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Prolog 1
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Irgendwann in fernster Zukunft: Viele tausend Welten sind von Menschen besiedelt. Überlichtschnelle Flüge sind verboten, weil es sich erwiesen hat, dass diese auf Dauer das energetische Gleichgewicht des Universums und somit das Raum-Zeit-Gefüge stören, was in manchen Bereichen des Universums in der Vergangenheit zu schrecklichen Katastrophen führte.
Die von Menschen besiedelten Welten haben keinen direkten Kontakt miteinander, da es keine überlichtschnellen Kommunikationsmöglichkeiten gibt. Dennoch entstand im Verlauf der Jahrtausende ein funktionierendes Handelssystem: Riesige Container-Schiffe sind im Unterlichtflug unterwegs zu ihren Zielwelten, mit mannigfaltigen Waren bestückt. Sie sind teilweise Jahrtausende unterwegs, um ihr Ziel zu erreichen, aber da der Strom der Handelscontainer niemals abreißt, werden die Planeten untereinander reibungslos versorgt.
Die Erde beispielsweise ist eine gigantische ›Zuchtanstalt für Menschenmaterial‹ - dem wichtigsten ›Exportartikel‹ für die Erde. Die Betreffenden werden in Tiefschlaf versetzt, bevor sie auf den Weg gehen. Ein übriges tut die Zeitdilatation, so dass sie unbeschadet den langen Flug überstehen.
Dieses komplizierte Handelssystem ist natürlich hochempfindlich - und muss überwacht werden. Dafür zuständig ist der Sternenvogt - der HERR DER WELTEN! Nur ein Sternenvogt besitzt das Monopol des Überlichtfluges, um seiner Aufgabe auch gerecht werden zu können. Aber dieser verhältnismäßig minimale Einsatz des Überlichtfluges hat keine negativen Auswirkungen auf die universale Ordnung.
Es gibt mehr als nur einen Sternenvogt, doch das Universum ist groß genug für alle - und so begegnen sie sich untereinander nur, wenn es unbedingt nötig erscheint...
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Prolog 2
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John Willard, geboren auf einer unmenschlichen Erde, wird unter dramatischen Umständen der ›Diener des Sternenvogts‹, denn dieser geht selten persönlich in einen notwendig werdenden Einsatz, um die so genannte universale Ordnung zu sichern. Sein Diener fungiert als eine Art Stuntman (Band 1).
Der erste Einsatz führt John Willard auf den ›Planeten der Amazonen‹: Aufgrund von Umwelteinflüssen kommen hier nur Frauen zur Welt. Um ihren Fortbestand zu sichern, müssen sie Männer von der Erde ›importieren‹. Und jetzt haben sie das Geheimnis des Überlichtfluges enträtselt und sagen dem Handelssystem den Kampf an (Band 2).
Es gibt einen Bereich im Weltall, in dem Handelscontainer einfach verschwinden. John Willard findet hier eine Art ›Miniuniversum‹, das durch radikal veränderte Naturgesetze entstand. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als einzudringen, obwohl es noch niemals zuvor eine Rückkehr von hier gab (Bände 3 bis 4).
In Band 4 gelingt John das bislang Unmögliche - und er kehrt zurück. Inzwischen hat der Sternenvogt einen zweiten Diener - einen kampfstarken intelligenten Androiden: Bron! Und der nächste Einsatz wartet bereits: Johns Bewusstsein wird ausgetauscht mit dem Bewusstsein eines jungen Mannes namens Bereter. Er ist ein so genannter Sucher - unterwegs in einer alptraumhaften Welt, die durch das Kollektiv der Träumer entstanden ist. Als Bereter kann sich John nicht an seine eigentliche Identität erinnern. Seine Aufgabe ist es, das Geheimnis der Traumwelt zu ergründen und den nicht abbrechbaren Traum in Bahnen zu lenken, die keine Gefahr mehr für die universale Ordnung bedeuten, ausgehend vom ›Planeten der Träumer‹. Kommt er als Bereter zu Tode, ist dies auch sein Ende als John Willard. Aber er hat eine wichtige Unterstützung auf seinem Weg: Bron! (Bände 4 bis 7)
John Willard überlebt nicht nur als Bereter, sondern er bewährt sich. Kein Wunder, dass der Sternenvogt das gleiche Prinzip auch beim nächsten Einsatz beibehält: Johns Bewusstsein wird diesmal mit dem Bewusstsein eines Mannes namens Karem Eklund ausgetauscht - auf einer Welt der krassen Gegensätze. Die Bewohner glauben, auf der Erde zu sein. Sie leben großenteils in einer halb zerfallenen Stadt, die schier den halben Planeten umspannt. Es gibt allerdings einen Bereich, wo sie keinerlei Zugang haben: Das ist der Bereich der Unsterblichen, die sich mittels einer riesigen Energieglocke gegen alles schützen, was von außen Einfluss nehmen könnte.
John soll als Karem Eklund die Zusammenhänge klären - und vor allem prüfen, ob von hier eine Gefahr ausgeht und ob diese Welt vielleicht sogar Aufnahme finden könnte in den Handelsverband.
Karem Eklund jedoch weiß nicht, dass er in Wahrheit John Willard ist. Das hat der Sternenvogt deshalb so angeordnet, damit die Unsterblichen unter der Energieglocke keinen Verdacht schöpfen. Zunächst scheint es ja ein eher angenehmer Auftrag zu sein, denn der Bereich unterhalb der Energieglocke ist wahrlich eine Art Paradies...
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Eine herrliche Welt unter mir. Ich flog gen Osten. Epochen wechselten sich ab. Da war ein Schlachtfeld, scheinbar übersäht mit den Leichen der Gefallenen. Nur noch wenige Menschen standen aufrecht. Scheinbar schauten sie dem Gleiter nach.
Aber es waren keine Lebenden, sondern nur täuschend echt nachgearbeitete Puppen. Ihr Bewegungsspielraum war auf wenige Quadratmeter begrenzt.
Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute durch die Rundkuppel nach oben.
Im Geschichtsunterricht war der Himmel stets blau gewesen, zuweilen getrübt von Wolkendunst. Ich kannte meinen Himmel nur als leicht goldfarben. Ein goldener Schein, der niemals seine Intensität wechselte.
Früher, zu einer Zeit, die mir schon fast jenseits aller Vorstellungsmöglichkeiten erschien, hatte es auch Unwetter gegeben. Heute war das anders. Heute regnete es nach Bedarf. Alles wurde gesteuert von den Automaten. Sie taten es allerdings ›diskret‹: Ich hatte im Verlauf meines Lebens selten einen Automaten persönlich zu Gesicht bekommen. Laut Hames lag das auch daran, dass es nur wenige mobile Einheiten gab, denn die Welt wurde über ein kompliziertes Aderwerk von Kommunikations- und Versorgungssystemen verwaltet.
Eine herrliche Welt, eine glückliche Welt. Ich war auch all die Jahre glücklich gewesen und ich hatte niemals einen unzufriedenen Menschen in meinem Leben kennen gelernt.
Das einzige eben, was mich halt quälte und was mich letztlich dazu gebracht hatte, aus dem Schema der Glückseligkeit auszubrechen, waren die fehlenden Antworten auf meine brennendsten Fragen. Diese Antworten waren zu einem ständig an Wichtigkeit gewinnenden Bedürfnis geworden. Jetzt beherrschten sie all mein Denken und sogar die Sexpraktiken der unsterblichen Danna hatten mich nicht mehr zurückhalten können.
Ich suchte einen Weg nach draußen. Ich wollte ausbrechen aus dem Paradies, aus meinem endlosen Glück. Ich wollte nicht mehr länger zufrieden vor mich hinträumen. Ich wollte sehen und erleben, ohne Lehrer, der nicht von meiner Seite wich. Nein, ganz selbständig und ganz allein auf mich gestellt.
Ich hatte den Gleiter und damit eine Chance. Jetzt brauchte ich nur noch den Weg zu finden.
Ich schaute nach vorn und murmelte vor mich hin: »Der goldene Schein des Himmels - das Sinnbild des Goldenen Käfigs. Aber ist er nicht auch der Hinweis darauf, dass es dort ein alles umspannendes Kraftfeld gibt? Und wo es ein Kraftfeld gibt, dort gibt es auch Grenzen. Meine Welt ist also keineswegs unbegrenzt. Sie erstreckt sich keineswegs rund um die Erde. Aber was liegt außerhalb des Feldes?«
Meine Kehle war auf einmal wie ausgetrocknet. Eine innere Stimme riet mir zur Umkehr, aber ich kämpfte erfolgreich dagegen an und flog weiter in Richtung Osten.
Weil diese Richtung genauso gut war wie jede andere.
Berge tauchten am Horizont auf. Sie waren wuchtig, erschienen unüberwindbar.
Ein Wort über die Hoffnung fiel mir ein: »Jenseits der Berge ist immer alles besser. Dort beginnt das eigentliche Paradies. Aber warum schaut niemand nach, ob das wirklich stimmt? Warum erzählt man sich, die Berge wären voll tödlicher Gefahren, beherrscht von grimmigen und unnachsichtigen Geistern und Dämonen? - Um niemals Gefahr zu laufen, den Traum zerstört zu sehen, denn bei allem, was einem widerfährt, darf man sich sagen: Aber jenseits der Berge, dort wäre ja alles besser und deshalb gehst du eines Tages einfach hin!«
Das Prinzip der Hoffnung, das jedem Leben erst seinen Sinn gibt.
Und die Berge waren jetzt vor mir.
Ich knirschte mit den Zähnen.
Es war mir egal, ob ich nun das Prinzip verletzte. In mir war ein Drang, der war stärker als die Illusion der Zufriedenheit aus der Hoffnung. Ich wollte nicht glauben, sondern ich wollte nunmehr wissen. Ich wollte nicht länger hoffen und sehnen, sondern ich wollte nachschauen und erkennen.
Ich brauchte die Wahrheit und verabscheute ungeklärte Fragen und Selbstbetrug.
Deshalb war ich unterwegs und auch die Berge würden mich nicht aufhalten können.
Ich zog den Gleiter höher. Zwar bediente ich das Fluggefährt sehr ungeübt, aber das wurde vom Bordautomaten ausgeglichen. Es bestand nicht die Gefahr, etwa an einer Bergwand zu zerschellen. Dafür sorgte schon der Automat.
Wie sah es auf der anderen Seite der Berge aus?
Sie rasten herbei, schneller als geahnt. Drohend ragten sie auf. Ich musste noch höher gehen. Fast streifte ich ihre höchsten Gipfel. Sie starrten vor Kälte und Eis. Dort gab es kein Leben. Ihre weißgekrönten Häupter waren älter als alle Unsterblichen. Sie trotzten den Stürmen, die sie niederzureißen versuchten. Sie waren so mächtig, so gigantisch gegenüber einem kleinen Menschendasein, dass sie niemals Interesse haben könnten am Geschehen auf Erden.
Stürme?
Tatsächlich, es gab sie hier oben. Der goldene Schein war intensiver als vorher, aber er behinderte die ungehemmten Stürme nicht, die nach dem Gleiter griffen und ihn kräftig durchschüttelten. Selbst die Automatik konnte nicht viel dagegen tun.
Wohin ich meinen Blick auch wendete, überall nur diese Berge.
Ein Massiv, das man niemals zu Fuß überwinden konnte. Ich konnte es mir jedenfalls nicht vorstellen.
Und dann kam der Dunst. Es begann mit Wolken, die sich um Berggipfel gruppierten, als wären sie dicke Wattebäusche, die jemand auf die Spitzen der Berge aufgesteckt hatte. Die Wolken folgten dichter aufeinander und weiteten sich zu einem Feld aus.
Ich ging noch höher mit dem Gleiter, geriet dennoch in die Ausläufer des Dunstes. Sekundenlang war nur noch Nebel um mich herum. Er schien nach dem Gleiter greifen zu wollen, um ihn vom Himmel zu reißen. Er fetzte vorbei wie Geisterhände, die an der glatten Sichtkuppel abglitten. Der Gleiter bockte - und war wieder entlassen. Er tauchte aus dem Wolkenfeld auf und flog ruhiger weiter.
Ich sah, dass ich das Wolkenfeld bald ganz hinter mich gebracht haben würde.
Noch einmal schaute ich mich um. Der milchige Schleier erschien wie ein riesiges Schneefeld. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass man darauf nicht herumspazieren könnte. Es gab bizarre Formationen. Manche ähnelten Fabeltieren.
Ein grandioser Anblick. Ich bedauerte es fast, als ich das Ende des Wolkenfeldes erreichte hatte und vor mir wieder die kahlen Berge sah.
So weit das Auge reichte: Eine Gebirgslandschaft, eine einzige, eiskalte, lebensfeindliche, schneebedeckte Steinwüste.
Ich spürte Beklemmung. Meine Welt war bisher heil gewesen, warm und freundlich. Ich hatte glücklich sein dürfen. Kein Wunsch war offen geblieben.
Die eisigen Berge erschreckten mich zutiefst.
War da denn schon Bedauern ob meines Alleinganges?
Nein, denn die Fragen waren nach wie vor offen und ich dachte auf einmal an die Schule des Lebens. Was war damit eigentlich gemeint?
Ich schaute nach unten und begann, es zu ahnen.
Die Schule des Lebens - das ist das Leben selber. Aber was bedeutet Leben, wenn nichts anderes als das, was ich schon kannte?
Ich schüttelte verwirrt den Kopf.
Da, weiter vorn waren die Berge zu Ende. Dort begann hügelige Landschaft.
»Die Freiheit!«, schrie ich begeistert.
Ja, das war die andere Seite der Berge, der Ort der Hoffnung, das Paradies, das man stets diesseits der Berge zu entbehren und jenseits der Berge zu finden glaubte.
Aber gab es nicht auch die philosophische Erkenntnis, dass es auf der anderen Seite der Berge nur Menschen gab, die ihrerseits glaubten, hinter den Bergen erst wohnte das Glück?
Misstrauisch runzelte ich die Stirn. Hügelige Landschaft, mit sanften Tälern, weiten Feldern, mit Wald und Wiese... Nicht anders als ich es schon kannte. Oder irrte ich mich?
Über allem war der golden schimmernde Himmel.
Ich griff mir unwillkürlich an die Kehle, denn ich hatte ein würgendes Gefühl.
»Nein!«, murmelte ich heiser.
Ich beschleunigte den Flug. Der Gleiter raste über die Landschaft hinweg.
Ein Schlachtfeld.
Dieselben Leichen, die keine echten Leichen waren. Dieselben Sieger, die keine Sieger waren und mit automatenhaftem Lächeln dem Gleiter entgegensahen.
»Das ist nicht möglich! Es ist - dieselbe Welt! Es ist der genaue Spiegel. Ich werde weiterfliegen, werde die Berge auf der anderen Seite erreichen, werde sie überwinden und - werde dieses hier vorfinden. Immer dieselbe Welt. Niemals Abwechslung...!«
Ich schloss die Augen.
Und da kam mir die Erkenntnis: Nein, nicht ein Spiegelbild von meiner Welt hatte ich vorgefunden, sondern durchaus - wieder das Original von meiner Welt.
Mit anderen Worten: Ich war einfach zurückgekehrt!
Ich schrie auf vor Zorn und griff in die Bedienungselemente. Die Kreiselstabilisatoren heulten auf, als ich abrupt den Kurs wechselte.
Ich wollte zurückfliegen und zwar mit Volldampf.
Ich nahm neuen Kurs und folgte dem gleichen Weg wie schon beim ersten Mal.
Es gab keine Zweifel mehr: Dieselbe Landschaft!
Bald schon tauchten die Berge auf.
Derselbe, schon vertraute Anblick.
Der Wolkendunst.
Rechtzeitig stieg ich höher, tauchte nicht hinein, um niemals Sichtkontakt zu verlieren, schoss mit Höchstgeschwindigkeit über das riesige Wolkenfeld hinweg, bis es zu Ende war.
Die Berge.
Danach: Dieselbe Landschaft unter dem golden schimmernden Himmel!
