft an dir selber - zweifelst?«
Ärgerlich rappelte ich mich auf. »Woher soll ich denn das wissen?«, fuhr ich ihn an. »Vielleicht ja auch - eben, weil ich angeblich so weise bin?«
Er klopfte mir wohlwollend auf die Schulter. »Den Göttern sei Dank: Ganz wieder der Alte!«
Ich verzog das Gesicht. »Götter? Bloß die nicht mehr! Mein Bedarf daran ist für die nächste Zukunft überreichlich gedeckt!«
Er wurde auf einmal wieder ernst.
»Sehe es an als eine Art Test«, orakelte er. »Wir haben diesen Test wohl bestanden, aber es ist längst noch nicht die Entscheidung. Viel mächtigere Dinge warten noch auf uns - Dinge nämlich, die diese ganze Welt hier tragen, in der wir uns befinden und der wir - ausgeliefert sind. Bis zum entscheidenden Finale. Wie auch immer dies aussehen mag.«
Ich schaute ihn überrascht an. Was meinte er mit diesen Worten?
Ich grübelte darüber, kam aber nicht dahinter.
Aus ungewissen Gründen wagte ich es nicht, ihn näher zu befragen. Er hätte mir sicherlich sowieso nicht geantwortet.
––––––––
6
––––––––
Ich schaute über die weite Dünenlandschaft der Sandwüste hinweg. Die Geister der Wüste. Sie lauerten nur für den in dieser Wüste, der an sie glauben konnte. Wir hatten die ersten beiden Kampfrunden erfolgreich überstanden. Doch das bedeutete nicht, dass uns auf unserem weiteren Weg durch diese Wüste keinerlei Gefahren mehr drohten.
Wir mussten auch weiterhin höllisch aufpassen. Dabei hatten wir nicht die geringste Ahnung, wie die nächste Attacke überhaupt aussehen würde.
Wir marschierten los, schneller als vordem und Bron machte auch keine Umwege mehr um die Dünen herum, sondern mied nur noch diese, die ihm zu steil erschienen: Damit ich nicht zuviel Kräfte durch den Aufstieg verlor, denn Bron nahm in erster Linie Rücksicht auf mich, weil er mit seinen eigenen Kräften kaum hauszuhalten brauchte. Er war ein wahres Muskelmonster, scheinbar niemals ermüdend.
Wir kamen rasch voran. Aber auch als ich deutlich die Erschöpfung spürte, beschwerte ich mich nicht über das ziemlich mörderische Tempo. Ich nahm alle Beherrschung zusammen und machte keine Sekunde lang schlapp.
Mein Zeitsinn sagte mir, dass wir über die Hälfte der Nacht schon hinter uns hatten. Bald schon würde der neue Tag erwachen, die Hitze sehr schnell ansteigen, um unerträgliche Werte zu erreichen. Und wenn ich Bron glauben durfte, würde der Marsch hier draußen dann noch viel mörderischer werden.
Es gab keinerlei Wind hier, nicht einmal den geringsten Windhauch.
Bis wir endlich die Enge zwischen den zupackenden Bergarmen erreichten.
Eine breite Schlucht mit fast senkrechten Wänden tat sich vor uns auf. Der Sand bildete groteske Formen, ins Riesenhafte vergrößert. Aber er war hier genauso festgebacken wie überall. Das war kein normaler Sand. Er wirkte irgendwie - klebrig. Deshalb konnte auch der Wind nicht sein Spiel mit ihm treiben.
Irgendwann einmal war das anders gewesen. Denn sonst hätte es nicht die Dünen und sonstigen Verwehungen geben können.
Sie stammten noch aus einer Zeit, als die Geister der Wüste gewiss noch keinerlei Bedeutung gehabt hatten. Das nahm ich jedenfalls an...
Bron beschleunigte jetzt sogar noch unser Tempo, als wollte er von nun an keine Rücksicht mehr auf mich nehmen.
»Was ist los mit dir?«, protestierte ich keuchend.
Er gab mir keine Antwort, sondern schaute immer wieder umher.
Im Vergleich zu ihm brauchte ich kaum etwas zu schleppen, aber ich würde das neuerliche Tempo nicht lange durchhalten können.
»Warte doch auf mich, Bron. Um Gottes Willen, willst du mich denn zurücklassen?«
»Bereter, nimm all deine Kraft zusammen. Es geht um unser beider Leben. Vielleicht um mehr noch? Siehst du denn nicht, wo wir uns hier befinden?«
Ich verstand nicht, was er mir mitteilen wollte. Fing er an, durchzudrehen? Bloß nicht! Und jetzt begann ich ebenfalls, die Umgebung aufmerksamer zu belauern. Es fiel mir ziemlich schwer, gleichzeitig den Abstand zwischen uns beiden nicht noch größer werden zu lassen.
Vergeblich. Bron hatte anscheinend panische Angst. Vor was oder vor wem? Etwa immer noch vor den Geistern der Wüste? Wirkten sie hier draußen, im tiefen Bergeinschnitt, denn genauso?
Und warum reichte sein Mut nicht mehr - trotz des großen Sieges, den wir über den Gott ohne Namen errungen hatten?
Es war mir im Moment unerklärlich. Außerdem gab es zur Zeit für mich Wichtigeres: Wenn er so weiterhetzte, verlor ich ihn bald aus den Augen.
Der Weg war sicher noch ziemlich weit, zwischen den steilen Felswänden hindurch, die sich irgendwo im Himmel verloren. Sie waren schroff, wirkten zerrissen, als hätte ihnen ein Gigant tiefe Wunden zugefügt.
Das Rot der Nacht verstärkte diesen Eindruck noch. Ich erlag tatsächlich sekundenlang der Illusion klaffender Wunden, aus denen Blut quoll.
Bron schrie gellend auf.
Ich schaute nach vorn, sah ihn nicht mehr.
Schwankend blieb ich stehen.
Jemand erhob sich aus dem Sand, kehrte mir das Gesicht zu.
Ich wollte glauben, dass dies Bron war, mein Freund, aber nein... Dieser Mann hier war nicht grün. Er hatte einen Bart: ein Riese, der Bron noch an Gestalt übertraf und seine Augen glühten böse.
Es war der gleiche Mann, den wir als gigantische Illusion besiegt hatten! Der Gott ohne Namen!
Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah auf mich herab.
Ich war wie am Boden festgewachsen und konnte mich nicht von der Stelle rühren.
Wo war Bron abgeblieben, um alles in der Welt? Das war mein einziger, verzweifelter Gedanke.
Der Bärtige streckte seine Rechte aus. Ich hatte mich in dieser Rechten befunden. Mit ihr hatte er ausgeholt, um mich zu den Bergen hinüberzuschleudern. Mit purem Willen hatte ich es schließlich geschafft, dem zu entrinnen. Ich war am Boden zu mir gekommen. Damit hatte ich den Vorgang endgültig als Illusion entlarvt. Denn ich hatte in Wirklichkeit niemals den Boden verlassen, sondern hatte die ganze Zeit schon da gelegen.
Die Rechte öffnete sich. Ich sah die Handinnenfläche. Sie schloss sich langsam wieder.
Gleichzeitig spürte ich den Druck einer unsichtbaren Gigantenhand, die mich umklammert hielt.
Die Hand schloss sich weiter. Als der Bärtige dabei den Arm hob, verlor ich prompt den Boden unter den Füßen. Ich raste auf den Bärtigen zu.
Er ließ mich erst aus dem Griff, als ich ihm ganz nahe war. Ich landete federnd auf meinen Beinen und konnte gerade noch meinen Sturz verhindern. Jetzt stand ich unmittelbar vor dem Bärtigen. Links von mir lag Bron - ausgestreckt am Boden. Er rührte sich nicht mehr.
War er etwa - tot?
Hass erglühte in mir und ließ mich unvernünftig werden, indem ich mit einem einzigen Ruck das Schwert aus der Scheide gleiten ließ und blindlings zuschlug.
