Prolog
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Das ›Kollektiv der Träumer‹ schuf einst eine neue Welt, doch ihr Traum geriet zum Alptraum, entglitt ihnen mehr und mehr. So schicken sie den SUCHER aus, um wieder Macht darüber zu bekommen. Er kennt das wahre Motiv seiner Odyssee nicht, um unvoreingenommen sein zu können. Für ihn ist die wahnsinnige Hölle schrecklicher Visionen tödliche Wirklichkeit.
Er heißt Bereter...
Und in diesem entscheidenden Moment setzt der STERNENVOGT, der HERR DER WELTEN, seinen Diener John Willard ein - als Bereter. Alles ist von langer Hand vorbereitet. Der glatte Tausch gelingt ihm mit Hilfe der überlegenen Technik seines Schiffes.
Denn er ist ja nicht umsonst der HERR DER WELTEN.
Und obwohl John Willard alle Erinnerungen des echten Bereter übernimmt, darf er nicht einmal ahnen, dass er nicht der echte Bereter ist: Um nicht das Misstrauen des ›Kollektives der Träumer‹ zu wecken!
Seine Aufgabe ist indessen weitergehend als die Aufgabe des ›echten‹ Bereter: Rettung vom PLANET DER TRÄUMER und Rückführung in die WIRKLICHKEIT! Damit dieser Planet in Zukunft wieder eine Chance haben wird, Mitglied der Sternengemeinschaft und somit Mitglied innerhalb der interstellaren Handelspartner zu werden.
Aber noch etwas ist vom STERNENVOGT gut vorbereitet: Diesmal geht John Willard als Bereter nicht ganz allein in den Kampf. Er hat einen starken Partner, denn der Sternenvogt tauscht unbemerkt eine weitere Figur aus.
Ihre Begegnung erfolgt wie zufällig. Das ›Kollektiv der Träumer‹ darf niemals misstrauisch werden, um die Mission nicht zu gefährden.
Der Partner heißt deshalb nicht umsonst genauso wie derjenige, gegen den er ausgetauscht ist, nämlich... ›BRON‹.
Ohne ihn und ein grüner Symbiont, der ihn völlig bedeckt und ein ›Ableger‹ des Symbionten von Bron ist, wäre Bereter, alias John Willard, ziemlich schnell am Ende, in der Tat. Sie werden in furchtbare Kämpfe verwickelt auf ihrer rätselhaften Reise. Einen gewinnen sie nur äußerst knapp – und nicht ohne Verletzungen...
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1
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Mir blieb nichts anderes übrig, als aufzustehen, um Bron zu folgen.
Sekundenlang stand ich schwankend da. Mir schwindelte leicht. Die Schmerzen in den Beinen waren nicht gewichen. Als ich einen Schritt machte, hätte ich aufschreien mögen, aber ich packte meinen Schwertgriff fester und folgte Bron in Richtung Dschungel.
Dabei musste ich mächtig die Zähne zusammenbeißen.
Bron war ein breiter, eindrucksvoller Schatten. Die furchtbaren Verletzungen an seinen Beinen schienen ihn kaum zu beeinträchtigen.
Ich bewunderte ihn in einer Beziehung, aber in anderer Beziehung war er mir recht unheimlich.
Jetzt war mir nämlich klar, dass Bron mir sehr viel verheimlichte. Ganz klar absichtlich!
ER glaubte, damit das Rechte zu tun. Ich konnte es nicht beurteilen, denn dafür hätte ich bereits mehr wissen müssen über das, um was es ging.
Er hatte mir oft genug vorgeworfen, wie unwissend ein SUCHER im Grunde genommen war. Ich wusste es allerdings selbst. Und warum tat er bei mir nichts dagegen?
Mit solcherlei Überlegungen erreichte ich hinter Bron den Dschungelrand. Gerade begann sich der Himmel über uns rötlich zu färben: Die Nacht brach herein.
Bron schien das nicht zu kümmern. Er stemmte die Arme in die Seite und betrachtete die Wildnis, die nur noch wenige Schritte vor ihm begann. Seine Augen glänzten feucht, als wäre er gerührt.
Ich stellte mich schräg hinter ihn und ließ meinen Blick an der beeindruckenden Kulisse entlang wandern.
Der Dschungel begann übergangslos. Er bestand aus massigen Bäumen, die mindestens zehn Schritte Abstand voneinander hatten. Schon in der doppelten Höhe eins Menschen begannen die Äste sich zu berühren. So wuchsen die Baumkronen zusammen und bildeten ein undurchdringbares Dach.
Ansonsten gab es allerlei Schmarotzerpflanzen, die in den Ästen nisteten oder die Bäume auch nur dazu benutzten, um nach oben zum Licht zu klettern.
Am Boden herrschte ewiges Dämmerlicht. In ihm gedeihten nur Pflanzen, die nicht viel Licht brauchten und reichlich viel Ungeziefer, das sofort abgestorbene und heruntergefallene Pflanzenteile oder Kadaverreste von anderen Dschungelbewohnern zerlegte und beseitigte.
Der Dschungel ragte vor uns als eine Wand empor, die an der niedrigsten Stelle mindestens zwanzig Meter hoch war.
Bron zeigte mir seine Hände.
»Siehst du, Bereter, die sind das Wichtigste in dieser grünen Welt. Nach fünf Minuten schon kannst du dir gar nicht vorstellen, dass es etwas anderes geben könnte als die grüne Wildnis. Du darfst niemals bis hinunter auf den Boden. Die Krabbeltiere, die diesen Bereich beleben, zerlegen alles. Wenn es nicht genügend gibt, dann zerlegen sie sich sogar gegenseitig.
Es gibt nur wenige Pflanzen, die sich ihnen widersetzen können, so lange sie noch vital genug dafür sind. Zu diesen Pflanzen gehören die Bäume. Sonst könnten sie nicht alles tragen.
Aber auch sie müssen einmal sterben. Lange noch werden sie von ihren umstehenden Kameraden gestützt. Dann aber, wenn die Nager ihr Werk beginnen, verliert der Stamm mehr und mehr seinen Halt. Seine Äste sterben ab. Allerlei Getier macht sich an die Arbeit, um jegliche Spur zu beseitigen, die noch auf das lange Leben des Urwaldriesen hingewiesen hätte.
Dies, Bereter, ist das Gesetz des Dschungels: Wer nicht mehr lebensfähig ist, muss für immer verschwinden.«
Er ging auf das grüne Dickicht zu, griff hinein und begann empor zu hangeln.
»He?«, rief ich erschrocken, »willst du etwa ohne mich weiter?«
Er wandte nur kurz den Kopf. »Folge mir einfach, Bereter. Du wirst viel lernen müssen, ehe du in dieser grünen Welt überlebst. Zunächst jedoch genügt es wohl, wenn du nur sehr vorsichtig bist.«
In meinen Ohren klang das nach reinster Ironie.
Vorsichtig? Wie denn, wenn ich nichts über die Gefahren wusste, die hier auf mich lauerten? Wenn ich zum Beispiel nach einer Liane griff, die sich vielleicht im nächsten Augenblick als Schlange entpuppte?
Aber eines beruhigte mich dabei: Der Symbiont war eine kleine Garantie dafür, vom Dschungel als halbwegs dazugehörig anerkannt zu werden!
»Nun gut!«, murrte ich und griff an dieselbe Stelle wie Bron. Ich packte fest zu.
Das Grün gab kaum nach. Ich machte es gleich Bron, der sozusagen an der Außenseite des Dschungels emporstieg, um ganz nach oben zu kommen.
Bron kannte offensichtlich keine Müdigkeit. Auch jetzt nicht. Ich beeilte mich, um nicht den Anschluss zu verlieren. Ab und zu hielt er ein und schaute nach mir. Dann lachte er laut und kletterte weiter.
Ich hatte keine Ahnung, ob er mich nun auslachte oder welchen anderen Grund er für seine Heiterkeit haben konnte.
Verbissen kämpfte ich mich immer höher.
Ich war bereits über zehn Meter über dem Boden und hatte einen guten Überblick über die Steppe, bis ganz hinüber zur Wüste.
Das rote Nachtlicht hatte das helle Tageslicht vollends verdrängt. Die Steppe wirkte in diesem Licht unwirklich. Ich sah jetzt, dass sie sehr hügelig war. Doch wenn man sich mitten drin befand, konnte man die Hügel und Bodenwellen kaum unterscheiden, denn von unten sah die Steppe einfach überall gleich aus.
Ich sah auch, dass sich in der Ferne Gruppen von Käfern bewegten. Sie entfernten sich von der Kampfstätte. Dabei zeigten sie allerdings keine Eile.
Gerade wie sie den Ort der Schlacht verließen, drängten andere Lebewesen nach, die vorher von den Käfern anscheinend verdrängt worden waren: Da hüpfte und rannte es, jagte sich gegenseitig, nahm Schutz beim Dschungel, hetzte wieder hinaus...
Die Steppe lebte jedenfalls, auch wenn ich zunächst den Eindruck gewonnen hatte, dieses Leben würde nur aus diesen Käfern bestehen.
In Wahrheit waren sie also genauso Eindringlinge in der Steppe wie wir.
Ich verlor wieder das Interesse an dem Geschehen in der Steppe weit unter mir. Bald nämlich würde ich das ›Dach‹ des Dschungels erreichen. Bron wartete dort bereits auf mich.
»Pass auf, Bereter, wenn du an der Lücke vorbeikommst«, rief er mir vorher zu. »Du musst sie umgehen, denn diese Lücke ist die Öffnung zu einer tödlichen Falle.«
Ich beherzigte es. Als ich die Lücke passierte, tat sich darin allerdings nichts. Ich wagte es allerdings auch nicht, einen neugierigen Blick hineinzuwerfen. Eine solche Neugierde konnte erfahrungsgemäß tödlich enden.
Ich knirschte mit den Zähnen. Kein Instinkt hätte mich vor der Gefahr gewarnt. Unter normalen Umständen wäre ich blind in diese Falle hinein gestiegen.
Bron reichte mir die Hand, als ich ihn erreichte und hob mich den Rest empor.
Der Dschungel war aus dieser Perspektive ein grünes Meer mit vielen Hügeln, die in der Ferne allmählich anschwollen und zu sanften Bergen übergingen, die ebenfalls dicht bewachsen waren. Der Dschungel reichte so weit wie der Blick. Es schien keinerlei Begrenzungen zu geben, außer hier, wo die Steppe begann.
Bron gönnte mir keine Atempause. Er winkte mir zu. »Komm, Bereter! Merke dir für die Zukunft, dass wir im obersten Drittel des Urwalds immer am sichersten sind. Wir haben Hände zu greifen und uns festzuhalten. Wir haben genügend Kraft, um geübte Kletterer zu werden. Machen wir es den Affen nach.
Und solltest du jemals das Pech haben, hier oben einmal den Halt zu verlieren und tiefer zu rutschen, dann musst du alle Kraft und allen Ehrgeiz darauf verwenden, schleunigst wieder zurückzukehren. Es könnte dir das Leben retten.«
Dass es hier oben allerdings auch Gefahren gab, das war mir nicht erst klar, seit ich die Lücke passiert hatte.
»Was verbarg sich eigentlich darin?«, fragte ich Bron und deutete mit dem Daumen hinunter.
Bron lachte humorlos. »Du wirst unseren Todfeind schon noch kennen lernen, Bereter, verlasse dich darauf. ER ist nicht der einzige von allen Todfeinden. Auch darauf kannst du dich verlassen.«
Als er ohne weitere Worte zu diesem Thema weiterkletterte, hatte ich Gelegenheit, kurz seine Beine zu betrachten. Sein Symbiont hatte es noch nicht ganz geschafft, sich von dem zurückliegenden Kampf mit den Käfern zu erholen. Aber Bron schien der Meinung zu sein, keine Zeit verlieren zu dürfen.
War es wegen dem zitierten Todfeind?
Ich musste höllisch aufpassen, um nicht abzurutschen. Das Dach des Urwalds war nicht völlig geschlossen und war außerdem äußerst nachgiebig.
Wir versanken bis zur Brust und ich musste noch lernen, die tragfähigen Zweige von den anderen zu unterscheiden.
Das Schlimme dabei war, dass man nur ahnen konnte, wo die eigenen Füße steckten.
Der Symbiont war eine große Hilfe, weil er sich an den glatten Flächen festsaugte und mir so zusätzlichen Halt verlieh.
»Schneller!«, drängte Bron auf einmal. Er erklärte es mir mit knappen Sätzen: »Unser Eindringen ist nicht unbeobachtet geblieben. Beweglichkeit ist eine Versicherung fürs Leben, Bereter. Wir dürfen niemals lange an einem Ort verweilen, sonst fordern wir eventuelle Feinde geradezu auf, uns anzugreifen. Die Bewohner des Dschungels dürfen niemals Gelegenheit erhalten, uns zu beobachten und unsere Stärken und Schwächen abzuschätzen.«
Es leuchtete mir ein. Deshalb beeilte ich mich so gut es ging und ohne die nötige Vorsicht außer acht zu lassen.
Bis jetzt war ja alles gut gegangen.
Umso besser!, dachte ich wenig begeistert. Und: Wie lange noch?
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2
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»Wie lange noch?«, keuchte ich.
Bron antwortete nicht. Er steuerte auf einen farbigen Klecks zu, der mitten in diesem endlosen, grünen Meer schwamm.
Das war unser Ziel? Was war es?
Aus einiger Entfernung hatte es wie ein dunkler Tümpel gewirkt.
Aber in dieser Höhe? Außerdem verfälschte das rote Nachtlicht.
Jetzt war ich eher der Meinung, es handele sich um ein Blumenfeld.
Da riss Bron sein Schwert aus der Scheide. Ich sah die blitzende Klinge. Vor ihm krachte etwas durch das dichte Laub. Ich konnte nichts sehen, gewahrte nur die raschen Bewegungen.
Bron schlug zu.
Ein grässlicher Laut, der durch Mark und Bein ging.
Der Lärm unter dem Laubdach eskalierte zu einem Hölleninferno.
Der Todeskampf mehrerer Gegner?
Bron zog sich ein wenig zurück. Ich hielt mich fest, wo ich mich gerade befand und schaute gebannt hinüber.
Bron stieß mit dem Schwert zu und hob es an.
Etwas zappelte auf der Sitze. Es sah aus wie ein Affe, mit einem kurzen, grünen Fell, aber mit sechs Gliedmaßen und - ohne Kopf! Es gab anscheinend keine Augen. Jedenfalls konnte ich keine erkennen.
Angewidert schleuderte Bron das Biest davon.
»Das ist die eine Sorte!«, rief er zu mir herüber.
Etwas berührte mich am Oberschenkel. Es war wie eine Hand, die mich abtastete, langsam höher glitt, dabei dreister wurde und fester zupackte.
Sie erreichte meine Genitalien.
Ich wagte mich nicht zu rühren.
Bron blickte herüber, sah den starren Ausdruck meiner Miene.
Ich blinzelte ihm zu.
Bron verstand. Er war von uns beiden der Experte, was diese Umgebung hier betraf.
»Lass dich darüber fallen!«, rief er sofort.
Ich ließ mich los und kippte seitwärts um.
Die ›Hand‹ wurde erschrocken zurückgezogen. Ich fiel auf ein zappelndes Wesen, das halb so groß wie ein Mensch war und mich mit mehreren Armen umschlang. Es begann mich zu quetschen, aber ich hatte im Fallen ein Messer gezogen und es zwischen mich und das Wesen gebracht. Als es fester zupackte, drückte es sich selbst die Klinge in den Leib.
Ein kläglicher Laut, aber das Wesen wollte nicht loslassen.
Es schickte sich an, mich wegzuzerren.
