![]() | ![]() |
––––––––
Töten zum Überleben - das Gesetz der HÖLLE!
––––––––
John Willard in seiner Rolle als Karem Eklund: Schon beginnt sein ganz persönlicher Überlebenskampf, denn er wird angegriffen und muss sich seiner Haut wehren: Erfolgreich! Doch es gibt Tote. Nur einem kann er das Leben schenken: Borsch! Dieser weiß nun, dass er aus dem Bereich der Unsterblichen kommt, und für ihn ist Karem Eklund folglich eine Art Gott.
Karem Eklund, alias John Willard, führt ein Totenritual durch für diejenigen, die er besiegt hat...
Prolog 1
––––––––
Irgendwann in fernster Zukunft: Viele tausend Welten sind von Menschen besiedelt. Überlichtschnelle Flüge sind verboten, weil es sich erwiesen hat, dass diese auf Dauer das energetische Gleichgewicht des Universums und somit das Raum-Zeit-Gefüge stören, was in manchen Bereichen des Universums in der Vergangenheit zu schrecklichen Katastrophen führte.
Die von Menschen besiedelten Welten haben keinen direkten Kontakt miteinander, da es keine überlichtschnellen Kommunikationsmöglichkeiten gibt. Dennoch entstand im Verlauf der Jahrtausende ein funktionierendes Handelssystem: Riesige Container-Schiffe sind im Unterlichtflug unterwegs zu ihren Zielwelten, mit mannigfaltigen Waren bestückt. Sie sind teilweise Jahrtausende unterwegs, um ihr Ziel zu erreichen, aber da der Strom der Handelscontainer niemals abreißt, werden die Planeten untereinander reibungslos versorgt.
Die Erde beispielsweise ist eine gigantische ›Zuchtanstalt für Menschenmaterial‹ - dem wichtigsten ›Exportartikel‹ für die Erde. Die Betreffenden werden in Tiefschlaf versetzt, bevor sie auf den Weg gehen. Ein übriges tut die Zeitdilatation, so dass sie unbeschadet den langen Flug überstehen.
Dieses komplizierte Handelssystem ist natürlich hochempfindlich - und muss überwacht werden. Dafür zuständig ist der Sternenvogt - der HERR DER WELTEN! Nur ein Sternenvogt besitzt das Monopol des Überlichtfluges, um seiner Aufgabe auch gerecht werden zu können. Aber dieser verhältnismäßig minimale Einsatz des Überlichtfluges hat keine negativen Auswirkungen auf die universale Ordnung.
Es gibt mehr als nur einen Sternenvogt, doch das Universum ist groß genug für alle - und so begegnen sie sich untereinander nur, wenn es unbedingt nötig erscheint...
*
Prolog 2
––––––––
John Willard, geboren auf einer unmenschlichen Erde, wird unter dramatischen Umständen der ›Diener des Sternenvogts‹, denn dieser geht selten persönlich in einen notwendig werdenden Einsatz, um die so genannte universale Ordnung zu sichern. Sein Diener fungiert als eine Art Stuntman (Band 1).
Der erste Einsatz führt John Willard auf den ›Planeten der Amazonen‹: Aufgrund von Umwelteinflüssen kommen hier nur Frauen zur Welt. Um ihren Fortbestand zu sichern, müssen sie Männer von der Erde ›importieren‹. Und jetzt haben sie das Geheimnis des Überlichtfluges enträtselt und sagen dem Handelssystem den Kampf an (Band 2).
Es gibt einen Bereich im Weltall, in dem Handelscontainer einfach verschwinden. John Willard findet hier eine Art ›Miniuniversum‹, das durch radikal veränderte Naturgesetze entstand. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als einzudringen, obwohl es noch niemals zuvor eine Rückkehr von hier gab (Bände 3 bis 4).
In Band 4 gelingt John das bislang Unmögliche - und er kehrt zurück. Inzwischen hat der Sternenvogt einen zweiten Diener - einen kampfstarken intelligenten Androiden: Bron! Und der nächste Einsatz wartet bereits: Johns Bewusstsein wird ausgetauscht mit dem Bewusstsein eines jungen Mannes namens Bereter. Er ist ein so genannter Sucher - unterwegs in einer alptraumhaften Welt, die durch das Kollektiv der Träumer entstanden ist. Als Bereter kann sich John nicht an seine eigentliche Identität erinnern. Seine Aufgabe ist es, das Geheimnis der Traumwelt zu ergründen und den nicht abbrechbaren Traum in Bahnen zu lenken, die keine Gefahr mehr für die universale Ordnung bedeuten, ausgehend vom ›Planeten der Träumer‹. Kommt er als Bereter zu Tode, ist dies auch sein Ende als John Willard. Aber er hat eine wichtige Unterstützung auf seinem Weg: Bron! (Bände 4 bis 7)
John Willard überlebt nicht nur als Bereter, sondern er bewährt sich. Kein Wunder, dass der Sternenvogt das gleiche Prinzip auch beim nächsten Einsatz beibehält: Johns Bewusstsein wird diesmal mit dem Bewusstsein eines Mannes namens Karem Eklund ausgetauscht - auf einer Welt der krassen Gegensätze. Die Bewohner glauben, auf der Erde zu sein. Sie leben großenteils in einer halb zerfallenen Stadt, die schier den halben Planeten umspannt. Es gibt allerdings einen Bereich, wo sie keinerlei Zugang haben: Das ist der Bereich der Unsterblichen, die sich mittels einer riesigen Energieglocke gegen alles schützen, was von außen Einfluss nehmen könnte.
John soll als Karem Eklund die Zusammenhänge klären - und vor allem prüfen, ob von hier eine Gefahr ausgeht und ob diese Welt vielleicht sogar Aufnahme finden könnte in den Handelsverband.
Karem Eklund jedoch weiß nicht, dass er in Wahrheit John Willard ist. Das hat der Sternenvogt deshalb so angeordnet, damit die Unsterblichen unter der Energieglocke keinen Verdacht schöpfen. Zunächst scheint es ja ein eher angenehmer Auftrag zu sein, denn der Bereich unterhalb der Energieglocke ist wahrlich eine Art Paradies. Und dann tut er den entscheidenden Schritt... und bricht aus dem Paradies aus!
Schon beginnt sein ganz persönlicher Überlebenskampf, denn er wird angegriffen und muss sich seiner Haut wehren: Erfolgreich! Doch es gibt Tote. Nur einem kann er das Leben schenken: Borsch! Dieser weiß nun, dass er aus dem Bereich der Unsterblichen kommt und für ihn ist Karem Eklund folglich eine Art Gott.
Karem Eklund, alias John Willard, führt ein Totenritual durch für diejenigen, die er besiegt hat...
*
»Wir leben in einer Welt, in der ein genialer Handwerker weniger gilt als ein gewöhnlicher Angestellter. Es ist eine Welt, die von Buchhaltern verwaltet wird und in der man von so genannten Intellektuellen spricht wie von Halbgöttern. Man hat vergessen, dass alle segensreichen, weil nützlichen Dinge im Alltag von genialen Handwerkern ersonnen worden sind. Die Wissenschaft hingegen schuf ständig umstrittene Weltbilder und wenn etwas praktisch verwertbar ist, dann taugt es nicht dazu, die Welt zu verbessern, sondern bringt uns näher an den Abgrund. Selbst das Auto wurde von Handwerkern entwickelt, genauso wie Eisenbahn und andere Annehmlichkeiten. Die Wissenschaft hingegen brachte uns die Atombombe.«
––––––––
(Zitat aus dem zwanzigsten Jahrhundert so genannter christlicher Zeitrechnung)
*
Das Totenritual spielte sich im wesentlichen in der Fantasie von Borsch ab, denn ich stand nur da, machte ein feierliches Gesicht und vollführte ab und zu seltsame Handbewegungen.
Borsch erschauerte immer wieder vor Ehrfurcht, bis er mir beinahe leid tat in seinem blinden Glauben. Ich machte dem unwürdigen Spiel ein Ende und winkte ihm zu.
»Komm, Borsch, führe mich in euer Lager.«
Er gehorchte eifrig. Seine Augen glänzten, als hätte er alle Herrlichkeiten der Welt geschaut.
»Erzähle mir etwas über deinen Stamm«, bat ich unterwegs. »Zum Beispiel: Hast du eine Frau?«
Er schüttelte verblüfft den Kopf. »Eine Frau?«
»Ja, Borsch, wie ist das Verhältnis zwischen Mann und Frau?«
»Eine Frau kann einem doch nicht gehören!«, rief er aus.
Anscheinend hatte ich ein Tabu berührt, aber mir war es egal.
»Nun gut und wie kommt es zum sexuellen Kontakt zwischen Mann und Frau?«
Er zuckte die Achseln. »Es gibt hierfür Rituale. Außerhalb der Rituale ist Sexualität tabu. - Weitgehend!«, fügte er rasch hinzu.
»Was bedeutet diese Einschränkung?«
»Nun, es kommt öfter vor, dass sich Paare... äh, sagen wir, über das Tabu hinwegsetzen. Das heißt, sie vereinigen sich ohne Beisein der anderen.«
»Wird das bestraft?«
»Keineswegs, aber es gilt als gefährlich, denn ein solches Paar muss sich für sein Tun absondern und ist dadurch ohne Schutz des Stammes.«
»Man tut es trotzdem - heimlich?«
»Tja, man weiß Bescheid, aber eigentlich redet man nicht darüber.«
»In Ordnung, Borsch. Als ich dich fragte, ob du eine Frau hast, wollte ich wissen, ob du mit einer Frau ein Paar bildest.«
»Ach so, Herr. Um ehrlich zu sein: ja!«
»Immer noch?«
»Nicht mehr - seit ich dir diene, Herr.«
»Das möchte ich nicht, Borsch, verstehst du? Ich möchte, dass du weiterhin mit dieser Frau zusammenbleibst.«
Ich dachte an Danna und an all die schönen Stunden, die ich gemeinsam mit ihr verbracht hatte.
Ja, meine Entscheidung war richtig.
»Herr, ich danke dir für deine Großzügigkeit!« Borsch war außer sich vor dankbarem Glück.
»Ich möchte nicht, Borsch, dass diese Frau Hassgefühle mir gegenüber entwickelt. Ich bin ein Freund des Stammes und möchte, dass der Stamm auch mein Freund ist. Ich würde mich freuen, würdest du mir diese Frau vorstellen.«
Gleichberechtigung in einem so wilden Stamm? Das war schon ungewöhnlich. Dann war der Stamm mehr als nur eine wilde Horde, wie es sie in der Geschichte der Menschheit immer gegeben hatte. Sie hatten eine regelrechte Ordnung. Allerdings hatte ich den Findruck, dass alles, was sich außerhalb dieser Ordnung befand, von den Stammesmitgliedern nicht als vollwertig erkannt wurde. Sie töteten ohne Gewissensbisse und lebten davon, andere zu berauben.
Ein seltsamer Widerspruch. War er nicht ein Hinweis darauf, dass die Erde sich erheblich gewandelt hatte, seit es die Unsterblichen gab und das zwanzigste Jahrhundert so genannter christlicher Zeitrechnung ein Stück ferne Geschichte war?
Bevor wir das Lager erreichten, sagte ich zu Borsch: »Und noch etwas, mein Freund: In Zukunft möchte ich, dass du mir von selbst sagst, wenn dich etwas bedrückt oder wenn du einen Wunsch hast. Du sollst nicht aufhören zu denken und zu fühlen. Du nutzt mir viel mehr, wenn du auch weiterhin ein vollwertiger Mensch mit eigenen Bedürfnissen bleibst.«
Er fiel auf die Knie und beugte seinen Rücken. »Ich danke dir, unsterblicher Herr, für deine grenzenlose Güte.«
Ich schüttelte zwar den Kopf darüber, tat aber nichts dagegen. Borsch hätte es nicht verstanden.
Solche Menschen hatte es zu allen Zeiten gegeben. Sie machten stets einen Großteil der Menschheit aus. Sie waren fleißig, brachten geniale Dinge zuwege, waren die ehrlichen Stützen jeder Gesellschaft, aber ihr Glaube, der sie zufrieden machte, lähmte ihren Verstand. Sie waren nicht in der Lage, die wahren Zusammenhänge zu begreifen. Als hätten sie panische Angst davor, das Ende einer schönen Illusion zu erleben.
Die einen träumen ein Leben lang und sind glücklich dabei. Die anderen suchen nach Wahrheit. Manche geben vorzeitig auf und halten bereits für Wahrheit, was auch nur ein Traum ist. Viele jedoch geben die Suche niemals auf. Oft gehen sie dabei in die Geschichte der Menschheit ein. Nicht unbedingt ruhmreich, sondern oft genug auch als Negativbeispiel menschlicher Verhaltensweisen.
War ich so ein Mensch?
Wir erreichten das Lager. Ich muss zugeben, dass ich es niemals ohne die Hilfe von Borsch gefunden hätte.
Eine Geröllhalde, wie es sie hier zu Dutzenden gab. Zwischen den Felsbrocken verbargen sich Höhleneingänge.
»Wir hausen hier schon seit langer Zeit«, sagte Borsch stolz. »Es ist das beste Versteck, das der Stamm jemals hatte.«
Ich war auf ihr Fahrzeug gespannt. In diesem unwegsamen Gelände musste es ein Spezialfahrzeug sein.
Ich hatte zugesehen, als man den abgestürzten Gleiter ausschlachtete und die Überreste schließlich mit Steinen abdeckte.