Das Schwert ging durch den bärtigen Riesen hindurch, ohne ihn zu verletzen.
Er schüttelte tadelnd den Kopf. »Die Geister der Wüste gibt es tatsächlich«, sagte er mit seiner grollenden Stimme, »aber sie sind nicht mit einem Schwert zu besiegen. Du hast gesagt, Bereter, dass Geister nur auf diejenigen Macht ausüben, die an sie glauben. Nun, Bereter, ich zwinge dich zu diesem Glauben. Du kannst nichts dagegen tun.«
»Aber was bezweckst du überhaupt damit, Geist?«
»Ich will dir damit eine Lehre erteilen, ehe du stirbst. Du hast einen guten Sieg errungen und durftest dich auch darüber freuen. Ich gab dir Zeit genug dafür. Nun aber ist das Ende dieser Freude erreicht.«
Er deutete auf die andere Seite.
Aus den Felswänden traten dunkle Gestalten heraus. Es waren Hunderte. Sie schlurften herbei.
»Wer seid ihr, ihr Geister der Wüste?«, fragte ich den Bärtigen. Dabei gab ich mir Mühe, wenigstens äußerlich ruhig zu wirken. Es fiel mir schwer. Denn die Erkenntnis, dass Geister nur Macht ausüben konnten, wenn man an diese Macht glaubte, nutzte nur sehr wenig, wenn die Angst einmal zu fruchten begonnen hatte.
Ich wollte sie unterdrücken, wollte sie einfach hinwegfegen, aber es blieb ein unstillbares Verlangen.
»Bron war der erste, der diese Wüste hier betrat. Der erste Mensch, Bereter! Durch ihn haben wir vom Menschen erfahren. Durch ihn haben wir des Menschen Ängste kennen gelernt. Du fragst ernstlich, wer wir sind?«
»Ihr seid die Ängste, die ein Mensch hegen kann!«, antwortete ich überzeugt.
»Ja, Bereter, schau sie dir ruhig an, diese Geister der Wüste und beginne zu begreifen.«
Eine alte, verhutzelte Hexe, die mich meckernd anlachte und dabei nur einen einzigen Zahn zeigte.
Ein Toter, halbverwest, stinkend. Aus seiner hohlen Brust drang ein dumpfes Grollen.
Kobolde, klein, bösartig, mit messerscharfen Fingernägeln, um jeden Lebenden zu zerfetzen.
Weiße Schatten, die unruhig umherflatterten wie Nebelstreifen, vom Wind gejagt. Als mich einer fast berührte, übertrug er auf mich die Kälte des Todes.
»Was habt ihr mit Bron gemacht?«, fragte ich den Bärtigen mit den glühenden Augen.
»Er ist tot, Bereter. Sein Geist entfloh, als er sich mir mit allem Willen widersetzen wollte. Er hat auf dich gehört, dieser Bron, aber unsere Existenz ist stärker als sein Unglaube. Das hat ihm den Tod gebracht.«
»Den Tod?«, echote ich verzweifelt und beugte mich über Bron.
Ich wollte ihn auf den Rücken drehen, wollte mich persönlich davon überzeugen, aber ich hielt inne. Was nutzte es schließlich, in seine toten Augen zu schauen? Ein unerträglicher Anblick, den ich mir ersparen wollte. Dafür glaubte ich lieber dem Bärtigen.
»Aber dann habt ihr nur noch Macht über mich und durch mich?«, fragte ich erschüttert.
»Wir haben durch Bron alles erfahren und sind durch ihn erst zu den wahren Geistern der Wüste gereift.«
Gedanken aus dem Unbewussten, dachte ich. Alpträume, Schreckensvorstellungen - hier in der toten Wüste werden sie lebendig. Sie sind die einzigen, die hier leben dürfen.
Es sind die Vorstellungen von Bron - ursprünglich. Deshalb wirkten sie auf ihn stärker als auf mich. Das ist jetzt bewiesen. Deshalb haben sie mich nicht sofort wahrgenommen, bei der ersten Begegnung mit dem Riesen.
Es hatte nicht allein daran gelegen, dass ich mich hinter Bron befunden hatte.
Aber die Kräfte, die hier wirkten, hatten sich inzwischen längst auf mich eingestellt.
Ich schloss die Augen, während die Schreckensbrut mich umzingelte.
Jetzt hörte ich nur noch ihr Schleichen und Scharren. Ab und zu ein scheußliches Knurren.
Die Schemen des Schreckens, die Untoten, Zombies, alle Scheußlichkeiten, die sonst noch vorstellbar waren... sie waren ausnahmslos gegenwärtig. Ich spürte sie auch, wenn ich die Augen ganz fest schloss, um sie wenigstens nicht zu sehen.
Sie wollten mich nicht nur in Angst und Schrecken versetzen, sondern sie wollten mit quälen. Bron hatte es besser als ich. Er hatte den Schock nicht überlebt. Für mich jedoch gab es diesen tödlichen Schock nicht. Sie wollten mich langsam sterben sehen - und qualvoll.
Für mich würde irgendwann erst der Wahnsinn kommen und dann erst das erlösende Ende. Sie würden sich für mich den schlimmsten Tod ausdenken, den es für mich überhaupt geben konnte und alle Informationen hierüber schöpften sie aus meinem eigenen Unterbewusstsein.
Die schlimmsten meiner Befürchtungen würden für mich Materie werden!
Ich riss die Augen wieder weit auf.
Ich lebte nur deshalb noch, weil sie aus mir lernten. In dieser ansonsten toten Wüste lauerte eine unbeschreibliche Kraft, die alles dies erst ermöglichte. Diese war der eigentlich Feind. Sie war überall, allgegenwärtig. Gegen die Kraft selbst konnte ich nichts tun, aber wenn die Geister der Wüste vollends zu Produkten der dunkelsten Seite meiner Existenz geworden waren... Ja, waren sie dann nicht so sehr ein Stück von mir, obwohl getragen von der Kraft, dass ich versuchen konnte, die positive Gegenseite wirken zu lassen?
Denn kein Mensch besteht nur aus seinen Ängsten und Befürchtungen, seinen geheimen, schwarzen Gedanken... Es gab in jedem auch einen Gegenpol. Sonst könnte kein Mensch sich selbst ertragen. Es gäbe niemanden mehr, der noch bei Verstand war.
Zwar erschien es auf den ersten Blick gesehen als absolut aussichtslos, weil die Kraft der Wüste nur das Böse trug, aber nicht das Gute. Weil das so war, hatte das Gute eben keinerlei Chancen...
Keinerlei Chancen? Ja, triumphierte das Böse in dieser Wüste denn nicht deshalb, weil Bron sie zuerst mit tiefstem Misstrauen in seinem Herzen betreten hatte?
Bron hatte beim ersten Mal das Schlimmste befürchten müssen, um sich selbst vorsichtig und wachsam gegenüber allen möglichen Gefahren zu machen. Und diese Erwartung des Bösen hatte das Böse gerade erst entstehen lassen!
Ich ballte die Hände zu Fäusten. Ich fühlte mich plötzlich wie im Fieber. Hatte ich die Lösung parat? War die Rettung vielleicht greifbar?
Nichts sprach nach meiner Theorie grundsätzlich dagegen, dass nicht auch das Gute wirksam werden könnte - verstärkt durch die alles beherrschende Kraft!
Ich fiel auf die Knie, krallte die Hände ineinander, schloss wieder die Augen und konzentrierte mich.
Das Schreckensheer hörte auf, mich zu taktieren. Es wartete nicht mehr länger. Es stürzte sich auf mich. Die Kobolde schlugen ihre scharfen Nägel in mein Fleisch, zerfetzten meine Genitalien, rissen große Stücke aus meinem zuckenden Körper, während die Hexen wie irrsinnig auf mich einstachen und die Schatten des Todes mich eiskalt berührten.