Ich verlor vollends den Halt, hatte nur noch den Messergriff in beiden Händen und drehte ihn jetzt.
Mein Entführer schrie seine Pein hinaus, aber mit den noch freien Armen hangelte er sich weiter und schleppte mich mit.
Wohin wollte er mit mir?
»Bereter!«, brüllte Bron, »er bringt dich zu seiner Falle! Nur so kann er dich töten. Er ist an die Falle gebunden. Du musst es verhindern!«
Ich ließ die Klinge wandern, unerbittlich. Aber mein Gegner schrie nur noch lauter und wurde schneller.
Mit ungeheurer Geschicklichkeit verschleppte er mich und er presste meine Arme so fest, dass ich sie nicht mehr bewegen konnte.
Ringsum war der Dschungel in Aufruhr. Das wenige Nachtlicht, das in diese Region kam, erlaubte es kaum, meinen Gegner zu erkennen.
Er glich einer Spinne mit vielen Beinen, die allesamt in irgendwie verkrüppelt wirkenden Händen endeten. Damit konnte er sich gut festhalten und seine Arme waren stark genug, mich an jeder Gegenwehr zu hindern, aber nicht so stark, um mich zu Tode zu quetschen.
Vor mir schimmerte etwas silbern.
Ich wusste es, ohne dass es mir jemand sagte: Dies war das Ziel meines Entführers! Dies war die zitierte Falle, was immer man darunter auch verstehen mochte.
Irrte ich mich, oder wurden die Bewegungen des haarigen Spinnenwesens unkontrollierter?
Ich hatte ihm mit meinem Messer eine grässliche Wunde zugefügt.
Das zeigte endlich seine Wirkung.
»Bereter!«, rief Bron.
Ich konnte nicht antworten, denn ich sah, aus was die Falle bestand: Das Spinnenwesen hatte eine Art Wanne gefertigt, wie manche Vögel kunstvoll Nester bauten. Diese Wanne hier war absolut wasserdicht und so präpariert, dass sie auch säurebeständig war.
Das silberne Glitzern kam von der Flüssigkeit darin. Das Spinnenwesen wollte mich hineinwerfen und ich zweifelte nicht daran, dass sie aus reiner Säure bestand.
Inzwischen hatte ich mit dieser Art von Flüssigkeit ausreichend Erfahrungen. Ich wollte sie nicht unbedingt erneuern und spannte meine Muskeln, um mit einem letzten, verzweifelten Versuch aus der Umklammerung freizukommen.
Schon war ich über der Wanne.
Ich schrie auf und sprengte die Umklammerung. Meine Hände flogen zu dem dicken Ast in der Nähe, umklammerten ihn, während ich meine Beine anzog, damit sie nicht in der Säurewanne hingen. Das Spinnenwesen fiel kreischend in seine eigene Falle.
Die Säure schwappte über, als die Spinne mit allen acht Armen um sich schlug und mit ihren verkrüppelten Händen versuchte, sich aus der Brühe zu ziehen.
Ihr Körper war anscheinend nicht gegen die eigene Säure resistent. Ich konnte mir sowieso nicht recht vorstellen, was eine solche Spinne tat, wenn sich ihr Opfer aufgelöst hatte. Wurde es dann aufgeschlürft? Waren die Wände des Verdauungstraktes wenigstens resistent gegen diese Säure?
Ihre Bewegungen erlahmten rasch und stoppten schließlich.
Ich sah, wie sich büschelweise die drahtigen Haare lösten und der Auflösungsprozess fortschritt.
Da langte Bron endlich an.
»Bereter?«
»Ja, alles in Ordnung«, sagte ich tonlos und kletterte nach oben zu meinem Freund.
»Ich frage mich, wie die Spinne das macht, wenn sich ihr Opfer in der Saure aufgelöst hat?«
»Du hast gute Nerven, Bereter, alle Achtung. Gerade erst hast du das Treffen mit dem Tode ganz knapp verpasst und jetzt philosophierst du schon wieder über die Lebensgewohnheiten deines Gegners?«
»Ich muss lernen, Bron, denn das ist lebenswichtig.«
»Gut, Bereter: Der Vielarm ist einer unserer Hauptfeinde. Aber das hatten wir bereits. Er produziert die Verdauungssäure selbst, sondert sie mit speziellen Drüsen ab und füllt damit die Wanne bis zur Hälfte. Sein Instinkt sagt ihm, wie viel Beutemasse er hineinstopfen muss, bis die Säure die auch für ihn tödliche Konzentration verliert - aber auch, dass es auf keinen Fall mehr sein darf - sonst war die Mühe völlig umsonst. Denn falls es dem letzten Opfer dadurch etwa gelingt, der Falle zu entrinnen oder gar die Wanne zu beschädigen...«
»Was macht er mit dem aufgelösten Opfer?«, unterbrach ich ihn drängend.
»Der Vielarm schlürft seinen Vorrat allmählich auf, entwickelt sich dabei zur vollen Geschlechtsreife und gebärt einen Nachkommen. Manchmal sind es auch zwei. Diese machen sich sofort daran, neue Wannen zu bauen. Ihr Erzeuger verendet elendiglich, denn die Geburt seiner Nachkommen hat bisher noch kein Vielarm überlebt. - Na, zufrieden, Bereter?«
»Ja!«, brummte ich missmutig. Und dann fiel mir doch noch etwas ein: »Soll das etwa heißen, diese Vielarme sind eingeschlechtliche Wesen?«
»Gewiss, Bereter, das soll es heißen«, belehrte Bron mich in ungewohnt väterlicher Art.
Er lächelte mich an.
Gemeinsam kletterten wir durch die hohen Baumwipfel von der Falle weg.
Bron hatte mir bereits erklärt, dass wir ständig in Bewegung sein mussten. Ich hatte bei seinem Kampf zugeschaut und dadurch dem Vielarm erst die Chance gegeben, sich um mich zu kümmern. Ein Fehler, der beinahe tödlich geendet hätte.
»Wohin?«, fragte ich.
Bron enthielt sich der Antwort. Ich sah es auch so schon: Der Fleck, der zuletzt wie ein Blumenfeld auf mich gewirkt hatte.
Ich runzelte die Stirn. Was erwartete Bron von diesem Fleck?
Wir erreichten ihn.
Nein, das waren keine Blumen, sondern es war eine tiefe Mulde, die aus größtenteils abgestorbenen Pflanzen bestand.
»Ein sterbender Baum!«, sagte Bron tonlos. »Es kommt immer wieder vor.«
»Und was wollen wir hier?«
Bron deutete auf die Ränder der Mulde.
»Siehst du, Bereter, noch hält die Umgebung den sterbenden Baum, damit er nicht ganz hinunter sinkt, während seine Wurzeln schon längst zernagt sind. In diesem Stadium wagt es kein Lebewesen, den Baum zu betreten. Dieses langsame Sterben schreckt alle ab, außer dem Ungeziefer am Boden, das es kaum noch erwarten kann, bis der Baum vollends hinunter bricht.«
»Kein Lebewesen wagt es?«, fragte ich betont, denn ich ahnte etwas.
Bron lachte auf.
»Ja, Bereter, außer uns natürlich. Der Mensch unterscheidet sich von den anderen Dschungelbewohnern durch seine höhere Anpassungsfähigkeit. Ich habe in den Jahren meines Hier seins eine Menge gelernt und weiß, dass wir im gegenwärtigen Stadium sicher sind. Da es sonst kein Tier wagt, in die Mulde zu kommen, können wir uns kein besseres Plätzchen für die Nacht wünschen, nicht wahr?«
Es hatte sich im Laufe der letzten Tage gezeigt, dass auf Bron Verlass war, aber ich konnte mich nicht gegen die Zweifel wehren, die in mir aufkeimten, als ich in die Mulde kletterte.
Hier roch es nach Fäulnis. Eine unangenehme Umgebung, um zu lagern, aber laut Bron wesentlich angenehmer noch als sonst wo in der Wildnis.
Ich warf einen Blick in die Runde.
Es gab anscheinend keine Vögel in der Wildnis. Oder hatten die sich nur für die Nacht versteckt?
Ich nahm mir vor, Bron zu fragen, aber nicht jetzt, denn trotz meiner Zweifel spürte ich die bleierne Müdigkeit.
Ich legte mich hin, wälzte mich hin und her, bis es mir bequem genug erschien und warf noch einen letzten trägen Blick auf Bron.
Es war kaum zu fassen, aber der Hüne schlief bereits. Dies war also das erste Mal, dass ich Bron schlafend sah und er machte den Eindruck, dass keine Gefahr der Welt ihn aus diesem Schlaf wecken konnte - falls er es nicht selber wünschte.
Jetzt war ich doch beruhigt und schloss die Augen.
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3
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Der Dschungel bildete eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse. Ganze Heerscharen von Dschungeltieren schienen unterwegs zu sein. Sie machten einen Höllenlärm.
Ich richtete mich erschrocken auf. Bron neben mir rührte sich nicht. Er schien immer noch zu schlafen.
Das Rot der Nacht war dem strahlenden Tag gewichen. In meinen Eingeweiden hockte der Hunger.
Dennoch sah ich erst nach Bron. Der Symbiont hatte inzwischen wieder Brons Beine vollständig bedeckt. Es schien so, als hätte Bron alles gut überstanden.
Blinzelnd sah ich in den hellen Himmel. Dort kreisten dunkle Flecken, direkt über der Mulde, in der wir uns ein Nachtlager bereitet hatten.
Vögel?
Ich senkte den Blick und sah zum Rand der Mulde.
Irrte ich mich, oder war das Ganze noch ein Stückchen weiter abgesunken?
Die ohrenbetäubende Geräuschkulisse war allgegenwärtig, aber ich konnte nichts sehen.
Ein paar Fluginsekten landeten auf mir. Prompt sträubte sich das Moos des Symbionten und vertrieb die Plagegeister selbständig. Ich brauchte nichts zu tun. Sie verloren das Interesse an mir und schwirrten wieder davon.
»Bron?«
Er streckte sich ausgiebig und gähnte.
»Oh, das tat vielleicht gut, Bereter! Das hatten wir wahrlich verdient, nicht wahr?«
Ich deutete zum Himmel. »Was ist mit den Vögeln, Bron? Ich glaube kaum, dass die sich davor scheuen, uns in der Mulde anzugreifen?«
Er schüttelte den Kopf. »Da hast du ausnahmsweise einmal recht, Bereter. Es ist sogar noch schlimmer, mein Freund: Die Vogel bevorzugen solche Plätze bei Tag. Deshalb ist es besser, wenn wir rechtzeitig das Feld räumen.«
»Und worauf wartest du noch?«
»Erstens habe ich Hunger - und zweitens haben solche Mulden auch einen erheblichen Nachteil.«
»Einen Nachteil?«, fragte ich alarmiert.
»Ja, Bereter, denn in den letzten Stunden hat sich allerlei Viehzeug angesammelt, ringsum. Die warten nur darauf, dass wir versuchen, die Mulde zu verlassen. Sie werden dabei heißhungrig über uns herfallen.«
»Nette Aussichten!«, entfuhr es mir. Es war so ein Augenblick, an dem ich daran zweifelte, ob es gut war, Bron zum Freund zu haben.
»Keine Sorge, Bereter, die Lösung unserer Probleme naht bereits.« Er zog das Schwert und deutete damit zum Himmel empor.
Einige der Vögel, die gegen die blendende Helligkeit nur wie Schatten wirkten, formierten sich. Gemeinsam kreisten sie über uns, als wollten sie sich schon im nächsten Moment auf uns stürzen.
Lösung der Probleme? Meinte Bron in seinem Zynismus, dass Tote keine Sorgen mehr hatten?
»Behalte sie gut im Auge, Bereter«, riet er mir. »Ich werde inzwischen nach Essbarem Ausschau halten. Ich nehme an, du bist genauso hungrig?«
Ich antwortete nicht, beschattete meine Augen mit einer Hand, um zwischen den Fingern hindurchzuspähen und hielt mit der anderen Hand das gezogene Schwert.
Anscheinend hatte Bron sein Schwert nicht wegen der Vögel gezogen, denn er begann, damit in den modrigen Pflanzen herumzustochern. Mehrmals bückte er sich und sammelte etwas auf.
Ich achtete nur am Rande darauf.
Die Vögel kreisten immer schneller.
Bron stieß mich an. »He, Bereter, vergiss es für einen Moment. Iß lieber erst die Nüsse!«
Er reichte mir kleine Kugeln, die so hart wie Holz waren. Gleich Bron steckte ich sie in den Mund und knackte sie mit den Zähnen. Innen waren sie weich.
»Die Schale kannst du auch essen«, sagte Bron mit vollen Backen. »Sie ist sehr nahrhaft. Du brauchst auch nicht zu sparen. Hier gibt es ungewöhnlich viele Nüsse. Kein Wunder, denn die Tiere, die sie als Nahrung bevorzugen, wagen sich nicht in die Mulde.«
»Kann ich verstehen - inzwischen!«, murmelte ich böse und deutete zu den Vögeln hinauf und dann zum Muldenrand, wo der Tod gleich tausendfach auf uns lauerte. Selbst wenn ich mit meinen ungeübten Augen nichts sehen konnte.
Bron lachte trocken. »Warum vertraust du mir nicht, Bereter? Immer noch misstrauisch? Wieso eigentlich?«
»Vielleicht, weil ich dich nicht genügend kenne und weil du soviel vor mir verheimlichst?«
»Ich würde es mir an deiner Stelle abgewöhnen, Bereter, denn du hast keine andere Wahl. Ich kann nur wiederholen, dass ich auf deiner Seite bin. Dafür gibt es gleich mehrere Motive. Ich kann nicht viel darüber sagen, Bereter, auch wenn das Misstrauen in dir erzeugt. Später wirst du alles verstehen. Jetzt würde es dich nur verwirren und wäre sogar - gefährlich für uns beide!«
Und dann kamen die Vögel.
Sie stürzten wie Steine vom Himmel herab, die Flügel eng an den Körper gefaltet. Im Sturzflug sausten sie auf uns zu.
Ich schätzte ihre Zahl in die Dutzende.
Sie hatten lange genug gewartet, hatten die Lage genau sondiert und waren offensichtlich zu dem Schluss gekommen, dass sie die beiden Frevler gemeinsam gut beseitigen konnten.
Ich wandte mich an die andere Seite - und ahnte gleichzeitig, wie Bron vorgehen wollte, obwohl er nichts gesagt hatte. Aber es war die einzige Chance, die uns blieb.
Ich lief mein Schwert wirbeln und hieb mit aller Kraft in den saftigen Dschungel hinein.
Mühelos durchschnitt die scharfe Klinge Lianen und dünne Äste.
Ein Geschrei hub an. Zwei Spinnenarme angelten nach mir. Ich hackte sie ab.
Der Vielarm ließ sich vor Schreck los und kullerte in die Mulde hinein.
Aber er erholte sich schnell und griff wütend um sich.
Ich stach mit dem Schwert in das Dickicht und riss es empor.
Eines der vielarmigen Affenwesen flog im hohen Bogen durch die Luft, rutschte von der Klinge und fiel ebenfalls in die Mulde hinein.
Und dann schlug und stach ich nur noch blindlings zu, um mich im nächsten Augenblick flach auf den Bauch zu werfen.
Eine Flut von Mördern ergoss sich über mich. Sie hatten die Herausforderung angenommen. Ich hatte viele von ihnen verletzt und damit zur Raserei gebracht. Sie wollten mich zerfleischen, was ihnen sicherlich auch gelungen wäre, doch im selben Augenblick langten die Vögel an.
Es waren gefiederte Ungeheuer, teilweise nur faustgroß, die meisten groß wie fliegende Hunde. Jedes sah im Grunde genommen anders aus. Sie hatten nur zweierlei gemeinsam: Ihre Angriffswut und ihre messerscharfen Schnäbel, mit denen sie gnadenlos zuhackten.