Ich begann zu fluchen. Ausdrücke, die ich aus der Hypnointensivierung kannte, denn dort gab es keine Beschönigungen. Dort wurde die wahre Geschichte gezeigt, ungeschminkt und ohne Sentiments.
Man konnte es sich leisten, weil heute alles soviel anders war, dass kein Vergleich mehr angestellt werden konnte.
Dieselbe Landschaft!
Ich weinte, ich heulte, ich schrie, ich tobte...
Dieselbe Landschaft - und: Wie war denn das überhaupt möglich?
Ich ging mit der Geschwindigkeit herunter und wendete über dem Schlachtfeld.
Mit den Augen suchte ich den Himmel ab. Kein anderer Gleiter war zu sehen. Man schien mich noch gar nicht zu vermissen.
Oder suchte man einfach am falschen Platz nach mir?
Es war nicht ganz auszuschließen, denn ich hatte das Kommunikationssystem an Bord längst ausgeschaltet. Das war sogar mein erster Akt gewesen, noch vor dem Start.
»Das Kraftfeld«, sagte ich leise vor mich hin. »Wo das Wolkenmeer sich verdichtet, dort ist die Grenze. Das Kraftfeld wirft mich sozusagen zurück, ohne dass ich es merke. Als würde es mich unmerklich reflektieren...«
Ich nagte nachdenklich an meiner Unterlippe und schaute in Richtung Berge.
»Nein, nicht das Kraftfeld allein. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Kraftfeld und dem Bordautomaten, der meine Steuerungsfehler korrigiert - und dabei einfach meinen Kurs bestimmt, wenn ich die Grenze erreiche!
Und außerdem: Die Unsterblichen sind gewiss nicht dumm. Sie erwarten längst, dass ich auszubrechen versuche, aber sie kümmern sich gar nicht darum, weil sie sicher sind, dass es für mich sowieso keinen Weg nach draußen gibt!«
Nach draußen... Wie das klang! Und ich war jetzt überzeugt davon, dass es stimmte: Es gab ein Draußen und ich wollte es um jeden Preis erreichen.
Selbst wenn ich mit dem Gleiter auf die Berggipfel hinabsteigen musste, um den Weg zu Fuß fortzusetzen.
»Auch das ist keine Lösung. Ohne entsprechende Ausrüstung schaffe ich das nie. Außerdem hat mir niemand beigebracht, wie man sich als Bergsteiger verhält. Ich habe überhaupt keine Ahnung davon.«
Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen, um mich besser konzentrieren zu können.
»Und wenn ich einen dritten Weg beschreite?«, fuhr ich im Selbstgespräch fort.
»Wenn Bordautomat und Kraftfeld zusammenspielen, dann muss ich eben den Bordautomaten ausschalten. Ich muss es riskieren. Ein Risiko, das weit geringer ist als der ungewisse Weg zu Fuß.«
Ich suchte nach dem Notwerkzeug, das nicht viel Möglichkeiten eröffnete, aber für meine Zwecke ausreichte.
Ein wenig unbeholfen, weil ungeübt, entfernte ich die Abdeckung an den Kontrollen.
Es gab keine Kabel. Die Übertragung von Impulsen war nicht nötig, weil alles in kompakte Module aufgegliedert war. Der Modulverbund bildete eine kompakte Einheit, die scheinbar nahtlos in die Maschinenteile überging. Die Steuerrezeptoren meldeten direkt und nicht per Draht. Der gesamte Gleiter war durchsetzte von einer Rezeptorenkette.
Ich fand das Modul des Steuerungsautomaten und machte mich an den Ausbau.
Sofort heulte eine Alarmsirene auf, die in meinen Ohren gellte. Ein Blick nach unten. Alle lebenden Sieger schauten zu mir empor. Jetzt auch die Verwundeten, die anscheinend völlig vergaßen, sich zuschauergerecht schreiend oder wimmernd am Boden zu wälzen.
Als wüssten sie alle, was ich soeben zu tun im Begriff war.
Oder beobachtete man mich mittels dieser primitiven Automaten von der Zentrale aus?
Ich ließ mich dennoch nicht beirren, sondern arbeitete verbissen weiter. Auch das Gellen der Sirene konnte meinen Entschluss nicht mehr rückgängig machen.
Eine ganze Reihe von Warnlampen brannten grell.
Und dann erloschen sie schlagartig. Gleichzeitig damit verstummte die Sirene.
*
Ich verlor keine Zeit damit, die Abdeckung wieder anzubringen, sondern startete den Gleiter manuell.
Er schoss vorwärts. Es drückte mich in das Sitzpolster zurück. Der Gleiter stieg steil in die Luft und ich drohte, die Kontrolle darüber zu verlieren.
Verzweifelt drosselte ich die Geschwindigkeit.
Zu drastisch. Die Stabilisatoren kreischten überfordert. Ich wurde beinahe aus dem Sitz gerissen.
Durch die Rundkanzel sah ich den Boden. Ich raste genau darauf zu, um dort in der nächsten Sekunde zu zerschellen.
Ich riss im letzten Augenblick den Gleiter wieder hoch. Er raste knapp über dem Boden dahin. Ein Sturm peitschte Gräser und Bäume.
Ich drosselte die Geschwindigkeit ganz vorsichtig. Dabei verlor der Gleiter an Höhe. Das musste ich manuell wieder ausgleichen.
Ich hatte alle Hände voll zu tun, nicht nur einen Absturz zu verhindern, sondern auch dafür zu sorgen, dass der Gleiter geradeaus flog und nicht einen wilden Zickzackkurs begann.
Und dann tauchten vor mir die Berge wieder auf.
Ich hatte vor, unter dem Wolkenfeld hindurchzutauchen und zwischen den Bergen nach dem richtigen Weg zu suchen. Und jetzt, da ich den Bergen wieder so nahe war, hatte ich auf einmal große Bedenken. Ohne Automatik war ein solches Unterfangen tödlich gefährlich.
Ich knirschte mit den Zähnen und flog verbissen weiter. Ich verzichtete auf das Glück von meiner Welt, weil Glück allein zur Sinnlosigkeit verdammt.
Ich flog auf die Berge zu, ließ den Gleiter in eine größere Höhe klettern... Na also, es ging doch immer besser. Ich musste meine Steuerimpulse nur ganz vorsichtig dosieren. Ich durfte auch nicht zu schnell fliegen. Lieber zu langsam. Dann konnte ich rechtzeitig jedem Hindernis ausweichen.
Neuer Mut, der mich zuversichtlich machte.
Das Wolkenfeld kündigte sich an. Ich flog noch langsamer. Der Gleiter sank dadurch automatisch tiefer. Ich musste stabilisieren. Halt, nicht zuviel, sonst versetzte ich den Gleiter noch in eine tödliche Drehbewegung.
Noch tiefer.
Über mir war das Wolkenmeer. Darunter war Dämmerlicht. Ich war den kahlen Felsen so nahe wie nie zuvor. Sie waren kahl und ohne Leben. Sie waren zerrissen, zerklüftet, zernarbt, als hätte unaufhörlich die Zeit an ihnen genagt.
Langsam schwebte ich durch ein tiefes Tal. Weiter unten war die Kälte anscheinend nicht mehr so groß. Dort schmolz das Gletschereis und verwandelte sich in einen reißenden Gebirgsbach.
Mein Herz schlug höher. Gern wäre ich noch tiefer gegangen, wäre sogar gelandet, um das alles aus der Nähe zu sehen. Es war unberührte Natur, ganz bestimmt. Das hier war nicht die vorgefertigte, von Automaten überwachte Landschaft meiner Welt, die für alle Menschen der Geschichte das wahre Paradies gewesen wäre - außer für mich.
Ich lachte rau.
»Paradies? Auch das kann unerträglich werden, wenn ein wichtiges Bedürfnis des Menschen unbefriedigt bleiben muss: Neugierde!«
Das Tal fand ein Ende. Ich schwebte über den Gletscher und musste wieder höher steigen, dem Dunst bedrohlich nahe.
Aber da war ein Seitental, das ich ansteuerte. Es ging weiter, immer gen Osten.
Eine Sackgasse. Ich musste zurück, denn vom Wolkendunst wollte ich nichts wissen. Auch wenn ich Umwege fliegen musste: Ich wollte hinaus. Mir durfte nicht dasselbe wieder passieren wie zuvor schon zweimal hintereinander.
Ein anderes Seitental, das mich aufnahm. Hier ging es weiter.
So umrundete ich Berg um Berg, kam dem Wolkendunst oft sehr nahe, aber ich berührte ihn nicht einmal.
Und dann war das golden schimmernde Kraftfeld genau vor mir.
Als hätte jemand das Gebirgsmassiv wie einen Kuchen in zwei Hälften geteilt, befand sich eine breite Schneise darin. Welche Technik war nötig, solches zu vollbringen?
Ich sah die mächtigen Projektoren. Sie waren aus Metall gefertigt, Ungetüme, die ihre Hauptmasse gewiss unterirdisch verbargen.
Ich stoppte den Gleiter, ließ ihn frei in der Luft schweben.
Die Projektoren befanden sich im Abstand von schätzungsweise hundert Metern in den Boden eingelassen. Sie erzeugten das golden schimmernde Kraftfeld, das meine Welt umspannte.
Wie sollte ich dieses Feld passieren können? Es schloss meine Welt von der Außenwelt hermetisch ab.
Ich spähte durch den goldenen Vorhang hinaus und versuchte zu erkennen, ob dort irgend etwas anders war als diesseits.
Nein! Wenigstens erkennbar nichts.
Ein Blick nach unten. Das Metall sprühte manchmal Funken. Für mich ein Beweis, dass es gegen Berührung bestens abgesichert war.
Es erschien mir unvorstellbar, wie viel Energie benötigt wurde, um das Kraftfeld ununterbrochen in Gang zu halten und gleichzeitig die Projektoren zu warten und zu sichern.
Wie viele Projektoren gab es überhaupt insgesamt? Wie groß war eigentlich meine Welt?
Tausend Projektoren? Reichte das? Oder waren es eher... eine Million?
Ich ließ den Gleiter näher an das Feld heranschweben - so nahe, dass ich den Eindruck hatte, nur noch den Arm ausstrecken zu müssen.
Ein Vibrieren erfasste den Gleiter. Ein Summen und Brummen entstand. Wie von einer gigantischen Glocke, die in ganz feine Schwingungen versetzt wurde.
Noch näher.
Das Summen wurde stärker, marterte meine Ohren.
Noch näher.
Berührung!
Ein Kreischen ging durch den Gleiter. Er wurde zurückgeworfen. Ich verlor den Halt, kippte vornüber und fiel auf die Bedienungselemente.
Gerade hatte ich nach dem Beschleunigungshebel greifen wollen, noch zögernd, aber schon bereit, alles zu riskieren, um das Feld von dieser Seite her gewaltsam zu durchdringen.
Ich stieß jetzt ungewollt mit der Hand dagegen, schob ihn bis zum Anschlag nach vorn.
Der Gleiter vollführte daraufhin einen wilden Satz nach vorn. Eine Riesenfaust schien mich zu packen und mit voller Wucht in den Sessel zurückzuschleudern.
Die Luft wurde aus meiner Lunge gepresst, Sterne tanzten vor meinen Augen.
Und der Gleiter passierte das Feld!
War es nur nach außen als Schutzfeld voll wirksam? War es deshalb möglich, es von innen zu durchstoßen?
Der Gleiter jedenfalls schoss ungesteuert und auch ungezügelt in die Gebirgslandschaft hinein, gewann rasch an Höhe, würde es jedoch nicht rechtzeitig schaffen, auch nur den nächsten Gipfel zu überwinden und würde daran zerschellen.
Falls ich nicht schleunigst was unternahm!
Ächzend kämpfte ich gegen die Andruckkräfte an. Ich lehnte mich vor, so gut es ging.
Die Kreiselstabilisatoren. Ein Steuerimpuls, schnell! Ausweichmanöver nach links.
Der Gleiter wurde zur Seite gerissen und verfehlte den Gipfel ganz knapp. Er orgelte über schneebedeckte Felsen hinweg und tauchte in den Wolkendunst ein, den es auf dieser Seite ebenfalls gab.
In Sekunden hatte er ihn durchstoßen und schoss in den freien Himmel hinauf.
Dieser hier war nicht mehr golden, sondern... blau!
Endlich erreichte ich den Beschleunigungshebel und zog ihn zu mir. Vorsichtig, nicht zu hastig, sonst sackte der Gleiter ab wie ein Stein.
Stabilisieren nicht vergessen!
Und dann verlief der Flug wieder ruhig, obwohl mir die Knie schlotterten und mein Atem heftig ging. Kalter Schweiß perlte auf meiner Stirn. Aber ich warf keinen einzigen Blick mehr zurück.
Ich wusste: Ich hatte den richtigen Weg gefunden. Ich war draußen.
Diesmal, wenn der Wolkendunst hinter mir war... Ja, dann würde ich eine Landschaft sehen, wie ich sie mir jetzt noch nicht einmal vorstellen konnte.
Ich hatte nämlich nicht die leiseste Ahnung, was mich überhaupt erwarten könnte, denn mein Geschichtsunterricht war nur bis ins zwanzigste Jahrhundert gegangen. Ich wusste nicht, wie es zu den tausend unsterblichen Menschen gekommen war. Ich wusste nicht, wie die Welt außerhalb meiner bekannten Welt aussah.
Erwartete mich eine Strahlenhölle als Überrest eines alles vernichtenden Krieges? War die Menschheit ausgestorben, bis auf die Unsterblichen?
Was sonst?
All die ungeklärten Fragen, die mich mehr und mehr gequält und schier in den Wahnsinn getrieben hatten. Würden sie hier endlich beantwortet werden?
*
Eine Kontrollanzeige blinkte nervös. Ich konnte nicht hinüber sehen, denn etwas anderes hielt mich beschäftigt. MEIN MAGEN KNURRTE! Es war ein unbekanntes Gefühl, als ob sich in meinem Bauch etwas zusammenballen würde.
Mein Atem ging heftiger. Ich spürte eine leichte Übelkeit und meine Kehle war wie ausgedörrt.
Nicht wie bei großer Nervosität. Nein, es war diesmal anders.
Die zweite Kontrollanzeige blinkte.
Ächzend hielt ich mich an den Sessellehnen fest. Mir schwindelte.
Was war los mit mir?
War ich etwa... krank geworden?
Krank! Ein Begriff, den Unsterbliche normalerweise nicht kannten!
Die dritte Kontrollanzeige. Dort draußen war etwas, was mir schadete und nicht nur mir, sondern auch dem Gleiter.
Ich schloss die Augen. Der kalte Schweiß auf meiner Stirn sammelte sich zu kleinen Rinnsalen, die mir das Gesicht herunter rannen.
Ich hatte das Paradies verlassen, gerade eben erst und wo war ich nun hingeraten? Es schien, als hätte ich das Paradies eingetauscht mit der... Hölle!
Mit zittrigen Händen griff ich nach den Bedienungselementen und drosselte die Geschwindigkeit noch mehr.
Der Gleiter schwebte über das Wolkenmeer hinweg, das auf dieser Seite überhaupt kein Ende mehr nehmen wollte. Es reichte bis zum fernen Horizont hin.
Eigentlich sah es so aus wie in meiner verlassenen Welt, aber ich glaubte, Dämonenfratzen in den Wolken zu sehen, die mich schadenfroh angrinsten.
Die Dämonen der Hölle?
Was verbarg sich unterhalb des Wolkenmeeres? Was gab es hier, was meine Kräfte so sehr auslaugte, was mir Übelkeit und Schmerzen brachte?
Ich griff mir an die Kehle. Da war ein unbändiges Verlangen nach Flüssigkeit. Da war auch ein Verlangen nach... Essbarem!
Ich kannte das nicht. Ich hatte es niemals zuvor erlebt. In meiner Welt, in diesem paradiesischen Schlaraffenland, das ich aus purem Übermut verlassen hatte, gab es keinen HUNGER und somit auch keinen DURST! Man aß und trank, wenn es einen Anlass gab. Es war stets ein Vergnügen und niemals eine Notwendigkeit.
Und hier war alles ganz anders.
Vom Paradies in die Hölle!