Wahnsinnige Pein durchraste meinen Körper, marterte meine Seele, wollte mich in den Abgrund der geistigen Umnachtung stürzen, als letzte Etappe vor dem endgültigen Tod.
Ich spürte den Biss eines Vampirs, die scharfen Zähne eines Dämons in den Eingeweiden.
Aber ich lebte trotz allem noch. Ich ertrug all diese unbeschreiblichen Qualen, ohne von einer gnädigen geistigen Umnachtung erlöst zu werden oder gar von den Armen des Todes.
Und ich betete inbrünstig in meinem Innern. Ich benutzte all diese Formeln des Guten, die ich als Kind gelernt hatte - als Ausgleich für das Böse, damit es nicht Besitz von meiner Seele ergreifen und meinen Verstand verwirren konnte. Ich kannte viele Variationen des Guten. War ich nicht Bereter, der in der Obhut der Weisen aufgewachsen war, die ihn alles dies gelehrt hatten, auch wie man seinen Geist vor dem Grauen schützen konnte?
Ich war zu keiner Zeit ein gläubiger Mensch gewesen. Ich hatte die Vorstellung des Göttlichen als das außerordentlichste von allem vorstellbar und unvorstellbar Guten stets nur als Ausgleich zu allem angesehen, was tief im Unbewussten eines jeden Menschen schlummerte. Und wäre ich nicht ein Meister darin gewesen, meine Ängste zu besiegen, wäre ich niemals Bereter, der Sucher geworden!
Denn hatten mich nicht die Weisen losgeschickt, mich als den Auserwählten? Ich hätte wohl trotzdem niemals bis hierher überlebt - ohne die tätige Hilfe von Bron - in dieser absolut feindlichen Umwelt, aber meine scheinbare Schutzlosigkeit oder sogar Hilflosigkeit bisher war nur darin begründet gewesen, dass ich keine Ahnung von diesen Gefahren hatte.
Jetzt aber...
Das Böse aus meinem eigenen Unterbewusstsein war Tatsache geworden und wollte mich zerfleischen, bei lebendigem Leib. Und wie ich gelernt hatte, meine Ängste zu besiegen, um selbst angesichts der größten Gefahr ruhig und bedacht zu reagieren, weil man als Kämpfer nur so auf Dauer überleben kann... Genauso bekämpfte ich jetzt meine für mich Materie gewordenen Ängste.
Das Gute, das sonst in meinem Innern für den gesunden Ausgleich gesorgt hatte, sollte jetzt auch außerhalb diesen Ausgleich schaffen!
Ich hätte gern meine Gebete, die nichts weiter als hochwirksame, rituelle Worte waren, mit denen ich meine Konzentration auf den Höhepunkt brachte... Ich hätte gern diese Gebete laut hinausgeschrieen. Aber dafür fehlte mir einfach die Kraft, während ich in dieser schier endlos währenden Hölle namenloser Pein weilte.
Aber es genügte auch das stumme Formulieren!
Ich spürte es, als die Pein abklang, als die Krallen der Kobolde und Gnome nur noch meine Haut zu ritzen vermochten, als der Vampir sich vergeblich bemühte, mein Blut zu trinken und als sich der Dämon vergeblich über meine Eingeweide hermachen wollte.
Neue Kraft erfüllte mein Inneres und kehrte sich nach draußen. Wie vordem all jenes Negative.
Ich betete inbrünstig und beschwor damit das Gute und Heilige - den Ausgleich.
Und dann konnte ich die Augen wieder aufschlagen.
Mein Blick fiel auf den Bärtigen. Er war zusehends gealtert, stand vor mir mit schlaffen Schultern und erloschenen Augen, wankend, sterbend.
Er war die Inkarnation des Negativen und musste jetzt verschwinden: Er kippte nach vorn und löste sich auf, noch ehe er den Boden berührt hatte.
Und dann hörte ich den choralen Gesang.
Strahlendes Licht übergoss die Wüste, als sei diese zu neuem Leben erwacht. Die letzten Schatten des Bösen flohen panikartig vor diesem reinigenden Licht. Die Macht des Bösen war besiegt. Es wurde jetzt heller als der helllichte Tag. Eine angenehme, glücklich machende, wärmende Helligkeit.
Der Chor sang und ich wusste, dass kein Gebet mehr brauchte. Der Kampf war endgültig gewonnen. Nein, nicht nur der Kampf, sondern der ganze Krieg!
Ich beugte mich über Bron, lächelte dabei glücklich.
Behutsam drehte ich den Freund auf den Rücken.
»Los, mein Freund, du darfst wieder erwachen. Das Gute hat gesiegt. Das Böse hat keine Macht mehr in der Wüste. Aus den bösen Geistern der Wüste wurden die Engel der Wüste. Schlage die Augen auf und sieh selbst!«
Und Bron öffnete tatsächlich die Augen. Staunend richtete er sich auf.
»Was ist geschehen?«
Ich präsentierte mich ihm unter dem schallenden Klang des Chores, der aus voller Brust den Sieg des Himmels über der Hölle besang.
»Ich bin heil und unverletzt, Bron und auch du lebst. Denn was das Böse dir angetan, wurde vom Guten wieder geheilt. Wir sind also bei besten Kräften und dürfen glücklich sein, denn aus der Hölle wurde der wahre Himmel!«
Er stand vollends auf. Und dann wandte er sich mir zu und packte mich an den Schultern. Ruhig schaute er mich an.
»Ich habe gewusst, dass du siegen wirst, Bereter. Ich habe auf dich gebaut. Deshalb habe ich den Toten gespielt. Es hat mich eine ungeheure Anstrengung gekostet. Ich musste meine Gedanken blockieren, als sei ich tatsächlich tot. Nein, nicht du hast mich zu den Lebenden zurückgeholt, sondern ich mich selber, als die Gefahr vorüber war. Aber sie ist nur vorüber für mich und nicht für dich!«
Er sagte es sehr eindringlich, aber ich verstand nichts davon. Waren wir nicht im Himmel? Was sollte daran denn - gefährlich sein?
»Es ist wie eine Droge, Bereter! Ich verstehe, dass alles Böse aus uns selbst kam, dass es durch eine unerklärliche Macht in dieser Wüste sozusagen Materie geworden ist. Aber jetzt ist das Gute Materie geworden und ist ein Mensch denn nicht nur so lange bei gesundem Verstand, so lange beides in ihm sich die Waage hält? Denn auch zu positive Empfindungen sind gefährlich. Ja, es ist wie bei einer tödlichen Droge!«
Ich schluckte schwer und schloss die Augen.
Er hatte recht!
Mit dieser Erkenntnis gelang es mir endlich, mich dagegen zu wehren.
So übermächtig das Böse vorher gewesen war, so übermächtig drohte jetzt sein Gegenpol zu werden. Aber ich schaffte es, die Geister, die ich gerufen hatte, auch diesmal dorthin zu verbannen, wohin sie gehörten: in mein Unterbewusstsein.
Als ich die Augen wieder öffnete, war alles um uns herum normal. Auch für mich.
Bron lächelte. Er nickte mir aufmunternd zu.
»Und jetzt sollten wir so schnell wie möglich von hier verschwinden, ehe der ganze Tanz wieder von vorn beginnt. Denn die Kraft wirkt nach wie vor in dieser Wüste.«
»Obwohl sie nur gefährlich wird, wenn wir innerlich nicht ausgeglichen sind«, schwächte ich seine Bedenken ab.
»Innerlich ausgeglichen? Welcher Mensch ist das denn schon auf Dauer?«
Ich konnte ihm leider nicht widersprechen.
Gemeinsam zogen wir weiter.
––––––––
7
––––––––
Bis zum Ende der Wüste brauchten wir länger als erwartet. Obwohl mich meine Natur als SUCHER vorwärts trieb, ließen wir uns unverhältnismäßig viel Zeit.