Sie trafen meine verletzten Gegner, aber nicht mich: Ich war bedeckt mit Schlangenleibern, zwei Vielarmaffen, mehreren wieselflinken Kletterkatzen... Alles Tiere, die sich normalerweise sicherlich lieber aus dem Weg gingen. Doch diesmal hatten sie gemeinsame Beute gewittert. Ihr Pech: Die Vögel richteten unter ihnen ein Blutbad an und deshalb wandten sie sich von mir ab und wehrten sich.
Ich rollte auf die Seite und schlug mit dem Schwert um mich, um das Chaos zu vergrößern.
Ein paar Vögel wurden von der flachen Klinge des Schwertes zum Dschungelrand getrieben, tauchten unfreiwillig in das grüne Gestrüpp und wurden von dem dort lauernden Ungetier entsprechend empfangen.
Ich sah auch mehrere Sorten von Spinnen, die erschrocken flohen - bezeichnenderweise in die Mulde, die sie anscheinend doch nicht so sehr fürchteten.
Oder fanden sie es einfach besser, einem größeren Übel auszuweichen?
Ein paar der Vögel nutzten jedenfalls die Gelegenheit. Sie pickten blitzschnell zu und retteten sich und ihre Beute mit raschem Flügelschlag. Als wären die Spinnen für sie sowieso eine willkommene Delikatesse.
Ich vermutete, dass die Mulde nicht nur gemieden wurde, weil die Gefahr des Einsinkens bestand, sondern vor allem, weil sie bevorzugtes Tages-Domizil der Vögel war.
Für uns war sie nur des Nachts ein guter Unterschlupf gewesen, zu einer Zeit, wo die Vögel normalerweise unterwegs waren, um ihre Beute zu machen.
Wären sie intelligent gewesen, hätten sie diese Gelegenheit genutzt...
Die Vögel krächzten und schnarrten. Sie flatterten aufgeregt umher, in einer großen Wolke aus Federn. Sie kämpften mit angriffslustigen Urwaldtieren auf Leben und Tod.
Und dann sah ich den Zeitpunkt als günstig, die Mulde zu verlassen.
Die Weisen hatten mir ein Sprichwort beigebracht: Wenn zwei sich streiten, freut sich der dritte. Hier funktionierte alles nach diesem uralten Prinzip.
»Hey, Bereter, flieh nach rechts, damit wir uns nicht verpassen!«, brüllte mir Bron zu.
Ich hatte erst in der Nacht Fertigkeiten im Klettern erlangt und wunderte mich jetzt, dass es so gut klappte: Am hellen Tag war es doch viel einfacher als im roten Nachtschein.
Das Schwert hatte ich in die Scheide zurückgeschoben, dafür ein Messer gezogen und zwischen die Zähne gesteckt, damit ich es jederzeit einsetzen konnte.
Aber ich wurde nicht angegriffen, außer von Insekten, die aber schon von meinem Symbionten abgewehrt wurden. Ohne ihn hätten sie mich sozusagen bei lebendigem Leib aufgefressen.
Gewiss waren die Insekten das größte Problem für einen Menschen, der nicht von einem Symbionten geschützt wurde. Ich konnte mir vorstellen, dass ein Mensch normalerweise nur höchstens Minuten in dieser Umgebung überlebte...
Endlich stieß ich wieder mit Bron zusammen. Er atmete tief durch, während ich verzweifelt nach Luft schnappte.
»Komm, Bereter!«, grollte er gutmütig und klopfte meine Schulter. »Du musst dich an all dieses gewöhnen. Es war das erste Mal, aber sicherlich nicht das letzte Mal, sonst haben wir nicht mehr viel Gelegenheit, im Dschungel zu schlafen, glaube mir.«
Bron hatte eine unnachahmliche Art, einem die letzten Hoffnungen zu rauben.
Sollte ich denn jeden neuen Morgen auf diese Art beginnen?
»Wo sind die Vögel eigentlich des Nachts?«, fragte ich.
»Na, wo schon?« Bron schüttelte den Kopf. Dann deutete er zum Himmel. »Dort oben natürlich!«
»Soll das heißen, sie kreisen die ganze Nacht?«
»Gewiss doch, Bereter, aber immer in der Nähe einer solchen Mulde und falls es keine gibt, dann schaffen sie sich einen besonderen Platz, den sie mit ständigen Kämpfen behaupten.«
»Und warum bleiben sie nachts nicht in diesen Mulden aus abgestorbenen Pflanzen?«
»Aus reiner Vorsicht, Bereter. Nur während der Zeit, wenn sie ihre Eier legen, ist das anders. Darauf müssen wir stets gefasst bleiben, denn wenn wir sie einmal beim Eierlegen überraschen, ergeht es uns schlecht.«
So richtig befriedigend war das eigentlich für einen Menschen unlogische Verhalten dieser Vögel zwar nicht, aber Bron verteilte noch ein paar Nüsse und verhinderte damit weitere Fragen. Ich knackte sie, während wir unseren Weg fortsetzten.
Und dann kam doch noch eine Frage von mir: »Wie lange werden wir in dem Dschungel sein müssen, Bron?«
»Eine gute Frage, Bereter, aber reichlich verfrüht.« Er deutete nach vorn. »Am Boden gibt es immer wieder Quellen. Ihr Wasser fließt zusammen und bildet einen Fluss. Es ist allerdings nicht leicht, ihn zu finden, Bereter, denn er ändert ständig seinen Lauf. Ich war viele Jahre nicht mehr hier. Vergiss das nicht.«
Ich durfte nicht daran denken: Noch ungewiss lange in dieser Umgebung!
»Und wenn wir den Fluss erreicht haben, Bron?« Ich schluckte schwer.
»Dann geht es schneller vorwärts, Bereter. Wir werden den Dschungel verlassen können, denn der Fluss bringt uns an unser Ziel.«
»Ziel?«
Er hielt kurz inne.
»Bereter, ich habe dir von der großen Aufgabe erzählt, der ich nicht gewachsen war?«
Eine solche Aufgabe konnte man sich kaum vorstellen, wenn man ihn ansah.
Ich nickte ihm zu.
»Ich habe viel daraus gelernt, Bereter. Vor allem, dass nicht jeder zum Stamm zurückkehren darf. Es gibt auch außerhalb des Stammes wichtige Aufgaben für einen Menschen.«
»Wichtiger gar als Wächter über die Welt zu sein?«, fragte ich zweifelnd.
»Was ist das eigentlich: Wächter über die Welt?«, stellte er mir eine Gegenfrage.
Ich sah ihn an.
Ja, wie sah ihre Aufgabe eigentlich aus? Warum mussten die Jungmänner als Sucher losziehen, in eine höllische Welt, in einen Alptraum hinein, aus dem es für die meisten kein Erwachen gab? Warum durften nur diese Frauen Kinder gebären, die sich ebenfalls als Sucher verdingt hatten und erfolgreich zurückgekehrt waren? Alle anderen jedenfalls galten als nicht würdig und durften nur niedrige Arbeiten verrichten.
Es gab nur eine einzige Ausnahme, von der man uns erzählt hatte: Falls zu wenige Frauen zurückkamen, rückten ›unwürdige‹ Zurückgebliebene automatisch zu ›würdige‹ auf.
Die Erziehung der Heranwachsenden blieb immer den Weisen vorbehalten.
Über all diese Dinge hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht. Es war, wie es sein musste, basta! Kein Mensch fragte nach dem Warum. Jeder fieberte vielmehr der Zeit entgegen, da er als Sucher den Stamm verließ - auch Mädchen, obwohl sie getrennt von den Jungen erzogen wurden.
Was einen als Rückkehrer erwartete, lag im Grunde genommen jenseits des Vorstellungsvermögens.
Und jetzt die Frage von Bron, die noch kein Sucher beantworten konnte.
Ich hätte ihm sagen können, dass ich einfach noch nicht reif genug für die Antwort war und sie deshalb nicht kannte, aber gewiss hätte Bron zurückgefragt: »Und du glaubst, diese Reife kommt von allein?«
Ich schreckte aus meinen Gedanken, denn Bron hatte es tatsächlich laut ausgesprochen.
Jetzt lachte ich, denn ich wusste, dass ich nicht nur viel über DIE WELT gelernt hatte, sondern mindestens genauso viel - über Bron: Ich kannte gewisse Reaktionen von ihm bereits im voraus.
Er schüttelte den Kopf über meinen Heiterkeitsausbruch und sagte ein wenig ärgerlich, weil er mein Lachen missverstand: »Reife ist keine Frage der Zeit, sondern eine Frage des Lernens - und dieses Lernen ist eine Angelegenheit, die viel Arbeit und Aufmerksamkeit erfordert. Es erfolgt niemals ganz von alleine.«
Ein weiser Spruch, Brons würdig.
Mein Lachen verebbte.
Bron war ein guter Lehrer - und mein Freund.
»Ich wollte dich nicht verärgern«, sagte ich entschuldigend. »Bron, du solltest auch wissen, dass ich nicht mehr misstrauisch bin. Nicht nur, weil ich keine andere Wahl habe, als dir zu vertrauen.«
»Schon gut, Bereter. Das Schicksal hat verfügt, dass wir es gemeinsam bestehen, weil einer allein zu schwach dafür wäre. So wird jeder von uns seine Bestimmung finden - endgültig. Was wir tun müssen, ist eigentlich nur: zu überleben!«
Wir setzten unseren Weg fort und Bron erzählte mir ein wenig von der Ökologie der obersten Dschungelregion. Darin spielten die bereits erlebten Vierarmaffen, die Vielarme und auch die Kletterkatzen eine tragende Rolle. Insekten und auch die ›normalen‹ Spinnen waren nicht sehr gefährlich für uns. Genauso wenig wie die Schlangen, die uns für Pflanzengeschöpfe hielten - dank des Symbionten.
Sie hatten nur deshalb am Rande der Mulde gelauert, weil sie von den anderen angelockt worden waren.
Also gab es für uns drei Hauptgegner. Am gefährlichsten dabei waren die Vielarme, da man in ihre Fallen tappen konnte, falls man nicht aufpasste. Überall waren diese Säurewannen verteilt. Es kam oft genug vor, dass die Opfer von allein hineinfielen, ohne dass ein Vielarm nachhelfen musste.
Bron sagte über die Vierarmaffen: »Sie haben keine Augen, Bereter, aber das macht sie nicht etwa blind, denn sie haben andere Möglichkeiten, ihre Umgebung wahrzunehmen: Sie haben ein so empfindliches Fell, dass sie jede Erschütterung der Baumwipfel sofort richtig einordnen. Für einen Vielarm zum Beispiel ist ein Affe niemals zu greifen. Höchstens für die Vögel, die stets in Schwärmen ihre Opfer aussuchen. Sie sind Allesfresser, fressen also auch Pflanzen.«
Bron blieb stehen und deutete auf eine Blume vor uns. Sie war wunderschön, schillerte in allen Farben des Spektrums.
Bron streckte die Hand mit dem Schwert vor und berührte den großen Blütenkelch mit der Schwertspitze.
Sofort schnappte der Kelch zu wie das Maul eines Tieres.
»Der Kelch ist normalerweise auf Insekten spezialisiert, aber das sollte dich nicht unvorsichtig machen, Bereter.«
Wir machten einen Bogen darum. Mehr und mehr begann ich, die ungeheure Vielfalt von Leben in dieser obersten Region besser zu begreifen.
Sobald ein Vogelschwarm über uns auftauchte, drangen wir tiefer ein. Jetzt konnten uns die Vögel mit ihren scharfen Augen zwar immer noch sehen, aber sie wagten den Angriff nicht mehr.
Am Abend hatten wir Glück: Wir fanden wieder eine der Mulden aus moderndem Pflanzenreich.
Wahrscheinlich hätte ich allein dieses Glück niemals besessen, aber Bron hatte einen sicheren Instinkt dafür. Was er mir gegenüber als Zufall ausgab, war sicherlich seine volle Absicht. Fürchtete er denn, ich könnte sonst so etwas wie Minderwertigkeitsgefühle entwickeln?
Ich musste unwillkürlich darüber lachen - ein Lachen, das er nicht verstand.
Aber er ging nicht darauf ein.
Der nächste Morgen gestaltete sich nicht ganz so dramatisch wie beim ersten Mal, denn Bron erwachte früh genug, trat an den Muldenrand und stocherte mit dem Schwert im Grün herum.
Es gab Schlangen, Spinnen und anderes Getier, das angeblich für uns harmlos war, aber keinerlei Vierarmaffen oder Kletterkatzen.
Die Vögel waren schon da. Bevor sie angriffen, hatten wir allerdings bereits die Mulde verlassen.
Ich war erleichtert über diese Entwicklung.
»Anscheinend sind die Affen ungleichmäßig verteilt?«, fragte ich Bron.
Er zuckte mit den Achseln und schaute sich immer wieder aufmerksam um.
Was war los mit ihm?
Ich wagte nicht mehr zu fragen, sondern sicherte ebenfalls. Ohne jedoch etwas Ungewöhnliches zu entdecken.
Die für uns gefährlichen Pflanzen kannte ich bereits alle. Wir blieben ständig in Bewegung, änderten immer wieder unseren Standort. Diesmal allerdings erschien es mir nicht so, als wollte Bron vorwärts kommen, sondern als hielt er nach etwas suchend Ausschau.
Plötzlich blieb er stehen und hielt mich mit dem ausgestreckten Arm auf.
»Hörst du es?«
Ich lauschte.
»Ein fernes Wimmern?«
»Ja, Bereter, jetzt weiß ich, warum wir weder von Vierarmaffen, noch von Kletterkatzen oder gar von Vielarmen bedrängt worden sind.«
»Weshalb?«
»Die einzelnen Regionen, Bereter, sind recht streng voneinander getrennt. Ein Vielarm würde niemals seinen Herrschaftsbereich hoch unter dem Dach des Urwaldes verlassen, um tiefer einzudringen. Genauso wenig, wie die Tiere, die unter ihm leben, zu ihm hinauf kommen würden. Aber es gibt natürlich Ausnahmen. Sobald der Lebensraum zu eng wird, weichen die Tiere aus. Es geschieht hin und wieder und dann gibt es eine Art Krieg.«
»Du meinst, die Affen und die anderen für uns gefährlichen Tiere haben einen solchen Krieg nicht überlebt? Deshalb haben sie uns nicht am Muldenrand empfangen?«
»Ja, Bereter und dieses Wimmern zeigt mir, dass diesmal der Krieg über mehrere Ebenen gegangen ist. Es muss erst gestern gewesen sein, sonst hätten sich die Tiere der umliegenden Regionen schon längst wieder hier verbreitet.«
»Was verursacht dieses Wimmern, Bron?«, drängte ich.
»Der Drachen!«, antwortete Bron tonlos. »Er ist für uns Glück und Unglück zugleich, denn wo der Drachen ist, dort ist der Fluss nicht mehr weit, aber gegen den Drachen haben wir keine Chance.«
»Kennst du ihn?«
»Es gibt nur wenige Exemplare, weil sie vom Wasser abhängig sind. Außerdem brauchen sie ein weites Gebiet, um zu jagen, weil sie recht plump sind und sich nur von Affen, Katzen und ähnlichen Tieren ernähren. Das heißt, sie machen lediglich Beute, wenn diese Tiere krank oder unvorsichtig sind.«
»Oder wenn es im Dschungel einen Krieg gibt, einen Kampf jeden gegen jeden. Dann kann der Drachen ernten.«
»In der Regel kommen auch die Drachen aus den Nachbargebieten, um über die Kadaver herzufallen. Anschließend gibt es Verdrängungskämpfe und auch Paarungen, ehe die Drachen wieder in ihre eigenen Gebiete zurückkehren.«
»Da du dies alles herausgefunden hast, Bron, hege ich doch noch die Hoffnung, dass man die Begegnung mit einem Drachen überlebt.«
»Nur wenn man Glück hat, Bereter.«
»Wir wollen zum Fluss, also bleibt uns nichts anderes übrig, als dieses Glück herauszufordern.«
»Dies sind für dich Tage des Lernens, Bereter. Du bist ein besserer Schüler, als sich ein Lehrer wünschen kann. Also komm, steigen wir hinab. Es ist an der Zeit, die sichere Region des Urwalddaches zu verlassen und uns den Gefahren zu stellen, die möglicherweise auf uns lauern.«
»In der Gestalt des Drachens?«
»Hoffentlich NUR in der Gestalt des Drachens, Bereter!«, betonte Bron.