Die Männer und Frauen waren äußerst geschickt vorgegangen. Anscheinend war das ein Überlebensfaktor in ihrem Stamm. Niemand hatte sie jemals in die Geheimnisse hochwertiger Technik eingeweiht. Ich war sogar überzeugt davon, dass sie durchweg Analphabeten waren.
Ihr einziger Lehrer war das Leben gewesen und sie schöpften aus einem reichen Fundus von Erfahrungen.
Fast kam ich mir klein und nichtig vor. Ich hatte ungeheuer viel Wissen gespeichert und war dennoch unterlegen.
Es war nur meine besondere Herkunft, die mich überleben ließ.
Hatte es nicht auch das zu allen Zeiten gegeben? Welchen Grund gab es denn, einen Menschen nur aufgrund seiner Herkunft zu respektieren, auch wenn er ansonsten gänzlich unterlegen war?
Das Prinzip der Hoffnung! Einer der Götter der Hoffnung hieß ›edle Herkunft‹. Solche Menschen wurden ›gepflegt‹, weil sie ein Vorbild waren. Kein Vorbild, das es nachzuahmen galt, sondern das Vorbild eines besseren Lebens. Solche Menschen wurden künstlich zu Halbgöttern erhoben. Und wer es schaffte, ihnen nahe zu sein, der schätzte sich glücklich. Je näher man kam, desto größer war das Erfolgserlebnis.
Verließ der Fürst sein Schloss und gab dem Volk Gelegenheit, seine Füße zu küssen, so war dies ein besonderer Tag für das Volk.
Aber Halbgötter waren genauso von der Konjunktur abhängig wie anderes, was das Volk verehrte. Ein Fürst, der den Bogen überspannte, wurde nicht mehr verehrt, sondern gehasst. Er konnte sich nur noch mit Gewalt behaupten. Nur seine Soldaten und Diener gehorchten freiwillig, um Anteil an seiner Pracht zu haben. Noch! Aber ungeachtet dessen: Ein Ungleichgewicht entstand, ein Spannungsverhältnis, das sich irgendwann entlud: Die Geschichte war voll von Revolutionen und Bürgerkriegen, in denen man die geheiligten Symbole von erstrebenswerter Macht und Reichtum hemmungslos tötete - doch nur, um sich neue Götter der Hoffnung zu schaffen.
Die Hoffnung kannte sehr viele Götter. Wer wusste das besser als ich? Das wahre Paradies war mein Zuhause gewesen, aber ich war der Erkenntnis nachgejagt.
Hoffnung, das ist stets die Vorfreude auf Dinge, die man sich sehnlich wünscht.
Ich wünschte mir nichts sehnlicher als Antwort auf meine Fragen, weil ich sonst schon alles hatte. Und ich folgte diesem Gott der Hoffnung genauso wie Borsch der angeblichen Herrlichkeit eines Unsterblichen folgte, der längst kein Unsterblicher mehr war.
Eines allerdings unterschied uns: Ich war mir darüber im klaren und er würde es niemals begreifen wollen.
Daher war ich sein Herr, obwohl er mir möglicherweise auch als Kämpfer überlegen war.
Zwei Wächter tauchten auf. Sie dienerten ehrerbietig.
»Wohin führst du mich, Borsch?«
»Zu Eps, Herr, wenn du erlaubst.«
»Gut.«
Eps hatte seine Höhle an höchster Stelle. Das war zwar unpraktisch, denn bei einer eventuellen Flucht war er eindeutig im Nachteil, aber die höchste Höhle war ein Symbol. Sie zeigte, dass Eps über allem stand.
Ein beschwerlicher Weg. Borsch zeigte mir genau, wie ich den Abhang erklettern musste, ohne abzurutschen. Er zeigte mir die Steine, die nur lose da lagen und andere, die aus dem Felsen gewachsen waren. Er lehrte mich, sie voneinander zu unterscheiden, mit einem einzigen Blick schon, der lebensentscheidend sein konnte.
Ohne ihn wäre ich gewiss niemals lebend oben angekommen.
Eps erwartete mich im Eingang seiner Höhle. Vor diesem Eingang türmte sich Geröll. Da waren Brocken, die waren halb so groß wie ein Gleiter. Sie lagen wie von Riesenkindern verstreut auf einem kleinen Plateau vor der Haupthöhle.
Eps grinste. Spontan streckte er die Arme aus.
»Willkommen, Karem!«
Ich nickte ihm ernst zu. »Du hast doch nichts dagegen, dass ich Borsch mitbringe?«
»Nein, Karem, denn Borsch gehört zu dir.«
»Was machen die anderen?«
»Sie arbeiten an unserem Fahrzeug.«
»Ich würde es gern sehen, wenn es wieder fertig ist.«
»Neugierig?« Eps lachte auf. »Das kann ich verstehen und ich kann dir versichern, diese Neugierde lohnt sich. Dieses Fahrzeug ist unsere Lebensversicherung.
Wir hatten mit unserem Leben bereits abgeschlossen, denn aus Steinen kann man keine Ersatzteile machen und Steine sind das einzige, was wir hier draußen überreichlich besitzen.«
»Wo führt ihr eure Raubzüge durch?«, fragte ich spontan.
Ich stand jetzt direkt vor ihm. Er hatte mich zur Begrüßung und Untermauerung seiner Zuneigung in die Arme schließen wollen, ließ jetzt aber die Arme überrascht sinken.
»Das fragst du, Karem?«
»Man nennt mich zwar den Unsterblichen, aber nicht den Allwissenden.«
Er legte den Kopf schief. Flackerte Misstrauen in seinen Augen?
»Was weißt du überhaupt... über die Welt, Karem?«
Ich lächelte verzerrt und beschloss, bei der Wahrheit zu bleiben. Durchsichtige Lügen konnte ich mir bei Eps nicht leisten. Ehrlichkeit, gepaart mit einer überzeugenden Erklärung, die alles begründete, vor allem meine Unwissenheit, das war das einzige, was mich in dieser Situation retten konnte.
»Nichts, Eps!«
Borsch erbleichte, Eps wusste nicht, wie er reagieren sollte.
Ich lächelte freundlich (jetzt gelang es mir endlich). »Falls du mich in deine Höhle bitten würdest...? Wir könnten uns dort bequemer darüber unterhalten.«
Eps war für den Vorschlag dankbar. Er ließ mich vorbei. Ich trat ein.
In der Höhle war es warm. Das überraschte mich. Eps hatte allerlei Kissen und Decken herumliegen. Es gab auch Möbelstücke aus unbekanntem Material. Das eine passte nicht zum anderen. Offenbar Beutestücke von Raubzügen.
Und es stank gotterbärmlich in dieser Höhle. Nicht nur nach menschlichen Ausdünstungen: All die Sachen hier waren noch niemals gereinigt worden. Auch gab es Abfälle, wahllos am Boden verstreut.
Ich versuchte, nicht daran zu denken, dass es gewiss auch Ungeziefer gab.
Es blieb mir nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren, genauso wie ich es akzeptiert hatte, stinkende Klamotten anzuhaben, die mich zwar wärmten, aber sicherlich auch mit unangenehmen Parasiten versorgt hatten.
Unwillkürlich begann ich zu kratzen.
Eps bot uns Plätze an.
Es herrschte Halbdunkel in der Höhle, an das sich meine Augen jedoch rasch gewöhnten. Hier gab es nur das Licht, das von draußen hereinfiel.
»Komfortabel«, sagte ich.
Eps lächelte stolz.
»Wirklich, du hast dich gut eingerichtet, Eps«, log ich weiter. Wenigstens dafür war er empfänglich. Auch der Schlaueste hatte seine Schwachstellen.
»Woher stammt die Wärme?«
Eps erklärte es mir mit knappen Worten. Natürlich war er neugierig darauf, was ich ihn zu sagen hatte. Vielleicht machte er auch abhängig davon, wie er sich künftig mir gegenüber verhalten wollte.
»Die Wärme kommt aus den Wänden, Karem. Es ist mit ein Grund, das Höhlensystem als ideal für unsere Zwecke zu bezeichnen.«
»Vulkanische Tätigkeiten?«
»Völlig ungefährlich, Karem. An verschiedenen Stellen tritt Rauch zutage, als würde der Berg innerlich brennen. Es gibt außer vulkanischer Tätigkeit auch noch die Möglichkeit von unterirdischen Schwelbränden.«
»Kohlenflöze?«
»So habe ich mir das auch gedacht, aber es ist eigentlich unwichtig.«
Er runzelte die Stirn. Nahm er an, ich wollte vom eigentlichen Thema ablenken?
Ich bewunderte an ihm sein Wissen. Er war überragend intelligent, aber er war auch skrupellos und gemein. Das machte ihn doppelt gefährlich. Ich durfte es niemals vergessen.
»Ich bin ein Unsterblicher und verließ das Paradies, um die Welt zu entdecken. Ich bin also freiwillig hier. Vor zwanzig Jahren erst entstand ich. Für einen Unsterblichen gibt es weder Vater, noch Mutter. Ich habe ungeheuer viel gelernt. Ich weiß alles über die Vergangenheit der Menschheit, alles über die technischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten von damals, auch über die kulturellen Höhenflüge. Manches weiß ich auch über die heute gebräuchliche Technik. Aber ich habe kein Ahnung, wie der goldene Energieschirm funktioniert und ich habe genauso wenig eine Ahnung, wie es auf dieser Welt aussieht - außerhalb des Energieschirm. Ihr seid die ersten Menschen, die ich jemals zu Gesicht bekommen habe.
Man hat mich zwar gut vorbereitet, aber man hat meinen Blick offen gelassen, damit ich unvoreingenommen die Schule des Lebens bestehen kann.«
»Ein neuer Unsterblicher?«, rief Eps überrascht.
Ich verstand diese Überraschung nicht.
Er erregte sich, ereiferte sich. »Dann, dann ist das also alles nur - blinder Glaube?«
»Von was sprichst du?«
Er legte seine Hand auf meinen Unterarm. »Hör zu, Karem, du hast von der Schule des Lebens gesprochen, die du bestehen musst. Dann bist du also hier, um zu lernen, was man dir im Paradies nicht beigebracht hat? Ich bin dein Freund und werde dich unterstützen, aber sage mir eines: Ist es nicht so, dass die Erfolgreichsten und Mächtigsten dieser Welt automatisch zu Unsterblichen aufrücken?«
Ich schüttelte den Kopf. Was redete er da?
»Ist es nicht so?«, fragte er eindringlich.
»Ich weiß davon nichts, Eps«, sagte ich wahrheitsgemäß.
»Karem, es ist für mich sehr wichtig. Aller Pöbel glaubt an die Erlösung nach dem Tode, aber die Erfolgreichen glauben an etwas anderes: Dass der Beste unter ihnen von den Unsterblichen abgeholt wird, um zu ihnen zu gehören und mit ihnen alle Herrlichkeiten zu teilen.«
»Götter der Hoffnung«, murmelte ich. »Dem Einfachen genügt der Himmel, dem Anspruchsvollen schwebt eher die Unsterblichkeit auf Erden vor.«
Eps lachte lauthals. Er schlug sich die Schenkel vor Vergnügen.
»Köstlich!«, prustete er. Es dauerte Minuten, bis er sich endlich soweit beruhigt hatte, dass wir das Gespräch fortführen konnten!
»Karem, ich habe mich nicht in dir getäuscht. Du bist sehr gebildet und du wirst auch die Schule des Lebens besser meistern als jeder andere.« Er zeigte in mein Gesicht. »Wie ich sehe, beginnt bereits deine Unsterblichkeit, sich zu tarnen.«
Ich griff mir ans Kinn, weil ich ahnte, von was er sprach.
Tatsächlich: rau und kratzig.
Ich vergaß zu atmen: Mir wuchs doch tatsächlich ein richtiger Bart!
»In zwei Wochen unterscheidest du dich in nichts mehr von uns - wenigstens äußerlich nicht«, sagte Eps zufrieden.
»Du wirst lernen, viel lernen und du bist gelehriger als alle Menschen, die ich je vorher gesehen habe.«
Er schüttelte auf einmal fassungslos den Kopf.
»Du kamst in unsere Welt, warst im Grunde genommen völlig unvorbereitet, aber du bist kein Schwächling, Karem, sonst hättest du nicht die Kämpfe auf Leben und Tod bestanden. Du hast die vier wilden Burschen erledigt, obwohl das Töten ihr tägliches Brot war. Du warst ihnen als Anfänger schon über.«
Er hatte mich durchschaut, aber er blieb ein Verbündeter.
Ich wusste: Das war wahrhaft ein neuer Beginn - in der wahren Welt, nachdem ich meine heile Welt verlassen hatte.
*
In einem hatte ich mich gewaltig geirrt: betreffend das Ungeziefer. Der Stamm hatte einige wirksame Mittel dagegen. Damit sogar verbreiteten sie einen Teil des Gestankes, den ich anfangs als so unerträglich empfunden hatte.
Inzwischen hatte ich mich daran gewöhnt.
Wasser war knapp, denn man musste es tief unten im Tal schöpfen und auf gefährlichen Wegen ins Lager bringen. Also würde niemals jemand auf die Idee kommen, dieses kostbare Nass zu etwas anderem zu benutzen als zum Trinken und zur Nahrungszubereitung.
»Unser Fahrzeug ist zu schade, um damit Wasser zu besorgen«, hatte Eps erklärt.
Das war zu verstehen, denn man musste bedenken, dass es dafür keinen Ersatz gab.