Die Annehmlichkeiten des Paradieses begleiteten uns unterwegs. Von der Hitze des Tages war nichts zu merken. Hunger und Durst waren besiegt. Was wir zu schleppen hatten, wurde uns von hilfreichen Helfern abgenommen. Und wenn wir wirklich einmal Leibliches genießen wollten, wurde rasch dafür gesorgt: Speisen und Getränke wuchsen praktisch beliebig aus dem Boden.
Wir wurden von den schönsten Frauen begleitet, die ich jemals gesehen hatte. Sie sangen und musizierten und verwöhnten uns auch in anderer Beziehung.
Fast schmerzte es uns, als wir das Ende der Wüste erreichten. Aber einen SUCHER konnte letztlich nichts aufhalten - einen echten jedenfalls nicht!
Sobald wir die Grenzlinie überschritten, erlosch der ganze angenehme Spuk. Als wir zurückschauten, wirkte die Wüste öd und leer. Nichts wies auf das Paradies hin, genauso wie vorher nichts darauf hingewiesen hatte, dass in der Wüste böse Geister auf den Unvorsichtigen warteten.
Bron schüttelte den Kopf. Ich sah kein Bedauern in seinen Augen, sondern Sorge. Darüber wunderte ich mich.
»Es ist eine Gefahr«, behauptete er. »Verstehst du, was ich meine, Bereter?«
»Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
»Es ist eine Gefahr für jeden, der unvorbereitet die Wüste betritt, denn der Schwache unterliegt dem Paradies wie einer Droge. Er wird süchtig und kann es nie mehr verlassen.«
Ich spürte eine Gänsehaut auf dem Rücken: Bron hatte recht!
»Ja, Bron, eine Falle. Aber was kann man dagegen tun?«
Bron zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, Bereter. Beruhigen wir uns mit dem Gedanken, dass das Paradies als Falle immer noch besser ist als die Hölle, verursacht durch die Geister der Wüste.«
Wir wandten uns endgültig ab.
Auf dieser Seite der Berge erschien das Massiv als unüberwindlich. Es gab in der Tat nur diesen einen Weg über die Wüste, die den Bergen breit vorgelagert war und dann durch das Tal.
Ich hoffte, dass ich diesen Weg niemals wieder gehen musste.
Bron deutete mit dem Kinn nach vorn.
»Der Dschungel!«, sagte er.
Ich war so sehr von der Erinnerung an das Paradies in Anspruch genommen worden, dass ich kaum auf die Landschaft geachtet hatte, die sich vor uns ausbreitete.
Zunächst schloss sich der Wüste eine große Steppenfläche an. Danach begann der Dschungel, wie eine dichte, grüne Mauer, genauso unüberwindlich als Hindernis wie die Berge in unserem Rücken. Aber Bron war der lebendige Beweis für mich, dass es doch möglich sein musste, diesen Dschungel zu überwinden!
»Hast du etwa den Symbionten von dort?«, fragte ich ihn.
»Ja, Bereter, ich habe ihn von dort. Aber ich muss dir sagen, am liebsten würde ich trotzdem umkehren.«
»Wieso?«
»Wegen den Gefahren dieser Steppe hier und den Gefahren des Dschungels: Vor allem wegen dem, was HINTER dem Dschungel auf mich wartet!«
»Was ist das denn?«
Er wandte sich mir zu und lächelte verkrampft. Dann legte er schwer seine Hand auf meine Schulter.
»Eine Aufgabe, Bereter!«, antwortete er geheimnisvoll. »Ja, Bereter, eine Aufgabe, der ich einst nicht gewachsen war, vor der ich einst fliehen musste.«
»Ich verstehe nicht, Bron...«
»Bitte, Bereter, verlange noch keine Erklärung von mir. Lass mir Zeit. Es ändert ja nichts für dich, denn du fühlst dich als SUCHER, der sich durch nichts aufhalten lässt. Du wirst gemeinsam mit mir versuchen, die Steppe und den Dschungel zu überwinden, egal, was uns auf der anderen Seite erwartet.«
Mehr wollte er dazu nicht sagen. Ich musste es akzeptieren.
Bron schritt voraus, wie gewohnt. Seine Füße traten das trockene Steppengras nieder. Es pulverisierte unter seinem Gewicht.
Der Symbiont, der zwar meine Füße schützte, ließ mich dennoch das scharfkantige, spitze Gras spüren, wenn es ihn durchbohrte. Der Boden darunter war hart und uneben.
Mancherorts waren durch die Trockenheit Risse entstanden.
Das Wüstengebiet war an sich schon ein Phänomen, die Steppe war es noch mehr und ich wunderte mich vor allem darüber, wieso es unter denselben klimatischen Bedingungen diesen Dschungel weiter vorn geben konnte.
»Als würde die Steppe die Wildnis von der Wüste trennen«, murmelte ich vor mich hin.
Bron nickte ernst. »So könnte man es auch sehen, Bereter.«
Immer wieder warf er Blicke in die Runde. Erwartete er eine Gefahr, die hier auf uns lauerte?
––––––––
8
––––––––
Obwohl Bron so aufmerksam war, sah ich es dennoch vor ihm. Es war reiner Zufall, wie ich zugeben muss und ich war eigentlich dank der Erfahrungen, die ich in der Begleitung von Bron bisher gesammelt hatte, sowieso auf alles Mögliche gefasst gewesen.
Es kam von links: Ein Ding, das sich in weiten Sprüngen näherte.
Es war hinter einem flachen Hügel aufgetaucht. Überhaupt war die Steppe wohl nur scheinbar bretteben.
Das Ding hüpfte genau in unsere Richtung. Es machte Sprünge von bis zu zehn Schritten.
Bron blieb stehen, als er es sah.
Das Ding kam so nahe an uns heran, dass wir Einzelheiten erkennen konnten.
Es bewegte sich aufrecht auf viel zu dünn erscheinenden Beinen. Die Vorderseite war rosig wie die Haut eines Neugeborenen. Der Körper wirkte eigentlich eher plump. Das Wesen schien seine Sprungkraft aus der Unterseite dieses Körpers zu beziehen, denn dort zuckte es konvulsivisch.
Die vier Arme waren genauso dürr wie die Beine. Sie waren klauenbewehrt.
Das Wesen hatte die Größe eines Kindes. Oben ruhte ein glitzerndes Facettenauge, wie eine gläserne Kuppel, in dem sich das Licht des Himmels schier tausendfach brach.
Mit diesem Facettenauge beobachtete es uns. Dabei ruderten ständig die vier Arme und die Klauen schnappten immer wieder zu wie Scheren, als wollten sie etwas zerschneiden.
Bron knirschte deutlich hörbar mit den Zähnen.
»Was - was ist das?«, fragte ich ihn kleinlaut.
»Weiß nicht!«, antwortete Bron knapp und abweisend.
Das Wesen belauerte uns und sprang in einem weiten Bogen um unseren Standort. Und dann blieb es stehen.
Als hätte Bron darauf nur gewartet, sprintete er sofort los. Die Soomen, die er die ganze Zeit über geschleppt hatte, plumpsten zu Boden. Bron hatte auf einmal das Schwert in beiden Händen und hetzte damit über die Steppe auf das wartende Wesen zu.
Das Wesen fuhr erschrocken zurück, als Bron so unvermittelt mit seinem wirbelnden Schwert auf es zuraste. Es wandte sich zur Flucht.
Jetzt erst sah ich, dass sein Rücken schwarz gepanzert war. Das Schlimme an diesem Panzer aber war seine Zeichnung, die ich trotz der Entfernung in allen Einzelheiten überdeutlich erkennen konnte. Denn es war die Zeichnung eines menschlichen Gesichtes!
Das Gesicht eines Menschen in höchster Not, um präzise zu sein. Mit zum Schrei geöffnetem Mund. Mit weit aufgerissenen Augen. Mit verzerrten Zügen. Das Gesicht eines Menschen, dem das Grauen begegnete.
Bei diesem Anblick hatte ich das Gefühl, etwas würde mir die Kehle zuschnüren.