Gemeinsam machten wir uns an den Abstieg: Das Wimmern schien von überall gleichzeitig zu kommen. Die genaue Richtung war unmöglich zu bestimmen.
Bron erklärte mir, dass es nicht einmal klar sei, wie weit der Drachen noch von uns entfernt war...
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4
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Wir stiegen rasch abwärts. Bereits wenige Meter unterhalb des Urwalddaches aus Laub, Ästen, Zweigen und Schmarotzerpflanzen war es schon merklich düsterer.
Vorher war ich richtiggehend stolz darauf gewesen, wie gut ich mich mit der Tier- und Pflanzenwelt schon auskannte. Ich war längst kein Laie mehr, sondern wusste genau, wie ich mich zu verhalten hatte. Hier unten war alles so anders, dass ich fast wieder von vorn anfangen musste. Bron hielt mich nicht zur Eile an. Er berücksichtigte die Tatsache, dass ich hier unten Schwierigkeiten hatte.
Größere Raubtiere gab es zwar keine im Moment, aber dafür andere Gefahren, wie fleischfressende Pflanzen und kleinere Beißer. Ich musste sie in der Düsterkeit erkennen und meiden.
Ich hatte längst jede Orientierung verloren und musste mich ganz nach Bron richten. Zu dem schaurigen Wimmern, das immer wieder zu uns heraufstieg, kam das Brechen von Ästen. Der Dschungel geriet in Unruhe.
Bron hielt ein. »Das ist er!« Das Wimmern erschien mir auch lauter. Wie ein Riese, der im Sterben lag und dabei furchtbare Pein verspürte. »Weiter!« Jetzt drängte Bron doch.
Ich sah ein paar Beißer, ganz verschiedener Art und Größe. Sie hatten kein Interesse an uns, sondern flohen panikerfüllt. Im Grunde ein sehr schlechtes Zeichen, denn dann war der Drachen näher als uns lieb sein konnte.
Bron hielt wieder inne. Er lauschte gebannt. Seine Muskeln waren angespannt. Nur seine Brustmuskulatur zuckte durch die innere Anspannung. Jedes mal ein mächtiges Beben gewaltiger Muskelstränge.
Auf einmal duckte Bron sich. Seine Hände öffneten und schlossen sich gleich Klauen. Seine Bauchmuskulatur trat dick hervor. Seine Bizeps waren eisenharte Kugeln. Ich folgte seinem Blick. Da war ein gewaltiger Schatten, der sich bewegte. Wieder brachen Äste. Der Baum, in dessen Geäst wir uns befanden, umwoben von Gestrüpp, begann zu erzittern. Daraus wurde rasch eine schwankende Bewegung.
»Verflucht!«, knurrte Bron. Er brauchte mir nicht extra zu erläutern, was ihn so aufbrachte: Wir waren dem Drachen direkt in die Falle gegangen.
Ich lauschte gebannt. Wenn der Fluss in der Nähe war, dann mussten wir ihn doch hören? Nichts, außer in der Ferne fliehende Beißer, die rücksichtslos durch das Geäst brachen und dann ein wildes Schnauben, dem ein furchtbares Krachen folgte. Der Baum, in dem wir saßen, neigte sich nach vorn. Auf einmal war da mehr Licht. Eine Lücke entstand. Und genau durch diese Lücke sahen wir ein tellergroßes Auge, das uns tückisch anglitzerte. Ich schrie wie am Spieß, setzte an Bron vorbei, schwang mein Schwert, so es mir die Enge erlaubte und preschte dem Drachen entgegen.
»Bereter!«, brüllte Bron entsetzt, aber er konnte mich nicht mehr aufhalten. Ich war bereits beim Drachen. Er hatte eine breite Schneise in die untere Region des Urwaldes geschlagen. Ich sah seinen silbrig glänzenden Schuppenleib, mindestens zwanzig Meter lang. Der Drachen war ein Wurm mit kurzen Stummelbeinen. Er hatte einen spitzen Kopf und schloss jetzt die Augen zu einem schmalen Spalt. Die Schnauze war so gepanzert, dass er trotz seiner Größe ohne Schwierigkeiten durch den Urwald kriechen konnte, immer zwischen den massigen Bäumen hindurch. Seine plumpen Füße stampften. Ungeziefer zappelte auf dem glatten Leib, konnte sich nicht halten und rutschte ab. Es griff den Giganten ständig an, aber er kümmerte sich überhaupt nicht darum. Seine nassen Schuppen schützten ihn gut.
Ich blieb leicht erhöht auf einem Ast stehen, um mich zu orientieren. Von meinem Standort aus gesehen steckte der Drachen in einem breiten Tunnel inmitten der grünen Hölle. Das Untier schnaubte wütend. Ein Schwall übel riechender Luft traf mich und wehte mich fast vom Ast.
Die erstickte Stimme von Bron: »Bereter!«
Der Gefährte hatte offensichtlich Angst vor diesem mächtigen Gegner. Kein Wunder, wenn man diese Masse vor sich hatte. Der Drachen öffnete sein Maul und richtete sich weiter auf, bis er mit dem Kopf in gleicher Höhe war - ein lang gestreckter Rattenkopf, mit spitzen Zähnen bewehrt. Ein Biss würde genügen. Ich war für ihn ein nicht mal besonders großer Happen. Aber ich zeigte keine Furcht und hielt das Schwert in beiden Händen.
»Du hast keine Chance, Bereter!«, warnte Bron aus der Deckung des grünen Dschungels heraus. Glaubte er denn, der Drachen hätte ihn noch nicht gewittert? Er hatte gewusst, wo wir zu finden waren und nur noch auf uns zu warten brauchen. »Die Klinge deines Schwertes kratzt die Schuppen nicht einmal an!«
Auch die Augenlieder waren gepanzert. Nein, da hatte man mit dem Schwert wahrhaftig keine Chance. Aber ich wollte auch gar nicht das tun, was Bron von mir erwartete und was er wahrscheinlich selber getan hätte, in schierer Verzweiflung: auf den Drachen blindlings eindreschen.
»Leben die Drachen auch außerhalb des Dschungels?«
»Nein, zu wenig Nahrungsangebot, Bereter. Verflucht, was hast du vor?«
Ich konnte ihm nicht mehr antworten, denn der Drachen hatte mich lange genug taxiert. Er sperrte sein Maul auf, in dem ein ausgewachsener Mann bequem stehen konnte. Ich sah unterhalb des Kopfes zwei Stummelarme, die nach Halt tasteten. Und dann schnellte der spitze Kopf mit dem aufgerissenen Rachen vor, um mich zu verschlingen.
Ich hatte darauf gewartet, wich nicht etwa aus, sondern sprang im Gegenteil vorwärts: Mit einem einzigen Satz landete ich inmitten der Zahnreihen und stieß das Schwert mit aller Kraft schräg nach oben. Ich vermutete, dass dort das Gehirn des Untiers lag: oberhalb des Gaumens, nach hinten versetzt, direkt zwischen den beiden Augen.
Der Drachen klappte überrascht das Maul zu. Zwischen den Zähnen zermalmte er den Ast, auf dem ich gestanden hatte. Mich selbst trafen die Zähne nicht; nur der Gaumen schleuderte mich nieder. Er bestand nicht aus Knochen, sondern aus beweglichem Muskelfleisch, das mich niederhalten wollte, aber mein Schwert hatte sich bis zum Griff hineingebohrt.
Sofort öffnete sich das schreckliche Maul wieder. Ich lag zwischen den unteren Zahnreihen auf Muskelgewebe, das eine Zunge ersetzte. Der Speichel stank bestialisch. Aus der Wunde quoll dickes, rotes Blut und übergoss mich. Es war klebrig wie Brei.
Ich zog das Schwert wieder heraus und sprang noch weiter in das Maul hinein. Fast war ich beim Schlund, der wild zuckte. Ich musste unbedingt verhindern, dass der Drachen schluckte! Dann wäre ich unwiderruflich verloren. Ich würde im Magen des Untiers landen.
Oberhalb des Schlundes setzte ich die Schwertspitze an und stieß sie in das Fleisch. Ich traf auf Widerstand und glitt ab. Der Drachen klappte sein Maul wieder zu und stieß sich damit selbst das Schwert tiefer hinein.
Ich hatte schon beim ersten Mal das Gehirn erreicht. Jetzt an einer anderen Stelle. Der Drachen brüllte seine Todespein hinaus.
Das war wie ein Sturm, der mich hinwegfegte.
Geistesgegenwärtig krümmte ich mich zusammen. Wie von einem Katapult geschleudert prallte ich gegen das wilde Gestrüpp. Es federte und verhinderte damit, dass ich mir die Knochen brach.
Ich griff mit beiden Händen zu, um mich festzuhalten, denn wenn ich bis zum Boden hinabstürzte, fiel ich unweigerlich dem Ungeziefer zum Opfer, falls ich nicht von dem verendenden Drachen zermalmt wurde, der sich wahnsinnig brüllend hin- und herwälzte.
Jemand angelte nach meinen Beinen und zog mich in Sicherheit. Bron! »Bloß weg, ehe es doch noch zu spät ist!«
»Mein Schwert!«, widersprach ich. Ich hatte es verloren!
Bron riss mich einfach mit sich. Gegen seine Muskelgewalt kam ich nicht an, wenn er mich erst mal im Griff hatte.
Ich floh also gemeinsam mit ihm, während der Drachen hinter uns in seinem Todeskampf einen Baum nach dem anderen entwurzelte.
Erst als wir glaubten, weit genug von dem sterbenden Untier weg zu sein, hielten wir inne. Ich war über und über verschmiert mit dem klebrigen Drachenblut. Von meinem Symbionten war nichts mehr zu sehen.
Bron lachte humorlos. »Der Grüne wird eine ganze MENGE Arbeit haben, bis er das alles beseitigt hat. Siehst du, Bereter, dank dem Symbionten brauchst du dich wenigstens nicht zu waschen.«
Bron entwickelte zuweilen einen eigenartigen Humor. Ich hatte noch nie darüber lachen müssen - genauso wenig wie er umgekehrt über meine Scherze lachte.
»Das nächste Mal kannst ja du als Drachentöter vorgehen, Bron«, brummte ich ein wenig missmutig. Ich dachte wieder an das verlorenen gegangene Schwert. »Dann hätte dein Symbiont auch mal was davon. Das heißt, falls ihr beiden es überhaupt überlebt.«
Er lachte wieder und klopfte mir auf die Schulter. »Ein Drachentöter, gewiss, Bereter, der bist du jetzt wahrhaftig!«
»Abgesehen davon, Bron, dass uns keine andere Wahl blieb, denn der Drachen hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, uns zu fressen.«
Bron sah mich nur ausdruckslos an. Und ich kam wieder auf mein Schwert zu sprechen: »Verflucht, was mache ich ohne meine wichtigste Waffe?«
Bron winkte mit beiden Händen ab. »Schon gut, Bereter, ich gebe ja schon zu, dass ich dich gewaltig unterschätzt habe. Ich gebe sogar zu, dass ich das nicht geschafft hätte, was dir so bravourös gelungen ist.«
Jetzt war es heraus. Ich musste grinsen.
»Danke, Bron!«
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5
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Bron legte seine rechte Hand auf den Schwertgriff. »Nunmehr muss ein Schwert für uns beide reichen!«, sagte er salbungsvoll und wandte sich der Lücke zu.
Der Drachen hatte sein Leben ausgehaucht. Sein schuppiger Körper war bedeckt von Ungeziefer, aber nur da hatte es Erfolg, wo es Körperöffnungen fand: Zum Beispiel das aufklaffende Maul. Ganze Heerscharen dieser kleinen Viecher krabbelten oder wanden sich hinein. Sie würden den Drachen von innen her aushöhlen. Sie hätten mich mitsamt meinem Symbionten aufgefressen, ehe ich mein Schwert hätte bergen können.
»Hier haben wir nichts mehr verloren.« Bron kletterte höher, um die durch die Gewalt des Drachens entstandene Lichtung zu überwinden. Ich folgte ihm vorsichtig. Falls wir abstürzten, waren wir rettungslos verloren. Gegen eine solche Übermacht von Ungeziefer hätten wir keine Chance gehabt. Ich konnte mit eigenen Augen sehen, wie es sogar mit dem Drachen verfuhr.
Mir war jetzt auch klar, warum der Drachen die Nähe des Flusses brauchte: Falls die Schuppen austrockneten, waren sie nicht mehr geschmeidig genug. Außerdem würde es dazwischen feine Lücken geben, in die Ungeziefer eindringen konnte. Das galt es zu vermeiden, indem der Drachen stets für genügend Feuchtigkeit sorgte.
»In Richtung Fluss?«, krächzte ich.
»Ja!« Bron war geduldig mit mir. Gewiss wäre er ohne mich dreimal so schnell vorangekommen. Es hätte auch kaum eine direkte Konfrontation mit dem Drachen stattgefunden, denn Bron hätte sich schnell und geschickt genug in Sicherheit bringen können.
Wir kletterten in die Richtung davon, aus der der Drachen gekommen war. Das normale Leben war längst wieder hierher zurückgekehrt. Die Angst vor dem Drachen war allgemein überwunden.
Ich betrachtete den Symbionten, der meinen Körper bedeckte. Den größten Teil des stinkenden Drachenblutes hatte er bereits absorbiert. An den Stellen, an denen das Grün wieder sauber war, erstrahlte es kräftiger denn je. Das Drachenblut bekam dem Symbionten anscheinend besonders gut!
Es widerte mich an, aber andererseits hatte ich mich genügend an den Grünen gewöhnt, um es akzeptieren zu können. Außerdem wäre ich ohne längst nicht mehr am Leben gewesen. Sollte ich denn undankbar sein?
»Wir haben es bald geschafft«, strahlte Bron. Mit ausgestrecktem Arm deutete er nach vorn. »Dort ist der Fluss.«
»Wie wollen wir ihn passieren? Etwa schwimmend?«
Er schaute mich entgeistert an. »Schwimmend?«, echote er.
Ich zuckte mit den Schultern. »Nun gut, Bron, scheint kein guter Scherz zu sein, sonst würdest du lachen. Aber wo sollen wir so etwas wie ein Boot herkriegen?«
Er tätschelte den Schwertgriff und grinste. »Sie wachsen dort in Hülle und Fülle!«, versprach er.
Eine halbe Stunde später sah ich mit eigenen Augen, was er damit gemeint hatte: Das Flussufer war dicht bewachsen. Eine unglaubliche Blütenpracht hatte sich entfaltet. Man sah zwar noch die Spuren des Drachens, der mit seiner Masse die Pracht immer wieder zerstört hatte, aber die Lücken schlossen sich in gewohnter Schnelligkeit. Mit der Schwertspitze deutete Bron nach unten. Über dem Fluss gab es eine Öffnung im Dschungeldach. Das Licht, das hinunterfiel, wurde von den Pflanzen gierig aufgesogen. Sie brauchten es, um zu überleben.