Mir dämmerte allmählich, was es bedeutete, zu leben. War das die wahre Schule des Lebens? Hunger, Durst, körperliches Unwohlsein?
Mindestens ein Dutzend Kontrolllampen blinkten jetzt gleichzeitig.
Dazu kam ein schwaches akustisches Signal.
Ich nahm mich endlich zusammen und kontrollierte, was der Gleiter denn über seine Kontrolllämpchen mir mitteilen wollte.
Mein Blick blieb an einer speziellen Anzeige hängen, die normalerweise in Himmelblau gehalten war. Jetzt hatte sie sich grellrot gefärbt. In der Mitte zeigte sie zusätzlich einen ovalen, goldenen Kreis.
Nein, das war kein Kreis, sondern eine... NULL!
Das Messinstrument war die Energieanzeige!
»Nein!«, keuchte ich.
Meine Hände glitten über die Kontrollelemente, als wollte ich die drohende Gefahr damit abwenden.
Viel zu spät: Keine Energie mehr! Das hieß, ich flog nur noch mit einem winzigen Rest. In jeder Sekunde konnte es ganz aus sein.
Ich konnte überhaupt nichts dagegen tun.
Oder vielleicht doch?
Ich schaltete den Antrieb sofort aus.
Die Kontrolllämpchen flackerten, erloschen zum Teil. Der Gleiter neigte sich nach unten und begann mit dem Absturz. Er stürzte mitten in die trübe Einöde der Wolkenlandschaft hinein, antriebslos.
Denn mit dem Verlassen der Sphäre innerhalb des goldenen Kraftfeldes gab es auch keine drahtlose Energieübertragung mehr zum Gleiter. Logisch!
Ich hatte das keine Sekunde lang bedacht.
Was erwartete mich dort unten? Wirklich... die Hölle?
Als ob das überhaupt von Bedeutung wäre: Ich stürzte ab, unaufhaltsam, weil ich nicht mehr genügend Restenergie im Kurzzeitspeicher hatte, um den Sturz abzufangen. Ich war des Todes. Und dabei fühlte ich mich so schrecklich elend: Hungrig, durstig! Gott, wie ich unter diesen ungewohnten Bedürfnissen litt.
Aber war ich denn kein Unsterblicher?
Ich ahnte es: Die Unsterblichkeit galt für mich nur innerhalb des Paradieses, das hieß innerhalb des goldenen Käfigs. Niemals hier in der Hölle.
»Absturz in die Hölle!«, ächzte ich tonlos und schloss die Augen, in Erwartung des Aufpralls, in Erwartung des tödlichen Endes...
*
Meine Welt. Ich hatte sie hinter mir gelassen. Sie war das wahre Paradies gewesen und ich würde niemals mehr zurückkehren können - ins Paradies!
Denn selbst wenn ich den Absturz überleben sollte - was sowieso das reine Wunder gewesen wäre... Sollte ich den Rückweg denn zu Fuß antreten?
Und ich würde dann wohl kaum eine Chance haben, durch den Energieschirm zu kommen, der das Paradies hermetisch von der Außenwelt abschirmte!
Aussichtslos!
Ich war ein verdammter Narr gewesen.
»Ich bin ein Mensch und ich lebe. Ich wurde aus dem Paradies ausgestoßen wie nach der Legende Adam. Mit dem Unterschied, dass ich es selbst besorgt habe. Ich wollte vom Apfel der Erkenntnis kosten. Das ist menschlich. Dies ist der Verzicht auf wahren Frieden, auf ewiges Glück - freiwillig. Der Mensch ist nicht für ewiges Glück und Zufriedenheit geschaffen. Er sorgt schon selber dafür, dass ihm Unglück widerfährt, um wieder hoffen zu können, dass es wieder besser wird.
Ich sehne mich jetzt nach dem Paradies zurück, das ich mutwillig verlassen habe, verdammt noch mal, aber es bleibt eine vage Hoffnung, ob ich es jemals wieder schaffen könnte. In dieser Zeit, im Zeichen der Hoffung, da hat mein leben wieder einen Sinn - den Sinn eben, das Ziel zu erreichen und sei es noch so unerreichbar.
Dies ist wahres Menschsein. Dies ist das Leben. Und die Schule des Lebens lehrt mich, dieses Leben zu meistern!«
Das sagte ich, obwohl ich in die dichte Wolkendecke eintauchte und weiter abwärts stürzte.
Die Stabilisatoren!
Der Gleiter begann, sich zu überschlagen. Er würde abwärts trudeln, würde dabei immer schneller werden.
Was hatte ich über die Technik des Gleiters gelernt?
Nein, nicht die Technik. Die war jetzt sinnlos. Technik verbrauchte nämlich Energie und die hatte ich nicht mehr. Da waren nur noch winzige Restspannungen in den ansonsten leeren Speicherbänken. Genügend, kurz die Stabilisatoren zu betätigen, um das Trudeln zu verhindern.
Und was würde dann geschehen?
Aerodynamik, Thermik...
Der Gleiter war geformt wie eine Flunder. Er machte seinem Namen alle Ehre, denn er konnte tatsächlich durch die Luft gleiten. So hatte diese Technik begonnen. Vom Flugzeug war man längst abgekommen, genauso wie vom Auto. Ein langsamer Prozess, sehr abhängig von der damaligen Energiewirtschaft.
Die ideale Nutzung eines Flugzeuges erfolgt dann, wenn das Flugzeug mit seinem gesamten Körper für den nötigen Auftrieb sorgt!
So hieß das Grundkonzept für einen Gleiter. Die ersten hatten noch Räder. Sie waren zur Hälfte Autos und zur anderen Hälfte Flugzeuge gewesen. Sie waren geeignet gewesen für Land und Wasser, jedoch nicht voll flugfähig. Ab einer relativ hohen Geschwindigkeit erst verloren sie den Bodenkontakt. Mikroprozessoren steuerten die Kreiselstabilisatoren. Der Gleiter schoss dicht über den Boden hinweg und hielt den Abstand zum Boden. Aufgrund seiner Form entstand zwischen ihm und dem Boden eine Art Luftkissen, das ihn trug.
Zwei Kreisel genügten zum Stabilisieren. Der Gleiter konnte dank ihnen relativ enge Kurven fliegen, bei Geschwindigkeiten wie ein Auto mit direktem Straßenkontakt.
Das waren Hochgeschwindigkeitsfahrzeuge, ganz individuell: Einsitzer, Zweisitzer. Die Trassen waren breit genug, die Bedienung geschah fast vollautomatisch. Ein Kompromiss zwischen Fahren und Fliegen.
Nur in den Städten rollten die Gleiter ausschließlich auf ihren Rädern. Dort waren sie auch nichts anderes als hochmoderne Autos gewesen...
Anfangs!
Später wurde das Prinzip immer weiter vervollkommnet. Vor allem entdeckte man immer bessere Möglichkeiten, Stabilisatoren zu bauen.
Bis das Prinzip der relativen Schwerelosigkeit entdeckt worden war.
Ebenfalls ein Kreiselprinzip. Es hatte nichts mit echter Antischwerkraft zu tun, denn die blieb ein unerfüllbarer Traum.
Sämtliche Elemente waren beim Gleiter integriert. Er hatte sowohl einen natürlichen Auftrieb aufgrund seiner besonderen Form, war also in diesem Sinne immer noch eine Art Flugzeug - und war auf der anderen Seite ein echter Gleiter geworden, der scheinbar schwerelos durch die Luft schwebte.
All diese Gleiter wurden innerhalb des Paradieses unter der goldenen Energiekuppel drahtlos mit Antriebsenergie versorgt.
Genauso wie die Menschen innerhalb dieser Sphäre mit Unsterblichkeit!
Außerhalb des Paradieses gab es keine Versorgung mehr. Der Gleiter war nur noch auf den natürlichen Auftrieb und die schwachen Hilfsstabilisatoren angewiesen - so lange diese noch einigermaßen funktionierten.
Zähneknirschend bereitete ich mich auf den Eingriff in das Steuerprogramm vor. Ich hatte jeden Handgriff gelernt, auch für den normalerweise höchst unwahrscheinlichen Fall eines totalen Antriebsausfalls und dem daraus resultierenden Absturz des Gleiters.
Ich hatte es gelernt, aber noch niemals zuvor PRAKTIZIERT!
Theorie und Praxis: Wie so oft gewissermaßen zwei feindliche Schwestern!
Das Wolkenmeer war durchstoßen. Ich tauchte in die andere Welt ein.
Sie unterteilte sich in zwei Hälften. Die erste Hälfte war immer noch Gebirgsmassiv. Die andere Hälfte war das Ende der Berge, die hier ziemlich abrupt in Täler und Hügel übergingen.
Die Hügel und Täler wirkten aus dieser Höhe nicht grün wie im Paradies, sondern eher grau.
Ich hatte keine Zeit, mich näher um dieses Phänomen zu kümmern. Mir war auch herzlich egal, wie es dort unten im einzelnen aussah. Ich beschäftigte mich nur noch mit dem Absturz und damit mit meiner winzigen Überlebenschance.
Vor mir tauchte ein Berggipfel auf, nicht schneebedeckt, weil weitaus niedriger als die übrigen Berge. Wie ein warnender Zeigefinger streckte er sich mir entgegen. Die Spitze schien eine eigene Magie zu besitzen, weil sie den Gleiter scheinbar anzog.
Nur eine Illusion, natürlich und ein verdammungswürdiger Zufall obendrein.
Die Stabilisatoren. Eine vorsichtige Korrektur des Fluges. Es würde knapp werden, aber vielleicht schaffte ich es tatsächlich?
Gottlob war es mir inzwischen gelungen, das Trudeln zu verhindern. Jetzt schraubte sich der Gleiter nicht mehr unaufhaltsam dem Boden zu, sondern glitt durch die Luft wie ein vom Baum gefallenes Herbstblatt.
Nur schneller!
Dicht zischte ich an dem Berggipfel vorbei. Dahinter war ein steiler Abhang. Parallel dazu sauste ich weiter in die Tiefe.
Meine Augen weiteten sich unwillkürlich. Nein, das war die falsche Richtung. Ich würde zu Tal gleiten.
Schon spürte ich die Wirkung der hier herrschenden Aufwinde, denn der Abhang gewann Abstand. Ich würde das Tal überqueren - und würde an der gegenüberliegenden Felswand zerschellen. Sie war breit und so wuchtig, als wäre sie extra für diesen Zweck errichtet worden.
Korrektur!
Der Gleiter kippte leicht zur Seite hin ab. Die Stabilisatoren hatten kaum auf meine Steuersignal reagiert, aber es musste genügen.
Die Talsohle war erreicht. Die Felswand raste auf mich zu. Aber ich würde sie nicht erreichen, wegen der leichten Schräglage. Ich flog einen Bogen, wie ein Bumerang, der zum Werfer zurückkehrte. In meinem Fall hieß das allerdings: Zurück zum Abhang!
Noch einmal Korrektur. Ich wollte den Gleiter in eine andere Lage bringen.
Die Stabilisatoren reagierten widerwillig und nur zur Hälfte. Dann erloschen schlagartig alle Lichter. Nicht einmal die runde Null an der Energieanzeige war mehr zu sehen.
Der Gleiter war jetzt nur noch ein steuerloses, überschweres ›Herbstblatt‹, das irgendwo am Boden auftreffen würde, unaufhaltsam.
Der Abhang. Geröll, auch Sand, karge Pflanzenwelt, beschränkt auf ein bisschen Grün, das sich vergeblich bemühte, diesen Abhang zu erobern.
Ich konnte nichts mehr tun, als abzuwarten - und mich festzuhalten. Weil der Anschnallgurt sicher nicht reichen würde.
Meine Hände umklammerten die Sessellehnen wie einen Rettungsanker.
Es war soweit!
Der Abhang war erreicht. Ich traf ihn mit der Abrisskante der Flunder. Die Kante bohrte sich in das Geröll, ließ Steine und Erde davon spritzen. Der Gleiter überschlug sich, vom Rest kinetischer Energie getrieben.
Ein Hölleninferno. Das Material kreischte und wimmerte. Es krachte und barst. Riesenkräfte rissen und zerrten an mir, wollten mich aus dem Sessel pflücken und mich zu Tode stürzen lassen.
Der Konturensessel widerstand genauso wie der doppelte Gurt.
Mehrmals überschlug sich der Gleiter. Auf dem Dach schließlich liegend rutschte er weiter talwärts.
Eine wahre Höllenfahrt. Er war total verbeult und wohl nie mehr zu gebrauchen, selbst wenn ich das Kunststück fertig gebracht hätte, ihn irgendwann wieder mit Energie zu versorgen.
Die Fahrt ging weiter die holprige Strecke hinunter. Ich hing mit dem Kopf nach unten und rang verzweifelt nach Atem.
Und dann ein letzter Ruck. Die danach einsetzende Ruhe erschien mir unwirklich. Als wäre ich soeben erst aus einem Alptraum erwacht - um festzustellen, dass dieser Alptraum nur der Beginn einer neuen, viel erschreckenderen Wirklichkeit war.
Ich öffnete die Augen. Meine Hände lösten sich von den Armlehnen. Ich begann, mit dem Kopf nach unten hängend, den Gurt zu lösen.
Sofort stürzte ich zur Kuppeldecke hinunter, die zwar völlig verschrammt war, aber ansonsten den Absturz ohne Löcher überstanden hatte.
Unwillkürlich rollte ich mich zusammen, um ohne Schaden anzukommen.
Sekundenlang blieb ich zusammengekauert liegen, als wollte ich mich mit aller Macht dagegen wehren, die neue Lage zu akzeptieren, in die ich mich selber gebracht hatte.
Ich schluchzte trocken und hob den Kopf. Wenn ich mich stellte, erreichte ich bequem den Konturensessel, der über mir hing.
Auf allen vieren kroch ich über die glatte Innenseite der Rundsichtkuppel. Ich wollte jetzt wissen, wie es draußen aussah.
Erde und Geröll verbargen mir die Sicht.
Ich kroch deshalb weiter. Irgendwo musste sich doch eine Lücke befinden.
Der Gleiter rutschte ein Stückchen tiefer. Ich wollte mich erschrocken festhalten, aber wo?
Der Gleiter kam wieder zur Ruhe.
Ich hatte auf einmal die Vision, dass er auf dem schmalen Grad zu einem tiefen Abgrund zum Stehen gekommen war. Wenn ich jetzt einen Fehler machte, rutschte er weiter... und dann war es endgültig aus.
Eine Vorstellung, die mich zittern ließ wie Espenlaub. Ich musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut loszuheulen.
Da war die ersehnte Sichtlücke.
Nein, es gab den Abgrund überhaupt nicht, außer in meiner pessimistischen Fantasie.
Der Abhang ging hier in eine leicht abschüssige Ebene über. In einer Entfernung von fünfzig Schritten kippte diese Ebene wieder steiler abwärts. Ich konnte das nicht überblicken, nahm aber an, dass es dort endgültig bis hinunter zur Talsohle ging.
Ich schaute schräg empor, hinüber zur Felswand. Sie war weit entfernt, dabei war sie mir während des Absturzes so nahe erschienen.
Wieso war hier alles so düster und grau?
Der Abend!, schoss es mir durch den Kopf und es fehlte hier das Strahlen der goldenen Energiekuppel.
Ich schluckte schwer.
Ich Narr, ich verdammter, hirnloser Narr!
Und dann dachte ich an das Zwiegespräch der beiden Frauen, die ich belauscht hatte, bevor ich auf die Schnapsidee gekommen war, den Gleiter zu stehlen und damit aus dem Paradies zu fliehen. Hatten sie es nicht regelrecht erwartet, dass ich die Flucht versuchen würde?
Ja, das war es wohl. Ich hatte das Gesprochene zu diesem Zeitpunkt nur nicht richtig einzuordnen gewusst.
Sie hatten von der Schule des Lebens gesprochen und nun war ich ein Lebender, ein normaler Mensch, der hungerte, dürstete, fror - und der sterben musste, wenn er nicht aufpasste.
Ich wimmerte laut los. Es war eine entsetzliche Vorstellung, vielleicht in dieser Einöde elendiglich sterben zu müssen.