Mich ärgerte, dass Eps meinen Fragen auswich. Er pflegte zu sagen: »Karem, es würde einem Frevel gleichkommen, würde ich Unwürdiger dir die Welt erklären, denn wer bin ich, dass ich das wage? Du bist sehr gebildet, Karem, hast den Kopf voll mir sehr schönen Dingen. Leider nutzen sie dir im Leben nicht viel. Es sei denn, man zieht in Betracht, dass du damit zumindest deinen Verstand trainiert hast.
Doch was ist das schon gegen die Anforderungen des Daseins? Das ist ein Training ganz besonderer Art.«
»Worauf willst du hinaus, Eps?«
»Ich will sagen, dass du alles dies besser in der Praxis lernst und nicht von mir, weil alles, was ich dir zu sagen hätte, natürlich subjektiv ist. Jeder Mensch sollte seine Erfahrungen selbst machen. Ich halte deshalb auch nichts von Bildung. Ich finde, die Reihenfolge bei den Reichen ist falsch. Sie müssten erst lernen, mit tauglichen Mitteln zu überleben - und dann könnten sie all ihre Kenntnisse mit den schönen Dingen der Bildung ergänzen. Das eine ist gut, um zu bestehen, das andere ist gut, um zu wissen, zu forschen und um sich daran zu erfreuen.«
Er hatte von den Reichen gesprochen. Also gab es auch in dieser Welt Schulen?
Er hüllte sich lieber in Schweigen. Ich konnte seine Erklärungen nicht akzeptieren, aber ich war auch nicht in der Lage, ihn zu Antworten zu zwingen, die er nicht freiwillig geben wollte.
Beinahe begann ich, ihn dafür zu hassen. Wozu war ich denn überhaupt dem Paradies entflohen, wenn es mir hier ebenso erging? Diese verfluchte Geheimniskrämerei... Jeden Tag fieberte ich mehr dem Zeitpunkt entgegen, da es endlich zum nächsten Raubzug kommen würde.
Borsch wurde zunehmend trauriger, denn ich kümmerte mich kaum um ihn. Auch als er mir seine Gefährtin vorstellte, zeigte ich nur wenig Interesse.
Ich war eben besessen von dem unbezähmbaren Drang, die Welt zu erforschen. Eine Abenteuerlust, die dem Wahnsinn gleichkam, sonst hätte ich dafür niemals das Paradies verlassen.
Oder war das sogar geplant gewesen?
Immer wieder dachte ich an das Zwiegespräch der Frauen.
War es wirklich möglich, dass Danna absichtlich genau zum richtigen Zeitpunkt ihren Gleiter vor mein Haus gestellt hatte? - Damit ich damit floh?
Eps eröffnete mir freudestrahlend, dass ihr Fahrzeug in Ordnung sei.
Es bedeutete, dass der nächste Raubzug unmittelbar bevorstand.
Das Fahrzeug des Stammes interessierte mich überhaupt nicht mehr. Nur weil der Beutezug bevorstand, konnte ich mich über die gelungene Reparatur freuen.
Ich eilte mit Eps in die größte Höhle. An den Wänden hingen blakende Fackeln. Ihr Licht reichte den geschickten Männern und Frauen aus, die an dem Fahrzeug gearbeitet hatten.
All meine Vorstellungen wurden bei weitem übertroffen.
Das Fahrzeug hatte keine Kuppel. Es war offen - und riesig. Es hatte eine ovale Grundform, aber man sah auf den ersten Blick, dass es aus ungezählten verschiedenen Teilen zusammengebastelt war.
Eps trat dagegen: »Stabil!«, kommentierte er mit glänzenden Augen.
In der Tat, so abenteuerlich das Fahrzeug mit seinen unregelmäßigen Aufbauten und Auswüchsen auch war: Es wirkte äußerst robust.
Vorn war Platz für zwei Piloten. Alle Steuerelemente waren doppelt. Dahinter schloss sich eine horizontale Fläche mit einer Anordnung von gleichgroßen Waben an. Eps demonstrierte mir, wie die Stammesmitglieder befördert wurden: Sie duckten sich in die einzelnen Waben, von denen jede genau so geschaffen war, dass sie einem einzelnen Menschen Platz bot. Er wurde unterwegs gut darin geschützt. Die Wände ringsum sorgten auch dafür, dass er bei unerwarteten Manövern nicht hinausgeschleudert wurde. Aber wenn er sehen wollte, wohin die Reise ging, konnte er seinen Kopf über den Wabenrand hinausstrecken. Das war gewiss auch wichtig, falls es zum Schusswechsel kommen sollte, dachte ich mir.
Eps zeigte die Ablauflöcher. »Falls es regnet oder schneit, Karem, kann hier das Wasser ablaufen. Auf einem Beutezug fahren zehn mit, die das Los bestimmt. Nur Kämpfer kommen natürlich infrage. Die Mütter scheiden aus, bis sie ihren Pflichten enthoben sind und wieder zu Kämpfern aufrücken können.«
»Und die Beute wird in den ungenutzten Waben verstaut?«
»Ja!«, rief er enthusiastisch, »aber nicht nur, Karem: Wenn wir besonders reiche Beute machen, dann ist das Fahrzeug mitunter hoch beladen. Du musst wissen, es hat einen Mehrfachantrieb und ist auch mit Rädern ausgestattet. Eine sinnvolle Anordnung von Staustrahltriebwerken, natürlich in entsprechender Dimensionierung...«
Er schnalzte deutlich hörbar mit der Zunge, wie, um es zu bekräftigen: »Tja, die ermöglicht sogar einen Schwebeflug bis einen halben Meter über dem Boden. Das ist gut für unwegsames Gelände und funktioniert auch, wenn das Fahrzeug hoch beladen ist. Es kostet jedoch viel Energie, weshalb wir die Räder bevorzugen.« Er ging zum Bug des Fahrzeuges, das eher einem Schiff ähnelte und deutete auf ein paar unscheinbare Öffnungen. »Und das, Karem, ist ein Teil der Bewaffnung. Damit kannst du eine Armee ausrotten.« Er tätschelte das Fahrzeug. »Unser Gefährt ist das beste Kapital, das man sich denken kann. Dank dir funktioniert es wieder einwandfrei.«
»Woher bezieht es denn eigentlich seine Energie, Eps?«
»Aus den Speichern«, antwortete er weise. »Wir haben die Speicher aus deinem Gleiter mit eingebaut. Wie du weißt, gibt es Schwerkraftauflader. Fast ein Perpetuum mobile. Es ist nur sehr langwierig, bis die Speicher auf diese Weise wieder voll sind. Um die Reichweite zu vergrößern, müssen wir oftmals in unsere Beutezüge auch so genannte Full-Speicher einbeziehen, die man leider mit Schwerkraftaufladern nicht mehr laden kann.«
Ich hatte keine Ahnung von dieser Technik, ließ es mir aber nicht anmerken. Hier genügte es, wenn man Tatsachen anerkannte. Mir schwirrte ohnehin der Kopf bei allem.
Wann ging es endlich los auf Beutezug?
Ich stellte die Frage nicht laut, aber Eps beantwortete sie trotzdem: »Morgen früh ist es soweit. Wir ziehen los. Ich werde mit dabei sein, Karem.«
»Bist du nicht zu wichtig für den Stamm?«
»Wenn ich verloren gehe, dann geht auch unser geliebtes Fahrzeug verloren. Es wäre sowieso das Ende des Stammes, nicht wahr?«
Es schien ihn nicht sonderlich zu belasten, denn er zeigte sich sehr vergnügt, begutachtete immer wieder das Fahrzeug von allen Seiten, tätschelte es und lobte die Handwerker.
Ich durfte gespannt sein, wie sich dieses Ding in der Praxis bewährte und hielt mich deshalb mit einem Lob vorläufig zurück.
Was würde uns dort draußen erwarten?
Borsch kam hereingestürmt.
Ich hatte ihn nicht mitgenommen und hatte ihm auch nicht Bescheid gegeben, wohin ich mich wandte. Das regte ihn immer auf, obwohl er sich hütete, mir dessentwegen etwa einen Vorwurf zu machen.
Ja, Borsch hatte es mit seinem Dienen nicht leicht bei mir. Es wurde mir mal wieder bewusst, weshalb ich ihm auf die Schulter klopfte.
»Borsch auch?«
»Selbstverständlich, Karem. Er gehört dir und du bist schließlich die Garantie, dass der Raubzug ein Erfolg wird.«
»Ja, hoffentlich!«, sagte ich leise. Nur Borsch hörte es.
Gemeinsam traten wir vor die Höhle.
»Morgen früh also?«, fragte mich Borsch.
»Ja. Willst du deine Gefährtin mitnehmen?«
»Es geht nicht, Herr.«
»Und da strahlst du? Wo ist deine Trauer? Leidest du nicht unter der Trennung?«
»Nein, Herr.«
Ich verstand: »Ist sie etwa - schwanger?«
»Ja, Herr, sie bekommt ein Kind.«
»Aha, so eine Art Mutterschutz. - Passt es ihr?«
Er schlug die Augen nieder. »Ehrlich gesagt, sie würde lieber mitkommen. Sie ist ungern von mir getrennt, wie sie mir versicherte. Wir sind oft zusammen. Nur beim Ritual... das wäre uns zu wenig.« Es zeugte von großem Vertrauen, dass er dies zugab.
»Wann erfolgt das nächste Ritual?«, fragte ich, denn in den drei Wochen, die ich beim Stamm bereits verbrachte, hatte sich nichts dergleichen ereignet.
»Immer nach einem erfolgreichen Beutezug«, belehrte er mich.
*
Am nächsten Morgen war er pünktlich. Eps hatte den Zeitpunkt festgesetzt, in Absprache mit mir.
Kaum kroch die blutrote Scheibe der Sonne über die Horizontlinie am Talausgang, als wir uns vor dem Höhlensystem einfanden.
Ein leises Wummern drang an meine Ohren. Es steigerte sich in ein dumpfes Grollen, dass mir die Haare zu Berg standen.
Im nächsten Augenblick schoss ein wahres Ungetüm auf mich zu.
Entsetzt wollte ich die Flucht ergreifen, aber ich beherrschte mich rechtzeitig, denn ich erkannte, dass dieses Monstrum ›nur‹ das Fahrzeug des Stammes war.
Eps saß in dem Ding und winkte fröhlich.
Er war der eine Pilot. Borsch fungierte als zweiter. Ich hatte nichts dagegen.
Nur Eps, Borsch und ich nahmen an der Verlosung nicht teil. Ansonsten wurden neun weitere Stammesmitglieder für die Teilnahme an dem Beutezug vom Los bestimmt. Davon waren drei Frauen.
»Reiner Zufall«, wie Eps mir versicherte. »Es hat Beutezüge gegeben, die wurden ausschließlich von Frauen bestritten.«
Seltsam, dank meiner Verbissenheit hatte ich in den vergangenen drei Wochen keinerlei Interesse an Frauen verspürt. Auch dachte ich nie an die gemeinsamen Erlebnisse mit Danna zurück.
Als ich jetzt gemeinsam mit einer Frau hinter den Pilotensitzen kauerte, wurde mir das bewusst.
Ich hatte den Eindruck, dass sie sehr froh darüber war, vom Los getroffen worden zu sein. Außerdem schien sie es darauf angelegt zu haben, die Wabe neben mir zu beziehen, denn alle anderen gingen mir lieber aus dem Weg. Den meisten Stammesmitgliedern war ich nicht ganz geheuer.
Mir war das egal.
Diese hier bildete eine Ausnahme und ich war bereits neugierig, warum das so war.
Sie lächelte mich über die Trennwand hinweg an, als wir starteten.
In den letzten Tagen war es erheblich wärmer geworden. Wir konnten auf einen Teil unserer Kleidung verzichten, rollten sie zusammen und setzten uns darauf.
Was sollte dieses Lächeln?, dachte ich, während ich am Boden der Wabe niederkauerte.
Sie stand nebenan wieder auf und ehe ich mich versah, schwang sie sich über die Trennwand und machte es sich neben mir bequem. Ohne ein Wort dabei zu verlieren und ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.
Eigentlich ist die Wabe groß genug für zwei, stellte ich fest. Und sie lächelte wieder.
Als ich diesmal das Lächeln erwiderte, wurde sie tatsächlich unsicher. War es, weil ich als der Unsterbliche galt? Oder war es, weil ich ›darüber hinaus‹... ein Mann war?
Mir wurde heiß.
Eine Frau, die Interesse an mir hatte! Noch offensichtlicher konnte sie das nun wirklich nicht mehr demonstrieren. Und wie lange hegte sie schon - dieses Interesse? Die ganzen drei Wochen? War ich denn so blind gewesen?
Nun, die Gleichberechtigung innerhalb der Stammesordnung hatte durchaus auch seine Vorteile: Frauen fackelten nicht lange, wenn ihre Signale übersehen wurden. Wenn ich sie nicht wollte, musste ich sie deutlich von mir weisen: Ich hätte sie auffordern müssen, auf der Stelle meine Wabe wieder zu verlassen. Aber ich tat etwas anderes. Dabei wurde mein Arm nicht vom Verstand gelenkt, sondern von meinen widerstreitenden Gefühlen, die sogar meine Gedanken an den Beutezug verdrängten: Ich legte meine Hand auf ihre Schulter.
Sie zuckte erschrocken zusammen und machte Anstalten, einfach aufzuspringen und davonzurennen. Obwohl ich doch genau das tat, was sie sich offensichtlich wünschte?
Rechtzeitig erinnerte sie sich, dass wir in einem fahrenden Fahrzeug saßen und blieb lieber sitzen.
Aber sie schüttelte meine Hand nicht ab.
Ich wartete. Es dauerte eine Weile, bis sie sich beruhigte.