»Siehst du die roten Blüten mit den kräftigen Stempeln?« Ich nickte nur. »Sie werden von einer besonderen Schmetterlingsart bestäubt. Die Schmetterlinge leben nur am Fluss, genauso wie die Bootsblüten.«
»Bootsblüten?«
»Ja, sie sind sehr schwimmfähig. Man braucht nur den Stil abzuschlagen.«
Ich vermutete dennoch einen Haken bei der Sache: »Aber?«
»Die Schmetterlinge sind nicht sehr erbaut davon, Bereter, wie du dir vorstellen kannst. Es ist demnach also nicht ganz ungefährlich.«
»Wie groß sind denn diese - Schmetterlinge? Oder treten sie in Scharen auf?«
»Sie sind eher Einzelgänger, Bereter, aber halb so groß wie ein ausgewachsener Mann. Sie verteidigen die Blüten mit ihrem Leben. Die Drachen machen sich das gern zunutze. Sie zermalmen mit ihrem Körpergewicht die Bootsblüten. Dabei wird eine stark riechende Substanz frei. Die Schmetterlinge nehmen den Geruch auf und kommen sofort. Falls sie zu übereifrig sind, werden sie kurzerhand vom Drachen verschlungen, gegen den sie natürlich nicht die geringste Chance haben.«
»Gegen mich hatte er auch keine. Also wieso sorgen wir uns?«, versuchte ich erneut einen kleinen Scherz.
Bron reagierte diesmal überhaupt nicht. »Der neuralgische Punkt ist der Blütenstempel. So lange er besteht, lockt er die Schmetterlinge mit seinem Duft. Wenn wir ihn beschädigen oder gar abschlagen, wird der besagte Geruch explosionsartig frei und macht die Schmetterlinge mörderisch aggressiv.«
»Was schlägst du vor?«
»Komm erst einmal mit!«, befahl er und begann mit dem Abstieg zum Flussufer.
Bald hatte ich Gelegenheit, einen der beschriebenen Schmetterlinge kennen zu lernen. Mit kräftigem Flügelschlag flog er über den glitzernden, mindestens dreihundert Meter breiten Flusslauf hinweg und landete auf einer Bootsblüte. Sie war groß genug, dass er völlig darin untertauchen konnte.
Bald war er wieder draußen, putzte sich kurz und stieß sich kräftig ab. Ein paar Meter weit sah es so aus, als würde er unweigerlich in den Fluss stürzen, dann aber schaffte er es, seinen Flug zu stabilisieren.
Sein Leib war lang gestreckt. Er hatte sechzehn Beine: Acht hingen auf jeder Seite herab, während die großflächigen Flügel schlug. Sie schillerten in allen Farben des Spektrums. Ein herrliches Spiel, wenn ein verirrter Lichtstrahl diese Pracht traf.
Ich hatte mich im Laufe der Zeit nicht nur an Brons abartigen Un-Humor, sondern auch an die ständigen Kletterpartien gewöhnt. Wir kamen flott voran. Unterwegs sah ich allerlei Kleingetier. Manchmal schwirrte ein faustgroßes oder gar kopfgroßes Insekt vorbei.
Und dann sprang mich ein großer Tausendfüßler an. Fasziniert schaute ich zu, wie er versuchte, meine Brust anzubohren. Dazu klappte er den Kopfpanzer auseinander und fuhr tatsächlich so eine Art Bohrer aus. Das Ding drehte sich hin und her.
Mein Symbiont zog sich an dieser Stelle krampfartig zusammen und schleuderte den Tausendfüßler davon, ehe der begriffen hatte, dass sich die vermeintliche Pflanze plötzlich wehren konnte.
Bron ließ unterdessen die Umgebung keinen Lidschlag lang aus den Augen. »Vorsicht!«, raunte er auf einmal und stieß mich mit dem Ellenbogen an. Er deutete mit dem Messer auf den dunklen Schatten weiter unterhalb. Ohne Brons Aufmerksamkeit wäre er uns sicher entgangen.
Der Schatten bewegte sich. Ein zottiger Kopf wandte sich uns zu: Eine Großkatze! Bron warf sofort sein Messer. Das Vieh brüllte, verlor aber nicht den Halt. Krampfhaft hielt es sich irgendwo fest.
»Los!«, zischte Bron und kletterte geradewegs auf die Mörderkatze zu. Ihre Bewegungen erlahmten bereits. Brons Messer hatte gut getroffen. Er kannte sich aus. Das Raubtier verlor jetzt doch den Halt und rutschte ab. Bron schnellte sich rechtzeitig vor, um das Messer wieder an sich zu nehmen. Die sterbende Großkatze brach durch das Astwerk tiefer und kam irgendwann mit ohrenbetäubendem Lärm ganz unten an.
Ein Zwischenspiel für uns, mehr nicht.
Nur noch wenige Meter über dem Boden gab es kaum Ungeziefer. Als würde es das Wasser meiden. Oder gab es Tiere, die sich ihrerseits von dem Ungeziefer ernährten, jedoch auf das Wasser angewiesen waren und somit nur die Ufer ›abernten‹ konnten?
Ich sah, auf was es die Mörderkatze eigentlich abgesehen hatte, bevor wir ihr ins Gehege gekommen waren. Es befand sich nur wenige Schritte vor uns: Ein zartgliedriges Wesen, das mich an eine Elfe erinnerte. Die Weisen hatten mir die Darstellung eines Seepferdchens gezeigt, denn irgendwo gab es auch ein Meer. So ähnlich sah auch die Elfe aus. Nur war ihr Gesicht fast menschlich. Ihr Blick ließ mich erschauern.
»Das war knapp«, sagte Bron. Schwang so etwas wie - Ehrfurcht in seiner Stimme mit? Ehrfurcht?
»Sie verdankt dir ihr Leben, Bron!«, stellte ich fest.
»Hier jagt jeder jeden, in dieser grausamen Welt. Nur die Elfen - jagen nicht!«
»Aber wovon leben sie?«
»Vom Frieden in den Wesen, Bereter. Sie essen nicht und sie trinken nicht, sondern sie leben vom Frieden allein!«
War Bron auf einmal verrückt geworden?
Er schüttelte den Kopf, als hätte er meine Gedanken lesen können. »Und rettest du einer Elfe das Leben, dann hat sie dich dazu herausgefordert, ohne dass du es vorher wusstest. Sie hat sich absichtlich in die Gefahr begeben, um dir diese Chance zu geben. Denn für eine Elfe ist das Risiko sehr gering. Sie weiß schon, was rechtzeitig zu tun ist, um dem Tod doch noch zu entrinnen.« Er schaute mich kurz an. »Vielleicht... gibt es sowieso keinen Tod für sie? Sie waren immer und werden immer sein - so lange diese Welt besteht!«
Das Wesen, das Bron Elfe nannte, ließ mich nicht aus den Augen und rührte sich nicht von der Stelle. Auf einmal stieß es ein durchdringendes Zirpen aus und schaute an mir vorbei. Ich sprang automatisch beiseite und wirbelte gleichzeitig herum - synchron mit Bron: Die zweite Katze war hinter uns!
»Das hätte ich mir denken können«, schimpfte Bron. »Diese Sorte tritt in der Regel als Pärchen auf.«
Sein Messer war schon unterwegs, ehe er geendet hatte. Aber die Katze duckte sich rechtzeitig. Das Messer verfehlte sie knapp und blieb zitternd in einem Ast stecken. Und schon sprang die Großkatze los. Sie flog meterweit durch die Luft, als hätte sie kein Gewicht. Bron war ihr Ziel. Weil er das Messer geworfen hatte. Das gab mir einen winzigen Aufschub.
Bron brüllte, dass es mir in den Ohren schmerzte. Er riss sein Schwert hoch und streckte beide Arme damit aus. Die Katze konnte nicht mehr ausweichen. Sie spießte sich mit dem Schwert selbst auf.
Bron machte einen Ausfallschritt, weil ihn sonst die sterbende Großkatze allein mit ihrem Gewicht zermalmt hätte. Aber er ließ seinen Schwertgriff nicht los und zog das Schwert aus dem Tier, noch ehe es ganz verendet war.
Ich schüttelte den Kopf. Eine solche Kraft... Wäre ich an der Stelle von Bron gewesen, hätte ich es nicht überlebt. Ich hätte einfach nicht genügend Kraft besessen, das Schwert so festzuhalten, dass sich die Katze selbst aufspießte.
Noch ehe sich Bron wieder der Elfe zuwandte, hatte der Symbiont bereits begonnen, das Blut zu absorbieren, mit dem er über und über besudelt war.
»Verdammt!«, entfuhr es ihm.
Ich sah, was er meinte. Die Elfe war inzwischen spurlos verschwunden.
»Sag mir mehr über diese Wesen!«, forderte ich Bron auf.
Er holte erst sein Messer. Und dann: »Wir brauchen ein Boot, Bereter!«, wich er aus. »Ja, wir müssen uns beeilen!«
Er kletterte bereits tiefer. Ich blieb verärgert zurück. »Ich will wissen, was es mit diesen Elfen auf sich hat!«, beharrte ich.
»Ein gutes Omen, Bereter, wahrlich!« rief er zurück. »Ich bin ihnen verschiedene Male begegnet, habe sie aber stets nur aus der Ferne gesehen, denn sie mögen uns Menschen nicht sonderlich. Aber es wird erzählt, dass sie schon in der Vergangenheit immer wieder Menschen auserwählt haben. Sie standen ihnen bei, warnten sie vor Gefahren, griffen jedoch niemals direkt ein.«
Ich musste daran denken, dass sie mich unverwandt gemustert hatte.
»Eine intelligente Rasse?«
»Ich weiß nicht mehr, Bereter, glaube mir. Aber vielleicht werden wir bald mehr erfahren? Die Elfe hat dich ganz genau angesehen...«
Also war es ihm auch aufgefallen. »Was will sie von mir, Bron?«
»Dasselbe wie ich, Bereter!«
Ich erschrak über diese Worte. Was wollte er damit sagen? Aber er hatte beschlossen, für die nächste Zeit stumm zu bleiben. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm trotzdem zu folgen. Dabei hasste ich meine Abhängigkeit von ihm. Und vor allem hasste ich es, von ihm immer nur Andeutungen zu hören zu bekommen. Alles andere ließ er zu einem großen Geheimnis werden.
Welchen Sinn sollte das haben?
Die Antwort darauf war mindestens genauso geheimnisvoll!
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6
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Ein einziger Schwerthieb Brons genügte, den Stiel zu kappen. Der Blütenkelch kippte auf die Seite. Bron schaute mich an: »Es gibt vielleicht doch eine Möglichkeit, sich die Schmetterlinge vom Leib zu halten?«
»Die wäre?«
»Der Blütenstempel müsste vielleicht nur unter Wasser abgeschnitten werden, damit dabei seine Düfte nicht frei werden und die Schmetterlinge anlocken können?«
»Und was spräche dann noch dagegen?«
»Gewisse Dinge, die genau in diesem Wasser beheimatet sind!« Er lachte humorlos. Er kappte noch ein Stück vom Stiel, nahm es auf und warf es im hohen Bogen in den breiten Fluss. Kaum hatte das Stück die Wasseroberfläche berührt, als es auch schon in die Tiefe gezogen wurde. Wellenkreise entstanden. Das Stück tauchte nicht wieder auf.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich denke, damit ist die Entscheidung gefallen, für mich jedenfalls: Ich ziehe den Kampf mit den Schmetterlingen vor.«
»Ein erkannter Gegner ist nur noch ein halber Gegner«, sagte Bron und reichte mir sein Schwert. Stumm deutete er auf den Fluss. Zögernd steckte ich die Spitze des Schwertes ins Wasser. Es bewegte sich etwas. Das Schwert vibrierte deutlich. Nur sekundenlang. Dann zog sich das unsichtbare Etwas wieder zurück.
»Kleinstlebewesen, die direkt an und knapp unter der Oberfläche leben«, erläuterte Bron. »Darunter ist das Wasser vollkommen klar. Sie riegeln aber den Zugang hermetisch ab. Wenn du das Wasser berührst, ist es praktisch wie ein einziges Lebewesen. Das Wasser lebt in seiner gesamten Oberfläche. Fast überall auf dem Fluss besonders konzentriert. - Es müsste halt nur gelingen, eine Öffnung hinein zu bekommen. Dann könnte ich hinabtauchen und du müsstest dafür sorgen, dass eine neue Lücke entsteht, durch die ich wieder auftauchen könnte.«
Eine Lücke?, dachte ich und dann hatte ich eine Idee: »Mit ZWEI WEITEREN Bootskörpern vielleicht? Wir wassern sie und schlagen ein breites Loch in den Boden, durch das du schlüpfen kannst!«
Er zeigte sich begeistert. »Es könnte tatsächlich gehen. Durch das Loch im ersten tauche ich hinab und durch das Loch des zweiten tauche ich wieder auf. Und dann brauchen wir noch das dritte Boot, mit dem Blütenstängel nach unten, damit ich ihn unter Wasser entfernen kann. Wenn er einmal weg ist, kann er keine Lockdüfte im Boot mehr freigeben. Die Schmetterlinge werden uns ungeschoren ziehen lassen.«
Soweit die Theorie. Wir wasserten erst den Kelch, den wir später benutzen wollten. Die träge Strömung erfasste ihn sofort und wollte ihn abtreiben.
Ich wunderte mich kurz darüber, dass der ›Bootskörper‹ nicht vom Wasser angegriffen wurde. Aha, deshalb sah Bron dieses Gewächs als besonders geeignet an...
Bevor der Bootskörper zu weit abgetrieben wurde, kappte Bron die nächsten beiden Kelche. Wir mussten uns beeilen. Noch waren keine Schmetterlinge in der Nähe. Das konnte sich rasch ändern.
Sobald die Stiel gekappt waren, gaben die Blütenstempel einen stärkeren Geruch von sich. Würden wir sie auch noch beschädigen, würden die Düfte explosionsartig frei werden. Die Schmetterlinge würden fast unmittelbar danach erscheinen.
Wir wasserten die Kelche, die sogar in der Form Booten ähnelten.
Bron deutete über das Wasser. Die ersten Schmetterlinge hatten Witterung aufgenommen. Aber sie zeigten keine Eile. NOCH nicht!
Bron hackte in den Boden des einen Kelches ein Loch, das groß genug war. Er reichte mir sein Schwert, nahm das Messer zwischen die Zähne und tauchte.
Ich flankte sofort über den Bootsrand in den zweiten Kelch. Um in den Boden ein Loch zu hacken, brauchte ich länger als Bron. Es reichte jedoch, um genau rechtzeitig fertig zu werden: Kaum zog ich das Schwert zurück, als Bron wieder auftauchte. Er deutete wieder über das Wasser. Der dritte Kelch, eben noch mit der Öffnung nach unten auf dem Wasser, begann, sich aufzurichten. Bron hatte es geschafft: Der Blütenstempel fehlte.
Das Boot, in dem wir uns befanden, sank jetzt immer schneller. »Verdammt, das andere ist schon zu weit abgetrieben worden. Das schaffe ich nie!«, schimpfte ich.
»Wer es nicht probiert, kann es niemals genau wissen!«, rief Bron, kletterte auf den Rand des sinkenden Bootes und stieß sich kräftig mit den Beinen ab. Nicht bevor er wieder sein Schwert an sich genommen hatte.
Ich folgte ihm sofort. Ich sprang mit Todesverachtung. Ich flog meterweit durch die Luft. Für Sekundenbruchteile sah es so aus, als sei der Sprung zu kurz, obwohl ich alle Kraft hineingelegt hatte. Wenn ich statt im anderen Boot im Wasser landete, war ich verloren, unrettbar. Auch der Symbiont würde mir nicht helfen können.