Tod, das hatte bislang überhaupt keine Bedeutung für mich gehabt. Nicht nur, weil ich erst zwanzig Jahre alt war. Ich war unter Unsterblichen aufgewachsen und man hatte mir einsuggeriert, dass ich ebenfalls unsterblich war. Ich hatte mich niemals verletzt, hatte niemals Schmerzen verspürt, war die ganze Zeit glücklich gewesen...
Nein, nicht war, sondern WÄRE!, verbesserte ich mich sofort, denn eines hatte mir schließlich noch zu meinem vollkommenen Glück in diesem Paradies gefehlt: Antwort auf meine brennenden Fragen.
Die hoffte ich, hier zu finden. Deshalb war ich überhaupt hergekommen.
Ich öffnete die Augen wieder und beruhigte mich.
Ich hatte doch von Anfang an gewusst, dass der Einsatz hoch sein würde. Und erst wenn ich wirklich tot war, konnte man sagen: Der Einsatz war ZU HOCH gewesen!
Antworten auf meine Fragen. Antworten, die das Leben selbst mir bieten musste. Ja, das war es. Das war mir wichtiger erschienen als alles andere.
Es durfte sich nicht geändert haben!
»Schule des Lebens?«, murmelte ich heiser. »Jetzt weiß ich, was gemeint ist.«
Und ich begann zu überlegen, wie ich überhaupt aus diesem Gleiter herausfinden sollte, denn ohne Energie konnte man ihn nicht öffnen. Und wenn ich nicht schaffte, nach draußen zu kommen, befand ich mich in einem großen Sarg.
Ich kroch zum Ausgang hinüber.
Nicht nur, dass der ohne Energie nicht geöffnet werden konnte: Er war auch noch total verschüttet! Ich konnte es sehen, weil das Material durchsichtig genug war.
*
Es ist das Wesen der Vernunft, dass man aus vorhandenem Wissen schöpft und erst dann nach neuem Wissen zu suchen beginnt, wenn man glaubt, mit dem alten Wissen nicht länger auszukommen.
Meine Situation passte in das Konzept ›aussichtslos‹. Es hätte jeglicher Erfahrung widersprochen, etwas anderes anzunehmen. Jedoch hatte ich denn wirklich so etwas wie - Erfahrung?
Ich hatte in meinem kurzen Leben mehr gelernt als die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts überhaupt für möglich gehalten hätten. Ja, ich hatte gelernt. Ich hatte auch genügend Beispiele gesehen. Ich hatte die Geschichte der Menschheit von ihren Anfängen an verfolgt. Ich war bei den wichtigsten Schlachten und größten Entdeckungen dabei gewesen. Ich kannte ungezählte Situation, in denen sich Menschen der Vergangenheit befunden hatten.
Das war meine Erfahrung: Die Erfahrung des schulischen Lernens in seiner Perfektion.
Und das war, was mir fehlte: Die Erfahrung des Lebens selbst.
Denn alles dies, was ich gelernt hatte, hatte mich niemals persönlich betroffen.
Wie einer, der für sein Leben gern Krimis liest und plötzlich sich selbst in einen Kriminalfall verwickelt sieht: Er versagt zwangsläufig, ist hilfloser als jeder andere - Unvoreingenommene!
Ja, ich war hier voreingenommen. Ich schloss zu einem Zeitpunkt mit meinem Leben ab, als dies verfrüht war.
Mir genügte die Erkenntnis, dass ich NICHT AUS EIGENEM ANTRIEB den Gleiter verlassen konnte. Ich zog überhaupt nicht in Betracht, dass eventuell Hilfe von außen kommen könnte.
Es erschien mir auch viel zu unwahrscheinlich in einer solchen Einöde außerhalb meiner bekannten Welt, in einer unbekannten Umgebung, in der es außer niederem Leben nichts gab.
Menschen?
Wie hätten die hier überhaupt existieren können? Ganz ohne Schutz?
Ich hatte die Geschichte gelernt, ABER NICHTS DABEI BEGRIFFEN! Ich war noch zu sehr mit dem Paradies verbunden, um zu begreifen, dass Leben auch unter ganz anderen Bedingungen möglich gewesen war - schon immer: jedenfalls menschliches Leben!
Als ich das Scharren von draußen hörte, erschrak ich schier zu Tode. Ich glaubte zunächst, der Gleiter würde wieder zu rutschen beginnen. Ich suchte schon verzweifelt nach einem Halt, hielt dann aber inne: Nein, der Gleiter bewegte sich keinen Millimeter. Das Scharren hatte ganz andere Ursachen: Da machte sich etwas von außen zu schaffen.
Ich spähte durch das leicht eingetrübte Kunstglas, konnte aber nichts draußen sehen außer dieser Steinwüste, die mich umgab.
Das Scharren kam von der Tür her. Dort bemühte sich etwas, das Geröll zu beseitigen.
Ich kroch hinüber und lauerte. Ich dachte an ein wildes Tier, das mich witterte. Es sah in mir eine leichte Beute.
Sofort sah ich mich nach einer geeigneten Waffe um.
Ich musste lange suchen. Natürlich, eine echte Waffe gab es an Bord des Gleiters überhaupt nicht. Ich nahm etwas anderes: einen großen Schraubenzieher.
Wer hätte geglaubt, dass damit einmal Blut vergossen werden sollte?, dachte ich grimmig. Meine Rechte hielt den Schraubenzieher stichbereit umklammert. Ich war zu allem bereit. Ich würde mein Leben verteidigen, obwohl ich das nie gelernt hatte.
Zugegeben, man hatte mir eine ganze Menge über Sport beigebracht, auch über Kampfsport. Aber das war dann immer eher Spiel gewesen. Das hier jedoch, das war diesmal blutiger Ernst!
Licht schimmert durch: Die Eingangstür war total verbeult und teilweise geborsten. Man brauchte sie nicht zu öffnen, denn sie war aus dem Rahmen gesprungen. Nur die Geröllmassen draußen hatten verhindert, dass ich sie öffnen konnte. Das hatte ich noch nicht einmal bemerkt.
Jetzt schon, denn die Tür war von den Geröllmassen weitgehend befreit.
Und da hörte ich eine gedämpfte Stimme!
Ein wildes Tier, das sprechen konnte?
Ich schüttelte verblüfft den Kopf. Nein, das war nicht möglich.
Was sonst?
Hames? Danna? Einer der anderen Unsterblichen, der mir gefolgt war und sich jetzt bemühte, mich zu befreien?
Aber warum flüsterte er denn dann?
Die aufkeimende Hoffnung verblasste genauso rasch wieder, wie sie entstanden war.
Eine andere Stimme, die der ersten Stimme antwortete. Ich verstand nichts, denn auch diese war zu leise.
Menschen!, durchfuhr es mich. Nein, keine der Unsterblichen, sondern richtige... MENSCHEN!
Menschen halt, die es gelernt hatten, in einer solchen Einöde zu überleben!
Wie war denn solches möglich?
Mein Herz pochte wie rasend. Ich ließ die Hand mit dem Schraubenzieher sinken.
Menschen, die zu mir wollten. Sie mussten den Absturz verfolgt haben, waren sogleich herbeigeeilt, um mich aus dem Wrack zu befreien. Und sie hatten sich gleich an den Eingang gewendet. Also kannten sie offensichtlich sogar dieses Gleitermodell!
Gebildete Menschen, wie ich mithin annehmen musste. Ebenbürtige Menschen. Menschen gar, die mich verstehen konnten. Menschen halt, die mit helfen würden.
Warum auch nicht? Wenn sie mich schon ohne Eigennutz aus meiner misslichen Lage befreiten, dann konnten sie ja wohl niemals Böses im Schilde führen.
Meine Erfahrung bisher: Alle Menschen sind unsterblich - und sie sind gut!
Aber lehrte nicht die Geschichte das krasse Gegenteil? Sie lehrte: Menschen sind aggressiv, selbstsüchtig...
Nun, alles dies war schließlich früher gewesen, halt eben Geschichte! Inzwischen hatte das sicherlich keine Gültigkeit mehr. Nicht nur nicht im Paradies, in dem ich geboren wurde und aufwachsen durfte, sondern auch außerhalb. Deshalb konnte ich aus der Geschichte ganz und gar nichts lernen, was mich hier weiterbringen könnte.
Ich stand da und schämte mich regelrecht, weil ich immer noch den Schraubenzieher wie eine Waffe in der Hand hielt.
Entsetzlich: Ich hatte mich sogar gegen meine eigenen Befreier wenden wollen!
Angewidert ließ ich den Schraubenzieher fallen.
Die Eingangstür löste sich vollends. Sie kippte nach draußen und traf polternd auf dem weggeräumten Geröll auf.
Niemand war zu sehen. Es war nicht mehr sehr hell draußen. Der Abend. Nach der Dämmerung würde sicherlich absolute Dunkelheit folgen, denn der Himmel war bedeckt und hier fehlte der goldene Schein des Kraftfeldes.
Zwei Schatten sprangen auf die umgestürzte Tür: bärtige, abgerissen wirkende Männer.
Sie erblickten mich.
Die beiden stürmten herein. Der eine hatte ein langes Messer in der Rechten. Er holte zum Stich aus. Der andere trug eine Lanze mit Metallspitze. Er wollte damit zustoßen.
Meine Retter, meine Befreier. Sie hatten mir das Leben gerettet - nur um mich anschließend eigenhändig zu töten?
Ich konnte es nicht begreifen, aber das war auch nicht nötig. Da war etwas in mir, das die Herrschaft über den Körper übernahm. Es war etwas, das keine Fragen stellte und auch keine logischen Antworten brauchte - bloß um zu handeln.
Dieses Etwas erkannte die tödliche Gefahr und zwang mich zur Reaktion - ohne Pardon.
Dieses Etwas war der nackte Überlebenswille!
Ich bückte mich blitzschnell wieder nach dem Schraubenzieher. Der Stich der Lanze ging dadurch genauso über mich hinweg wie der Stich mit dem Messer.
Ich rollte mich seitlich weg und sprang wieder auf, außerhalb der Reichweite der beiden Waffen. Ich drehte mich gleichzeitig, um den Gegnern die Seite zu bieten und damit wenige Angriffsfläche.
Sie stürzten sich mit einer Mordlust auf mich, die mir noch vor Augenblicken völlig absurd erschienen wäre.
Ich hätte es einfach nicht für möglich halten können.
Die Lanze zielte diesmal auf mein Gesicht, das Messer auf meinen Bauch.
Ich bekam die Lanze rechtzeitig am Schaft zu fassen. Gleichzeitig wich ich dem Messer aus, riss mit aller Kraft an der Lanze, steppte weiter seitwärts.
Das Messer stieß ins Lehre, der Besitzer der Lanze taumelte seiner Waffe einen Schritt hinterher, bevor er losließ.
Ich riss die erbeutete Lanze vollends an mich und ließ gleichzeitig den Schraubenzieher wieder fallen. Ich hatte jetzt eine bessere Waffe.
Der Messerheld preschte todesmutig vor. Ich blockte seinen Messerarm mit dem Lanzenschaft ab und trat ihm brutal in den Unterleib.
Mein Blick war wie verschleiert und trotzdem sah ich alles mit größter Deutlichkeit, als hätte sich mein Gesichtsfeld enorm erweitert sogar. Oder als wäre das sozusagen Routine für mich, um mein Überleben zu kämpfen...
Ich schob es auf die intensive Ausbildung in allen Kampfsportarten.
Es hatte mir Spaß gemacht. Und jetzt würde es mir das Leben retten!
Ich bewegte mich ununterbrochen, wie ich es beim Kampftraining gelernt hatte. Von den Unsterblichen, die tausend Leben Zeit gehabt hatten, den perfekten Kampf zu üben.
Und ich hatte außerdem auch noch den Instinkt der Jugend, unverfälscht - und tödlich für meine Gegner, die mich völlig ohne ersichtlichen Grund hatten abstechen wollen.
Mit dem Lanzenschaft schlug ich auf den Messerhelden ein, bis dieser stöhnend zu Boden sank.
Der, dem die Lanze gehörte, zog jetzt auch ein Messer und warf es in meine Richtung. Er war zu feige, sich mir wieder zu nähern - jetzt, wo er sah, dass ich durchaus in der Lage war, mich tatkräftig zu wehren.
Ich schlug das Messer mit dem Lanzenschaft aus der Luft beiseite, ehe es mich erreichen konnte und schleuderte jetzt meinerseits die Lanze gegen den Angreifer.
Ich traf mit tödlicher Sicherheit. Tief bohrte sich das Metall in die Brust des Mörders.
Ich hörte hinter mir ein Geräusch wie ein wütendes Knurren und deutete es richtig: Der Messerheld hatte sich erstaunlich schnell von meinem Tritt und den Hieben erholt und wollte mich nun von hinten angehen.
Ich ließ ihn ins Leere stechen und hechtete zu dem Messer hinüber, das der Lanzenträger nach mir geworfen hatte.
Ich erwischte es, landete mit einer Rolle vorwärts und warf mich sofort zur Seite.
Mein Glück, denn schon war der Messerheld über mir und stieß zu.
Er verfehlte mich, während das von mir erbeutete Messer sich quer in seinen Hals bohrte, bis es auf der anderen Seite wieder herauskam.
Ich stand auf und fühlte mich wie betäubt. Alles war voller Blut. Auch ich selbst war damit besudelt.
Ich taumelte von dem Anblick zurück.
Ein wahres Schlachtfeld. Das hatte ich sonst nur als Simulation erlebt. Dies hier jedoch war echt.
Und ich war derjenige, der in diese Welt eingedrungen war, um zwei Menschen zu töten, die es geschafft hatten, hier zu überleben. Der Eindringling war ich selbst gewesen. Die beiden hier... Vielleicht hatten mein Eindringen als ein Angriff meinerseits angesehen und hatten sich nur verteidigen wollen?
Jetzt waren sie tot.
Ich schrie es hinaus: »Beide tot!«
Ich brüllte mir alles aus dem Leib, was ich in dieser Situation empfand: Ich hatte getötet, wahrhaftig getötet und das gleich zweimal unmittelbar hintereinander!
Was war das in mir gewesen, was wie ein wildes Tier erwacht war, um solches anzurichten?
Andererseits... Hätte ich mich einfach so abstechen lassen sollen?
Ich taumelte nach draußen, um mich dort würgend zu übergeben. Mir war so schlecht, dass ich nicht mehr aufrecht stehen bleiben konnte und zu Boden sank.
Meine Hände krallten sich in die trockene Erde. Scharfkantige Steine ritzten meine Haut. Das tat weh, aber ich wurde von einem Schmerz überwältigt, der tausendfach soviel wog, nämlich vom Schmerz der Erkenntnis, dass ich Leben vernichtet hatte, um mein eigenes Leben zu schützen.
Ich, der ich die bisherigen zwanzig Jahre meines Lebens absolut behütet im perfekten Paradies verbracht hatte - sogar als Unsterblicher!
Ich hatte einfach bestimmt, dass mein eigenes Leben wichtiger war als das Leben dieser beiden Männer.
Ich hatte mich damit selber zum Richter und gleichzeitig auch zum Henker erhoben. Niemand anderes hatte mir dazu das Recht gegeben.
Ich hob den Kopf: Niemand?
»Es ist das Recht des Lebens, zu bestehen. Es ist das Recht des Lebenden, sein Dasein zu behaupten. Es ist die Schule des Lebens selbst, die dieses grausame Gesetz lehrt: Der Bessere obsiegt!
Nicht derjenige, der anständiger ist, vertrauensseliger, weiser, sondern einfach nur derjenige, der sich durchzusetzen vermag - ist jener BESSERE!
Ob er es nun mit Waffen tut oder mit List oder mit besserer Kenntnis der richtigen Gesetze. Es bleibt sich immer gleich, in jeder Kultur, überall dort, wo es Menschen gibt - die überleben wollen.«
Die Schule des Lebens. Ich hatte eine Lektion erhalten, in aller Deutlichkeit.
Und ich erholte mich auch wieder davon.