»Wie heißt du?«, fragte ich sanft.
Sie schnaubte trotzig und schaute mich wie feindselig an. »Ich bin ein Krieger, Herr und ich lasse mich normalerweise von keinem berühren, wenn ich es ihm nicht ausdrücklich vorher erlaube.«
Ich zog langsam meine Hand wieder zurück.
Sie schnappte nach Luft. »Entschuldige, Herr, so war es nun auch wieder nicht gemeint.«
»Wie denn sonst?«
»Ich - ich bitte um Vergebung, Herr, aber du gefällst mir, obwohl ich weiß, dass es unverschämt ist, sich in einen Unsterblichen zu verlieben oder ihn sogar... zu begehren.«
»Unverschämt?«
»Du bist ein Heiliger, sogar wie ein Gott, ich aber nur eine einfache Menschenfrau.« Sie zeigte mir die geballte Faust. »Obwohl ich zu kämpfen verstehe. Frage Eps, Herr. Er kann es dir bestätigen. Ich bin sogar einer seiner allerbesten Krieger.«
Das gab ihr also das nötige Selbstwertgefühl?
Und sie trumpfte mir gegenüber damit auf, um ihre Unsicherheit zu überspielen. Sie als Sterbliche, so kühn, einfach in meine Wabe zu kommen? Und sie sagte dies alles, um mir klar zu machen, dass sie dennoch keine leichte Beute war. Es war ihre Art, mich darum zu bitten, ihre Zuneigung nicht auszunutzen und sie wirklich nur zu nehmen, wenn ich auch ihre Gefühle erwiderte. Und sei es im Grunde genommen auch noch so absurd, von einem Unsterblichen wie mir etwas Derartiges zu erwarten...
Wäre sie nicht wirklich eine so große Kämpferin, hätte sie es wohl niemals gewagt, mir so nahe zu kommen!
»Was ist, wenn ich dein Interesse nicht erwidere?«
»Ich - ich beuge mich deinem Willen, denn du bist der Herr!«
»Das lassen wir vorläufig mal weg, schlage ich vor. Ich spreche zu dir nicht als Unsterblicher, sondern als der Mann, den du zu lieben und zu begehren glaubst.«
Sie begann auf einmal, zu zittern. Sie hatte einfach Angst davor, von mir einen Korb zu bekommen. Ihr Mut war nicht grenzenlos, auch wenn sie davon bereits mehr bewiesen hatte, als ein normaler Mensch aufzubringen in der Lage gewesen wäre. Aber eine solche Niederlage...?
Und ich war nach wie vor sicher, dass schlimmer als eine klare Absage für sie ein Betrug an ihren Gefühlen gewesen wäre. Nein, ich hatte längst beschlossen, sie nicht auszunutzen.
Ich bemühte mich um ein Lächeln. »Nun gut, dann etwas anderes: Was wäre, wenn ich gleiches Interesse an dir hätte, du aber irgendwann nicht mehr an mir?«
»Was dann wäre?« Sie lächelte auf einmal. »Ein Krieger stirbt lieber, ehe er sich zur Hingabe zwingen lässt - von wem auch immer.«
»Du würdest deinen Körper mit dem Leben verteidigen? Auch gegen mich?«
»Ja, Herr!«, antwortete sie hart, aber ehrlich. Ihr Lächeln gefror. Sie musterte mich aufmerksam. Jetzt war keine Ehrfurcht vor dem Unsterblichen mehr in ihrem Blick. Das war das kalte Abschätzen einer Chance. Einer wahren Kriegerin würdig.
Das verwirrte mich. Ich dachte an Danna.
Sie war im wahrsten Sinne des Wortes ein Teufelsweib gewesen. Sie hatte mich in die Praktiken der körperlichen Liebe eingeführt, hatte mich Dinge gelehrt, die den Frauen hier sicherlich unvorstellbar erschienen - genauso wie den Männern.
Aber Danna hatte nur meinen Körper begehrt, nicht mich selbst. Sie hatte nur den sichtbaren Teil von mir besitzen wollen. Ansonsten war ich ihr gleichgültig gewesen.
Unsterbliche sind nicht zu tiefen Gefühlen fähig. Davon war ich auf einmal überzeugt. Sie waren dafür zu kühl und zu gelassen. Schließlich hatten sie die Ewigkeit für sich. Was sollte sie da schon aufregen können?
»Du hast mir noch immer nicht deinen Namen genannt«, erinnerte ich die Frau.
Oder sollte ich in ihr eher ein Mädchen sehen?
Nein, sie war ausgereift, erwachsen, als Kämpferin ausgebildet.
»Ich bin Norma, Herr. Dies hier ist mein dritter Beutezug.« Sie knirschte hörbar mit den Zähnen. »Ich verstehe zu kämpfen und mich zu verteidigen. Ich erkenne nur zwei Herren an: Dich und Eps!«
»In dieser Reihenfolge?«
»Jeden auf seine Weise.«
»In welcher Weise bin ich dein Herr?«
»Du bist der Unsterbliche, unbesiegbar, das, wovon jeder Krieger nur zu träumen wagt. Eps jedoch ist unser weiser Führer.«
»Ich bin also ein Herr von anderer Art für dich: Ist das gar der Grund, warum du mich begehrst? Blendet dich meine Überlegenheit?«
»Ein Krieger kennt keinen Überlegenen, Herr«, belehrte sie mich kühl. »Jeder Krieger sieht sich selbst als den Besten an. Sonst hat er keinen Mut mehr und muss als Krieger versagen.
Dass du unsterblich bist, macht dich nicht automatisch zum besseren Kämpfer. Es ist leicht, unbesiegbar zu sein, wenn man nicht zu sterben braucht. - Nein, ich liebe und begehre dich keineswegs, weil du der Unsterbliche bist, sondern ich liebe und begehre dich, weil du... ein Mann bist.«
»Ganz sicher?«
Sie lächelte wieder.
Ich streckte vorsichtig die Hand aus, wie wenn man sich anschickte, eine gefährliche Raubkatze zu streicheln.
Sie wandte nicht den Blick, wich nicht aus.
Sanft berührte ich ihr Haar, das sie im Nacken zusammengebunden hatte.
Sie stank fürchterlich, aber ich hatte mich an den Gestank gewöhnt, weil ich einer vom Stamm geworden war.
»Ohne Ritual?«, fragte ich.
Ihre Lippen bebten wie zur Antwort, aber kein Laut kam über sie.
Als ich mich zu ihr beugte, öffnete sich ihr Mund. Ihre Augen schlossen sich halb.
Unsere Lippen berührten sich. Erst nur eine zärtliche, fast flüchtige Berührung.
Plötzlich drängte sie sich gegen mich, umklammerte mich wie eine Ertrinkende, saugte an meiner Zunge, dass es schmerzte, schlang ihre Schenkel um mich, mit einer Kraft, dass ich ächzte.
Sie wollte mich - und das in der engen Wabe, obwohl in den Nachbarwaben ringsum die anderen waren...
Unwillkürlich schaute ich zum Wabenrand hinauf. Wenn man aufrecht stand, konnte man bequem aus dem Fahrzeug sehen. Gern hätte ich gewusst, wie weit wir schon waren.
Aber Norma rieb sich fordernd an meinen heißen Lenden. Ich konnte ihr nicht mehr länger widerstehen und wollte es auch gar nicht. Wir taten, was sie verlangte. Erst dabei wurde mir eigentlich klar, wie lange ich es überhaupt entbehrt hatte.
Und es war mir klar, dass ich mehr für sie empfand als nur Begierde. Viel mehr sogar...
MEINE Norma!
*
Das Spiel war rau und ungestüm. Norma würde noch viel lernen müssen. Sie war nicht Danna. Die Vereinigung mit der Unsterblichen war in vielen Variationen erfolgt. Sie hatte es oft verzögert, hatte mich schier in den Wahnsinn der Ekstase getrieben, hatte immer mit neuen Reizen aufgewartet, fantasievoll wie es einer Unsterblichen gebührte.
Normas Körper war nicht weich, sondern hart, mit Muskeln, die sie zu einer Raubkatze machten, ohne sie allerdings maskulin wirken zu lassen.
Die Vereinigung mit Norma glich eher einem wilden Kampf denn einem Liebesspiel.
Und doch war da etwas, was mich Danna vergessen ließ, denn mit Norma war es mehr als nur eine körperliche Vereinigung: Norma liebte mich!
Und ich liebte Norma!
»He!«, rief Eps, »Wo steckst du eigentlich, Karem?«
Es brachte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. Auch Norma.
Es war vorbei und doch hielten wir uns im Nachklingen eines mächtigen Gefühls fest umklammert.
Ich antwortete nicht, sondern küsste Norma. Jetzt war der Kuss weicher, nicht mehr schmerzhaft. Ihre Begierde war geschwunden, hatte Zärtlichkeit Platz gemacht.
Ich löste mich von ihr und streichelte ihr über das Haar.
Sie lächelte. Ihr Gesicht war unnatürlich bleich. Forschend sah sie mich an. Sie wollte wissen, wie ich über sie dachte.
Ich ordnete rasch meine Kleider und stand auf.
Der Wabenrand war für mich gerade so hoch, dass ich mich bequem mit den Ellenbogen darauf stützen konnte. Das war auch nötig, damit ich durch die Schaukelbewegungen des Gefährts nicht umgeworfen wurde.
»Da bist du ja, Karem«, rief Eps.
Und dann: »Wie siehst denn du aus?«
Er betrachtete mich genauer. »Hast du mit einem Bären gekämpft oder so was?«
Norma tauchte neben mir auf. Sie war fast so groß wie ich. Ihre Augen glitzerten. Jetzt waren ihre Wangen gerötet.
Mit einer trotzigen Bewegung schüttelte sie die Haare in den Nacken und erneuerte den Knoten, der sie zusammenhielt.
Lieber hätte ich es gesehen, sie hätte das Haar gelöst gelassen. Es hatte eine schmutzigblonde Farbe, aber ich fand es auf einmal wunderschön.
Norma brachte das Kunststück fertig, frei stehen zu bleiben, ohne sich festzuhalten.
»Nein!«, rief Eps aus. Und dann begann er schallend zu lachen. »Kein Bär, Karem, mit dem du gekämpft hast, sondern...«
Norma warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Er unterbrach sich und schluckte lieber hinunter, was er noch hatte sagen wollen.
»Schon gut, Norma, es ist deine Entscheidung und damit deine Verantwortung. - Und du, Karem?«
»Auch meine!«
»Dann geht es mich nun wirklich nichts mehr an.« Er zuckte wie gleichgültig die Achseln. »Obwohl... Ihr hättet wenigstens bis zum Ritual warten können, anstatt gleich hier... Äh, ohne dich nun kritisieren zu wollen, Karem!«
Kopfschüttelnd wandte er sich nach vorn. »Das habe ich allerdings bisher noch nie erlebt: mitten auf dem Beutezug!«, fügte er murmelnd hinzu.
Jetzt lachte Borsch. Ich schaute ihm ins Gesicht: Borsch freute sich mit mir.
Ich legte kurz den Arm um Norma und drückte sie an mich. Das vertrieb ihr Misstrauen, denn es zeigte ihr, dass ich ihr gegenüber weder meine besondere Stellung, noch ihr besonderes Gefühl für mich ausnutzen würde.
Sie flüsterte mir ins Ohr: »Und du magst ab jetzt wirklich nur noch mich?«
Ich nickte ihr zu.
Eps schüttelte mal wieder den Kopf und rief mir zu, ohne sich zu mir umzuwenden: »Interessiert es dich zur Zeit noch, wo wir sind, Karem?«
»Gewiss!«, antwortete ich knapp.
Norma tauchte ab und kauerte sich auf den Boden unserer gemeinsamen Wabe. Ich konzentrierte meine Aufmerksamkeit auf Eps.
Dieser deutete nach vorn. »Wir folgen dem Flusslauf zum Ausgang des Tals. Hier kommen wir am schnellsten voran. Die Ballonräder werden mit dem Gelände gut fertig.«
Es war in meinen Augen kein Fluss, sondern ein reißender Strom. Das Tal schlängelte sich zwischen den Gebirgsriesen hindurch und der Strom hatte reichlich Gelegenheit, Gletscherwasser zu sammeln. Das Wasser rauschte, donnerte und schäumte dahin, garantiert tödlich für jeden leichtsinnigen Schwimmer.
»Bestimmt eiskalt, das Wasser?«
»Ja, Karem.«
»Es gibt nicht einmal Uferbewuchs, außer ein paar Gräsern.«
»Das Klima ist zu rau, Karem. Der Strom hat auch jedes Jahr einen anderen Verlauf. Im Moment führt er bereits enorm viel Wasser. Es wird allerdings noch viel mehr werden, mit jedem Tag, an dem es wärmer wird. Der Sommer steht vor der Tür und wenn ich meinem Instinkt vertrauen darf, wird es diesmal ein besonders heißer Sommer.«
»Kann man diese Strecke dann überhaupt noch befahren?«
»Ja, trotzdem, Karem und zwar mit unserem Schwebeantrieb, nicht auf den Rädern, so wie jetzt. Wir müssen dann über die Wasseroberfläche schweben. Das ist möglich, wenn auch nicht gerade ungefährlich bei einem so reißenden Strom. Da muss man das Handwerk des Fahrens ganz sicher beherrschen, sonst ist es ein für allemal vorbei.« Das klang stolz. Er hielt sich anscheinend für ein besonders guten Piloten und wenn ich ihm so zuschaute, fand ich mit eigenen Augen die Bestätigung: Geschickt steuerte er das schiffsähnliche Landfahrzeug über und um alle Hindernisse. Bei diesem unwegsamen Gelände wirklich eine wahre Kunst. Auch wenn ihn Borsch als Copilot nach Kräften unterstützte.