Ich prallte gegen den Bootsrand und hätte es doch nicht geschafft, hätte Bron mit seinen übermenschlich starken Armen nicht rechtzeitig zugepackt. Er riss mich in Sicherheit.
Die Schmetterlinge kamen. Denn der Blütenstempel, den Bron entfernt hatte, war aufgetaucht. Sofort machten sich die Kleinstlebewesen an der Wasseroberfläche daran, ihn zu verzehren. Dabei wurden genügend Lockstoffe frei: Die Schmetterlinge wurden so abgelenkt, dass sie auf uns nicht mehr achteten. Mehrere von ihnen stürzten sich in den Tod, ehe vom Blütenstempel nichts mehr da war.
In der Zwischenzeit war genügend Entfernung zwischen uns und ihnen: Eine stärkere Strömung hatte uns erfasst.
»Die Elfen!«, schrie ich auf einmal. Sie waren zu dritt und schwammen im Wasser, als könnte es ihnen nichts anhaben. Sie schwammen näher.
»Bereter!«, zirpte die eine. Ich verstand es deutlich.
»Was - was wollt ihr von mir?«, ächzte ich.
»Dasselbe wie Bron!«, sagte mir das Zirpen. »Die Welt hat viele Zufälle, wie die Menschen glauben, aber wir sagen dazu Bestimmung. Wir sehen deinen Weg, Bereter und wir kennen auch den Weg von Bron. Zweimal gab es Kreuzungspunkte. Der eine liegt weiter zurück, der andere war in den Bergen, als er dir das Leben rettete - ein Leben, für das er da schon verantwortlich war. Kein Geschenk Brons an dich, sondern seine - Pflicht!«
Die zweite Elfe zirpte: »Zieh weiter mit Bron. Du kennst nun das Leben dieser Welt, aber nicht ihre Menschen und den Tod, den sie verbreiten können. Dieser Tod ist anders als der Tod, wie er im Dschungel lauert. Anders auch als der Tod aus der Wüste oder aus den Bergen. Er ist grausamer, denn er ist bewusst gewollt.«
Die dritte Elfe zirpte: »Lerne ihn kennen, diesen Tod und folge weiter deinem Weg. Dieser Weg ist wichtig, nicht nur für dich, sondern für alles, was du siehst, was dir begegnet ist und was dir noch begegnen wird.«
»Wollt ihr mir denn helfen?«, rief ich ihnen hinterher, denn sie wandten sich ab und schwammen davon.
»Wir haben dir bereits geholfen!«, hörte ich es verwehend. »Aber auch das war kein Geschenk an dich, sondern gehört zu unseren Pflichten - dir gegenüber.«
Ich schaute kurz nach Bron. Seine Augen waren geweitet. Er erwiderte meinen Blick. So hatte er mich noch niemals zuvor angesehen. Also hatte er es genauso verstanden wie ich? Dann wusste er gewiss auch genau, wovon die drei Elfen geredet hatten. Für mich jedoch waren das nur weitere Rätsel, mit denen ich nichts anzufangen wusste. Und als ich wieder auf das Wasser schaute, waren die drei spurlos verschwunden.
»Ich - ich habe das noch nie zuvor erlebt«, stotterte Bron.
»Was ist denn auf einmal los mit dir?«
»Dieses Zirpen... Als wollte es meine Knochen zersetzen. Ja, es drang in mich ein, lähmte mich, machte mich schwach und hilflos.«
Ich schüttelte den Kopf. »Es ist nun mal ihre Sprache«, sagte ich leichthin.
»Sprache? Du meinst, du hast es... verstanden?«
Ich erklärte ihm, was sie gesagt hatten. Seine Miene verschloss sich dabei, soweit man das trotz des Symbionten erkennen konnte. Er wich meinem Blick aus. »Was hast du nun schon wieder, Bron?«
»Sie kennen die Wahrheit?« Er schaute wieder auf. In seinen Augen sah ich unverhohlene - Angst!
»Ist das denn schlimm, Bron? Und wieso auch nicht? Meinst du, der einzige sein zu müssen, der einen Durchblick hat? Lässt du mich deshalb immer noch im Dunkeln tappen?«
»Ja, hast du denn nicht begriffen, was sie dir gesagt haben?«
Ich schüttelte nur den Kopf und sah verständnislos, dass er jetzt sogar zitterte.
Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich beruhigt hatte. Wenigstens nach außen hin. Aber auch dann sagte er mir kein Wort der Erklärung.
Wir trieben weiter auf dem Fluss, ohne Einfluss auf die Richtung nehmen zu können. Denn wir hatten nicht einmal Ruder, geschweige denn ein Steuer.
Ich ahnte es: Bald schon würde ich den Fluss den ›Fluss des Todes‹ nennen müssen...
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7
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An der nächsten Flussbiegung trieben wir ans Ufer. Bron und ich luden große, fleischige Blätter ins Boot, die wir zum Paddeln benutzen konnten. Bron hielt sie für geeignet und als wir sie eintauchten, blieben sie tatsächlich ungeschoren.
Die Paddeln brauchten wir allerdings zunächst gar nicht. Das Boot trieb langsam weiter, nachdem wir es vom Ufer weggedrückt hatten. Schweigend starrten wir über das trügerisch stille Wasser.
Da schob sich auf einmal eine schuppige Schnauze ins Freie.
»Und wenn du einem von diesen Tieren bei deiner Tauchaktion begegnet wärst?«, fragte ich Bron erschrocken.
Er winkte ab. »Nein, die halten sich nicht gern dort auf, wo das Wasser über einen gewissen Grad hinaus verseucht ist. Hier ist es nämlich weit wenige gefährlich als weiter flussaufwärts, wo wir die Boote geschlagen haben. Die Mikroorganismen sind ein wenig ungleichmäßig im Wasser verteilt, musst du wissen und an manchen Stellen ist das Wasser fast unverseucht. Aber frage mich bitte nicht, wieso, denn ich weiß es nicht.«
Jetzt, da es keinen Blütenstängel mehr in unserem ›Boot‹ gab, wurden auch keine Schmetterlinge mehr angelockt. Ich war froh, dass es nicht doch noch zu einer Auseinandersetzung mit diesen seltsamen, aber bedrohlich großen Tieren gekommen war.
»Bron?«
Er reagierte nicht.
»Warum antwortest du nicht auf meine Fragen? Warum verschließt du dich so oft vor mir?«
Er tat so, als würde er nichts hören.
»Bron!« Ich blieb diesmal hartnäckig. »Sage mir endlich, wann wir uns schon einmal begegnet sind!«
Er wirkte erschrocken und schaute mich an. Da war ein Flehen in seinem Blick, das ich nicht zu deuten vermochte.
»Niemals, Bereter, hörst du? Ich sage dir, wir sind uns niemals zuvor begegnet, niemals bevor wir uns gemeinsam auf den Weg gemacht haben, um unsere Bestimmung zu finden.«
»Aber was ist eigentlich unsere Bestimmung, Bron? Und wenn wir uns vorher nie begegnet sind, dann soll das wohl heißen, die Elfen haben gelogen oder was?«
»Lass mich in Frieden damit, Bereter. Es ist besser so. Besser für uns beide und sogar unabdingbar für unsere Mission. Sieh, es ist das erste Mal, dass ich dich eindringlich um etwas bitte. Es ist doch eigentlich ganz einfach: Wir wollen niemals mehr darüber reden. Lasse dieses Thema so lange wenigstens ruhen, bis ich selber davon anfange. Ich werde es dann tun, wenn ich den Zeitpunkt dafür als gekommen ansehe.«
Ich schüttelte den Kopf, sagte aber vorerst nichts mehr in dieser Richtung. Dafür lenkte ich auf ein andere Thema: »Wie lange werden wir auf dem Fluss unterwegs sein, Bron?« Ich war ja schon zufrieden, dass ich sein eisernes Schweigen gebrochen hatte, was die Sache mit unserer Bestimmung anging, von der ich nicht die leiseste Ahnung hatte.
Er versuchte, zu lächeln. Es wurde ein verzerrtes Grinsen daraus. Ich sah es trotz seines Symbionten, mit dem er über und über bedeckt war - selbstverständlich auch im Gesicht.
»Wir werden recht lange unterwegs sein. Der Fluss wird bald schneller. Die Nacht wird hereinbrechen. Ein neuer Tag wird vergehen. Frühestens dann werden wir unser nächstes Ziel erreichen. Aber wir müssen vorher schon höllisch aufpassen. In unserem Boot sind wir zwar vor den Ungeheuern des Flusses weitgehend sicher, auch die Drachen lassen uns ziehen, falls wir nicht unmittelbar auf sie stoßen...«
»Aber?«
»Manchmal gibt es Stromschnellen, Bereter. Sie kündigen sich mit einem Rauschen an, aus dem dann rasch ein Donnern wird. Aber dann ist es vielleicht schon zu spät.«
Unwillkürlich lauschte ich.
Bron sah es und musste lachen. »Na, das war nur eine Warnung zur Vorsicht, Bereter. Der Fluss verändert sich ständig. Die Landschaft bleibt nie lange in ihrer Form. Es bilden sich neue Stromschnellen und alte verschwinden. Vielleicht haben wir ja auch genügend Glück und begegnen keiner einzigen?«
Ich sah keinen Grund, seine Zuversicht zu teilen. Glück? Davon hatten wir bisher recht wenig gehabt.
Sicherheitshalber teilten wir unsere Wachen ein. Abwechselnd blieben wir aufmerksam, lauschten über den Fluss, beobachteten, hinter den Bootsrand geduckt, die Ufer und die mächtig wie undurchdringliche, grüne Wände aufragende Kuppel des Dschungels, aus dem die ganze Welt zu bestehen schien. Über unseren Köpfen war diese Kuppel selten geschlossen. Zumeist konnten wir durch einen Spalt den hellen Himmel sehen.
Wenn ich wachfrei hatte, schlief ich entweder oder lag träumend auf dem Rücken, die Beine halb angezogen, weil sonst der Platz für uns beide nicht mehr ausreichte.
Die Fahrt hatte sich inzwischen erheblich beschleunigt. In der Lücke hoch oben blieb der helle Himmel. Er war völlig gleichmäßig ausgeleuchtet und hatte genügend Licht übrig, um es über DIE WELT verschwenderisch auszugießen.
Es hieß, das Licht wären die Götter, die alle Zyklen bestimmten und das Leben erzeugten. Wachten sie auch über DIE WELT?
Mir wurde auf einmal siedendheiß. Die Weisen meines Stammes! Sie nannten sich die WÄCHTER DER WELT. Jeder RÜCKKEHRER reifte zum Weisen und damit zum Wächter. Waren sie am Ende denn die direkten Handlanger der Götter? Handelten wir direkt in ihrem Auftrag? Gab es deshalb all diese Bemühungen, stets im Sinne der Götter zu handeln?
Durften denn nur diejenigen Wächter werden, die jene Welt am eigenen Leib erfahren hatten, über die es zu wachen galt?
Irgendwie für mich ein erregender Gedanke. Doch etwas sprach dagegen: Der Unterschied zwischen Bron und mir zum Beispiel. Und: Wie konnten die Wächter ihr Amt wahrnehmen, wenn sie niemals mehr das Dorf verließen?
Mir schwindelte. Nicht von den hoch oben vorbeiziehenden Baumkronen mit all dem Getier, das auf mich herabschaute, ohne mich erreichen zu können, weil unser Boot viel zu rasch weiter trieb...
»Bron, hilf mir!«, stöhnte ich.
Alarmiert schaute er auf.
»Wie stehst du zu mir, Bron? Was machen die Weisen? Warum gibt es die SUCHER, wo doch so viele außerhalb des Dorfes sterben müssen - auf ihrer unerklärbaren Suche? Bron, wo liegt da ein Sinn?«
Er legte beruhigend seine Hand auf meine Schulter - wie vorher, als es noch nicht diesen Bruch zwischen uns gegeben hatte.
»Wenn keiner es jemals erfahren sollte, Bereter: du jedenfalls wirst es erfahren, denn du zählst zu den Auserwählten unseres Volkes. Nicht nur die Elfen haben das deutlich gemacht.«
»Sie haben gesagt, sie wollten dasselbe von mir wie du!«, erinnerte ich ihn.
Er zog seine Hand zurück und wich meinem Blick aus.
»Die Elfen brauchen dich, weil ALLE dich brauchen, Bereter.« Er zögerte ein wenig. Dann sagte er: »Ich spürte, als ich dich zum ersten Mal sah, dass mein Weg als Einzelgänger beendet war und dass ich nur noch gemeinsam mit dir meine Suche fortsetzen darf. Denn nur gemeinsam können wir unseren Kampf gewinnen. Und dann musste ich sogar erfahren, dass du...«
Er weinte. Das wusste ich, obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte.
»Von welchem Kampf sprichst du, Bron!«, hakte ich nach.
Er fasste sich wieder und zum ersten Mal sprach er darüber: »Wir treiben mit unserem Boot geradewegs zum Land der Kalaien. Seit sie keinen Herrscher mehr haben, herrscht bei ihnen das Chaos. Sie sind sich untereinander nur einig, wenn es um das gegenseitige Abschlachten geht.«
»Es gibt keinen Herrscher?«
»Vielleicht hat es nie einen gegeben und das Volk der Kalaien besteht nur aus Ausgestoßenen, zusammengewürfelt aus vielen Rassen und Völkern anderer Länder, hierher versprengt und Träger des Bösen?«
»Sie haben dich damals so schwer verletzt, Bron, nicht wahr? Du konntest dich nur noch in den Dschungel vor ihnen retten?«
»So ist es, Bereter.«
»Warum hast du mir von Kalaia nicht schon vorher erzählt?«
Er wandte sich mir zu.
»Vorher? Wann denn vorher? Es gab immer wichtigere Probleme und es genügten nun wenige Sätze, um dich aufzuklären, Bereter.«
»Ich bin längst nicht aufgeklärt, Bron«, widersprach ich heftig. »Zum Beispiel weiß ich nicht einmal, wieso du unbedingt hierher zurück willst. Eine Aufgabe? Welche Aufgabe - und für wen?«
»Für mich, Bereter«, antwortete er ruhig. Und dann ließ er es endlich heraus: »Ich habe die Aufgabe, Herrscher von Kalaia zu werden!«
Ich war zunächst einmal sprachlos. Als ich endlich wieder fähig war, etwas zu sagen: »Und du glaubst wirklich, nur mit mir zusammen könntest du das schaffen?«
»Du bist ohne mich verloren, Bereter. Und genauso brauche ich dich. Wir sind aufeinander angewiesen. Sonst hätte uns das Schicksal nicht im entscheidenden Moment zusammengeführt. Und auch Kalaia würde für immer dieses Geschwür bleiben!«
Ich schüttelte nur ungläubig den Kopf.
Er fügte hinzu: »Du bist der Auserwählte, Bereter und diese Aufgabe in Kalaia gehört dazu, glaube mir. Dabei wünschte ich, du wärst nicht auch noch mein...« Er brach ab und biss sich auf die Unterlippe, als befürchtete er, schon viel zuviel verraten zu haben.
Was meinte er eigentlich? Was war es, was er vor mir verheimlichte und was ihn dennoch irgendwie arg beschäftigte?
Ich verstand es nicht. Aber ich fragte jetzt auch nicht mehr weiter. Ich wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte.
Er wollte oder musste also Herrscher von Kalaia werden? Wer hatte ihm diese Aufgabe denn eigentlich gestellt? Er sich selber oder wie?
Ich schüttelte abermals den Kopf, schwieg aber genauso eisern wie mein Begleiter.