Das Wesen sprang mit weiten Sätzen davon. Mit den vier Beinen katapultierte es sich regelrecht vom Boden weg. Die vier Arme sorgten dafür, dass es nicht das Gleichgewicht verlor, wenn es so im flachen Flug dahinraste.
Bron würde das Wesen nicht einholen können. Das schien er auch einzusehen, denn er stoppte seinen rasenden Lauf und schaute dem Flüchtling hinterher, bis er hinter der nächsten Bodenwelle verschwand.
Ich schaute mich um. Es mochte noch mehr dieser Bodenwellen geben, die so ausgedehnt waren wie flache Hügel. Was alles verbarg sich dahinter unseren Blicken?
Bron marschierte jetzt weiter in Richtung Dschungel und ich beeilte mich, ihn einzuholen.
Kaum war ich wieder bei ihm, als ein grelles Zirpen die Luft erfüllte.
»Los!«, brüllte Bron und rannte weiter. Ich fragte nicht lange nach dem Grund, sondern schloss sich ihm sofort an.
Ich hatte Bron sein schweres Bündel Soomen gebracht. Es war mir unerklärlich, wie er dieses Bündel schleppen konnte, ohne schon nach hundert Schritten unter dem Gewicht schier zusammenzubrechen. Ich hatte es jedenfalls kaum geschafft, es ihm auch nur nachzubringen.
Und jetzt rannte er sogar damit, als hätten die Soomen für ihn überhaupt kein Gewicht.
Ich hielt nur mit aller Mühe Schritt mit ihm und gewiss auch das nur, weil Bron auf mich Rücksicht nahm.
Das Zirpen wollte nicht mehr enden. Es gellte in unseren Ohren.
Selbst das Moos des Symbionten sträubte sich dabei.
Er schien die Gefahr genauso zu spüren wie Bron und ich.
Was verursachte dieses Geräusch? Die käferähnlichen Wesen vielleicht?
Und wie viele waren das inzwischen?
Eine Frage, die sich als erste beantwortete, denn die Käfer tauchten rechts und links auf und sprangen näher. Es mochten Hunderte sein.
Sie bildeten eine rasch schmäler werdende Schneise, durch die wir jagten, um den Dschungel vielleicht doch noch zu erreichen, ehe die Käfer uns ganz in die Zange nahmen.
Es erwies sich als grober Fehler, dass wir nicht den Weg zurück zur Wüste genommen hatten, denn bis zum Dschungel war es einfach zu weit. Das konnten wir unmöglich schaffen.
Und dann gerieten wir an den Rand einer weiten Mulde, die sich noch zwischen uns und dem Dschungel befand. Diese Mulde war angefüllt von Käfern: Sie warteten hier bereits auf uns! Die anderen hatten uns direkt in die Falle gehetzt.
Als wären diese Wesen intelligent und hätten uns längst schon entdeckt, noch bevor wir überhaupt die Steppe betreten hatten.
Sie hatten sich hier zusammengerottet, um uns als willkommene Beute zu empfangen.
Immerhin schienen wir ihnen wichtig genug zu sein, dass sie in solchen Massen zu unserem Empfang angetreten waren. Wichtig oder besser gesagt schmackhaft genug!
Bron und ich stoppten am Rand der Mulde, Rücken an Rücken. Bron legte die Soomen ab, weil sie ihn bei der Verteidigung unnötig behindern würden.
Wehmütig dachte ich daran, dass es sinnlos gewesen war, sie bis hierher zu schleppen, denn sie würden auf jeden Fall den Käfern zum Opfer fallen.
Dies war der Zeitpunkt, da der Angriff erfolgte - von allen Seiten gleichzeitig und mit einer hundertfachen Übermacht.
Bron knurrte wie ein gereiztes Raubtier. Ich spürte seine gewaltigen Rückenmuskeln. Sie waren so hart wie das Metall, aus dem die Weisen unsere Schwerter geschmiedet hatten.
Ich hatte einen der Käfer im Auge, der es anscheinend am wenigsten erwarten konnte, mich zu zermalmen.
Kaum hatte er mich erreicht, als sich in seinem rosa Körper in der Mitte ein Spalt öffnete: der Schlund, in den er mich stopfen wollte.
Es gab keine Zähne. Er würde mich also schon vor dem Verzehr zerkleinern müssen.
Dafür besaß er wohl seine tödlichen Klauen. Sie schnappten mit hölzernem Klang. Vier Klauen, bereit, mich in Stücke zu zerreißen.
Ich machte einen Ausfallschritt und stieß gleichzeitig mit dem Schwert zu.
Der Käfer reichte mir nur bis zum Bauchnabel. Sein Facettenauge glitzerte tückisch.
Darauf hatte ich es nicht abgesehen: Die Klinge war tief angesetzt, direkt über den zuckenden Beinmuskeln, die so stark waren, dass sie den Körper eines Käfers wie ein Katapult hoch schleudern konnten.
Darüber war das Fleisch weicher, fast schwammig. Die Klinge drang tief ein. Ich riss sie hoch, sobald die Spitze die Innenseite des Rückenpanzers erreichte und schlitzte damit den Angreifer auf.
Die Klauen schnappten an mir vorbei. Stinkender Gallert quoll aus der tödlichen Wunde. Der Käfer kippte zappelnd auf den Rückenpanzer.
Ein anderer sprang einfach über ihn hinweg und wurde von mir aufgespießt.
Ich wusste jetzt, wo ihre empfindlichste Stelle war. Absichtlich hatte ich die scharfe Klinge meines Schwertes nicht zuerst an dem Facettenauge versucht.
Als die Angreiferfront ein wenig ins Stocken kam - anscheinend waren die Käfer trotz ihrer Übermacht feige und scheuten mein tödliches Schwert -, sprang ich zur Seite, um in Reichweite eines der Käfer zu kommen. Ich schlug nach dem Facettenauge.
Mein Verdacht bestätigte sich: Das Auge war gepanzert. Die Klinge konnte es nicht einmal ankratzen, genauso wenig wie wahrscheinlich den schwarzen Panzer mit der grausigen Zeichnung.
Der Schlag wirbelte den Käfer lediglich davon. Er prallte gegen eine Gruppe von Artgenossen und warf diese ebenfalls zu Boden. Sie landeten auf ihren Rückenpanzern und strampelten wild mit den acht Gliedmaßen, ohne es jedoch zu schaffen, sich sogleich wieder auf den Bauch zu drehen.
Andere mussten ihnen dabei helfen.
Ich hatte keine Zeit, mich weiter darum zu kümmern. Mit dem Schwert stoppte ich eine Gruppe, die mich von rechts angriff, aus der flachen Mulde kommend.
Ich hatte meine Lektionen in Sachen Schwertkampf gut gelernt. Meine Klinge tötete blitzschnell.
Drei sprangen gleichzeitig herbei. Sie wollten sich quasi von oben auf mich stürzen. Im Flug zappelten sie mit allen Gliedmaßen, um sich seitlich zu drehen, damit ich nicht mit dem Schwert an ihre weiche Vorderseite kam.
Ich ließ mich davon nicht beirren. Inzwischen wusste ich, dass die Käfer relativ leicht waren. Ich schlug blindlings mit dem Schwert zu, traf damit zwei, stoppte ihren Flug und ließ sie zur Seite wirbeln, gab dem dritten eine andere Flugrichtung, dass er direkt in Reichweite von Brons wütendem Schwert geriet.
Bron machte sich nicht die Mühe, seine Waffe in die weichen Teile der Käfer zu stoßen. Er schlug einfach zu, egal welche Angriffsfläche sie ihm boten.
Das Metall seines Schwertes war dafür hart genug - und seine Kraft reichte ebenfalls aus. Ich hätte es niemals vermocht, aber Bron teilte die grässlichen Rückenpanzer mit einem einzigen Hieb. Auf diese Weise hatte er bereits Dutzende dieser Käfer getötet.