Im Schatten der hereinbrechenden Nacht durchsuchte ich die Leichen nach etwas Essbarem. Ich tat dies jetzt mit der Kaltblütigkeit eines Raubtieres, denn wo der Überlebensinstinkt die Oberhand gewinnt, gibt es keine Vernunft mehr, sondern nur noch die Zweckmäßigkeit.
Ich fand, was ich suchte, nahm allen Proviant an mich und ignorierte sogar, dass die beiden toten Kerle gotterbärmlich stanken.
Es war mir egal, denn in dieser ersten Lektion war ich auf die niedrigste Stufe des Menschseins herabgesunken.
Vom hoch gebildeten Unsterblichen zum Primitiven, der um sein nacktes Dasein kämpfte.
Es konnte jetzt nur noch wieder aufwärts gehen.
Eigentlich.
Oder?
*
Ich hatte den Proviant verschlungen und hatte getrunken und jetzt war ein Teil meines Verstandes wieder funktionsfähig.
Aber ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Misstrauisch lauerte ich in die Nacht. Ich hatte mich lautlos wie eine Schlange vom Gleiter entfernt, der hier wie auf einem Präsentierteller lag und duckte mich in eine flache Senke.
Eine Vielzahl von Geräuschen erreichte meine Ohren. Ich konnte sie nicht einordnen. Diese Welt war so fremdartig für mich, als wäre ich auf einem fernen Planeten gelandet.
Es war die Welt, in der immer noch die ehernen Gesetze von Leben oder Sterben herrschten. Eine grausame, erschreckende Welt.
Ich hatte mich zwar beruhigt, aber in mir waren Instinkte erwacht, die ich niemals bei mir vermutet hätte und diese Instinkte hielten mich jetzt alarmiert. Also war ich einerseits ruhig und andererseits... Ich sah keine Gefahr, hörte auch keine, aber ich... spürte sie in aller Deutlichkeit. Ich hatte nur keine Ahnung, wie diese Gefahr aussehen konnte.
Dazu gehörten eine Menge ungelöster Fragen. Eine zentrale Frage blieb: Wieso hatten mich die beiden Männer erst befreit und wollten mich dann töten?
Die Nacht brachte Kälte. Sie schien von den schneebedeckten Gipfeln der Gebirge herunter zu mir ins Tal zu kriechen. Sie drang kaum behindert durch das dünne Gewand bis auf die Haut. Auch davon ließ sie sich nicht aufhalten. Sie drang tiefer in meinen Körper, nagte scheinbar an meinen Knochen.
Ich schnatterte bald vor Kälte. Ich hatte Hunger und Durst erlebt, fühlte mich müde und erschöpft und nun fror ich gotterbärmlich. Mein Instinkt sagte mir, dass ich nicht die ganze Nacht hier liegen bleiben konnte. Ich war im Gleiter durch mögliche Kumpane der beiden Angreifer gefährdet - und hier draußen würde ich erfrieren. Ich hatte die Wahl - und ich traf sie.
Nach allen Richtungen sichern, kroch ich aus der schützenden Mulde.
Es bewegte sich etwas. Sofort blieb ich wieder liegen. Waren das Schritte? Ein Schatten, der auf den Gleiter zu glitt?
In diesem Augenblick zuckte ein Blitz nieder. Er schien das Himmelsgewölbe in zwei Hälften zu sprengen und warf grellblau zuckendes Licht über die öde Landschaft.
In diesem Licht sah ich sie: mindestens zwei Dutzend Menschen, geduckt lauernd. All ihre Aufmerksamkeit galt dem abgestürzten Gleiter. Sie hatten ihn umzingelt, schlichen sich heran.
Ich unterdrückte das Zähneklappern, um meinen wahren Standort nicht zu verraten.
Was für ein unverzeihlicher Fehler, dass ich nicht die wärmende Kleidung der beiden Toten an mich genommen hatte. Dafür musste ich jetzt bezahlen.
Der überraschend aufzuckende Blitz ließ die Menschen erstarren. Donner rollte bald durch das Tal, hallte von den Felswänden und Abhängen wider, klang wie die Verkündung der Apokalypse und ließ mich vor Angst das Gesicht in den Dreck drücken.
Es war das erste Gewitter meines Lebens. So etwas gab es innerhalb der goldenen Kuppel nicht. Sturm und Unwetter kannte ich nur aus dem Geschichtsunterricht.
Welch grausame Wirklichkeit, welch fade Theorie!
Der nächste Blitz kam. Ich sah, dass die Anschleicher zögerten. Sie starrten zum Eingang hinüber und wagten sich nicht mehr näher, denn sie mussten damit rechnen, bereits entdeckt zu sein.
Meine Rechte umklammerte einen faustgroßen Stein. Ich wartete auf das dritte Aufzucken.
Der Himmel brannte. Er wurde übersäht und zernarbt von einem glühenden Aderwerk.
Ich hob den Stein und warf ihn mit aller Kraft.
Der Stein traf einen der Anschleicher. Er schrie.
Das Himmelsfeuer erlosch und schüttete ohrenbetäubendes Grollen über uns.
Ein paar der Anschleicher verloren die Nerven und rannten davon. Ich hörte es an dem hastigen Scharren ihrer Füße.
Sie hatten Angst. Ich konnte mir vorstellen, dass ein Gewitter in den Bergen nicht ungefährlich war. Und dann auch noch die Unwägbarkeit mit dem Gleiter...
Waren die ersten Angreifer eine Art Vorposten gewesen? Ein Spähtrupp? Oder einfach nur zwei Wächter, die das für meine umgeschulten Augen unsichtbare Lager der Bande bewachten?
Ich fragte mich wieder, von was die Bande überhaupt lebte. Unter den Anschleichern waren Männer und Frauen gewesen, vermummte Gestalten, die rechtzeitig für die Kälte der Nacht mit ausreichend Kleidung vorgesorgt hatten.
Außerdem: Sie waren bis an die Zähne bewaffnet und ich hatte nicht einmal meinen Schraubenzieher dabei. Beim ersten Kampf hatte ich ihn irgendwo an Bord verloren. Ich konnte mich nicht erinnern. Ich wusste nur noch, dass er gegen die Übermacht eine sehr schlechte Waffe gewesen wäre.
Ich schnatterte stärker als zuvor und dennoch blieb ich liegen: Wie viele der Anschleicher waren geblieben? Und wenn es nur zwei waren, konnten sie meinen Tod bedeuten. Ich traute mir nicht unbedingt zu, in meinem jetzigen Zustand erneut einen Kampf erfolgreich zu bestehen.
Ja, wovon lebte die Bande? Hier gab es doch nirgendwo eine menschliche Ansiedlung? Oder hatte ich es einfach nur übersehen? Denn während meinem Absturz hatte ich ganz anderes im Kopf gehabt, als mir die Landschaftsstrukturen einzuprägen und gar nach menschlichen Ansiedlungen abzuschätzen.
Mit dem nächsten Blitz kam der Regen. Es goss in Strömen und ich sah im noch gelegentlichen Aufzucken des Himmels, dass die Anschleicher allesamt das Feld geräumt hatten.
Der Regen durchnässte mein Gewand im Nu. Er verstärkte die Kälte. Ich war so steif gefroren, dass ich kaum aufstehen konnte.
Auf allen vieren kroch ich zum Gleiter hinüber und das Wrack erschien mir jetzt so fern, dass ich befürchten musste, es niemals zu erreichen.
Das anstrengende Kriechen weckte neue Wärme in mir. Sie reichte nicht aus, um so etwas wie Behaglichkeit entstehen zu lassen, aber es fiel mir zunehmend leichter, mich zu bewegen und als ich nur noch ein kleines Stück vom Gleiter entfernt war, konnte ich mich vom Boden erheben.
Ich tat es und taumelte den Rest des Weges.
Der Eingang des Gleiters nahm mich auf. Ich bewegte mich unbeholfen und stolperte auf der Schwelle. Der Länge nach fiel ich hin, mit dem Gesicht genau auf den einen Leichnam.
Angewidert rollte ich zur Seite.
Etwas zischte durch die Luft und verfehlte mich knapp.
Da war jemand! Ein Eindringling! Und dieser schlug blindlings zu. Er wollte mich töten.
Nur EIN EINZELNER Angreifer? Oder mehr?
Ich rollte weiter, wurde von der Kuppelwölbung aufgehalten und sprang auf.
Alle Erschöpfung war vergessen. Mein Herz schlug heftig, mein Atem ging keuchend. Ich versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen.
Fremde Atemgeräusche, das Rascheln von Kleidung.
Es waren wieder zwei und sie orientierten sich an meinem eigenen, heftigen Atem.
Ich duckte mich instinktiv. Etwas prallte hinter mir gegen die Kuppel.
Geduckt rannte ich vorwärts. Mit dem Kopf traf ich in den Unterleib des einen Gegners und warf ihn um.
Draußen züngelten Blitze und ließen schwaches Licht herein.
Der erste Gegner, den ich halb überwältigt hatte: Ich sah seine Augen, die scheinbar von innen heraus glühten. Wie zwei Kohlestücke lagen sie in diesem bärtigen, verzerrten Gesicht. Er bemühte sich, mir sein Messer in die Brust zu rammen.
Der zweite Gegner griff mich hinterrücks an.
Das Lichtern dauerte nur Sekundenbruchteile. Mir genügte es. Ich warf mich zur Seite, um dem Messerstich zu entgehen und auch dem zweiten Angreifer.
Der zweite hatte nicht damit gerechnet. Sein tödlicher Streich mit dem klobigen Ding, das ich noch nie zuvor gesehen hatte - auch im Geschichtsunterricht nicht, wenn ich mich recht besann -, verfehlte mich und streifte den eigenen Kumpan.
Ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass sich die beiden nun selbst ins Gehege kamen. Das waren geübte Kämpfer. Das waren erfahrene Mörder, die ihr Handwerk verstanden. Sie bewegten sich in der Dunkelheit wie nachtsehende Katzen.
Verzweifelt suchte ich mit den Händen die Kanzel ab, die jetzt Boden war. Irgendwo musste doch mein Schraubenzieher liegen.
Da war er. Mein Instinkt hatte mich nicht betrogen.
Ich konnte nichts sehen, aber ich erwartete einen erneuten Angriff und wich aus.
Jemand geriet in meine Reichweite. Ein harter Gegenstand krachte gegen die Kuppel.
Meine Rechte mit dem Schraubenzieher fuhr vor - in der richtigen Höhe, in der richtigen Richtung.
Widerstand!
Ich hatte den Stich mit aller Kraft ausgeführt. Der Getroffene brüllte wie am Spieß. Das klobig Ding, mit dem er mich hatte erschlagen wollen, polterte zu Boden.
Ich sprang zurück, ließ den Schraubenzieher stecken.
Der andere Gegner keuchte heran. Zweifelte er, dass es seinen Kumpan anstatt meiner erwischt hatte?
Mit der bloßen Faust schlug ich zu, weil ich keine Waffe mehr hatte. Ich drosch mit aller Unbarmherzigkeit und Wut auf den Gegner ein. Ein paar Schläge, Rückzug. Zur Seite hin ausweichen... Etwas zischte durch die Luft und verfehlte mich. Klirrend traf es gegen die Wand.
Das Messer!
Ich bückte mich blitzschnell danach und hob es auf. Beinahe hätte ich es an der Schneide erwischt.
Wieder ausweichen: Das zweite Messer verfehlte mich. Der Gegner warf sehr zielsicher. Davon konnte ihn auch die Dunkelheit nicht abhalten. Aber seine raschen Bewegungen verursachten Geräusche und ermöglichten es mir, seinen Standort präzise zu bestimmen.
Auch er wich immer wieder aus, weil er nicht wusste, dass ich lediglich das erbeutete Messer besaß und sonst nichts.
Er warf ein drittes Mal - um mich zu verfehlen.
Jetzt hatte ich herausgefunden, in welcher Weise er nach jedem Wurf auswich und konnte es ausgleichen.
Das erbeutete Messer zischte durch die Luft. Ein dumpfer Laut.
Ein Blitz zuckte. Im flackernden Schein sah ich das bleiche, bärtige Gesicht des Sterbenden. Beide Hände hielten das Messer umklammert, das aus seiner Brust ragte. Langsam kippte er nach vorn.
Keuchend sank ich zu Boden. Ich hatte ein zweites Mal überlebt. Eigentlich kam es mir wie ein Wunder vor, aber auf der anderen Seite erfüllte es mich schon wieder mit Zuversicht: Zwei Kämpfe gegen eine Übermacht und gegenüber diesen Gegnern war ich eigentlich ein blutiger Laie...
Ich konnte es nicht verhindern: Diesmal verspürte ich Triumph. Ich war ein Sieger.
Der unmenschliche Gedanke: Wer siegt... der allein hat das Recht, weiterzuleben!
Darüber vergaß ich meinen Triumph, denn dieser Gedanke widersprach all den schönen Dingen, die ich in den Jahren zuvor gelernt hatte. Mein Kopf war voll mit Weisheiten der Menschheit. Ich wusste viel über Technik, über Kunst, über die Vergangenheit... Alles dies war nichts im nackten Daseinskampf. Dort kam es darauf an, wer der geschicktere Mörder war.
Erschreckend?
Ich dachte an die Kriege zurück, die von Menschen angezettelt und durchgeführt worden waren. Krieg, das war der schlimmste aller Morde. Allein der Gedanke an Krieg war ein ungeheuerlicher Frevel am Wert des Lebens.
Der Soldat kämpfte niemals für sich, für sein eigens Überleben, denn wenn er sich in tödlicher Gefahr befand, dann nur durch andere, die ihn beauftragt hatten zu töten. Also kämpfte er niemals für sich, sondern immer nur für jene andere und diese anderen befanden sich in der Regel in Sicherheit. Sie allein zogen also einen Vorteil aus dem möglichen Sieg.
Ich barg mein Gesicht in den Händen: in Mörderhänden. Ja, was war alle Philosophie, was war alle Zivilisation, wenn das eigene leben gefährdet war?
Ich befand mich nicht im Krieg, war auch kein Soldat: Ich war ein Verzweifelter, der einen furchtbaren Fehler begangen hatte, der aber für diesen Fehler, aus dem Paradies geflohen zu sein, nicht den angemessenen Preis bezahlen wollte.
Aber war das denn wirklich ein Fehler gewesen?
Wer um sein nacktes Leben kämpft, für den haben Fragen nur dann Bedeutung, wenn sie direkt Überlebenstechniken ansprechen. So gesehen waren alle Fragen, die mich im Paradies gequält hatten, von beinahe lächerlicher Banalität.
Es erschien mir im Moment unvorstellbar, dass ich deretwegen wirklich die Sicherheit und Geborgenheit der goldenen Kuppel verlassen hatte.
Doch noch einmal: Wo lag MEIN Fehler? War dieser Fehler nicht eher bei den Unsterblichen zu suchen? Warum hatten sie meine Fragen nicht beantwortet, wo diese mich doch so sehr quälten? Ich wäre niemals hier gelandet!
Das richtete mich auf. Ich lehnte mich gegen die Rundung der Kuppel und wandte meinen Blick in die Finsternis im Innern des Gleiters.
Ja, die Unsterblichen hatten mich dazu getrieben. Absichtlich?
Ich dachte an das Zwiegespräch der Frauen...
Jedenfalls: Jetzt war ich hier und ich konnte es nicht mehr rückgängig machen, selbst wenn ich es gewollt hätte.
Die Kälte kehrte zurück und zwang meine Gedanken in andere Bahnen. Ich durchsuchte die Leichen und nahm ihnen intakte Kleidungsstücke ab. Auch Messer, um für das nächste Mal besser gerüstet zu sein.
Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass es dieses nächste Mal schon sehr bald geben würde.
Mir fiel auf, dass die letzten Gegner keinerlei Proviant bei sich trugen. Ein Hinweis darauf, dass die ersten beiden tatsächlich hier draußen Wache geschoben hatten? Sie waren jedenfalls für die Nacht besser gerüstet gewesen.
Als ich mich angezogen hatte, bezog ich neben dem Ausgang Stellung. Es regnete in Strömen, als würde jemand das Wasser eimerweise über den Gleiter gießen. Aber hier drinnen saß ich im Trockenen, auch wenn die Gesellschaft der Toten nicht gerade angenehm erschien.