Nur einmal murmelte ich vor mich hin: »Die Elfen wollten mir helfen, aber ich habe nur das verstanden, was sie sagten und leider nicht das, was sie meinten!«
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8
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Wir kamen dreimal an gefährliche Stromschnellen und mussten den Fluss verlassen. Sonst gab es keinerlei Zwischenfälle.
Eine Nacht verging, dann ein ganzer Tag - und wieder eine Nacht... Kalaia war längst noch nicht in Sicht. Anders als von Bron angekündigt.
Ich sprach ihn darauf an.
»Was bedeutet eigentlich Kalaia?«, stellte er mir eine Gegenfrage.
»Woher soll ich denn das wissen?«, sagte ich barsch. Ich hasste es, wenn jemand eine Frage mit einer Gegenfrage beantwortete.
»Das bedeutet für mich, Bereter, dass es dir die Weisen absichtlich nicht mit auf den Weg gegeben haben. Sie haben wohl gehofft, dass du Kalaia erreichst, wollten es dir aber nicht erklären, um dich nicht abzuschrecken...«
»Und was heißt es nun?«, fragte ich ungeduldig.
»Es bedeutet... HÖLLE! Bereter, begreife, dass es die HÖLLE von dieser Welt ist. Alle Gedanken bleiben erhalten. Jeder Tod führt zum Leben und jedes Leben führt zum Tode. Kalaia, die Hölle. Hier gibt es kein echtes Leben, sondern nur Leiden. Hier gibt es keinen Tod, sondern nur Erlösung.«
So geheimnisvoll hatte ich ihn noch nie reden hören.
»Und wir beide sollen es schaffen, über diese... HÖLLE zu triumphieren - nur zu zweit?«, zweifelte ich.
Er schüttelte über meine Zweifel den Kopf.
»Die herrschenden Kräfte erkennen den Gerechten und helfen ihm.«
Er packte meine beiden Schultern und drückte sie fest.
»Begreife, Bereter, die Elfen haben die Wahrheit bereits angedeutet...«
»Wer hat dir eine solche Aufgabe gegeben?«, unterbrach ich ihn. »Wer verlangt von dir, Herrscher der... HÖLLE zu werden?«
»Derselbe, der dich zum Auserwählten gemacht hat!«
»Etwa ein... GOTT?«
»Ein Gott?«, echote er. Und dann lachte er brüllend über den Fluss hinweg. »Bereter fragt nach einem... GOTT!«, schrie er.
Schließlich beruhigte er sich wieder und sagte zu mir: »Du sollst erfahren, was mich so sehr mitgenommen hat und mich noch immer nicht aus den Klauen lässt. Die Elfen haben es gesagt, damit wir es untereinander bereinigen, ehe wir Kalaia betreten. Wenn wir das nicht tun, können wir Kalaia niemals erreichen.«
Er wandte sich mir voll zu und wich nicht mehr meinem forschenden Blick aus. »Du bist nicht nur Bereter, der Auserwählte, sondern du bist... der Sohn von Bron!«
»Dein - SOHN?« Das sollte ich glauben?
Er nickte und senkte den Blick.
Ich dachte: Als sich unser beider Wege zum ersten Mal kreuzten... Das war nichts weiter gewesen als der Zeugungsakt. Kein Wunder, dass ich mich daran nicht erinnern konnte. Welche Ironie...
Ja, es stimmte: Ich lernte meinen Vater niemals kennen. Auch sagte mir niemals jemand etwas über meinen Vater. Aber das war in unserem Stamm nicht ungewöhnlich. Kinder wurden gezeugt und geboren. Für die Erziehung waren Frauen und Männer zuständig, die wie Väter und Mütter waren. Niemand dachte sich etwas dabei, wenn die Kinder ihre wahren Eltern nicht kannten und die wahren Eltern ihre Kinder in der gesamten Kinderschar nicht unterscheiden konnten.
Aber jetzt drängte sich mir noch ein ganz anderer Gedanke auf: Falls Bron wirklich mein... Vater war... Die Sitten waren auch so, dass ausschließlich ein RÜCKKEHRER zeugen durfte!
»Ich bin die Ausnahme, Sohn!«, sagte Bron, als könnte er meine Gedanken lesen. »Ich war kaum zum Mann gereift, als man einmalig das Gesetz änderte: Ich kopulierte mit allen Frauen des Stammes und zeugte Nachwuchs. Das taten die Weisen, weil sie mich als etwas Besonderes ansahen. Damit meine Erbanlagen nicht verloren gingen. Selbst die so genannten unwürdigen Frauen, die niemals das Dorf verließen, wurden von mir begattet.
Und die Weisen lehrten mich, was nur ein Rückkehrer wissen konnte. Sie wollten nicht, dass ich ein Sucher wurde. Sie änderten das Gesetz nur meinetwegen, aber ich selbst sah es als einen Bruch des Gesetzes an. Und deshalb ging ich einfach auf und davon. Ich wurde ein Sucher nach eigenem Willen, ganz ohne den Rat des Orakels - und mit einem Wissen, als wäre ich bereits ein Rückkehrer.
Ich war lange unterwegs und weitete dabei meinen Horizont. Du darfst daran teilhaben. Ich bin mehr als nur ein Sucher und Rückkehrer zugleich, denn ich bin in den Jahren zu einem Weisen gereift. Dabei bin ich nicht unabhängig geworden, weil ich meine wahre Bestimmung gefunden habe. Meine Bestimmung heißt Kalaia. Nur ein Mensch wie ich kann dort Herrscher werden, ein Weiser, der gleichzeitig ein Kämpfer ist und nicht an den Stamm gebunden wurde, in den ich niemals wieder zurückkehren werde, weil Kalaia mich für immer braucht.«
»Und wenn wir scheitern?«
»Die Alternative heißt TOD! Das darfst du niemals vergessen, Bereter, Sohn von Bron.«
Ich war einer von vielen Söhnen, das war klar. Aber ich war auch so erzogen worden, dass es mein Verhältnis zu Bron kaum änderte. Bei uns, im Stamm, zählten die Erzieher eher mehr als die leiblichen Eltern. Weil sich eben nur die Erzieher um die Kinder kümmerten.
Ich reichte ihm dennoch die Hand und drückte sie fest. Es war, als würden wir jetzt erst Freundschaft schließen, mit dieser Geste. Dabei war nur eines geschehen: Endlich akzeptierten wir unsere Rollen, die wir zu spielen gezwungen waren, von wem auch immer aufgebürdet: Vater und Sohn, gemeinsam!
Bron deutete nach vorn: »Kalaia!«, sagte er.
Dort war der Dschungel zu Ende und der Fluss ergoss sich in einen riesigen See.
»Der Kalaia-See, ein Höllensee, weil die Ungeheuer des Dschungels ihn bewohnen. Wer in ihm zu baden wagt, überlebt es nicht. Das Wasser ist dennoch begehrt. Man entseucht es, so gut es geht und benutzt es.«
Jenseits des Sees befand sich eine Dunstmauer, die jegliche Sicht auf das Land verbarg.
»Der Dunst verbirgt gnädig, was die Menschen eine Stadt nennen«, murmelte Bron. »Ich kehre zu dir dennoch zurück, Kalaia. Die erste Schlacht habe ich verloren, aber sie war nicht das Ende des Krieges, der nun fortgeführt wird. Diesmal werde ich siegen, damit mein Sohn ein Rückkehrer sein kann. Er ist der Auserwählte und wird schaffen, was keiner vor ihm jemals geschafft hat - ein Rückkehrer zu sein der ganz besonderen Art. Denn nur jetzt gibt es Bron und gibt es Bereter, nicht früher und nicht später. Die Welt hat keine andere Chance je gehabt und wird auch niemals mehr eine andere bekommen!«
Er sprach es aus wie ein Gebet.
Dann nahm er entschlossen ein Paddel und tauchte es ins Wasser. »Wir müssen uns am Dschungelrand halten, um nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen.« Nach einer Weile fügte er noch hinzu: »Falls es nicht sowieso längst zu spät ist und man bereits auf uns lauert...«
*
Wir paddelten, um das Boot näher ans Seeufer zu bringen. Der Nebel schien das ganze Land Kalaia zu bedecken. Er breitete sich aus, als wollte er nach uns greifen. Wir hatten Mühe, Sicht zum Seeufer zu halten.
»Nicht mehr weit!«, sagte Bron auf einmal grimmig. Stunden waren vergangen, seit dem Erreichen des Sees, Stunden, in denen ich meinen schwermütigen Gedanken nachgehangen hatte.
Ich sah jetzt im Dunst weit vor mir einen roten, waagerecht verlaufenden Streifen, der aussah wie Blut.
Was war das?
Ich dachte: Der Dschungel mit seinen Gesetzen vom Fressen oder gefressen werden ist grausam, aber so ist nun einmal die unverfälschte Natur. Aber die Grausamkeit der Menschen ist anders geartet. Der Dschungel kennt keinen Unterschied wie Gut und Böse, Gnade und Ungnade, aber... der Mensch! So kann er allein bestimmen, auf welcher Seite er stehen will.
War der Streifen vielleicht tatsächlich - Blut?
Er kam langsam näher. Ja, er war in Wirklichkeit gar nicht so weit entfernt wie ich ursprünglich angenommen hatte. Der Dunst verfälschte die Entfernung.
»Es ist das Ufer!«, erläuterte Bron. »Wir sind genau richtig.«
Ich sah es selbst: Was ich für Blut gehalten hatte, war rotes Gestein, das hier das Ufer bildete.
Wir landeten an. Die Felsen ragten über uns. Wir konnten nicht sehen, was sich oben oder gar dahinter befand.
Bron stand leicht gebeugt da, die Augen halb geschlossen, angestrengt lauschend. Ich wagte es nicht, ihn zu stören, sondern lauschte ebenfalls.
Da war nur das leise Plätschern der Wellen, wie sie gegen den Felsen spülten. Mehr konnte ich nicht hören. Aber es hatte sich oft genug gezeigt, dass Brons Sinne wesentlich schärfer waren.
Ich schaute empor. Hier mussten wir wohl hinaufklettern? In das rote Gestein eingeschlossen waren blitzende Kristalle. Manche ragten wie Messerspitzen hervor, genauso gefährlich auch. Auf einmal wirkte das Gestein wie ein Wehr gegen die gefährlichen Bewohner des Sees.
Brons Haltung entspannte sich wieder. Er flankte über den Bootsrand und kam leichtfüßig auf der vorgeschobenen Uferplatte auf. Seine Füße wurden vom glasklaren Wasser umspült. Hier zeigten sich keine gefräßigen Kleinstlebewesen. Auch ich übersprang deshalb den Bootsrand und landete neben Bron.
Ja, wir mussten hinaufklettern. Es gab keine Alternative.
Bron zog sein Schwert und stocherte damit an dem Gestein herum. Es war stabil genug.
Es waren nur wenige Meter Höhenunterschied zu überwinden, aber wir brauchten dafür unverhältnismäßig lange, während unser Boot unaufhaltsam abgetrieben wurde. Damit war unser Rückweg abgeschnitten. Wir hätten keine Chance mehr gehabt, es einzuholen. Schwimmend hätten wir es auch nicht erreichen können: Wir hätten nicht einmal die ersten Meter schwimmend überlebt, auch wenn das Wasser von hier oben eher friedlich wirkte.
Bron erreichte als erster das Ziel und streckte mir hilfreich die Hand entgegen. Ich ergriff sie und ließ mich das restliche Stück hinaufziehen.
Vor uns war karges Land, felsig und ohne jeglichen Bewuchs.
»Kein Empfang?«, murmelte ich humorlos.
»Wir sehen ihn nicht!«, gab Bron zur Antwort. »Das soll aber nicht bedeuten, dass es niemanden gibt!«
Er tätschelte seinen Schwertgriff.
»Wohin willst du hier eigentlich?«, erkundigte ich mich.
»Auf direktem Weg in die Stadt, Bereter. Wenn ich dieses Land einmal regieren sollte, dann nur von der Stadt aus, denn sie ist das Zentrum.«
»Wo liegt diese Stadt?«
»Auf der anderen Seite des Sees, Bereter. Wenn wir vom Dschungel kommend geradeaus über den See gefahren wären, hätten wir sie inzwischen erreicht. Aber es hätte uns das Leben gekostet. Es bleibt uns nur der beschwerliche Landweg.«
»Von was leben die Menschen von Kalaia eigentlich?«
»In erster Linie vom Bösen, genauso wie die Elfen umgekehrt vom Guten leben.«
Eine eher orakelhafte Antwort, mit der ich nicht viel anzufangen wusste.
Bron setzte sich in Marsch. Ich schaute mich sorgfältig um und folgte ihm dann mit einem Schritt Abstand.
Das Plätschern des Sees blieb hinter uns. Wir entfernten uns schnurgerade vom Ufer. Bron schlich lautlos dahin.
Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen und hob seinen Kopf. Er schnupperte.
»Menschen!«, murmelte er. Konnte es tatsächlich sein, dass er sie... riechen konnte?
Ich schnupperte ebenfalls, konnte aber keine Veränderung feststellen.
Er lachte belustigt. »Ein Lager!«, belehrte er mich. »Ich rieche das Essen, das von ihnen zubereitet wird.«
»Du kennst dich hier aus?«
»Ich kam diesen Weg auf meiner Flucht entlang. Am Ende konnte ich mich gerade noch in den Dschungel retten.«
Als ich noch etwas sagen wollte, legte er warnend den Zeigefinger an den Mund. Kurz schaute er sich um. Dann deutete er nach links. Ich sah Felsbrocken, die hier herumlagen, als hätte damit ein Riese gespielt. Sie bildeten genügend Deckung.
Wir schlichen hinüber und duckten uns dazwischen. Jetzt konnte ich es auch endlich riechen: Rauch und der Duft von gebratenem Fleisch.
Wir schlichen weiter. Ich schaute mich immer wieder um und da krallte sich meine Hand in das Grün von Brons Symbiont.
Er blieb stehen und wandte den Kopf.
Bis er es ebenfalls erblickte: Hinter uns stand eine der Elfen. Diese Wesen mit den menschenähnlichen Gesichtern wirkten auf mich keineswegs mehr unheimlich, aber warum stand die Elfe ausgerechnet hier herum? Was wollte sie?
Sie schaute mich unverwandt an. Dann nickte sie mir wie zustimmend zu - und verschwand: Sie löste sich praktisch von einer Sekunde zur anderen in Luft auf.
Bron knurrte wie ein gereiztes Raubtier und packte den Schwertgriff fester, ohne jedoch das Schwert zu ziehen.
Wir gelangten zum Rand eines flachen Talkessels. Im Zentrum befand sich das Feuer. Es war sorgfältig abgeschirmt und produzierte nur wenig Rauch.
Im Talkessel war der Dunst weniger dicht. Er bildete eine helle Glocke darüber, wie der Deckel eines Topfes.
Ich hatte seit viel zu langer Zeit nichts mehr gegessen und spürte jetzt den nagenden Hunger. Fasziniert schaute ich dem bärtigen Mann zu, der einen Spieß über dem Feuer drehte. Sie hatten ein großes Tier erlegt, mit acht Beinen, die sorgfältig beschnitten waren. Der Braten hatte keinen Kopf mehr. Auch waren die Innereien ausgenommen.
Ich hatte keine Ahnung, um was für ein Tier es sich handelte, aber der Hunger war stärker als etwaige Vorbehalte.
Im Talkessel waren nur fünf Menschen: Außer dem einen, der gleichmütig den Spieß drehte, noch vier Frauen.
Ein Mann und vier Frauen? Das weckte automatisch mein Misstrauen. Vielleicht befanden sich noch mehr Männer außer Sichtweite?
Bron gab mir das Zeichen, zurückzubleiben. Dann zog er sein Schwert und sprang in den Talkessel hinunter.