Ich hatte eine Frage: »Hast du nicht von eurer Wasserarmut erzählt? Da hättet ihr doch genügend davon!«
Eps lachte erst einmal herzhaft. Und dann sagte er: »Hast du denn eine Ahnung, wie lange wir schon unterwegs sind? Nun, du warst halt beschäftigt gewesen. Aber glaube mir: Der Weg wäre für Leute zu Fuß und noch mit größeren Mengen Wasser beladen wirklich viel zu beschwerlich. Auch wenn du nicht ganz unrecht hast: Wir beziehen unseren bescheidenen Wasservorrat tatsächlich von hier unten.«
Ein Blick in die Wabe hinunter: Norma schien zu schlafen. Oder sie träumte vor sich hin.
Ich schaute mich um. Steinige Abhänge und schroffe Felswände wichen immer weiter von uns zurück. Das Tal wurde allmählich breiter und die Horizontlinie rückte näher.
Eine unwirtliche Gegend, trotz der brodelnden Wassermassen. Hier würde sicherlich niemand eine Menschenseele vermuten. Ohne ein solches Fahrzeug hätten die Stammesmitglieder tatsächlich keine Überlebenschance gehabt. Denn es war für sie nicht nur beschwerlich, von hier Wasser hinauf in ihr Versteck zu bringen, sondern es gab außer Wasser auch hier unten überhaupt nichts, was sich als Nahrung eignen würde. Wäre ich nicht zu ihnen gestoßen, hätten sie des Hungers sterben müssen. Denn ich ahnte schon, dass wir noch einen sehr, sehr weiten Weg vor uns hatten. Verfolgte wie sie konnten von ihren Verfolgern nicht weit genug weg sein.
»Wie leben eigentlich alle anderen Menschen?«
»Nicht so wie wir«, antwortete Eps ausweichend, »wenigstens die meisten nicht.«
Ich fieberte dieser Horizontlinie entgegen.
*
Es gab sie tatsächlich! Sie war nicht nur eine gedachte Linie, die man niemals erreichen konnte, weil sie mit jedem Meter, den man zurücklegte, sich weiter verschob, sondern sie war die Abrisskante zu einem Abgrund.
Hier hatte sich der Strom tief in den Felsen gegraben. Er schoss über den Rand hinaus und donnerte als Wasserfall abwärts. In der Tiefe breitete er sich als Fluss aus, der erst schäumend und tosend floss, aber dann rasch breiter und damit träger wurde.
An seinen Ufern gab es verkrüppelt wirkende Bäume und anderes Grün, das sich bemühte, in dem felsigen Boden Halt zu finden.
Schräg nach rechts gab es eine natürlich entstandene Rampe, auf die Eps zusteuerte.
»Wenn der Gebirgsstrom noch mehr Wasser führt, wird es schwierig werden, die Rampe zu benutzen«, vermutete ich.
»Keineswegs, Karem. Sieh, es ist, als hätte jemand die Rampe glatt geschmirgelt. Das kommt von den Wassermassen, die hier schon hinabgerollt sind. Das geschah zu früheren Zeiten, als der Strom noch fast ausschließlich die Rampe hinunterrauschte. Aber inzwischen hat er seinen Weg längst abgekürzt, weil es ihm gelang, sich in weichere Felsformationen hineinzufressen, um sich ohne weitere Umwege gleich in den Abgrund zu stürzen. Seitdem erst gibt es diesen gewaltigen Wasserfall. Auch wenn der Strom seine höchste Ausdehnung hat, kommt nur noch sehr wenig Wasser die Rampe herunter. Wir werden also kaum Schwierigkeiten haben, hinauf zu gelangen, um zum Lager zurückzukehren. Allerdings: Wir allein wissen das, unsere Verfolger hingegen nicht. Sie sehen nur den Wasserfall und die Seitenausläufer, die unsere Rampe hinunterströmen. Sie ahnen nicht, dass es ungefährlich ist, sie trotzdem zu passieren.«
»Vielleicht haben sie auch nur nicht die richtigen Fahrzeuge?«, warf ich ein.
Seltsam, dass er nicht darauf einging. Es war, als wollte er mir die Hauptsache verschweigen. Das erinnerte mich fatal an das Paradies, das ich verlassen hatte. Was sollte dieses grausame Spiel mit meiner Neugierde?
Er lenkte von meiner Frage ab: »Wir haben diesen Weg jedenfalls oft genug beschritten. Es ist für unser Gefährt kein Problem. Das wissen wir aus Erfahrung.«
Ich ging nicht mehr weiter darauf ein und sagte mir, dass die Zukunft die Wahrheit auch von allein zeigen würde. Auch wenn man sie mir nicht erklären wollte.
Mein Blick ging viel lieber in die Ferne, über Hügel und Täler hinweg, die sich vor unseren Füßen scheinbar bis in alle Unendlichkeit ausdehnten. - Und da erst sah ich die ersten Ausläufer der Stadt!
Ja, es war eine Stadt und sie wirkte grau und feindlich, unwirtlicher noch als die Gebirgslandschaft, die wir hinter uns zu lassen trachteten.
»Ist sie unser Ziel?«, fragte ich rau.
»Gewiss, Karem!«, antwortete Eps knapp. Er lachte humorlos. »Aber bevor wir dieses Ziel erreichen, gilt es noch einige Hürden zu überwinden.«
Er gab Borsch ein Zeichen. Der übernahm die Steuerung. Dann machte sich Eps an den Kontrollen zu schaffen. Ein Grollen entstand im Bauch des Gefährts.
»Wir sind jedenfalls schussbereit«, sagte Eps grimmig.
*
Hürden? Wir erreichten irgendwann die Ebene. Nach einer halben Ewigkeit, wie mir schien. Ich hatte ofensichtlich den Höhenunterschied unterschätzt.
Von hier unten konnte man die Ausläufer der Stadt nicht mehr sehen.
Eine sehr seltsame Stadt, wie ich fand. Nach dem, was ich aus weiter Ferne gesehen hatte: nicht vergleichbar mit den Städten des zwanzigsten Jahrhunderts. Eher mit denen des späten Altertums, als es noch keine großzügigen Straßen gab und die Häuser so ineinander verschachtelt waren, dass die Städte fast wie aus einem Stück gefertigt wirkten - umgeben von mächtigen Mauern, die jede Stadt zu einer überdimensionierten Trutzburg machte.
Grau, öde und vor allem abweisend hatte die Stadt deshalb auf mich gewirkt.
Wie groß war sie eigentlich? Wie weit war sie noch entfernt? Hundert Kilometer? Mehr, vielleicht sogar viel mehr?
Die Ebene war steinig und weglos. An einer Stelle machte der mächtig breite Fluss einen weiten Bogen. Borsch, der vollends das Steuer übernommen hatte, fuhr darauf zu.
»Festhalten!«, rief Eps mit lauter Stimme. Aus den Waben tauchten die Köpfe der anderen auf. Sie orientierten sich.
Dann duckten sie sich nieder. Sie schienen zu wissen, was sie jetzt erwartete.
Ich nicht: Ich blieb der einzige, der stehen blieb.
Norma zupfte an meinem Hosenbein. Sie winkte mir zu, mich ebenfalls nieder zu kauern.
Ich dachte indessen gar nicht daran. Ich wollte alles mitbekommen, lückenlos. Nichts durfte mir entgehen.
Auch auf den Rat von Eps hörte ich nicht: »Es ist besser, wenn du dich niederkauerst. Glaube mir, Karem. Man kann nie wissen, was geschieht. Es wird jedenfalls gefährlich.«
Dann schien er sich daran zu erinnern, dass ich ja wohl ein Unsterblicher war. Er verlor den besorgten Gesichtsausdruck und wandte sich ab von mir, um sich auf seine Waffenkontrollen zu konzentrieren. Borsch konzentrierte sich indessen voll auf die Steuerung.
Wir erreichten das Ufer. Hier war alles kahl und leblos. Keinerlei Pflanzen. Nur Sand und Steine. An manchen Stellen war der Boden regelrecht aufgebrochen. Wasser stand darin.
Wir erreichten die ersten Pfützen, die auf diese Weise entstanden waren. Da schnellte sich ein silbriger Körper daraus hervor.
Ein Fisch?
Er war lang wie ein menschlicher Unterarm. Nicht viel dicker - und klaffte vorn auseinander. Es gab keinen erkennbaren Kopf, auch keinen Schwanz, sondern nur verkrüppelte Flossen an einem sonst glatt und fast konturlos erscheinenden Leib.
Dort, wo das silbrig glänzende Lebewesen auseinanderklaffte, zeigten sich messerscharfe Zähne. Zwei Knopfaugen oberhalb des weit geöffneten Mauls fixierten uns. Das Ding segelte genau auf Eps zu.
Eps konnte mit den bordeigene Waffen nichts anfangen. Dafür war der gefräßige Angreifer schon viel zu nahe. Er zog blitzschnell seinen Säbel und ließ ihn durch die Luft zischen.
Unwillkürlich zog ich den Kopf ein.
Eps traf den Fisch mit der flachen Seite des Säbels und gab seinem Flug damit eine andere Richtung.
Der Fisch gab einen klagenden Wehlaut von sich, der fast menschlich klang und fiel neben unser weiterrollende Gefährt.
Ich beugte mich zur Seite, weil ich sehen wollte, was weiter mit ihm geschah.
Borsch hatte die Geschwindigkeit erhöht und die Staustrahlen hinzugeschaltet. Das Gefährt erhob sich leicht vom Boden und wurde ruhiger.
Der Fisch lag zuckend auf der Erde. Dann krümmte er sich sprungbereit zusammen.
Es nutzte ihm nichts mehr, denn er wurde von den Staustrahlen erfasst und weggefegt, außer Reichweite. Faustgroße Steine, Sand und Erde folgten ihm und schütteten ihn zu. So würde er wohl nie mehr zu einer der Pfützen zurückkehren können. Er war dazu verurteilt, hier qualvoll zu verenden.
Borsch und Eps kümmerten sich gar nicht mehr darum. Eps steckte seinen Säbel wieder weg und befasste sich mit den Waffenkontrollen, während Borsch das Gefährt lenkte.
Wir erreichten den Flusslauf. Hier war seine 0berfläche glatt und fast wellenlos. Das Wasser war so klar, dass man bis zum Grund schauen konnte.
Der Flusslauf hatte eine Breite von über tausend Metern. Ich sah, dass er tief genug war, um auch für große Schiffe befahrbar zu sein. Borsch schickte sich an, das Gefährt auf das Wasser hinaus zu lenken, um den Fluss zu überqueren.
Ich schaute zur Seite und beobachtete das Wasser.
Auf den ersten Blick erschien der Fluss unbelebt, aber dann sah ich die silbernen Körper, die aus allen Richtungen herbeigeeilt kamen.
Wie früher die Piranhas am Amazonas!, dachte ich erschrocken.
Doch die Silbernen waren nicht allein. In einer Entfernung von noch etwa drei hundert Metern wälzte sich etwas heran. Es schwamm gegen den Strom und erzeugte dabei mit seiner gewaltigen Masse einen Wellengang, dass der Fluss auf seinem Weg sogar über die Ufer trat. Dabei wurde es zunehmend schneller.
Es mochte die Größe eines ausgewachsenen Wals haben. Ein dicker Strahl schoss zischend in den Himmel.
Das war doch wohl nicht möglich? Wirklich ein echter Wal?
Er zeigte einen silbrig glänzenden Buckel, peitschte mit seinem gewaltigen Schwanz.
Wir hatten das gegenüberliegende Ufer noch längst nicht erreicht. Wieso konnte das Gefährt denn nicht schneller über das Wasser gleiten?
Alles krampfte sich in mir zusammen. Die anderen hatten gut daran getan, sich in Deckung zu ducken. Wie hatte ich nur so leichtsinnig sein können? Aber ich konnte nicht den Blick von der herannahenden Gefahr wenden.
Das Folgende spielte sich in Sekundenbruchteilen ab. Noch einen einzigen Schlag mit dem Schwanz und das Ungetüm hatte uns erreicht, um uns zu rammen. Das hätte unser Ende bedeutet.
Da endlich schoss Eps!
Kaltblütig hatte er auf den richtigen Moment gewartet, bis das Untier nahe genug war. Der Wal - oder was immer es auch sonst sein mochte - zeigte vor dem entscheidenden Schwanzschlag erst nur seinen Buckel. Dann: Ein wuchtiger Schädel tauchte auf, um mit relativ kleinen Augen die Richtung zu peilen. Um uns auch ja nicht zu verfehlen.
In der nächsten Sekunde würde alles zu spät sein für uns. Er wollte das ungebetene Eindringen der Fremdlinge in sein Reich mit deren totalen Vernichtung bestrafen.
Aus einer der Öffnungen am Bug des Gefährts löste sich ein nur bleistiftdünner Strahl. Ein Blitz, der hinüberzuckte und den Kopf des Ungetüms traf - genau zwischen den Augen.
Der entscheidende Schwanzschlag wurde abgebrochen. Das Untier schwamm trotzdem mit kaum verminderter Geschwindigkeit auf uns zu, um uns von der Seite zu rammen. Borsch kämpfte mit der Steuerung und holte alles aus dem Antriebsaggregat heraus, was herauszuholen war.