Seltsam, es machte mir gar nicht so viel aus. Es gab Wichtigeres: Pausenlos lauschte ich hinaus. Waren da nicht leise Schritte im Rauschen des Regens? Stimmen, die von einem neuen Plan sprachen, wie man mich am besten aus dem Gleiter holen und töten konnte?
Ich fror trotz der dicken Kleidung, doch diese Kälte kam jetzt von innen.
Und dann war da tatsächlich eine Stimme: Namen wurden gerufen. Andere Stimmen mischten sich darein, riefen dieselben Namen.
Ich lachte hart: Die Namen der Toten!
Sie wollten nicht aufhören zu rufen und ich lachte sie lauthals aus.
Als sie mein Lachen hörten, verstummten sie.
Lange Zeit war Ruhe dort draußen. Ich hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Die Müdigkeit übermannte mich fast.
Ein Geräusch vor dem Eingang.
»Kommt nur herein! Ich warte auf euch. Es wird jedem so ergehen wie den vieren, wie jedem, der es wagt, sich mit mir anzulegen.«
»Unsterblicher?«, rief jemand kläglich.
Ich runzelte die Stirn. War etwa ich gemeint?
Nun, wer sonst wohl? »Unsterblicher!« Dieses Mal klang es eine Spur mutiger. »Ich - ich bin ein Gesandter, kein Feind und ich bitte dich, mich anzuhören.«
Ein Gesandter? Ich war zu misstrauisch, um überhaupt eine Antwort zu geben.
»Wir bitten dich, Unsterblicher, die Toten von aller Schuld freizusprechen. Sie haben sich an dir versündigt und haben dennoch versagt. Verdamme sie bitte nicht für ihr Tun. Du hast ihnen mit dem Tod die einzig gerechte Strafe erteilt.«
Verdammen? Ich verstand kein Wort.
»Bitte, nimm unser Opfer an. Ich bin der Gesandte, weil das Los mich bestimmte. Mein Leben gehört dir, Unsterblicher. Du sollst mich töten, damit mein Geist die Seelen der Verdammten aus der Hölle befreien kann. Nimm mich als dein Opfer!«
Was war denn das für ein bodenloser Unsinn?
Die Stimme war näher gekommen. Jetzt stand der Mann mitten im Eingang. Ungeschützt. Ich sah ihn nicht, aber ich spürte seine Anwesenheit.
»Komm herein!«, befahl ich barsch - und wechselte blitzschnell meine Stellung, denn wenn er in böser Absicht kam und sich nach meiner Stimme orientierte...
Der erwartete Angriff blieb aus.
»Ich bin ohne Waffe, Unsterblicher. Die Wächter haben deinen Absturz gesehen und wollten den Gleiter erbeuten. Ein schlimmer Frevel!«
»Sie wollten mich töten! Was für einen Wert hätte der Gleiter denn überhaupt für sie gehabt?«
»Oh, wir kennen die Gleiter von euch Unsterblichen!«
Jetzt war mir auch klar, wieso die beiden so zielstrebig nach dem Eingang gesucht und ihn auch gefunden hatten, obwohl er verschüttet gewesen war.
»Sie wollten den unsterblichen Besitzer des Gleiters töten, um den Gleiter anschließend ausschlachten zu können?«, vermutete ich.
»Ja, gewiss, Unsterblicher! Genauso ist es.«
Ich lachte hart. »Wie kann ein Mensch so dumm sein, einen wahren Unsterblichen besiegen zu wollen?«
»Genau dafür bitte ich im Namen des Stammes um Vergebung, Unsterblicher. Ich bitte dich, mein Opfer anzunehmen - als ein Zeichen für den Stamm, damit er und die Seelen seiner Vorfahren nicht für ewig verdammt sein müssen. Töte mich also, wie es dir beliebt. Nur so haben die Seelen der Frevler überhaupt eine Chance, die Hölle zu verlassen.«
»Dabei lebt ihr bereits in der Hölle«, murmelte ich, »und ich stamme aus dem Paradies. Das Paradies ist Menschenwelt und ihr tragt die Hoffnung in euch, selbst in ein noch besseres Paradies zu kommen. Das geht aber nur, wenn man stirbt. Also glaubt ihr, es wäre das Los der Unsterblichen, dass ihnen das höchste Paradies, dass ihnen der Himmel für immer verwehrt bleibt. Dafür haben sie die Gnade, nicht schon auf Erden in der Hölle leben zu müssen.«
Ich hatte soviel über Religionen gelernt, dass es für mich nicht schwer war, einen so einfachen Glauben zu durchschauen.
Zu all den unsinnigen Ritualen, die Religionen zu eigen waren, gehörte in dieser Religion also, dass jemand unter bestimmten Bedingungen starb, wollte er wirklich für sich einen Platz im Himmel beanspruchen.
Ich hätte am liebsten laut losgelacht, aber die Situation war blutig ernst: Schließlich stand ein ausgewachsener Mann, wahrscheinlich sogar ein trainierter Kämpfer, vor mir, der sich mir höchst selbst als Menschenopfer darbot. Er war fest überzeugt von seiner Religion, sonst hätte er es sicherlich nicht getan.
»Und du glaubst nicht, dass es mir möglich wäre, die vier Seelen zu befreien und einen eventuellen Fluch auf den Stamm und die Seelen all eurer Vorfahren zu unterbinden, OHNE dich zu töten?«
Der Mann sagte nichts. Ich spürte jedoch seine Überraschung.
Langsam richtete ich mich auf. Jetzt befürchtete ich keinen hinterhältigen Angriff mehr. Der Mann hatte mich überzeugt. Vier Menschen waren in den Tod gegangen, geübte Kämpfer, die jeden normalen Gegner besiegt hätten. Aber sie hatten einen... Unsterblichen töten wollen. Ein Zeichen dafür, dass sie nicht sehr religiös gewesen waren. Im Gegensatz zu denen, die jetzt noch lebten. Und ich hatte den Lebenden bewiesen, dass man mich zurecht einen Unsterblichen nannte. Weil man mich offenbar eben nicht töten konnte. Diese armen Tröpfe. Sie mussten dadurch in einen wahren religiösen Wahn hineingeraten sein. Dieser Wahn gipfelte jetzt sogar in einem freiwilligen Menschenopfer.
Ich ging zu dem Mann hinüber und legte die Hand an seine Kehle.
Er zitterte wie Espenlaub. Er musste annehmen, dass ich ihn erwürgen wollte.
»Knie nieder!«, befahl ich hart.
Er gehorchte ohne zu zögern.
Ein ausgewachsener, kräftiger Mann, der noch manchen Kampf auf Leben und Tod hätte bestreiten können. Hier kniete er vor mir, vom reinen Glauben gebeugt.
Ich brauchte ihn nicht zu töten. Ich brauchte auch nicht die ganze Bande auszurotten, um selbst zu überleben. Wie war ich eigentlich zu dieser Wahnvorstellung gekommen?
Auf einmal erschien mir alles so schrecklich einfach - und auch logisch. Das Gesetz des Stärkeren. Es war nicht nötig, dass der Stärkere jeden Schwächeren tötete, sonst hätte es schon seit Jahrmillionen keine Menschen mehr gegeben. Das Menschengeschlecht wäre vielleicht gar nicht erst entstanden.
Es genügte DER BEWEIS der überlegenen Stärke!
Ich hatte den Beweis sogar vierfach angetreten - in seiner drastischsten Form. Hinzu kamen die religiösen Wunschvorstellungen, die es den Menschen ermöglichten, etwas verstandesmäßig zu begründen, was in Wirklichkeit nur auf Instinkt beruhte.
Das Recht des Stärkeren war das Fundament für jegliche Ökologie - und hatte die Evolution begründet. War der Mensch nicht der Scheitelpunkt der Evolution? War er nicht nur Produkt, sondern sogar... triumphaler Sieger?
Wie hätte derselbe Mensch es fertig bringen können, in herrlichem Frieden zu leben mit sich und der Natur - jemals?
Ich schüttelte den Kopf.
Schule des Lebens. Sie hatte mir eine Lektion erteilt: Sie hatte mich gezwungen, mein Dasein zu behaupten, zunächst sogar auf der niedrigsten Ebene des Menschseins.
In jeder Schule gab es Zensuren. In der Schule des Lebens waren die Zensuren allerdings nicht schriftlicher Natur: Sie belohnt den Sieger, den erfolgreichen Schüler, mittels Anerkennung durch die anderen.
Jene anderen litten jedoch nicht etwas darunter: Sie begründeten ihre instinktmäßige Unterwürfigkeit mit religiös-mystischen Erklärungen - und waren darüber zufrieden.
Abermals schüttelte ich den Kopf.
»Dein Leben gehört jetzt mir!«, sagte ich leise. Ja, ich war ein guter Schüler und würde auch die zweite Lektion vom Recht des Stärkeren beherzigen.
Denn jede gute Zensur war ein weiterer Schritt zu einem besseren Leben.
»Hörst du?«
»Ja!«, antwortete der Mann. Er wirkte jetzt gefasst. Der Tod hatte keine Schrecken mehr für ihn. Er würde ihn gelassen hinnehmen.
Die Hoffnung auf ein besseres Leben gibt dem Leben einen Sinn - gibt allem einen Sinn, was man in diesem Leben tut. Und wenn es endet, dann bekommt selbst der Tod einen höheren Sinn - vor dem Hintergrund eines besseren Lebens NACH dem Tode.
»Ich bin der Unsterbliche. Ich bin zu euch gestoßen, vom Zufall geleitet. Wann hat man jemals davon gehört, dass der Gleiter eines Unsterblichen abstürzte? Ich schenke euch das Wrack. Ihr könnt es nach eurem Belieben ausschlachten. Aber vergesst niemals, dass euer aller Leben fortan mir gehört. Ich nehme es dann, wann es mir passt. Deines und auch das Leben eines jeden anderen in deinem Stamm. Dies kann in jeder Sekunde geschehen. Ich raube das Leben eines von mir ausgewählten Opfers auch dann, wenn wir weit voneinander getrennt sind. Und so lange das so ist, weil ich es will, bist du und ein jeder innerhalb des Stammes untrennbar mit mir verbunden. Ich nehme also dein Opfer auf diese Weise an. Begreifst du das? Aber ich wähle und bestimme selbst, wen und wann ich als Opfer akzeptiere. Und ich vollstrecke das Urteil, wann immer und wo immer es mir passt.«
»Aber die Seelen...?« Seine Stimme versagte ihm den Dienst.
»Wenn ich die Zeit als gekommen glaube, wirst du sterben - oder ein anderer an deiner Stelle. Oder ihr alle. Und jeder, der stirbt, wird die höchste Wahrheit schauen. Er wird wissen, was mit den Seelen der Verdammten geschehen ist. Sie haben die Hölle verlassen und befinden sich nun in einer besseren Welt. Dort werden sie gern auf dich und die anderen warten und es gibt dort keine Ungeduld. Du hast also Zeit. Und eines Tages, wenn ich es so bestimme, wirst du mit ihnen zusammenstoßen und wirst gemeinsam mit ihnen an höchster Stelle erwartet werden!«
Er erschauerte vor Ehrfurcht.
Karem Eklund, sagte ich zu mir selbst, du hast die unterste Stufe verlassen. Jetzt brauchst du nicht mehr zu töten. Dein Kampf hat eine andere Dimension angenommen.
Aber es gibt keinerlei Garantien, dass du die unterste Stufe des Überlebenskampfes nicht jederzeit wieder erreichst.
Sei auf der Hut, denn du bist in Wahrheit kein Unsterblicher mehr, auch wenn die Bande es gern glaubt, um die eigene Niederlage zu rechtfertigen.
*
Ich schickte den Mann weg, »dessen Leben mir fortan gehörte«, nachdem ich seinen Namen erfahren hatte: Borsch.
Der Name war äußerst wichtig, denn ich hatte keine Ahnung, wie Borsch bei Tageslicht aussah und ich ließ ihn seiner Bande ausrichten, dass ich vor Tagesanbruch keinerlei Kontakt wünschte.
Auch jetzt ging ich nicht das geringste Risiko ein. Wer sich auf den Glauben und den Respekt von Menschen verlassen muss, sollte stets damit rechnen, dass es auch Ungläubige, zumindest ZWEIFLER gibt: Nur so kann er seine Stellung behaupten.
Es war in dieser Nacht mein Grundsatz.
Um gegen Überraschungen gefeit zu sein, schleppte ich den Toten mit der Lanze in der Brust zum Eingang. Wer jetzt im Schutz der Dunkelheit eindrang, würde unweigerlich über den Toten stolpern.
Erst danach legte ich mich einfach hin - und war im nächsten Moment eingeschlafen.
Ich schlief ruhig. Der Körper verlangte sein Recht. Aber ich hatte mir vorgenommen, nicht lange zu schlafen.
Ob ich überhaupt rechtzeitig aufwachte?
Ich hatte es mir eindringlich genug eingeredet, um nicht mehr zu zweifeln. Außerdem war ich es gewohnt, wenig Schlaf zu brauchen. Das mochte nicht nur an der besonderen Umgebung meines Paradieses gelegen haben.
Ja, ich nannte die Welt, die ich hinter mir gelassen hatte, jetzt nur noch Paradies. Ein Ausdruck, der in keiner Weise übertrieb. Im Schutz der goldenen Glocke hatte die Menschheit die höchste Blüte erreicht, die überhaupt denkbar war.
Von der Hölle des Anfangs bis zum Paradies und doch war es in den Vorstellungen der sterblichen Menschen nur eine Zwischenstation, die sie mit ihrem Tode einfach übersprangen.
Wie unsinnig, wie töricht, wie naiv - aus meiner Sicht.
Doch ich würde mich hüten, sie auf ihren Irrtum aufmerksam zu machen, denn wer sich gegen die Lehren des Lebens stellte, bekam mehr als nur schlechte Noten. Wenn er Pech hatte, wurde er dafür mit dem Tode bestraft.
Und zwar ohne in das Nirwana, in den Himmel oder an einem sonst wie geheimnisvoll-positiven Ort einzuziehen.
Ich knirschte mit den Zähnen und schlug die Augen auf: Die Nacht war vorbei. Die Hölle hatte mich wieder. Diesmal allerdings bei Tag.
Ich regte die steifen Glieder und versuchte aufzustehen. Das gelang mir erst beim dritten Anlauf.
Es schmerzte in den Muskeln, als der Blutkreislauf wieder ordentlich zu zirkulieren begann. Überhaupt fühlte ich mich wie gerädert. Die Kämpfe auf Leben und Tod, Hunger, Durst, Müdigkeit allein hätten mir schon arg zugesetzt, wäre da nicht auch noch zusätzlich die psychische Belastung gewesen: Ich fühlte mich auch seelisch gemartert.
Die vier Toten zeigten mir, dass alles Wirklichkeit war, dass ich es nicht einfach nur geträumt hatte.
Ich senkte beschämt den Kopf. Tränen rannen über meine Wangen. Ich verharrte minutenlang so, bis mich der unerträgliche Gestank nach draußen trieb.
Bei der Bande war es offenbar nicht üblich, sich ab und zu wenigstens zu waschen. Auch schienen sie stets dieselbe Kleidung zu tragen.
Als ich den Gleiter verließ, nahm ich den Gestank mit, denn ich hatte immer noch erbeutete Kleidungsstücke an.
Aber der Gestank war mir immer noch lieber als die Morgenkälte.
Tief sog ich die frische Bergluft in meine Lunge. Ich legte den Kopf in den Nacken, während meine Hände mehr unbewusst Messergriffe umklammerten. Ich war bewaffnet und hatte das Gefühl, als würde das niemals mehr anders sein können...
Der Himmel war klar. Die Sonne goss scheinbar Blut über den Horizont. Ich sah diesen Horizont im Ausgang des Tals.
Mein Gott, hätte ich es nur geschafft, den Gleiter in diese Richtung zu lenken. Ich hätte das Tal verlassen, wäre hinaus auf die Ebenen... Und was dann?
Ich schüttelte den Kopf. Nein, es wäre gewiss um keinen Deut besser dort drüben als hier.