Bis zu der Gruppe waren es fast hundert Meter. Bron überbrückte die Entfernung mit einigen riesigen Sprüngen und in wenigen Sekunden.
Sofort zischten ein paar Pfeile hinter ihm her, die ihn aber verfehlten.
Die Pfeile wurden zwischen den Felsbrocken abgeschossen, die sich rings um den flachen Talkessel gruppierten. Im Talkessel selbst gab es kaum noch Felsen. Es gab sogar kargen Bewuchs, der aber kaum kniehoch reichte.
Kein Wunder, dass die Frauen im Zentrum geblieben waren. Sie und der Braten waren der Lockvogel. Ringsum hatten sie indessen Wachen aufgestellt.
Eine Falle für uns?
Hatten uns diese Menschen denn beim Anlanden schon bemerkt? Aber warum hatten sie nicht vorher angegriffen?
Ich zog mich noch ein Stück zurück und hielt in jeder Hand ein Messer, bereit, mein Leben zu verteidigen.
Aber ich wurde nicht angegriffen. Alle Aufmerksamkeit widmeten sie Bron.
Er bedrohte die Gruppe im Talkessel nicht mit dem Schwert. Das war auch nicht notwendig. Er brauchte nur da zu sein. Die Frauen duckten sich angesichts seiner mächtigen, über und über grünen Gestalt ängstlich nieder. Er musste ihnen wie ein Monster erscheinen. Der Mann drehte weiterhin den Spieß, als ginge ihn das alles überhaupt nichts an.
Ich sah, dass Bron ihm etwas zurief. Der Mann reagierte nicht. Er hielt den Blick auf den Braten gerichtet.
Ein paar abgerissen wirkende Gestalten lösten sich zwischen den Felsbrocken und stiegen eilig in den Talkessel hinab. Sie kamen von allen Seiten. Es waren nicht nur Männer, sondern auch sehr kriegerisch aussehende Frauen. Ich zählte insgesamt einundzwanzig Menschen, einschließlich der Gruppe in der Talmitte.
Die Wächter trugen Pfeil und Bogen und an den Hüften kurze Schwerter oder Krummsäbel. Sie waren allesamt in Gewänder gewickelt, mit Schärpen an den Hüften, mit denen dort die Waffen befestigt wurden. Nur die Köcher mit den Pfeilen hatten sie sich um die Schultern gehängt.
Die Schützen hatten wieder Pfeile auf die Bögen gelegt und die Sehnen leicht gespannt. Sie näherten sich drohend.
Bron hob sein Schwert mit der Rechten und ballte die Linke zur Faust.
Die Wächter verhielten im Schritt.
Ich beobachtete die Felsen. Gab es noch mehr Menschen, die zu dieser Gruppe gehörten, oder waren das schon alle?
Ein regelrechter Stamm, aber ich vermisste Kinder und Heranwachsende. Es gab auch keine Alten.
War es nicht vielmehr ein Trupp von Kriegern? Eine Art Vorhut, die hier die Umgebung des Sees bewachen sollte?
Die Sache erschien mir eigenartig.
Was war mit der Elfe gewesen? Warum hatte sie mir zugenickt? Das war doch etwas Bestätigendes gewesen, nicht wahr? Sie hatte mich in keiner Weise vor einer bestehenden Gefahr gewarnt.
Der Mann am Spieß unterbrach seine Arbeit. Das heißt, er nahm die Hand weg, aber der Spieß drehte sich weiter, als wäre da noch ein Unsichtbarer, der ihn bediente.
Der Mann stand auf. Er wirkte niedergebeugt, hatte einen krummen Rücken.
Also doch ein Alter! Auf diese Entfernung hatte ich es zunächst gar nicht bemerkt.
Er deutete mit beiden Händen auf Bron, der mit dem Rücken zu ihm stand.
Natürlich, Bron hörte den sich drehenden Spieß und konnte sich nicht vorstellen, dass der Alte ihn von hinten überraschend angreifen könnte.
Die Wächter warteten ab, während der Alte auf Bron zu schlich, die Arme vorgestreckt.
Ich traute meinen Augen nicht: Der Alte berührte mit den Füßen gar nicht den Boden! Er schlich nicht, sondern er... schwebte!
Bis er Bron erreicht hatte.
Seine Hände drangen in den Körper von Bron ein. Der Hüne zuckte dabei zusammen, wie unter einem Peitschenhieb und konnte sich nicht mehr rühren. Die Hände des Alten tasteten umher und umklammerten schließlich Brons Wirbelsäule, um den Hünen nach vorn zu beugen.
Bron ließ sein Schwert fallen.
Die Frauen kreischten und liefen herbei, um das Schwert zu erbeuten.
Und ich konnte auf die Entfernung nichts dagegen tun!
Aber da wirbelte Bron herum. Er schleuderte den Alten davon. Der flog mehrere Meter weit frei durch die Luft und landete recht unsanft am Boden.
Der Spieß hörte auf, sich zu drehen.
Die Wächter schrieen wild durcheinander. Aber sie wagten es nicht, zu schießen, um ihre Frauen nicht zu gefährden.
Bron trieb die Frauen mit den blanken Fäusten zurück und hob dann wieder sein Schwert auf. Damit ging er zu dem Alten hinüber, der verkrümmt am Boden lag und sich nicht mehr rührte. Bron stieß ihn mit der Fußspitze an.
»Er hat sich das Genick gebrochen!«, brüllte er laut. »Damit ist der Stamm ohne VADO. Ihr habt niemanden mehr, der die KRÄFTE für den Stamm vereint, der den Stamm warnt und schützt. Ihr seid Verlorene!«
Jetzt hoben die Wächter ihre Bögen und zielten damit auf Bron. Ich sah ihre Verzweiflung nach den Worten von Bron.
Bron steckte das Schwert weg und hob beide Arme.
»Ihr seht mich als grünes Monster, das aus dem Dschungel und über den See kam. Ihr hattet Angst vor uns, sonst hättet ihr sofort angegriffen. Ihr wolltet auf Nummer Sicher gehen und habt diese Falle für uns vorbereitet. Es ging schief, wir ihr seht. Euer VADO hat sich übernommen. Er hat mich unterschätzt.«
Sie spannten die Bögen. Bald würden die ersten Pfeile von den Sehnen schnellen, um Bron zu durchbohren.
Ich schaute umher. Niemand achtete auf mich, obwohl sie doch genau wissen mussten, dass wir zu zweit gekommen waren. Außerdem hatte Bron es soeben noch einmal angesprochen.
Sie hörten nicht auf ihn. Sie würden schießen. Gegen diese Übermacht würde er unterliegen.
»Bron!«, brüllte ich und verließ meine Deckung.
Kaum hatte ich drei Schritte getan, als sich ein halbes Dutzend Männer auf mich warf. Sie hatten ganz genau gewusst, wo ich mich befand und nur noch auf eine günstige Gelegenheit gewartet, ihre eigene Deckung zu verlassen.
Die Übermacht zwang mich zu Boden.
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9
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»Sieh, wir haben deinen Kumpan!«, brüllte einer Bron zu.
Bron unten stemmte die Arme in die Seite und lachte abfällig.
»So, glaubt ihr?«
Ich konnte kaum noch atmen. Sie hatten offenbar Übung darin, jemanden niederzuhalten. Keinen Finger mehr konnte ich rühren.
Bron deutete zu mir herüber. Ich sah es aus den Augenwinkeln.
»Dies ist euer neuer VADO! Ich rate euch, ihn schleunigst wieder loszulassen, ehe ihr seinen Zorn beschwört.«
Tatsächlich, die Burschen ließen sich von Bron verunsichern.
Was war ein VADO? Welche Bedeutung hatte er?
Ich hatte den Alten gesehen, wie er sich Bron genähert, wie er Bron angegriffen hatte. Eine Szene wie aus einem Alptraum, gespenstisch, unwirklich. Welche Kräfte hatten da gewirkt?
Sie hatten ihm gegen Bron letztlich nichts genutzt. Sonst hätte er die Begegnung überlebt.
Und jetzt die neue Hoffnung in den Gesichtern der Männer, ich sei ihr... neuer VADO!
Wir beide, Bron und ich, sahen schon recht wunderlich aus mit unseren grünen Symbionten. Wahrlich wie zwei Monster aus dem tödlichen See und dem noch tödlicheren Dschungel, der den Menschen hier höllischer noch vorkommen musste als ihr verfluchtes Land.
Bron sprach weiter: »Ohne die Hilfe eines VADO seid ihr ausgeliefert, Männer und Frauen. Ein VADO gar als tödlicher Feind...? Ich möchte wahrlich nicht in eurer Haut stecken!«
Sie rangen mit sich, hatten sich längst nicht für mich entschieden. Ich befürchtete vielmehr, dass ihr Votum klar gegen mich ausfallen könnte. Sie würden mich auf der Stelle töten, um sicher zu gehen, dass ich ihnen nichts antun konnte.
»Spürt ihr denn nicht, wie mein VADO die KRÄFTE sammelt? Eine furchtbare Katastrophe bahnt sich an, die euch betrifft!«
Bron ließ seine Stimme vibrieren, als hätte er selber Angst.
»Er ist der VADO - und ich bin der unbesiegbare Krieger. Wir kamen in friedlicher Absicht zu eurem Lager. Euer VADO hat uns falsch eingeschätzt. Ein Irrtum, den er mit dem Leben bezahlen musste.«
Er zog wieder sein Schwert und schmetterte es gegen den Felsen, dass die Funken sprühten.
»Verdammt noch einmal, jetzt werde ich aber ungeduldig. Ich hacke euch in Stücke und verzehre euch einzeln.«
Einer machte sich zum Wortführer: »Wer seid ihr überhaupt? Ihr redet wie Menschen und bewegt euch so, aber ihr seht nicht so aus.«
»Dies ist Bereter und ich bin Bron. Einst war ich ein Mensch wie ihr und lebte in Kalaia. Man hat mir übel mitgespielt, weil ich ein Einzelgänger war. Ich flüchtete in den Dschungel, verbündete mich mit den Geistern der grünen Welt und wurde selber zu einem Grünen, zu einem Teil der Wildnis.«
»Tötet ihn!«, zischte jemand nahe bei mir.
Ich wollte mich unter Aufbietung aller Kräfte befreien, aber sie hielten mich eisern fest. Da war nichts zu machen. Ich hatte keinerlei Chance.
»Ja, wir töten den hier!«, pflichtete ein anderer zu.
Schon bohrte sich die Spitze eines Schwertes in mein Fleisch, suchte seinen Weg tiefer in meine Brust, dort, wo mein Herz wie rasend schlug.
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10
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Und da geschah das Wunder: Sie ließen erschrocken von mir ab!
Ich lag am Boden und wusste zunächst nicht, wie mir geschah. Langsam richtete ich mich auf.
Dort, wo sich das Schwert in mein Fleisch gebohrt hatte, schmerzte es höllisch.
Da sah ich die Elfe. Es war dieselbe, die ich zwischen den Felsen gesehen hatte. Ich war auf einmal überzeugt davon, in der Elfe einen persönlichen Beschützer zu haben.
Sie schwebte auf mich zu. Ich stand unterdessen ganz auf.
Sie erreichte mich.
Es gab keine Berührung, als wäre die Elfe nur ein Trugbild. Sie drang in mich ein und war verschwunden.
Neue Kraft erfüllte mich. Ich spürte keinen Schmerz mehr, keinen Hunger, auch keine Erschöpfung von der überlangen, anstrengenden Reise. Ich nahm meine beiden Messer auf, die zu Boden gefallen waren und steckte sie weg.
Die Männer und Frauen des Stammes hielten respektvoll Abstand. Kannten sie die Elfen?
Ein paar verloren die Nerven und schossen Pfeile ab, aber nicht gegen mich, sondern gegen Bron.
Der Pfeilhagel war gut gezielt. Jeder einzelne Pfeil hätte genügt, Bron zu töten.
Mit einer wütenden Gebärde hieb er die Pfeile mit dem Schwert aus der Luft, als sei das eine Kleinigkeit für ihn. Er wog anschließend sein Schwert wie prüfend in den Händen und knirschte deutlich hörbar mit den Zähnen.
Jetzt hatten sie panische Angst vor ihm. Die Tatsache, dass er in Notwehr ihren VADO getötet hatte, schien vergessen zu sein.
Ehe die Leute sich zur Flucht wandten, schaute ich eine der Frauen an, die in der Nähe standen und winkte sie näher.
Sie schaute sich erst nach allen Seiten hilfesuchend um, ehe sie es wagte.
Ich winkte ihr noch einmal, diesmal gebieterisch.
Als sie mich erreichte, zog ich ein Messer und setzte es an ihre Kehle.
»Ich, Bereter, Herr über Leben und Tod! Ich, Bereter, schenke Leben und nehme es, wenn ich es für richtig halte. Ich, Bereter, habe nur einen Freund und der heißt Bron. Und ich, Bereter, habe nur eine einzige Verpflichtung: Rache zu üben an jenen, die mir übel gesonnen sind!«
Die Männer und Frauen ringsum fielen auf die Knie und beugten ihre Rücken, bis sie mit der Stirn den Boden berührten.
Ich war ab sofort ihr Führer. Sie würden mir bis in den Tod folgen.
Der einzige, der aufrecht stehen blieb, war Bron.
»Steht wieder auf!«, befahl ich. »Ladet uns ein zum Festmahl. Lasst dies das Mahl der Versöhnung sein.«
Irgendwie kam ich mir bei all den theatralischen Gebärden recht lächerlich vor, aber die Männer und Frauen erwarteten offenbar nichts anderes von mir. Für sie war das sehr ernst.
Ich nahm das Messer von der Kehle der Frau.
Sie wagten, zu mir aufzublicken. Und dann brachen sie in wilden Jubel aus. Sie hüpften johlend umher.
Zwischen den Felsen sah ich die Elfe. Sie schüttelte den Kopf.
Ich deutete das Zeichen richtig und befahl mit donnernder Stimme: »Haltet ein, ihr Narren! Wollt ihr andere auf uns aufmerksam machen? Wir sind nicht allein in Kalaia. Es gibt genügend Todfeinde, wie ihr selber wisst.«
Die Elfe war wieder verschwunden. Also hatte ich richtig gehandelt.
Bron winkte mir zu. Er schielte nach dem Spießbraten und leckte sich über die Lippen. Offenbar lief ihm schon das Wasser im Mund zusammen.
Drei der Männer schleppten den Leichnam des Alten weg.
So schnell geht das!, dachte ich bestürzt: Der König ist tot - es lebe der König! Soeben war er noch der unumschränkte Herrscher über den Stamm gewesen - und jetzt ist er bereits vergessen.
Von der anderen Seite des Talkessels löste sich eine Menschengruppe, die ich noch gar nicht bemerkt hatte: Frauen mit einer Horde von Kindern im verschiedenen Alter, die sich dort versteckt hatten.
Respektvoll kamen sie näher. Ich ging ihnen entgegen. Am Lagerfeuer trafen wir uns alle. Die Kinder duckten sich ängstlich zwischen die Falten der Frauengewänder.
Offenbar waren diese wenigen Frauen zuständig für die Kinder des ganzen Stammes? Dann war es so ähnlich wie in meinem Stamm!
Ich breitete die Arme aus und machte das Segnungszeichen.
Bron nickte mir anerkennend zu. Später raunte er mir ins Ohr: »Alle Achtung, du lernst schnell, Söhnchen!«
»Vielleicht habe ich das ja gerade von dir geerbt?«, gab ich missmutig zurück.
Mir gefiel die Rolle des VADO nicht, zumal ich keine Ahnung hatte, wie ich das auf Dauer schaffen sollte.
Denn magische Fähigkeiten besaß ich nun mal keine. Niemand wusste das besser als ich...
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Ende