Das Wasser beim ›Wal‹ schäumte und spritzte blutrot verfärbt hoch in die Luft, denn der Energiestrahl verursachte am Kopf des Ungetüms eine Detonation. Und das bremste auch die rasende Fahrt des Ungeheuers.
Eps schrie begeistert und schickte noch einen Strahl hinüber.
Diesmal traf er fast ein Auge. Die Detonation riss einen großen Brocken aus dem Kopf des Ungetüms.
Dunkles Blut ergoss sich in Strömen in den Fluss und wir erreichten inzwischen endlich das andere Ufer. Borsch ließ die Staustrahlen eingeschaltet, dass wir schneller vorankamen. Wir schossen jetzt regelrecht davon, nur weg von diesem unheimlichen Fluss.
Erst als wir ihn nicht mehr sahen, ging Borsch mit der Geschwindigkeit herab.
»Was - was war das denn gewesen?«, fragte ich keuchend.
»Man sagt, Karem, durch die ungeheure Vergiftung der Natur hat es vor Jahrtausenden gewaltige Evolutionsschübe gegeben. Die Natur hat sich verändert. Sie ist nicht mehr so, wie du sie aus der Geschichte kennst. Obwohl: Es ist natürlich nicht überall so gefährlich so wie hier.«
»Wovon - wovon leben diese Wesen? Ich meine, ich habe außer ihnen nichts gesehen...«
»Es gibt nur diese beiden Sorten, Karem. Du hast sie gesehen. Sie leben von den Abfällen aus der Stadt. Nur nahe des Wasserfalls können sich Uferpflanzen einigermaßen halten, denn dort schwimmen die Räuber kaum hin, aber sonst ernten sie alles in ihrer Reichweite ab. Die Silbernen können zur Regenzeit einige Kilometer zurücklegen - auf dem Lande wohlgemerkt. Nur die Riesen bleiben an den Fluss gebunden. Man sagt, ihre Vorfahren wären harmlose Wale gewesen. Das allerdings ist schon Jahrtausende her.«
Jahrtausende? Sollte das heißen, die Welt hier bestand schon so lange? Dann waren die Unsterblichen auch so alt wie diese Welt! Und das zwanzigste Jahrhundert, über das man mich soviel lehrte, mindestens genauso fern!
Eps fuhr ungerührt fort: »Von den Ungetümen gibt es hier draußen, noch recht weit von der Stadt entfernt, natürlich nicht viele. Manchmal verirrt sich halt eins hierher. Deshalb ist es auch nicht immer so gefährlich, den Fluss zu überqueren. Der Bursche hat es inzwischen gewiss bereut, denn jetzt wird er von den Silbernen zerfleischt. Die werden sich über das unerwartete Festmahl wohl ganz besonders freuen.«
Ich spürte unwillkürlich eine Gänsehaut auf dem Rücken.
»Gehen sie denn nicht an diese Ungetüme, wenn diese unverletzt sind?«
»Du hast die Silberhaut des Riesen gesehen. Sie ist außerordentlich widerstandsfähig. Da kommt keiner der Silbernen hindurch. Ja, auch die Schuppenhaut der Silbernen selbst ist so stabil. Sonst würden sie sich wohl gegenseitig auffressen.«
»Kein Wunder, dass sich keine anderen Arten hier halten konnte.«
Eps nickte nur.
»Aber du solltest einmal den Fluss sehen, wenn er die Stadt passiert hat: Er ist dann mehrfach so groß, weitet sich aus wie zu einem See, in dem nur diese Ungetüme und die Silbernen leben - neben allerlei Kleinstlebewesen, die ebenfalls von den Abfällen leben und zu klein sind, um den Silbernen als Nahrung zu dienen. Sie haben alle eines gemeinsam: Sie sind keine Wasseratmer, sondern bestenfalls Amphibien, denn das Wasser hat einen wesentlich zu geringen Sauerstoffgehalt.«
»Woher weißt du das alles so genau, Eps?«
Er schien die Frage längst erwartet zu haben, denn er antwortete diesmal prompt: »Ich war einst einer der Aufstrebenden, wollte in den höchsten Rang kommen, um eines Tages ein Unsterblicher zu werden, Karem. Ja, ich war sehr ehrgeizig, aber ich habe auch entscheidende Fehler gemacht. - Tödliche Fehler, um genau zu sein, Karem. Es blieb mir nur noch die Flucht. Ich habe das Gefährt erbeutet und Leute um mich geschart. So entstand der Stamm. Sie profitieren davon, dass ich die Stadt so gut kenne.«
»Wie leben denn die Menschen in einer solchen Stadt?«
»Du wirst es sehen, Karem, aber erwarte nicht zuviel. Einst hat der Mensch die Erde erobert wie Ungeziefer den wehrlosen Körper eines Opfers. Die Erde hatte keine Chance - und die Menschen zu wenig Verstand...«
Ich hörte es, konnte mir aber nicht viel darunter vorstellen, was er damit ausdrücken wollte. Er meinte offenbar die Verhältnisse innerhalb der Stadt und ich konnte es kaum erwarten, sie endlich zu sehen und - vor allem! - zu erleben!
*
Ich war mit einem Gleiter aus dem Paradies der Unsterblichen geflohen, hatte tatsächlich doch das Kunststück vollgebracht, das Paradies zu verlassen. Die Energiespeicher waren am Ende leer gewesen, ich stürzte ab. Dabei landete ich genau in dem Tal, in dem der Stamm hauste.
Man muss sich das einmal vorstellen: Das Gebirge war ansonsten völlig unbewohnt.
Nur in diesem einen einzigen Tal hausten Menschen.
Genau zu diesem Zeitpunkt, als ich mit dem Gleiter dort abstürzte, hatten diese Menschen dringend Ersatzteile gebraucht, wie sie nur das Gleiterwrack bieten konnte und auch ich hätte niemals ohne die Hilfe des Stammes überleben können, so hilflos unwissend ich gewesen war.
Es fiel mir immer schwerer, noch an eine wahre Kette von fantastischen Zufällen zu glauben...
Hades steckte dahinter! Ganz gewiss sogar. Auch Danna. Das war sicher. Sie hatten es genau berechnet und ich war auch prompt darauf hereingefallen. Sie hatten meine entscheidenden Fragen unbeantwortet gelassen und hatten damit meine Neugierde geschürt, dass ich am Ende freiwillig in die Schule des Lebens eintrat.
Irgend so ein perverses Spiel, das sie mit mir trieben. Und wenn ich trotz ihrer Berechnungen sterben musste? Dann würden sie ihr Experiment wohl einfach als gescheitert ansehen.
Na, prima!
Aber wenigstens waren sie bemüht gewesen, dass ich nicht ganz allein und ohne Unterstützung geblieben war.
Ich hasste die Unsterblichen dennoch für ihr undurchsichtiges Spiel, das sie mit mir trieben.
Sie meinten es keineswegs gut mit mir. Ich durfte mich auch nicht darauf verlassen, dass sie mir etwa in entscheidenden Momenten irgendwelche nachträgliche Hilfe gewährten, falls sie dies überhaupt vermochten. Obwohl ich auch sicher war, dass sie mich ständig unter Beobachtung hielten - wie auch immer. Wenn auch nur, um an dem grausamen Spiel mit mir ihre perverse Freude zu haben.
Ich schnaufte in Gedanken daran und ballte wütend die Hände zu Fäusten, dass Norma zu meinen Füßen erschrocken vor mir zurückfuhr. Aber sie wagte es nicht, mich in meinen düsteren Gedankengängen zu stören.
Und schon stieg in mir die vage Hoffnung auf, dass es vielleicht doch mehr war als nur ein perverses Spiel, nur so zum Zeitvertreib perverser Unsterblicher inszeniert. Vielleicht gab es ein Ziel, das ich mir noch nicht einmal in meinen kühnsten Träumen vorstellen konnte? Wo am Ende, quasi auf dem Höhepunkt, eine Belohnung winkte: Rückkehr ins Paradies?
Ich kam nicht gegen diese verrückte Hoffnung an.
Ja, es war zwar idiotisch, zugegeben, zumal ich die Handlungsweise der Unsterblichen rundweg als verabscheuungswürdig betrachtete. Aber was konnte man gegen Hoffnungen tun, waren sie doch Haupttriebfedern zum Überleben, wollte man einmal vom puren Selbsterhaltungstrieb absehen?
Denn der Selbsterhaltungstrieb allein ist kein Grund für einen wachen Menschen. Sein Verstand muss ›der gleichen Meinung‹ sein, dass es besser ist, weiter zu leben, weiter zu kämpfen, sich weiter zu behaupten gegen alle Unbilden.
Auch die Freuden des Lebens sind kaum Motive zum Durchhalten. Sie helfen einem nur wenig, denn sie dauern nicht lange genug an. Sie sind nur vereinzelte Inseln im Meer des Leides, Oasen des Glücks in der Wüste der Entbehrungen.
Nur wo noch Hoffnung ist, siegt der echte Überlebenswille. Diese Hoffnung kann viele Gesichter haben - VIELE GÖTTER, die man über alles erhebt.
Bei mir war es die mögliche Rückkehr ins Paradies, obwohl ich mir andererseits einzureden versuchte, dass ich niemals wieder zu den Unsterblichen zurückkehren wollte, weil sie mir dies alles hier angetan hatten, aus welchem Motiv auch immer.
»Schule des Lebens!«, sagte ich verächtlich.
»Man existiert nur, wenn man sie besteht«, sagte Eps leise. »Ohne sie bist du nur eingeschränkt lebensfähig. Ein Leben, das sich nicht lohnt.«
Er wandte sich mir zu. »Oder warum sonst bist du hier, Unsterblicher? Ich könnte mir vorstellen, das Leben im Paradies wäre auch für dich weniger anstrengend und erfordert keine besondere Schulung mehr - bei deinem Wissen um die Dinge, die dort wichtig sind?«
Ich wich seinem Blick aus, denn wir gerieten in Sichtweite der Stadt.
Die war jetzt schlagartig wieder das Allerwichtigste für mich!
Sie war eine graue Steinwüste, auf den ersten Blick gesehen. Sie wirkte unwirtlicher, abstoßender als die Felswüste der Gebirge, denn sie war künstlich erbaut. Es gab keine Schönheit an ihr, nicht einmal die winzigsten Schnörkel.
Ich dachte an die Modellstädte im Paradies, auch an die aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Betonkästen, regelrechte Wohnfabriken - oder ›Wohnsilos‹, wie sie damals mit bitterem Humor auch genannt worden waren.
Sie wirkten noch human gegenüber dieser künstlichen Steinwüste. Ihre Ausläufer ragten wie Krallen in die Landschaft.
Jetzt war mir klar, warum die Hügel und Täler hoch vom Gebirge herunter auch so grau gewirkt hatten: Nicht bedingt durch das Licht der untergehenden Sonne, deren Strahlen immer flacher hereinfielen, sondern vor allem wegen dieser Stadt.
Wie groß war sie? Wovon ernährten sich ihre Bewohner?
Ich wagte es nicht, diesbezügliche Fragen an Eps zu stellen. Ich hätte meine Erregung nicht genügend zügeln können. Auch die anderen Expeditionsteilnehmer hätten gemerkt, wie wenig ich wirklich über ihre Welt wusste.
Eigentlich ja überhaupt nichts!
Diese Stadt musste im Innern mindestens so unmenschlich sein, wie sie von außen erschien. Sie war ein wahrer Schandfleck, die Kunst des Menschen, seine Umwelt seinen eigenen Scheinbedürfnissen anzupassen in ihrer größten Perversion.
Ich dachte wieder an die Geschichte. So etwas wie Fortschritt hatte sich stets aus einem gewissen Mangel entwickelt und jeder Mangel war im Kern stets dank der Vermehrungsfreudigkeit der Menschen entstanden. Jedes Kind, das zusätzlich geboren wurde, nahm Nahrung und Platz für sich in Anspruch - und all die anderen Dinge, die angeblich das Leben erst lebenswert machten. Um solche Ansprüche zu befriedigen, musste der Mensch erfinderisch sein. Oder aber er stellte sein eigenes Dasein in Frage.
Als die ersten Stämme nicht mehr von der Jagd und vom Sammeln leben konnten, weil sie zu groß geworden waren, entfernten sich Menschen aus ihren angestammten Kleingesellschaften und gründeten neue Stämme. Und als sich am Ende dann die Stämme gegenseitig ins Gehege kamen, entwickelten sie erst die Kriegstechnik und danach die Anfänge von Ackerbau und Viehzucht.
Jetzt reichte der Platz wieder. Jeder war versorgt. Man konnte sich weiterhin vermehren.
Diese beispiellose Vermehrungsfreudigkeit einer nur nach eigener Einschätzung hoch intelligenten und hoch entwickelten Rasse, wurde sowohl religiös-mystisch verglorifiziert (Bibel: ›Wachset und mehret euch!‹), als auch immer wieder verstandesmäßig scheinbegründet: ›Erhaltung des Stammes oder Erhaltung des Dorfes oder Erhaltung der Stadt, des Landes - sogar der Art!‹ Dabei hatte man sowohl sozial, als auch technisch mit dieser Entwicklung niemals schritt halten können. Es war stets die gleiche Ursache mit den gleichen Folgen. Eine Spirale, die sich ewig drehte: Zu viele Menschen = technische Lösung = verspätetes soziales Nachziehen = vorübergehende Beruhigung der Lage = daraus resultierendes erneutes Bevölkerungswachstum = erneut zu viele Menschen... Dazwischen immer wieder Kriege, Seuchen, Katastrophen.