Ich senkte den Blick, gerade als jemand aus der Mulde kroch, in der ich mich des Nachts vorübergehend versteckt gehalten hatte. Die Mulde war wesentlich näher als ich geglaubt hatte. Überhaupt sah die Umgebung irgendwie anders aus.
Doch nicht die Umgebung hatte sich verändert: Meine Erinnerung war nicht exakt genug. Schließlich hatte ich diese Umgebung zum ersten Mal aus einem abstürzenden Gleiter gesehen.
Der Mann, der auf allen vieren aus der Mulde gekrochen kam und mit gesenktem Kopf sich näherte... das war Borsch. Ich war überzeugt davon.
Schnell schaute ich mich um. Niemand sonst war zu sehen. Anscheinend hatten sich alle ins Lager zurückgezogen, wo immer das auch zu finden war.
Ich wartete, bis Borsch mich erreicht hatte. Er war bis an die Zähne bewaffnet, wie ich sah. War er heute Nacht wirklich unbewaffnet im Gleiter erschienen?
»Du hast gewacht?«, frage ich streng.
»Ja, Herr!«, antwortete Borsch in Demut. »Ich habe alle meine Waffen wieder an mich genommen, nachdem ich Eure Nachricht weitergegeben hatte und wachte die ganze Nacht über Euch!«
»Du wachst also über einen Unsterblichen?«
»Nicht weil ich eine Gefahr für Euch befürchtete, Herr, sondern nur, um weitere Frevler abzuhalten.«
»So dientest du in dieser Nacht also nicht mir, sondern etwaigen Frevlern, nicht wahr?«
Er fuhr erschrocken zusammen. Offenbar hatte er an diese Möglichkeit noch gar nicht gedacht.
Ich setzte meinen Fuß auf seine Schulter. »Sprich, Borsch, warum bist du die ganze Nacht über in meiner Nähe geblieben? Warum sind die anderen abgezogen?«
»Sie sind im Lager, um dort auf Euch zu warten - auf Euch und Eure Wünsche. Ich aber gehöre Euch, mit allem was ich habe. Ich sah es als meine heilige Pflicht an, hier zu bleiben.«
»Hör zu, Borsch und merke es dir für immer: Was deine Pflicht ist und was nicht, das bestimme nur ich - einzig und allein. Wenn ich von dir verlange, dass du in meiner Nähe bleibst, dann tust du das. Wen ich dir aber keinen besonderen Auftrag geben, dann handele nach deinem Gewissen.«
»Das habe ich genau getan, Herr! Ich glaubte, es sei richtig, zu bleiben!«
Ich lächelte nachsichtig und nahm den Fuß von seiner Schulter.
»Steh auf!«, befahl ich mit sanfterer Stimme.
Borsch tat es zögernd. Er wagte es nicht, mich anzusehen.
Ich fuhr mit der Hand über mein Kinn. Es war völlig glatt und bartlos. Ich hatte kaum Körperhaare. Hames hatte mir erklärt, das sei bei Unsterblichen normal. Der volle Bartwuchs würde erst nach Jahrzehnten einsetzen - wenn überhaupt jemals.
Es gefiel mir nicht, denn ich würde mich ohne Bart immer von den anderen Männern unterscheiden.
In diesem einen Stamm mochte das noch von Vorteil sein. Es war gewissermaßen mein unverwechselbares Erkennungszeichen. Was aber, wenn ich auf andere traf, die noch nicht gelernt hatten, mir gegenüber Respekt zu üben? Ich würde auffallen wie der berüchtigte bunte Hund. Irgendwann würde auch mal einer feststellen, dass ich keineswegs unsterblich war...
*
Ich wartete, bis Borsch in voller Größe vor mir stand.
Er war ein muskelstarrender Hüne. Das sah man trotz der dicken Kleidung. Er war so groß wie ich, aber wesentlich breiter. Dabei hatte er nicht einmal den Ansatz eines Bauchs. Er schien nur aus Knochen, Muskeln und Sehnen zu bestehen und als ich in seine Augen blickte, ahnte ich, dass er keineswegs ein Dummkopf war.
Aber er war ein Gläubiger und das lähmte seinen Verstand. So lange diese Lähmung anhielt, brauchte ich niemals zu beweisen, ob ich einen Kampf gegen ihn bestand.
»Sie wagten es also, sich ins Lager zurückzuziehen, dass ich zu ihnen komme«, sagte ich unterkühlt. »Ich soll also den Weg zu ihnen machen - wie ein Bittsteller, nicht wie ein Unsterblicher?«
Seine Augen weiteten sich entsetzt.
»Bitte, Herr, so war das sicher nicht gemeint!«, versuchte er, seine Bande zu verteidigen.
Ich schüttelte missbilligend den Kopf und dann wechselte ich das Thema: »Habt ihr Frauen und Kinder im Stamm?«
»Ja, Herr!«
»Wie viele Menschen hat denn euer Stamm insgesamt?«
»Wie viele?« Er schluckte schwer.
»Kannst du nicht zählen?«
»Nein, Herr, keiner von uns kann das. - Außer Eps!«, fügte er rasch hinzu.
»Wer ist Eps?«
»Der Stammesführer!« Borsch schlug die Augen nieder.
Aha! Es gab also einen Stammesführer und Eps hatte mehr Wissen als alle anderen. Es half ihm, seine Stellung zu behaupten.
Hatte er seinen Leuten befohlen, sich zurückzuziehen von mir, um eine bessere Chance zu haben?
Eps war mein Todfeind, gewiss. Ein Stammesführer will Stammesführer bleiben und erkennt einen Rivalen nicht so ohne weiteres an.
Auch wenn dieser Rivale ein Unsterblicher war.
Eps würde alles tun, um mich auszuschalten. Selbst wenn er dabei zu Tode kam.
Der Tod würde ihm lieber sein als die Niederlage...
Ich brauchte nicht lange zu überlegen, denn ich hatte im Geschichtsunterricht gut aufgepasst: War es vor urdenklichen Zeiten nicht so üblich gewesen, dass man die Kräfte verteilte? In den meisten Stämmen hatte es mindestens zwei Herrscher gegeben. Gewaltenteilung nannte man das: Stammesführer und Medizinmann!
Wer hatte mehr Macht von den beiden? Der eine regierte die Lebenden, der andere hatte die Toten auf seiner Seite. Wo Glaube herrscht, dort ist der Freund der Toten eine besondere Größe.
Medizinmann und Stammsführer mussten miteinander auskommen. Keiner konnte beide Aufgaben gleichzeitig wahrnehmen. Auf Dauer jedenfalls nicht. Wenn ein Medizinmann sein Ritual durchführte, konnte er nicht zur gleichen Zeit den Stamm zusammenhalten.
Der Politiker brilliert nicht durch Wissen, sondern in erster Linie durch den Zwang, führen zu müssen.
Der Wissende braucht nicht selber zu führen, denn dafür hat er schließlich den Politiker.
Ich lachte auf.
Borsch verstand es falsch und wich erschrocken vor mir zurück.
»Geh und hole mir Eps!«, befahl ich.
Er schaute mich groß an.
»Hast du nicht verstanden, Borsch?«
»Gewiss, Herr, ich habe Euch...«
»Wo hast du diese verdrehte Sprechweise her, Borsch? Sie passt nicht zu dir, genauso wenig wie zum Stamm. Ich bin dein Herr, also rede mit mir, dass ich nicht glauben muss, du wolltest mir nur schmeicheln. Oder meinst, es sei notwendig? Meinst du, ein Unsterblicher braucht ständig Weihrauch, um sich daran zu laben?«
»Ich - ich hole dir Eps, Herr, sofort!«
Er wandte sich fluchtartig ab und rannte los.
»Und der Stamm soll sich zur Verfügung halten - alle!«, brüllte ich ihm nach. »Auch das kleinste Kind!«
»Ja, Herr!«, brüllte er zurück.
Er rannte wie um sein Leben. Er fürchtete sich vor mir. Ich war ihm unheimlich. Aber es gab keinen Grund für mich, dies zu bedauern.
Die Zeit seiner Abwesenheit nutzte ich, indem ich die Leichen aus dem Gleiter schleifte. Ich bettete sie in die Mulde. Gleich, wenn Eps kam, wollte ich ihn fragen, was normalerweise mit ihren Toten geschah. Ich wollte nicht unbedingt bestehende Gewohnheiten ändern, sofern ich es umgehen konnte. Die geschichtliche Erfahrung lehrte, dass Menschen meistens negativ reagierten, wenn sich etwas nicht augenscheinlich zum Besseren wendete.
Dinge wie Totenrituale waren im Grunde genommen so unwichtig, dass man dessentwegen kein Risiko eingehen sollte.
Wer, wie ich, als Fremder in einen Stamm eindrang und dann auch noch als das Sinnbild der Stärke und Unverletzbarkeit, der musste sich sehr wohl ganz besonders genau überlegen, was er tat, denn allein sein Eindringen war eine so einschneidende Veränderung im normalen Alltag eines solchen Stammes, dass er mit Schwierigkeiten rechnen musste.
Es blieb eine Frage der Zeit, bis sie von selber herausfanden, dass ich nicht wirklich ein Unsterblicher war - außerhalb des goldenen Energiefeldes!
Kaum war ich mit meiner Arbeit fertig und hatte aus dem Gleiterwrack so eine Art persönliche Höhle gemacht, als Borsch mit Eps zurückkehrte.
Eps war ein schmaler Typ mit bärtigem Rattengesicht. Er bewegte sich so geschmeidig wie ein Tänzer oder wie ein - Artist. Eps war ein gefährlicher Gegner, gerissen und er war absolut skrupellos. Wenn ich die nötige Umsicht vermissen ließ, wurde er auch für mich gefährlich.
Borsch hielt sich lieber zurück. Er wusste im Moment sowieso nicht, vor wem er nun mehr Respekt zeigen solle: Vor Eps oder doch lieber vor mir?
Breitbeinig und die Arme vor der Brust verschränkt erwartete ich die beiden vor dem Eingang zum Gleiter.
Eps belauerte mich. Seine Augen schienen überall gleichzeitig zu sein.
An seiner linken Wange entdeckte ich eine furchtbare Narbe, kaum vom Bart überwuchert. Auch fehlte ihm die Hälfte des rechten Ohres.
Eps hatte eine bewegte Vergangenheit. Es war gewiss nicht leicht, sich bei einer solchen Bande von Meuchelmördern als Führer auf die Dauer zu behaupten.
»Du bist also der Stammesfürst!«, sagte ich ruhig.
»Na und?«, zischte er. »Willst du mir das streitig machen?«
Er hielt wohlweislich genügend Abstand, stellte sich ebenfalls breitbeinig hin und legte die rechte Hand auf den Griff seines Krummsäbels. Seine linke Hand steckte in der Tasche.
Was verbarg er dort? Gab es hier so etwas wie - Schusswaffen?
Wieso eigentlich nicht?, konstatierte ich im stillen. Sie würden sicherlich primitiver sein als im zwanzigsten Jahrhundert üblich, weil zweifelsohne handgefertigt, aber sie würden ihren tödlichen Zweck durchaus erfüllen.
»Du siehst also einen Rivalen in mir?«, fragte ich belustigt.
»Ja!«, knurrte er.
»Du bist sehr stolz, Eps - und ehrlich mir gegenüber, was ich zu schätzen weiß.«
Borsch hatte sich endgültig entschieden. Er zog unbemerkt von Eps ein Messer, trat lautlos hinter Eps, der sich von mir ablenken ließ - und setzte das Messer Eps blitzschnell an die Kehle.
Eps fuhr erschrocken zusammen. Offensichtlich hatte er sich zu sehr auf mich konzentriert und dabei Borsch völlig falsch eingeschätzt... Nein, er hätte mit einem Angriff aus dieser Richtung unmöglich rechnen können.
»Auf die Knie, Frevler!«, befahl Borsch außer sich vor Zorn. »Du weißt wohl nicht, wen du vor dir hast: Einen Unsterblichen, einen Herrn aller Herren. Der Unsterbliche steht über allem, selbst über den Herren der Welt. Er kann niemals der Rivale eines kleinen Häuptlings sein!«
Eps lachte leise. Er ignorierte das scharfe Messer, das leicht seine Haut ritzte. Nein, Eps hatte keine Angst vor dem Tod. Er machte keinerlei Anstalten, Borsch zu gehorchen.
»Willst du wohl tun, was ich dir sage!«, drohte Borsch nachdrücklich. Er drückte die Messerklinge tiefer in die Haut. Blut sickerte.
Es war genug: Ich befahl Borsch: »Lass ihn! Tritt zurück, Borsch!«
Er zögerte, weil er offenbar nicht begreifen konnte, wieso ich mich jetzt gegen ihn wendete, wo er doch so offensichtlich auf meiner Seite stand.
Dann nahm er das Messer von der Kehle und sprang blitzschnell außer Reichweite seines Stammesführers.
Natürlich, Borsch musste jetzt damit rechnen, dass Eps ihn für seinen Angriff bestrafte und zwar mit dem Tode.
Borschs Blicke gingen zwischen Eps und mir hin und her. Sein Gesicht spiegelte den Widerstreit seiner Gefühle wider: Er schwankte zwischen Todesangst und Hoffnung.
Eps hingegen kümmerte sich überhaupt nicht um Borsch.
»Siehst du nicht selbst, Borsch, dass dein Führer eher sterben würde, als sich vor mir zu ducken?« Ich nickte Eps zu. »Das beweist mir erst recht deinen unbeugsamen Stolz, Eps. Du hast es wahrlich verdient, der Führer deines Stammes zu sein.«
Eps war ein schlauer Bursche. Er runzelte die Stirn, weil er eine besondere List vermutete.
Ein Ungläubiger!, dachte ich alarmiert.
Ich lachte rau. »Niemals würde es mir einfallen, dich zu demütigen, Eps und dann auch noch vor einem Mann deines Stammes. Ich bin auch kein Rivale für dich. Oder glaubst du wirklich, ein Unsterblicher hätte es nötig, mit einem Stammesführer zu rivalisieren? Niemand braucht vor mir auf den Knien herumzurutschen. Das habe ich nicht nötig. Schon gar kein Stammesführer. - Es sei denn, ich würde es ihm aus besonderem Anlass befehlen!«, fügte ich betont hinzu.
Ich machte eine kleine Kunstpause. Dann sagte ich: »Was deinen Stamm betrifft, Eps, so will ich ihn dir nicht streitig machen, denn ein Unsterblicher steht über den Dingen. Und ich würde auch niemals von Mitgliedern deines Stammes verlangen, mir zu dienen. Es sei denn, du wünschst es. - Nun?«
Seine Rechte umklammerte fester den Säbelgriff. Seine ganze Haltung drückte absolutes Misstrauen aus.
»Du bist wirklich ein Unsterblicher«, sagte er gedehnt. »Das hast du unter Beweis gestellt. Nicht nur das: Du hast vier unserer besten Männer getötet, weil sie es wagten, sich gegen dich zu stellen. - Würdest du auch mich töten?«
»Zweifelst du daran?«
Er zog den Säbel halb aus der Scheide.
»Herr!«, rief Borsch warnend zu mir herüber.
Ich ignorierte ihn und lächelte Eps überlegen an. »Brauchst du denn wirklich noch einen Beweis, Eps? Was hättest du davon - als Toter?«
Er zögerte. Dann schob er den Säbel wieder ganz in die Scheide zurück.
»Ich weiß, Eps, du hast eine Schusswaffe in der linken Hand. Du bist nämlich Linkshänder. Der Säbel dient nur dazu, davon abzulenken. Die Mündung der Waffe zeigt genau auf mich. - Und was siehst du dabei bei mir, Eps? Etwa Todesangst? - Todesangst bei einem Unsterblichen?«
Eps wurde zum ersten Mal unsicher. Er schluckte schwer. Dann zog er langsam die linke Hand aus der Tasche.
Tatsächlich!, dachte ich erleichtert. Nicht auszudenken, wenn ich mich geirrt hätte: Seine Linke hielt wie vermutet einen Revolver. Nein, der war nicht selbst gefertigt, sondern wirkte eher wie frisch aus der Fabrik. Er glänzte silbern im Sonnenlicht.