Und dann blieb die nächste Angriffswelle aus. Die Käfer flohen. Aber nicht gänzlich. Sie hielten nur Sicherheitsabstand und belauerten uns.
––––––––
9
––––––––
Der stinkende Gallert floss träge in die flache Mulde hinein. Sie hatte einen Durchmesser von mindestens vierhundert Schritten. Wie hatten wir nur so kühn sein können, bis zum Dschungel fliehen zu wollen, der sich noch gewiss dreitausend Schritte entfernt befand?
Ringsum türmten sich die Käferkadaver. Die meisten Soomen waren geplatzt und ihr Inhalt hatte sich mit Gallert vermischt.
Mir war übel und als Bron mit der Schwertspitze auf meine Beine deutete, wagte ich es kaum, hinzusehen.
Der Symbiont hatte sich verfärbt. Ein deutliches Zeichen, dass der Gallert wie Säure wirkte. Ohne den Grünen hätte mir auch der perfekteste Umgang mit dem Schwert nichts gegen die Käfer genutzt. Sie hätten den Sieg noch im Tode geschafft.
Bron und ich liefen los. Die wenigen Soomen, die unbeschädigt geblieben waren, hatten sich weit verstreut und schwammen in dem widerlichen Gallert davon.
Bron und ich wollten die weite Mulde umrunden, um vor allem nicht mehr in Berührung mit dem Gallert zu kommen. Unsere Symbionten waren jetzt schon überfordert. Eine Frage der Zeit, bis sie abstarben und wir rettungslos verloren waren.
Die Käfer waren mit unserer Flucht nicht einverstanden. Eine neue Angriffsfront formierte sich.
Ehe der Angriff erfolgte, hatten wir allerdings eine gehörige Strecke zurückgelegt und hatten die Gallertlache in der Mulde bereits umrundet.
Bis zum rettenden Dschungel war es dennoch viel zu weit. Ein Ring von Käfern schloss sich um uns beide. Wir erwarteten die genauso intelligenten wie mörderischen Tiere wieder Rücken an Rücken.
»Warum hast du mich nicht vor ihnen gewarnt?«, fragte ich zerknirscht.
Bron antwortete: »Weil ich selber nichts von ihrer Existenz gewusst habe.«
»Aber sie hassen Menschen. Sie opfern ihr eigenes Leben, nur um uns zu vernichten. Willst du mir sagen, dass sie noch nie zuvor auf Menschen getroffen sind?«
»Jedenfalls nicht auf mich!«
Diesmal benutzten die Käfer eine andere Taktik. Sie hatten herausgefunden, dass Bron der weitaus bessere Kämpfer war.
Sie sprangen herbei, aber die Angreifer auf Brons Seite blieben außer Reichweite seines Schwertes, während die Angreifer auf meiner Seite als geschlossene Front kamen. Sobald sie mich erreichten, ließen sie sich auf die vorderen Gliedmaßen fallen. Sie krabbelten näher. Vergeblich hieb ich mit dem Schwert auf die steinharten Panzer ein.
Die nachfolgenden Käfer krabbelten einfach über sie hinweg.
Andere Käfer schreckten allerdings doch ein wenig zurück und boten mir dabei ein Stück ihrer weichen Unterseite.
Ich stieß zu.
Ein Kampf auf Leben und Tod, ohne Regeln, kompromisslos.
Ich überließ Bron das Feld auf meiner Seite und stellte mich auf seiner Seite den Angreifern. Er war damit einverstanden.
Die Käfer auf dieser Seite reagierten prompt, indem sie übereinander krabbelten, um sich gegenseitig mit ihren Rückenpanzern zu schützen.
Das Konzept begann aufzugehen: Es bildete sich vor mir eine Wand aus Rückenpanzern, die langsam näher rückte.
Ich wusste mir keinen anderen Rat und setzte die Spitze meines Schwertes probehalber unterhalb des Facettenauges des vordersten Käfers an. Ich hob ihn ein wenig, um mein Schwert am Augenansatz hineinstoßen zu können.
Es klappte!
Und dann war Bron wieder an meiner Seite. Er hieb mit dem Schwert drein, brachte damit den vordersten Käferreihen den Tod und trieb die anderen wieder zur Flucht.
Ich hatte keine Ahnung, wie viele Käfer inzwischen schon auf der Strecke geblieben waren, aber es waren immer noch genügend da, um uns den endgültigen Sieg streitig zu machen.
Wir wateten wieder durch den Gallert. Unsere Symbionten starben an den Beinen ab und der Gallert konnte seine Säurewirkung voll entfalten.
Unser Ziel war nach wie vor der rettende Dschungel. Ich hatte keine Ahnung, was mich dort noch erwartete, aber es konnte wohl kaum schlimmer sein als diese Käfer.
Die Biester begannen ein drittes Mal, sich zum Angriff zu formieren. Diesmal wollten sie uns den Rest geben. Wir waren beide bereits total erschöpft und ich hatte schon Mühe, das Schwert auch nur zum Streich zu heben.
»Sie haben immer noch nicht genug!«, knurrte Bron an meiner Seite.
»Aber wir - schon längst!«, bemerkte ich humorlos.
––––––––
10
––––––––
Die Käfer hüpften mit weiten Sprüngen herbei, wieder aus allen Richtungen gleichzeitig kommend.
Wir erwarteten sie und fühlten uns dabei in unserer Höllenpein - vor allem an den Beinen, die mehr und mehr von der Säure zerfressen wurden - eigentlich sowieso schon mehr tot als lebendig.
Bron war nicht unbesiegbar, auch wenn er ein Kämpfer war, wie ihn diese Welt vielleicht noch nie zuvor gesehen hatte.
Die ersten Käfer stoppten, ehe sie in Reichweite unserer Schwerter gerieten. Die Nachfolgenden hatten ihren Lauf nicht gut genug koordiniert und stolperten deshalb über sie. Aber sie fuhren erschrocken zurück, als wir unsre Schwerter hoben.
Sie konnten anscheinend unseren Erschöpfungsgrad überhaupt nicht einschätzen.
Bron und ich stützten uns inzwischen gegenseitig. Ich wusste, dass meine Beine jeden Augenblick wegknicken konnten. Ich würde es nicht mehr lange verhindern können. Da half auch der eisernste Wille nichts mehr, wenn Muskeln und Sehnen von Säure zerfressen wurden.
Und dann war es auch schon soweit: Ich sank haltlos zu Boden.
Bron konnte nicht schnell genug reagieren und stürzte über mich.
Die Käfer erkannten endlich unsere Schwäche und kamen.
Da war Bron auch schon wieder auf den Beinen und ließ sein Schwert wirbeln.
Wie machte er das?
Die Angreifer schreckten vor seinem tödlichen Schwert zurück, nachdem einige wieder ihr Leben gelassen hatten.
Ich wollte mich aufstützen. Mit den Armen ging es, aber meine Beine gehorchten mir nicht mehr.
Jetzt verklang sogar der höllische Schmerz. Aber das war keineswegs ein gutes Zeichen, denn es bewies, dass meine Beine abzusterben begannen. Ich würde künftig ein Krüppel sein, wenn ich hier nicht auf dem Schlachtfeld sowieso schon sterben musste.
Ich schrie verzweifelt auf und wollte mich wieder aufrappeln, entgegen aller Vernunft.
Ohne Beine wäre ich ein Nichts in dieser Welt. Ich war kein SUCHER mehr, weil ich mein Leben nicht mehr verteidigen konnte. Ich würde auch niemals ein FINDER werden können, geschweige denn ein RÜCKKEHRER.
Einer der auszog, um seine Bestimmung zu finden und stattdessen seinen Tod fand. Ja, das würde ich sein!
Ich zog das Messer und betrachtete die blitzende Klinge.
Bron bekam es gar nicht mit. Schwankend stand er über mir, nach allen Seiten lauernd. Er ließ die Käfer nicht aus den Augen.