Im zwanzigsten Jahrhundert so genannter christlicher Zeitrechnung wurde gleich mehrmals die Grenze des Wachstums erreicht und sogar überschritten - während die Konservativen weiterhin vorwurfsvoll predigten, dass noch mehr Menschen geboren werden müssten, um diese Probleme zu lösen, um die Art und vor allem doch die eigene Nation zu erhalten und außerdem die Renten der Alten zu garantieren.
Eine ganz besondere Perversion, die sich in jeder Ideologie bemerkbar machte, nicht nur bei den klassisch Konservativen letztlich. Kurioserweise sogar bei den so genannten Ökologen oder Umweltschützern. Sie predigten: ›Zurück zur Natur!‹ und meinten viel Grün, wo der Platz ohnedies schon knapp bemessen war, meinten natürliche Lebensart mit alten Familienstrukturen (wo man diese doch nur aus der Not heraus überwunden hatte!), noch mehr ›natürlichen Geburten‹, noch mehr Kindern also...
Auch die selbsternannten Sozialisten hielten sich dabei nicht zurück: Ihnen ging es in erster Linie darum, dass man Kinder besser zu Sozialisten erziehen konnte als Erwachsene: Sie wollten allein deshalb schon für noch mehr Nachwuchs sorgen, um ihre eigene Ideologie auch zahlenmäßig zu stärken.
Etwas, was die Sozialisten mit den Faschisten gemeinsam hatten.
So drehte sich die religiös-ideologische Spirale immer weiter, sorgte im zwanzigsten Jahrhundert auf dem Höhepunkt für eine Kette von Eskalationen. Kein Verantwortlicher war ernsthaft bemüht, die Spirale aufzuhalten. Im Gegenteil: Jeder bemühte sich nach Kräften, sie noch schneller drehen zu lassen. Und sogar wo widrige Umstände wie Hunger und Elend die Bevölkerungsexplosion einzudämmen drohte, sorgte man rechtzeitig für genügend Brot und medizinische Hilfe.
Damit sich das Elend des Kinderreichtums auch ja noch schneller verbreiten konnte. Bei allem: Allein der Fortpflanzungstrieb steckte doch dahinter und der menschliche Verstand reichte halt nicht aus, Vernunft über einen so primitiven Trieb siegen zu lassen.
Ich sah des Endergebnis direkt vor meinen Augen.
Im zwanzigsten Jahrhundert hatte es zunächst so ausgesehen, als würde ein Atomkrieg oder auch die ökologischen Entartungen dank der Umweltverschmutzung das Problem gewaltsam lösen. Dem war nicht so. Der Mensch hatte mit seinem Erfindungsgeist dafür gesorgt, dass nicht nur die Vernunft keine Chance erhielt.
Die Stadt war der ›lebende‹ Beweis dafür: Sonst hätte es sie nicht gegeben! Und auch nicht in dieser Art!
Der Mensch hatte rechtzeitig vor seinem Untergang eine Möglichkeit entdeckt, all diese Massen zu ernähren und bestimmt war es auch heute noch heiliges Gesetz, möglichst viel Nachwuchs zu zeugen. Sonst wurde am Ende der menschliche Erfindungsgeist ja nicht mehr gebraucht. Dies galt es zu allen Zeiten, zu verhindern.
Ich lachte bitter über diese sarkastische Erkenntnis.
»Wie viele Menschen wohnen in einer solchen Stadt?«, murmelte ich - trotz meinem Vorsatz, meinen Mund zu halten, um mich in meiner Unwissenheit vor allen anderen nicht zu verraten. »Ja, wie groß ist sie denn überhaupt?«
»Ich kenne zwar ihren Beginn, weiß aber nicht, wo sie endet«, antwortete Eps. »Wenn du in der Stadt bist, dann glaubst du, es gäbe sie überall, ja, die gesamte Welt bestünde ausschließlich aus dieser Stadt.«
»Wie viele Menschen?«, wiederholte ich.
»Viele Milliarden!«
»Und von was leben diese Milliarden?«
»Du wirst es sehen, Karem. Es nutzt nichts, wenn ich es dir erkläre. Du würdest es nicht glauben wollen, es nicht begreifen. Du musst hinein in die Stadt, musst es am eigenen Leib erfahren. Sonst verstehst du auch nicht, aus was unser Proviant besteht.«
Proviant? Das war eine breiige Masse - in erster Linie. Es gab auch Fladen, so eine Art Nüsse, dann noch so etwas wie Hefe...
Ich konnte nicht sagen, dass dies alles gar wohlschmeckend war, aber es ernährte einen Menschen. Das allein erschien mir bislang wichtig.
Warum beantwortete man meine Fragen nicht? Warum erging es mir in dieser Beziehung hier nicht besser als im Paradies?
Nun gut, ich würde also sehen: Wenn ich erst einmal die Stadt betreten hatte.
Und wie kamen wir überhaupt hinein? Wurde sie denn nicht ausreichend bewacht?
*
»Ökologie ist das Gleichgewicht der Kräfte. Nur im Gleichgewicht gibt es Beständigkeit. Wo es an Wirksamkeit einbüßt, beginnt die Evolution, denn der evolutionäre Zweig in der Ökologie stört das Gleichgewicht und zwingt alle Teile zur Neuordnung. Und wenn die Neuordnung abgeschlossen ist, dominiert ein neues Gleichgewicht der Kräfte - bis zum nächsten evolutionären Schub.
So hat sich die Menschheit entwickelt. So hat sie sich vom Tier zum denkenden Wesen erhoben. Sie hat Intelligenz erlangt, als sie begonnen hat, nicht nur zu überleben, sondern auch zu siegen - über die Natur und vor allem über sich selbst.
So war der Motor für alle Entwicklung im Menschen selbst, von Anfang an. Ein solcher Motor konnte, bevor es auch nur den leisesten Ansatz von Intelligenz gab, nur ein Instinkt gewesen sein. Heute kennen wir diesen Instinkt. Wir nennen ihn Arterhaltung.
So fantastisch es auch klingen mag: Diesem Instinkt allein verdankt der Mensch seinen Aufstieg. Und wenn der Mensch am Ende doch noch unterliegt - heute sieht es fast danach aus -, dann steht dahinter wiederum dieser Instinkt, nur dass der Mensch ihn mit seiner Intelligenz letztlich pervertierte...«
––––––––
(Zitat aus dem zwanzigsten Jahrhundert so genannter christlicher Zeitrechnung)
*
Wir versteckten unser Fahrzeug in einer Bodensenke, als der Abend hereinbrach. Die gigantische Stadt war doch viel weiter entfernt gewesen als ich es vermutet hatte.
Auch aus der Luft war die Entfernung geringer erschienen, weil die Stadt das Bild von oben beherrschte.
Ich betrachtete im Abendrot die karge Natur. Die paar Gräser, die verkrüppelten Bäume, die niemals höher als einen Meter wuchsen... Sie mussten eine Folge des gestörten Naturhaushaltes sein. Deshalb waren die Berge auch so kahl und die Täler nur sehr spärlich mit Pflanzen versehen. Wilde Tiere gar hatte ich überhaupt keine entdeckt.
Außerdem vermisste ich Vögel.
Ich glaubte, dass seit dem zwanzigsten Jahrhundert Jahrtausende vergangen waren. Diese Jahrtausende hatten den Menschen nicht mit wachsender Vernunft erlebt. Das einzige, was wohl gewachsen war, das waren die Städte und die Bevölkerungszahlen.
Vielleicht war es nicht übertrieben, wenn Eps davon sprach, die Stadt würde möglicherweise die ganze Welt bedecken?
Auch das schwor ich herauszufinden.
Die Städter selbst jedoch sprachen meine Neugierde nur vordergründig an.
Eps erklärte mir: »Wir können uns mit dem Fahrzeug nicht tief in die Stadt wagen. Selbst wenn wir jeden Monat einen Beutezug unternehmen würden, Karem, würde sich die Ordnung jedes mal anders präsentieren. Es gibt keine kalkulierbaren Größen, verstehst du? Die Stadt ist die Hölle, in der nur Teufel überleben.«
Selbst wenn eine solche Formulierung übertrieben erschien: Damit machte er mir klar, wieso das Wachstum in dieser Größenordnung gestoppt hatte.
Rein mathematisch gesehen hätte es inzwischen mehr Menschen als Sterne am Himmel geben müssen. Also herrschte eine Art künstliche Ökologie innerhalb der Menschengemeinschaft. Ein Gleichgewicht der Kräfte, das sich ständig verschob, aber unter dem Strich stets stabil blieb.
Und jeder, der in dieser grausamen Quasi-Ökologie als der Schwächere unterging, bildete sich ein, danach mit einem Eingehen in den Himmel belohnt zu werden.
Das war die Hoffnung der Schwachen. Soweit hatte ich den Wahn bereits begriffen. Was ich einfach nicht begreifen konnte, war hingegen die Tatsache, dass tausend Unsterbliche diesem unmenschlichen Treiben tatenlos zusahen...
Ich hätte es niemals gewagt, etwas in dieser Richtung zu sagen, denn war es nicht so, dass ich selber hoffte, wieder eines Tages einer der Unsterblichen sein zu können?
Auf der einen Seite verurteilte ich die Passivität der Unsterblichen diesen Zuständen gegenüber und auf der anderen Seite wäre ich gern wieder so gewesen wie sie. - Ein Widerspruch in sich?
Das Prinzip der Hoffnung, stärker als jegliche Vernunft - und der würdige Partner von zwei Urtrieben des Menschen: Selbsterhaltung und Arterhaltung.
Das Prinzip der Hoffnung war dabei die richtige Ergänzung auf der Seite des Verstandes. Es sorgte stets dafür, dass tierische Instinkte und Unvernunft niemals zu kurz kamen.
Ich knirschte mit den Zähnen, in schierer Selbstverachtung. Mehr und mehr begann ich unter meinen eigenen Erkenntnissen zu leiden, denn ich unterschied mich von diesen armen Kreaturen hier nur darin, dass ich es erkannte, dass ich das Prinzip durchschaute - aber leider nicht darin, dass ich dem vernünftig Rechnung trug.
»Wir müssen warten bis nach Mitternacht«, flüsterte Eps. »Bis dahin kann ich neue Entscheidungen treffen.«
Er hantierte in der Pilotenwabe herum. Dann begann er, eine Plane über die Wabe zu ziehen.
»He, Moment mal!«, protestierte ich.
Er hielt ein. Ich konnte ihn im Licht der Sterne nur als Schatten sehen.
»Ich muss dicht machen, Karem, denn sonst verrät uns das Glühen des Bildschirms.«
»Bildschirm?«
»Ja, wir müssen ständig die Umgebung kontrollieren, denn es muss damit gerechnet werden, dass man uns geortet hat. Es kommt immer wieder vor, dass Menschen die Stadt verlassen und an anderer Stelle einfallen, weil sie glauben, dort müsste es für sie bessere Lebensbedingungen geben. Vor allem haben sie wenig Skrupel, Fremde umzubringen: Weil sie in denen sozusagen Konkurrenten sehen.«
Er sagte es in einer Art und Weise, als wollte er noch hinzufügen: »Wie gut, dass wir so anders sind als diese!« Oder bildete ich mir das nur ein - bei den pessimistischen, ja deprimierenden Gedanken, die ich hegte? Auf jeden Fall: Weder Eps, noch seinen Leuten würde je in den Sinn kommen, dass sie selbst auch nichts anderes waren als gemeine Mörder. Im Gegenteil: Sie fühlten sich als etwas Besonderes, weil sie gelernt hatten, außerhalb der Stadt zu überleben und allen Nachstellungen bislang zu entgehen. - Abermals knirschte ich mit den Zähnen.
»Ich komme nach vorn!«, entschied ich.
Norma wollte mich zurückhalten, aber ich schüttelte sie einfach ab. Borsch befahl ich, meinen Platz einzunehmen. Er gehorchte und Eps ließ mich in die Kanzel. »Halte dich aber bereit!«, sagte er zu Borsch. »Wenn wir in Gefahr kommen, brauche ich dich als Piloten.« Es war klar, dass dies ein Seitenhieb auf mich war. Eps wollte mir klar machen, dass ich mit meiner Vorgehensweise möglicherweise die Bande gefährdete. Denn ich würde wohl kaum so einen geschickten Piloten wie Borsch ersetzen können.
Ich machte mir nichts daraus, half Eps, die Plane zu befestigen, damit kein Lichtschimmer nach draußen drang und widmete mich dem Bildschirm.
Bis Mitternacht hatten wir warten wollen. So lange brauchten wir allerdings keine Geduld zu üben, denn der Gegner war bereits da! Eps schrie auf, als er die dunklen Punkte auf dem grün leuchtenden Ortungsschirm erkannte.
Er hatte sich durch mein Vordrängen für Sekunden ablenken lassen und das hatte uns tatsächlich in eine furchtbare Gefahr gebracht.
Borsch stand nicht zur Verfügung. Somit lag das Gefährt fest. Eps konnte sich nicht um das Fahrzeug kümmern, sondern musste sich den Waffen widmen.
Es waren schätzungsweise fünfzig Personen, die geduckt herbei schlichen. Wahrscheinlich basierte das Ortungssystem auf Infrarotortung.
Eps ließ eine Lampe leuchten. Seine Finger tanzten über die Kontrollen, als wären sie selbständige Wesen.
Das Gefährt schüttelte sich. In seinem Bauch wummerte und grummelte es.
Ich riss die Plane beiseite, weil ich es nicht mehr aushielt.
»Nicht!«, schrie mir Eps zu, aber ich ließ mich nicht aufhalten: Mit einem einzigen Satz war ich draußen.