Edelstahl!
Stammte er aus der Zeit vor der Zeit? Stammte er aus dem zwanzigsten Jahrhundert? Wie lange war das eigentlich her?
Die alten Fragen wieder, die ich verscheuchte, weil sie hier nicht mehr angebracht waren.
Wenigstens zur Zeit nicht.
Später erst konnte ich mich wieder damit beschäftigen. Philosophie war nur etwas für Leute, die sich nicht abmühen mussten, ihr nacktes Leben zu verteidigen.
Die Mündung blieb auf mich gerichtet, der Zeigefinger um den Abzug gekrümmt.
Ich glaubte, dass er sich weiterkrümmte. Dann musste bald der Schuss brechen.
Die Mündung zeigte genau auf meine Brust. Eps war ein ausgezeichneter Schütze. Ganz gewiss.
Und niemand wusste besser als ich selbst, wie gering meine Chance war, eine Kugel zu überleben!
Dennoch lachte ich schallend. Ich bog mich förmlich vor Lachen.
Eps zögerte. Mein Lachen brach ab.
Ich sah ihn durchdringend an, diesen Eps, der mich immer noch als Rivalen einschätzte.
»Ich will dir nicht den Rang streitig machen, Eps. Es ist für einen Unsterblichen nicht erstrebenswert, zu herrschen. Das solltest du wissen. Schließlich haben wir dafür deinesgleichen.«
Borsch hatte beide Hände zu Fäusten geballt. Das Messer hatte er weggesteckt. Er schüttelte die Fäuste gegen Eps.
»Etwas Besonderes sind die Unsterblichen!«, schrie er enthusiastisch, »etwas ganz Besonderes!«
Eps ließ tatsächlich seinen Revolver sinken. Seine Haltung entspannte sich leicht. Er ließ den Arm mit der Waffe hängen und... neigte den Kopf vor mir. - Tatsächlich!
»Ich bitte um Vergebung!«
Es war schwer über seine Lippen gekommen.
Ich ging auf ihn zu, mit festem Schritt.
Er rührte sich nicht, bis ich bei ihm war.
Kameradschaftlich klopfte ich ihm auf die Schulter. »Du musst dich nicht entschuldigen bei mir, Eps. Du hast gehandelt, wie es einem echten Stammesführer würdig ist. Dein Stolz ist nötig, denn er erzeugt auch Stolz bei deinen Leuten. Sie sind stolz darauf, dir dienen zu dürfen. Ein guter Stamm braucht das nötiger als das tägliche Brot.«
Seine Haltung straffte sich. Er wagte es wieder, zu mir aufzublicken.
Feuer war in seinen Augen. Aber das war kein Hass mehr, sondern eine besondere Art von Respekt.
Ein Respekt, den man einem überlegenen Freund entgegenbrachte, dessen machtvolle Stärke man nicht zu fürchten brauchte.
Damit war das Eis gebrochen. Das wusste ich.
Noch einmal klopfte ich ihm auf die Schulter. Dann reichte ich ihm die Hand.
Etwas verschämt steckte Eps den Revolver weg.
Borsch war fassungslos, als Eps meine Rechte ergriff.
Ich schüttelte sie kräftig. Dann wandte ich den Kopf. »Hast du alles ausgerichtet, Borsch?«
»Ja, Herr!«, murmelte er heiser.
»Dann ist der Stamm bereit?«
Eps beeilte sich, an seiner Stelle zu antworten: »Ja, er ist bereit!«
Ich lächelte ihn aufmunternd an. »Mein Name ist übrigens Karem. Du kannst mich so nennen. - Du allein!«
»Für alle anderen bleibst du... der Herr - Karem!«, versicherte Eps mit fester Stimme.
Es war genau das Gegenteil eingetreten von dem, was er wahrscheinlich erwartet hatte. Durch mich hatte er nicht Demütigung oder gar den Tod erleiden müssen, sondern durch mich wuchs er geradezu zu ungeahnter Größe.
Denn er war ab sofort immerhin der persönliche Freund eines Unsterblichen, durfte ihn sogar als einziger mit seinem Namen ansprechen!
Ich schaute zu Borsch hinüber.
Zwei Männer des Stammes hatte ich vollkommen auf meiner Seite, jeden auf eine ganz andere Art und Weise. Eben auf seine Art und Weise.
So würde ich auch den ganzen Stamm auf meine Seite bringen.
Ich musste mich bemühen, diese Menschen nicht mit den Maßstäben zu messen, wie sie im Paradies ihre Gültigkeit hatten.
Hier herrschten andere, härtere Gesetze, die bei den unsterblichen Menschen nicht nötig gewesen wären.
Und irgendwie hing es auch mit der Frage zusammen, von was diese Menschen überhaupt lebten...
*
Ich schaute mir die Leute an, wie sie herbeischlurften, meinetwegen unsicher. Die Frauen ohne Kinder waren genauso bewaffnet wie die Männer. Mütter hingegen blieben in der Deckung der Krieger. Sie hatten keinerlei Waffen bei sich, wurden also von den anderen beschützt.
Es war nicht herauszufinden, wer nun zu wem gehörte. In diesem Stamm schien es keine monogame Verbindung zu geben. Jedenfalls erkannte ich nichts dergleichen, was darauf hinweisen könnte.
Eps trat vor sie hin und verkündete mit harter Stimme: »Ich begrüße euch im Namen des Unsterblichen. Er ist gütig, wenn es darum geht, unseren Stamm zu beurteilen, aber er ist unnachsichtig und bestraft jeden mit dem Tode, der es wagt, sich gegen ihn aufzulehnen. Mir hat er Freundschaft angeboten und ich nahm dies als eine besondere Würdigung an. Ich werde ihm dienen - als euer Führer. In eurem Sinne genauso wie in seinem Sinne. Damit teilen wir alle gleichermaßen die große Ehre, dass sich der Unsterbliche zu uns herabgelassen hat, zu uns sterblichen Kreaturen. Es ist, als wäre ein Gott zu uns herabgestiegen, um uns mit seiner Anwesenheit besonders zu ehren und uns mit seiner Güte unseren Alltag zu erhellen - und uns mit seinem göttlichen Verstand den wahren Weg zu zeigen.
Huldigt dem Unsterblichen, der uns wohl gesonnen ist!«
Ein Raunen ging durch die Versammelten. Sie glaubten sicher, es wäre sein besonderer Verdienst, stellvertretend für den Stamm meine Freundschaft erworben zu haben. - Ich hatte nichts dagegen.
Einige warfen sich flach auf die Erde, in Demut nicht nur vor mir, wie ich fand, sondern auch vor Eps. Die meisten zeigten ihre Demut, indem sie sich nur hinknieten. So auch die Mütter, ausnahmslos.
Ich konstatierte: Mütter haben eine bevorzugte Stellung - so lange sie abhängige Kinder hatten. Ältere Kinder waren bewaffnet, Mädchen genauso wie Jungen, was darauf hinwies, dass sie schon recht früh kampfesfähig sein mussten.
Die alte Frage tauchte wieder auf: Von was lebten sie? Gewiss nicht von Landwirtschaft oder ähnlich harmlosen Dingen. Sonst wäre nicht jeder von ihnen so gefährlich erschienen. Jedenfalls gab sich jeder, ob Mann oder Frau, besondere Mühe, gefährlich zu erscheinen - selbst während sie Demut bezeugten.
Ein Phänomen!
Nun, lebten Sie vom Raub? Stimmte meine erste Einschätzung, dass ich auf eine Bande von Desperados gestoßen war, die hier in den Bergen hauste... weil sie sich hier verstecken musste?
Dann mussten die nächsten menschlichen Behausungen in Reichweite liegen. Sonst wären die Bandenmitglieder hier längst verhungert.
Jetzt trat ich ebenfalls vor. Es war an der Zeit, dass ich mich persönlich bekannt machte. Dabei kam es auf jedes Wort an. Ich durfte keinen Fehler machen. Der erste Eindruck würde entscheidend sein.
Eps schaute zur Seite, bemerkte, dass ich nun selbst sprechen wollte - und ging prompt darauf ein: Er salutierte mehr schlecht als recht und berichtete lauthals und theatralisch, dass sein Volk es ebenfalls als eine ganz besondere Ehre ansah, dass ich mich zu ihnen herabgelassen hätte. Dies sei gleichsam eine Segnung ganz besonderer Art. Und dann fügte er etwas hinzu, was mich unwillkürlich schlucken ließ - bestätigte es schließlich meine schlimmsten Befürchtungen: »Ja, es ist dies ein ganz besonderes Zeichen, zeigt es uns doch in aller Deutlichkeit, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden. Nun werden unsere nächsten Raubzüge nur noch mehr von Erfolg gekrönt sein!«
Ich kümmerte mich zu diesem Zeitpunkt zu wenig um die Doppeldeutigkeit dieser Aussage. Das Wort Raubzüge und die damit verbundene Assoziation beschäftigten mich zu sehr und lenkten mich vor weiteren Möglichkeiten völlig ab.
»Ihr habt es gehört!«, rief ich über die Versammelten hinweg. »Wir haben uns hier versammelt, aber wir dürfen nicht zuviel Zeit verlieren. Wie ihr wisst, bin ich mit meinem Gleiter abgestürzt. Eine Fügung des Schicksals, das damit dafür gesorgt hat, dass ich auf euch traf. Aber es ist durchaus auch möglich, dass noch andere den Absturz beobachtet haben. Das dürfen wir nicht vergessen.«
Ich wandte meine Augen zu Eps, der in gebührendem Abstand an meiner Seite stand.
»Eps ist der würdigste Führer, den ich mir für euch denken kann. Aber ihr könnt sicher sein, dass auch ich völlig auf eurer Seite stehe. Das gibt allen die nötige Sicherheit!«
Als ich erwähnte, dass es durchaus auch noch weitere Zeugen meines Absturzes geben könnte, hatte dies Unruhe unter den Versammelten erzeugt. Doch ich hatte sie mit den letzten Worten wieder beruhigen können. Das heißt, die Angst war sogleich wieder aus ihren Augen gewichen. An ihre Stelle war jetzt gesteigerter Kampfmut getreten.
Das waren nicht nur einfach Räuber: Der ganze Stamm bestand aus Verfolgten! Sonst hätten sie anders reagiert.
Ich hob beide Hände und donnerte über sie hinweg: »Ihr habt mich auf eurer Seite - und einen Führer wie Eps!« Ich deutete auf das Gleiterwrack im Hintergrund. »Für mich ist es in diesem Zustand nicht mehr zu gebrauchen.« Mein zweites Experiment folgte: »Ich habe erfahren, dass ihr Besseres damit anzufangen wisst. Es ist an der Zeit, dass es von hier verschwindet, ehe es doch noch entdeckt wird.«
»Soll das heißen, du machst es uns zum Geschenk?«, rief Eps ungläubig. Damit steigerte er den Effekt auf den Stamm noch. Absicht oder Zufall?
Ich hatte genau richtig gehandelt und wusste, dass ich sie vorerst uneingeschränkt auf meiner Seite hatte.
Aber das war eigentlich nicht der Grund, dass ich ihnen den Gleiter zum Geschenk gemacht hatte, denn es zeigte sich dadurch, dass es mehr für sie war als nur ein Symbol unsterblicher Macht: Sie wussten durchaus etwas damit anzufangen - auch mit den Wrackteilen. Also waren sie technisch versiert.
Meine kühnste Vermutung: Vielleicht konnten sie aus vielen Einzelteilen einen... neuen Gleiter basteln? Einen, der sogar funktionierte und mich damit in die Lage versetzte, irgendwann ins Paradies zurückzukehren? Irgendwie halt...
Als mir Eps die Hand reichte, um sich bei mir im Namen des Stammes in aller Herzlichkeit zu bedanken, hatte er feuchte Augen. Nein, das war keine Strategie, sondern das war echt.
»Es ist unbeschreiblich, was du damit für uns getan hast, Karem. Ich darf sagen, dass ohne dieses Geschenk der Fortbestand unseres Stammes gefährdet wäre - vielleicht sogar unmöglich. So handelt ein echter Unsterblicher - ein Mann wie ein Gott!«
Ich blinzelte und hatte alle Mühe, meine Verlegenheit nicht zu zeigen.
»Ich dachte mir, dass es wichtig für euch sei«, behauptete ich. Worte, die nur von Eps verstanden wurden, weil sie im allgemeinen Jubel untergingen. Erst jetzt schien der Stamm so richtig zu begreifen, wie großartig mein Handeln war. Nur ich allein begriff es nicht...
»Wichtig?«, echote Eps überrascht. »Das nenne ich eine gewaltige Untertreibung, Karem!«
Ich lächelte entwaffnend. »Ich bin zwar ein Unsterblicher, mein lieber Eps, aber dafür bin ich noch lange nicht allwissend!«
Er runzelte die Stirn und erwachte aus seiner Euphorie. Dann lachte er befreit.
»Karem, ich will es dir erklären: Wir haben einen Bodengleiter, der vorgestern jedoch seinen Geist aufgegeben hat. Ohne Ersatzteile können wir ihn nicht mehr in Gang bringen. Aber wo sollten wir Ersatzteile herkriegen? Deshalb haben meine Leute dich angegriffen. Es ging um unser aller Überleben. Denn die nächste Ansiedlung ist zu weit entfernt, um sie zu Fuß lebend zu erreichen. Einmal abgesehen von unseren potentiellen Gegnern, die überall lauern können - auf der ständigen Jagd nach uns. Hier draußen sind wir zwar vor allen Nachstellungen sicher, aber es verurteilt uns ohne funktionierenden Gleiter andererseits wiederum zum Tode. So wurde der Überlebensvorteil zum tödlichen Risiko. - Und dann, im entscheidenden Moment, kommst du, Unsterblicher, um uns aus der Not zu helfen. - Ich könnte jetzt selber niederfallen vor dir und dir die Füße küssen.«
»Lieber nicht«, empfahl ich lächelnd. »Du musst vor deinen Leuten Haltung bewahren.«
Um vom Thema abzulenken, deutete ich zu der Mulde hinüber, wohin ich die Leichen gebracht hatte.
»Was geschieht normalerweise mit euren Toten?«
»Sie bleiben liegen«, antwortete Eps gleichgültig, »sofern dies keinen Nachteil bedeutet: Nur dann werden sie begraben.«
Ich nickte ihm zu und sagte dann ernst: »Ich möchte, dass sie diesmal beerdigt werden: Schichtet Steine auf sie. Ich werde anschließend kommen und ein Ritual durchführen. Dabei möchte ich allerdings mit Borsch alleingelassen werden.«
Eps musterte mich überrascht. Aber es trat kein Misstrauen in seine Augen.
Er schien zu begreifen, welche Rolle ich in seinem Stamm spielen wollte.
Jetzt grinste er breit und nickte mir zu. »Ich finde, Karem, dies ist ein besonders weiser Entschluss. - Obwohl ich mir niemals anmaßen würde, deine Entschlüsse jemals beurteilen zu wollen!«, fügte er rasch hinzu.
Ein schlauer Fuchs mit Rattengesicht, wieselflinken Augen und dem Körper eines artistisch geschickten Kämpfers - und Räubers und Mörders. Das war Eps.
Ich zwinkerte ihm zu und wandte mich ab.
Wenn ich einem kaum etwas vormachen konnte, dann war es Eps. Gut zu wissen, ihn auf meiner Seite zu haben. Zur Zeit jedenfalls. Immerhin stärkte ich seine Position im entscheidenden Maße und das war schließlich ausschlaggebend. Also würden wir so lange auch Freunde bleiben können.
Eine schlimme Welt war das, fand ich. Nun, immerhin eine Welt, die von den Menschen in eigenwilliger Weltanschauung HÖLLE genannt wurde - im Gegensatz zum goldenen Paradies, wo ich herkam.
Und in dieser Hölle gaben sie sich anscheinend alle Mühe, selber die besseren Teufel zu sein!
Dies als ein kleines Stückchen Menschheit - bezeichnend für alle anderen, die ich noch nicht gesehen habe?, dachte ich bestürzt.
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Ende