Seine Beine sahen grässlich aus. Wahrscheinlich genauso grässlich wie meine. Und wieso stand er dann überhaupt noch?
Ich war überzeugt davon, dass meine sowieso nicht mehr zu retten waren und tastete mit der Hand nach meinem Herzen. Da schlug es, wild und panikerfüllt. Ich setzte an diesem Punkt die Messerspitze an und konzentrierte mich kurz, damit ich es auch ja nicht verfehlte.
Jetzt!, befahl ich mir selber und stieß mit aller noch verbliebenen Kraft das eigene Messer in meine Brust...
Das heißt, ich wollte es tun, aber im selben Moment war da ein Schwert. Mit der flachen Klinge wurden meine Hände beiseite geschlagen, die das Messer hielten.
Ich schlitzte den Symbionten dadurch ungewollt an der Brustseite auf, aber mein Stoß ging ins Leere.
»Narr!«, brüllte Bron mich an. »Willst du mich denn im Stich lassen?«
Ich schaute zu ihm auf.
Er fiel auf die Knie, weil er sich jetzt auch nicht mehr auf den Beinen halten konnte.
»Ohne Beine könnten wir niemals in dieser Welt überleben!«, widersprach ich bitter. »Selbst wenn wir die Käfer überleben könnten.«
»Narr!«, wiederholte er. »So lange du den Symbionten hast, gibt es immer eine Chance. Hast du das denn noch immer nicht begriffen?«
Ich hatte und senkte beschämt den Blick.
Bron kniete vor mir. Er packte mich an den Schultern.
»Sie geben auf!«, schrie er begeistert. »Mensch, Bereter, sieh doch! Jetzt, wo wir keine Chance mehr gegen sie hätten, wo sie einfach über uns hinwegkrabbeln könnten, um uns den Rest zu geben, da siegt ihre Angst vor dem eigenen Tod doch noch über ihre Mordgier. Herrje, Bereter, sieh mich an! Reiß dich zusammen! Du bist ein SUCHER und hast noch eine ganze Menge vor in deinem Leben. Willst du versagen? Willst du deine Kräfte gar in Selbstvorwürfen aufzehren?«
Ich erwiderte nichts, sondern schaute den Käfern zu, die sich tatsächlich zum Rückzug formierten.
Sie waren intelligent. Daran gab es keinen Zweifel mehr für mich. Ob so intelligent wie Menschen, das blieb dahingestellt. Es spielte auch keine Rolle mehr. Eines war dabei wichtig: Ich hatte sie regelrecht abgeschlachtet, genauso wie Bron.
Es war uns keine andere Wahl geblieben, gewiss, aber ich dachte dennoch an die möglichen Ursachen ihres Hasses.
Ich würde sie wohl niemals von ihnen selbst erfahren können. Sie zogen dahin und verschwanden bald hinter den nächsten flachen Hügeln.
Intelligente Wesen, mit allerdings grauenvoll verzerrten Menschengesichtern auf ihren Rückenpanzern gezeichnet. Eine böse Laune der Natur. Dafür konnten sie wohl nichts, aber damit hatten sie vielleicht den Hass von Menschen auf sich gezogen? Die sie dessentwegen getötet hatten?
An uns hatten sie sich für diesen Mord rächen wollen. Ausgerechnet an uns, die nicht einmal von ihrer Existenz geahnt hatten.
Endlich hatten sie auch einmal über die für sie mörderischen Menschen triumphieren wollen. Aber das hatten sie mit ungezählten Gefallenen bezahlt.
Ich hätte eigentlich darüber weinen mögen - in der sentimentalen Stimmung, in der ich mich befand, aber die Schmerzen in den Beinen kehrten zurück und trieben mich an den Rand einer tiefen Ohnmacht.
Es waren die Qualen der Hölle. Aber jetzt gab es keine direkte Gefahr mehr für mein Leben. Deshalb konnte ich mich nicht lange gegen die Ohnmacht wehren.
Außerdem: Wenn ich Schmerzen spürte, waren meine Beine ja vielleicht doch nicht völlig und für alle Zeiten verloren, wie ich ursprünglich angenommen hatte?
Die gnädige Ohnmacht befreite mich nicht nur von der Pein, sondern auch von meinen quälenden Gedanken. Dankbar sank ich in ihre weit geöffneten Arme...
––––––––
11
––––––––
Mein erster Eindruck beim Erwachen: Die Schmerzen sind zwar immer noch da, aber nicht mehr ganz in solch höllischem Maße.
Ich schlug die Augen auf. Bron hockte neben mir.
Eigentlich hatte ich ihn noch nie schlafen gesehen. Das schoss mir bei seinem Anblick durch den Kopf.
Er lächelte mich an und reichte mir etwas: Ein Stück Soome.
»Wo hast du das denn noch her?«, fragte ich prompt.
»So sollst nicht immer so viel fragen, Bereter. Du warst lange ohne Bewusstsein. Ich konnte noch drei Soomen bergen. Ihre Schale ist säureunempfindlich. Und jetzt iss endlich, damit du wieder zu Kräften kommst!«
Heißhungrig verschlang ich das Stück. Auch die bittere Flüssigkeit tat mir gut.
Bron lachte rau. Er stopfte mir mehrere Brocken Soome in den Mund, bis er sicher war, mich einigermaßen gesättigt zu haben.
Ich wollte aufstehen, aber Bron drückte mich mit sanfter Gewalt auf den Boden zurück.
»Nein, das wäre zu früh, Bereter. Dein Symbiont ist noch nicht fertig. Er muss sich komplett regenerieren und das braucht seine Zeit.«
»Was ist eigentlich mit dir, Bron? Wie geht es dir?«
Er deutete stumm auf seine Beine.
Sie waren nur zum Teil vom Symbionten bedeckt. Dort, wo das nackte Fleisch sichtbar war, sah ich, wie tief die Säure sich hineingefressen hatte.
Bron ließ sich den grausamen Schmerz nicht anmerken. Er hatte sogar auch noch über meine Ohnmacht gewacht, ohne sich dabei selbst die nötige Ruhe zu gönnen.
Er winkte aber, als er meinen besorgten Blick bemerkte. »Mach dir bloß nicht wieder unnötig Gedanken, Bereter. Es wird schon werden. Ich habe mir den Bauch mit Soomen voll geschlagen. Jetzt ist nur noch ein einziger Bissen da. Nachdem ich dich auch noch satt bekommen habe, gönne ich mir diesen einen Bissen - wenn du erlaubst.«
Er grinste mich an. Dann schob er den restlichen Brocken demonstrativ in seinen Mund und begann, mit vollen Backen zu kauen.
»Weißt du, auch mein Symbiont wird sich noch erholen. Du wirst es sehen. Und sobald dies der Fall ist, heilt er meine Beine. Und dann können wir wieder aufbrechen.«
Mit dem Messer deutete er zum Dschungel hinüber. »Scheint so, als würden wir sowieso bereits erwartet.«
Ich runzelte die Stirn. Hatte sich am Dschungelrand etwas verändert - oder was meinte Bron mit dieser Bemerkung?
Ich jedenfalls konnte nichts erkennen.
»Immer wieder tauchen Dschungeltiere auf, Bereter«, berichtete er mir. »Halbaffen, Schlangen, Insekten von unterschiedlicher Größe... Als ich das letzte Mal in dieser Wildnis gewesen war, hatte ich den Eindruck gewonnen, als wäre dies mehr als nur eine funktionierende Ökologie.«
»Etwa wie in den Oasen?«
»So ähnlich, gewiss, Bereter, wenn auch nicht ganz so kompromisslos. Das heißt, als Eindringling hat man eine kleine Chance zu überleben. Das erste Mal hatte ich den Dschungel schwer verletzt betreten. Meine damaligen Verfolger hatten davon abgesehen, in der Wildnis meine Spur aufzunehmen, denn man glaubte mich sowieso verloren. Ein Fehlschluss, wie sich zeigte. Du kennst bereits die Geschichte mit dem Symbionten, der mich damals befiel und mir damit das Leben rettete.«
»Wie lange warst du damals überhaupt in dieser Wildnis, Bron?«
Ich schüttelte unwillkürlich den Kopf. Seit Tagen war ich nun schon mit Bron unterwegs. Mir kam es manchmal wie Ewigkeiten vor. Aber was wusste ich denn überhaupt von diesem riesenhaften Kerl mit den gewaltigen Muskelbergen?
Er hatte mir nur wenig aus seiner Vergangenheit erzählt. Mehrmals war er außerdem sogar meinen Fragen ausgewichen.
Hatte er ein Geheimnis, das er vor mir verbarg? Welcherart?
»Viele Jahre war ich da drin«, antwortete Bron unbekümmert.
»Jahre?«, rief ich unwillkürlich aus.
Er zuckte die Achseln. »Ich war mit dem Symbionten vereint. Nur so war es mir möglich, das zu überleben, wie du weißt.«
»Aber am Ende bist du dennoch weiter gezogen?«
»Vielleicht war noch ein Rest von Unruhe in mir - von der Unruhe eines SUCHERS? Denn als solcher war ich ja ursprünglich losgezogen, genauso wie du.«
»Du hast dann die Wüste überquert, bist durch das Tal gekommen, hast die Berge erklommen... Wie lange warst du dann eigentlich in den Bergen gewesen, ehe du mich getroffen hast?«
»Nun, ebenfalls Jahre.«
»Nein!«, entfuhr es mir.
»Doch, Bereter, ich wurde der HERR DER BERGE. Das heißt, niemand außer mir kannte sie eigentlich, denn jeder, der sie bestiegen hat, fand dort oben den Tod. Wir beide sind in dieser Beziehung eine absolute Ausnahme.«
»Wovon hast du eigentlich dort oben gelebt, Bron? Du hattest immerhin auch noch Proviant dabei, als ich dich zum ersten Mal sah.«
»Oh, Bereter, das Gebirgsmassiv ist ausgedehnter als du dir träumen lässt. Mannigfaltige Sphären grenzen daran. Ich stieg hinab und lernte diese Sphären kennen. Aber ich war dort niemals der erste. Deshalb habe ich mir nur Proviant besorgt und stieg anschließend wieder in meine Berge empor.«
»Und in der Steppe, in der Wüste, im Tal, ja sogar im Dschungel warst du jedenfalls der erste Mensch überhaupt? Niemals zuvor hat ein menschliches Wesen diese Sphären betreten?«
»Gewiss, Bereter. Davon bin ich überzeugt.«
»Woher willst du das denn so genau wissen? Ich meine, woher beziehst du deine Sicherheit?«
Er zuckte in gewohnter Manier wieder die Achseln. »Ich weiß es halt eben!«, beharrte er.
»Was die Berge betrifft, Bron, da kann ich dir recht geben, aber...«
»Sie sind der einzige Weg, der hierher führt, Bereter. Denke an die Geister der Wüste. Du selbst hast ihr Geheimnis ergründet und dieses Geheimnis führte dich zum Ursprung meiner Begegnung mit der Wüste. Nur über die Berge gelangst du zur Wüste, oder durch den Dschungel und den kann kein Mensch durchqueren, genauso wenig wie die Berge, glaube mir. Dafür kenne ich den Dschungel viel zu gut.«
»Nur mit einem Symbionten?«
»Nun ist aber genug, Bereter. Ich kann es nicht leiden, wenn du so bohrst. Ich wiederhole mich: Ich bin in den tödlichen Dschungel eingedrungen, weil ich keine Wahl hatte. Das Schicksal meinte es gut mit mir. Der Symbiont hat mich befallen - als ersten Menschen. Immerhin sind wir Menschen für diese Wesen absolut fremdartig. Das Ganze war ein außerordentlicher Zufall. Es gibt keine Wiederholungen dieser Art.«
»Und ich meinerseits glaube nicht an so viele Zufälle, Bron.«
»Aber die Welt ist doch voll davon, Bereter. So war es und so wird es immer sein. In all den Zeiten, die vergangen sind, musste nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit irgendein Mensch einmal diese Wildnis überleben, von einem Symbionten dabei unterstützt. Er musste die Wildnis durchqueren, musste hierher gelangen, musste die Wüste, das Tal, die Berge erforschen - um dem nächsten SUCHER eine Chance zu bieten, der zu den Bergen aufstieg, weil er dort seine Bestimmung zu finden glaubte... Das eine war ich und das andere bist du, Bereter. Warum wehrst du dich denn so sehr gegen diese Fakten?«
»Den Menschen gibst es schon immer, Bron«, trumpfte ich auf. »In all den ewigen Zeiten soll es so nahe unseres Dorfes noch so ausgedehnte Landstriche geben, die noch keines SUCHERS Fuß vor dir betreten hat? Nein, ich kann es einfach nicht glauben, Bron. Es widerspricht einem Grundprinzip, nämlich dem Grundprinzip einer gewissen Logik.«
»Was weißt du denn schon von solchen Dingen? Man hat dir nicht viel davon mit auf den Weg gegeben. Du bist viel zu jung und unerfahren dafür. Ich aber kenne diese Welt wie kein anderer.«
Ich schüttelte den Kopf. »Aber du bist ein VERSCHOLLENER, Bron und kein Weiser. Wie kannst du sicher sein, mehr Erkenntnisse zu besitzen als selbst die Weisen? Und außerdem - denke an diese Käfer. Sie haben den Menschen lange vor uns von einer sehr negativen Seite her kennen gelernt. Wir haben ihren Racheversuch am eigenen Leib erfahren. Sie haben uns als Menschen erkannt, obwohl wir dank der Symbionten anders aussehen.«
»Glaube mir eines, Bereter«, sagte Bron ernst und eindringlich, »ich weiß wirklich mehr, als dir und den Weisen im Moment angenehm sein kann. Natürlich weiß ich dabei längst nicht alles. Ich habe zum Beispiel keine Ahnung davon, woher diese Käfer wirklich stammen. Es scheint so, als wären sie aus allen Gegenden geflohen, wo es Menschen gibt. Ist das nicht eher ein Beweis dafür, dass ich recht habe, wenn ich sage, dieses Land hier ist noch von Menschen unberührt, in das sich die Käfer zurückgezogen haben?«
Ich schwieg eine Weile. Dann fragte ich: »Gibt es eigentlich viele Menschen außerhalb unseres Stammes?«
»Ja, Bereter. Ich schätze mindestens hundertmal so viele wie in unserem Stamm. Vielleicht sogar mehr?«
»Müssen wir denn deshalb immer wieder als SUCHER hinaus, um alle Gefahren zu bestehen, damit der Stamm Bescheid weiß und stets aus den besten Kämpfern besteht?«
»Nein, Bereter, dies hat einen anderen Grund, über den ich allerdings mit dir noch nicht sprechen kann. Es besteht auch kaum die Möglichkeit, dass der Stamm jemals von einer Übermacht angegriffen und sogar überrollt wird. Bereter, alles dies wirst du noch verstehen, wenn die Zeit erst einmal dafür reif ist. Jetzt wäre es noch verfrüht. Das hast du mit diesem Gespräch deutlich genug bewiesen.«
Er erhob sich vom Boden und winkte mir zu. »Du kannst jetzt wieder aufstehen, denke ich. Wir werden uns auf den Weg machen.«
»Aber deine Beine, Bron!«, gab ich zu bedenken. Ich sah nämlich, dass sich sein Symbiont noch lange nicht erholt hatte.
»Mach dir von nun an keine Sorgen mehr um mich, Bereter, sondern nur noch um dich. Inzwischen bin ich der Ansicht, dass du wichtig bist, Bereter - viel wichtiger, als ich anfangs geahnt hätte...«
Nach diesen mehr als geheimnisvollen Worten wandte er sich ab und schritt voraus.
Wieder einmal!
Ende