Meine Augen mussten sich erst wieder an die Dunkelheit gewöhnen. Ich duckte mich sekundenlang zu Boden, mit hellwachen Sinnen.
Leise Schritte, Atem, Scharren von Füßen. Die Städter gaben sich alle Mühe, leise zu sein, aber ich brauchte kein Ortungssystem, um zu wissen, wo sie waren.
Neben mir eine Bewegung. Ich riss sofort das Kurzschwert aus der Scheide.
Aber es war Norma. Sie achtete nicht auf mich, sondern lauschte in die Nacht.
»Geh zurück!«, befahl ich ihr leise.
Sie reagierte überhaupt nicht.
»Zurück, sage ich!«
»Wenn du unsterblich bist, haben wir alle eine Chance«, zischte sie, »und ich gehöre an deine Seite. Du hast es mir bewiesen. Also weise mich jetzt nicht ab!«
So einfach war das also für sie.
Ja, ich hatte es ihr bewiesen. Sie hatte also sogar recht, aber ich ärgerte mich dennoch, weil sie meinen Befehlen nicht gehorchte.
Gleichzeitig wurde mir klar, warum ich nicht wollte, dass sie an meiner Seite kämpfte: Ich sorgte mich um sie!
Das zügelte meinen Zorn.
Wir stürmten los, den sanften Hügel vor uns hinauf, bis zu seiner Kuppe.
Wir wussten beide, dass dort eine Gruppe von drei Menschen kam, dicht beisammen. - Umso besser für uns.
Anscheinend waren sie die Stadt so gewöhnt, dass sie hier draußen hilflos waren und gegenseitigen Kontakt brauchten.
Ja, umso besser für uns.
Wir sprangen auseinander. Norma, ich habe mich nicht in dir getäuscht!
Wir schlugen zu.
Die Städter blockten unsere Schläge ab, aber nicht entschlossen genug. Wir durchbrachen spielend ihre Deckung und töteten sie.
Ein wildes Geschrei entstand vor uns. Ein Blitz zuckte auf, verbreitete blendende Helligkeit, hoch hinauf und überschüttete die Szene mit seinem bläulichen Schein: Eine Signalrakete!
Das hatte es auch schon im zwanzigsten Jahrhundert gegeben.
Schüsse donnerten. Also besaßen die Städter auch Schusswaffen! Die Kugeln zwangen uns zu Boden. Die Signalrakete erlosch.
Norma und ich wälzten uns zur Seite, um nicht länger den Schützen ausgeliefert zu sein, die uns im Schein der Signalrakete entdeckt hatten. Prompt schlugen die nächsten Kugeln in der neuerlichen Dunkelheit genau dort ein, wo wir uns gerade noch befunden hatten.
Jetzt waren wir wieder im Vorteil. Wir sprangen auf und rannten los, genau auf die nächste Angreifergruppe zu.
Diese Narren. Anstatt ihre Front weit auseinander zu ziehen, gruppierten sie sich so eng, dass sie sich gegenseitig ins Gehege kamen.
Wir hieben mit unseren Kurzschwertern drein, wichen blitzschnell aus, als Schüsse aufbellten, schlugen erneut zu.
Wir kannten kein Pardon mit den Städtern. Es ging um unser Leben. Keinen Augenblick dachte ich daran, dass eigentlich wir die Angreifer waren und das hier die Verteidiger. Nur der Instinkt, alles tun zu müssen, das eigene Leben und das Leben der Gefährten zu erhalten, sorgte für die nötige Skrupellosigkeit. Denn der Skrupellose hat in der Tat stets die besseren Chancen zum Sieg.
Eine andere Gruppe erreichte die Hügelkuppe und kam in Reichweite der Bordwaffen.
Eps setzte die Energiewaffe ein. Ein einziger Blitz genügte. Die Energie erzeugte eine Kettenreaktion in der Körperoberfläche der Getroffenen und machte ließ sie detonieren wie lebende Bomben.
Auch vor uns krachte und donnerte es.
Erneut eine Signalrakete. Diesmal ließen wir uns vorzeitig zu Boden fallen und entgingen den ersten Schüssen, die im Schein der Rakete abgefeuert wurden.
Und dann standen zwei Gruppen über uns, richteten ihre Schusswaffen auf uns und brüllten: »Wir haben zwei Geiseln!«
Noch nicht ganz!, dachte ich zerknirscht und wartete, bis endlich wieder die verdammte Signalrakete erlosch.
Andere aus den gegnerischen Reihen stürmten herbei.
Außerdem wären wir als Geiseln völlig untauglich gewesen. Eps hätte sich niemals darauf eingelassen.
Der Erhalt der Bande war ihm viel wichtiger als das Leben von uns beiden.
Die Signalrakete erlosch. Norma und ich wirbelten über den Boden davon.
Die Gegner schossen blindlings, um die Flucht zu verhindern, trafen aber nicht.
Ich warf mich vor die Füße der einen Gruppe, die herbei stürmte und stieß mit dem Kurzschwert nach schräg oben. Wahnsinnige Schreie. Ich wirbelte weiter, sprang auf, schlug mehrmals zu.
Die nächste Signalrakete. Während ich mit den Sterbenden hin fiel, als wäre ich einer von ihnen, schaute ich nach Norma, konnte sie aber nirgendwo mehr entdecken.
Aber ich machte mir keine Sorgen um sie. Jetzt nicht mehr. Bei dem, was sie an Geschicklichkeit schon bewiesen hatte... Sie konnte sehr wohl auf sich selbst aufpassen. Wahrscheinlich tarnte sie sich genauso geschickt wie ich.
Die Städter schrieen durcheinander. Eine Gruppe kam der Hügelkuppe zu nahe und starb.
Ein paar hatten kleine, runde Dinger bei sich, die sie in Richtung Gefährt warfen: Handgranaten?
Eps traf sie im Flug. Sie detonieren krachend und ließen eine Druckwelle über uns hinweg toben.
Die Signalrakete erlosch. Zeit für mich, wieder in Aktion zu treten.
Ich wütete unter den Städtern wie ein Berserker. Das Licht hatte ich gut genutzt. Ich wusste genau, wo sich jeder einzelne befand, kalkulierte dabei auch mögliche Bewegungen ein.
Schüsse donnerten, aber die Kugeln trafen die Städter selbst: Sie brachten sich in der Dunkelheit gegenseitig um! Deshalb steckten sie ihre Schusswaffen endlich weg und griffen nach langen Messern und Schlagstöcken.
Als noch einmal eine Signalrakete abgeschossen wurde, war ich bei dem Mann, der sie abfeuerte. Ich tötete ihn und nahm ihm die Signalpistole ab - um sie in die nächststehende Gruppe zu richten.
Sie schrieen auf, wollten fliehen, aber ich schoss bereits.
Als sie brennend davonrannten, blieb ich regungslos stehen. Ich begann zu begreifen, was hier überhaupt ablief, was ich hier überhaupt tat.
Das wirkte auf mich wie eine Lähmung.
Ich blieb einfach stehen, als Zielscheibe für die Städter, die im Schein des Feuers wieder ihre Pistolen zogen und auf mich anlegten.
»Karem!«, schrie jemand und riss mich zu Boden: Norma. Sie warf sich schützend über mich. Die Kugeln sirrten über uns hinweg. Norma hatte eine der Pistolen erbeutet. Sie schoss jetzt selber, traf zwei der Städter.
Die anderen wandten sich schreiend zur Flucht. Sie hetzten an ihren brennenden Kumpanen vorbei, ohne Anstalten zu machen, ihnen zu helfen. Sie schossen während ihrer Flucht aber immer wieder ungezielt über die Schulter zurück, um uns auf Abstand zu halten. Sie liefen um ihr Leben.
Es waren nicht einmal zehn, die das gnadenlose Gemetzel überstanden hatten. Wir hatten ein fürchterliches Blutbad unter ihnen angerichtet...
»Karem, wieso weinst du?«, fragte mich Norma verwundert. Sie vergaß darüber sogar ihr Siegesgeheul.
Ich sagte: »Was nutzt alles Wissen, alle Bildung, wenn sie die tierische Seite des Menschen nicht besiegt, ihn nicht wirklich verändert, ihn also ein - Mensch bleiben lässt?«
»Wie bitte?«
»Alle Erkenntnisse quälen uns nur zusätzlich, weil wir nicht wirklich ihnen zu dienen vermögen, sondern nach wie vor den Instinkten, die bereits die Handlungen unserer primitivsten, tierischen Vorfahren maßgeblich bestimmten.«
Ich umarmte und küsste sie.
»Wir lieben und wir töten. Wir essen, verdauen, scheiden aus. Wir frieren, hassen... Wer immer wir auch sind und was auch immer aus uns geworden ist. Wo bleibt dabei der Gewinn aus der Intellektualität?« Ich küsste sie atemlos, sie, die sie kein Wort von dem verstand, was ich von mir gab. Davon war ich jedenfalls überzeugt. Dennoch fuhr ich fort: »Wir sind Menschen, egal, was wir auch in unsere Köpfe an Wissen und schlauen Erkenntnissen hinein stopfen. Wir bleiben Menschen, jene Art, die es so erfolgreich schafft, alles zu zerstören, um es wieder neu aufbauen zu können. Andere zu töten, wie es auch jede andere primitive Bestie vermag.«
Ja, Norma verstand meine Worte nicht. Gewiss nicht. Sie war in einer anderen Welt aufgewachsen als ich, der ich erst in dieser Welt hier die Niederungen des Menschsein hatte kennen lernen müssen.
Ich erlebte diese Welt hier sozusagen mehr als Gast, weil ich eben das wahre Paradies kannte.
Es war an der Zeit, dass ich endlich das Paradies vollends aus meinem Denken verbannte - dorthin, wohin es gehörte -, um nur noch all mein Sinn und Streben darauf zu richten, hier zu überleben.
Sonst kam es wieder so wie vorhin. Sonst litt ich unter der Erkenntnis, anstatt mich weiter als Mörder zu behaupten - in einer Welt, wo mir nichts anderes übrig blieb. Denn wo Taten gefordert waren, konnte Philosophie eine tödliche Bedrohung werden.
Ich weinte.
Ja, Norma konnte das unmöglich verstehen.
*
Das Gefährt erschien als donnerndes Ungetüm auf dem Hügel. Es näherte sich uns. Ich hörte undeutlich die Stimme von Eps, der uns zu brüllte: »Aufspringen!«
Was hatte er vor?
Das Ungetüm machte Anstalten, uns zu überrollen. Es blieb uns gar nichts anderes übrig als aufzuspringen.
Norma und ich schafften es rechtzeitig. Kaum hatten unsere Füße die Bordkante berührt, als Eps beschleunigte. Wir kippten vornüber. Ich segelte über die beiden Piloten hinweg. Mit dem Kopf voran tauchte ich in die Wabe. Norma landete in der Nachbarwabe. Welcher Teufel ritt Eps, dass er so mit uns umging?
Ich hatte Glück und brach mir nicht das Genick. Sofort rappelte ich mich in der engen Wabe wieder auf und streckte den Kopf über den Rand, um zu sehen, was Eps tat.
Er machte Jagd auf die Überlebenden!
Sie schossen sofort, als wir ihnen zu nahe kamen. Eps duckte sich. Dann schoss er zurück. Schließlich hatte er seine Opfer gut sichtbar auf dem Schirm.
»Warum?«, brüllte ich durch das Hölleninferno.
Eps gab nicht sofort Antwort. Er hatte alle Hände voll zu tun.
Bis er mürrisch kommentierte: »Nur noch einer übrig!« Er drückte auf ein letztes Mal auf den Feuerknopf und hieb Borsch neben ihm kräftig auf die Schulter. »Halte Kurs, Borsch!«
Ich sah ihn wütend an. Am liebsten wäre ich Eps an die Kehle gegangen.
»Warum?«, wiederholte ich.
»Du wirst es verstehen, Karem, glaube mir. Sobald du die Stadt näher kennst, wirst du mein Handeln voll und ganz verstehen lernen.«
Ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Meine Rechte zuckte vor. Ich packte Eps am Kragen.
Stirnrunzelnd betrachtete er meinen Arm.
»Ich will die Erklärung sofort, verstehst du? Und nicht nur deine Ausflüchte!«
»Also gut.« Aber er begann erst, als ich die Hand wieder weg nahm. »Die Außenbezirke der Stadt sind meistens unbewohnt. Dort halten sich nur Banden auf. Die Bewohner einer Stadt bilden Gruppen. Es ist dies eine Pseudoordnung. Anders geht es nicht, denn ein Einzelner hat kaum Chancen, in der Stadt zu überleben.
Meine Bande hauste einst auch in den Außenbezirken, bevor ich dieses Fahrzeug...« Er lächelte. »Das heißt, Karem, bevor ich das Vormodell dieses Fahrzeuges hier eroberte. Das war auch höchste Zeit, denn man machte bereits ganz gezielt Jagd auf uns. Du musst wissen, die Banden, das sind nichts weiter als Einzelgänger, die sich zusammengerottet haben und Einzelgänger sind Flüchtlinge. Sie haben Fehler begangen und entrannen durch Flucht der Strafe. Wenn du so willst, Karem: Es sind Kriminelle im klassischen Sinn. Es kommt jedoch selten vor, dass sie auch den Bereich außerhalb der Stadt kontrollieren. Das bedeutet, dass es zur Zeit konkurrierende Banden hier gibt. Denn normalerweise droht von außen keine Gefahr, weil es außerhalb der Stadt keine Menschen gibt - außer uns natürlich.«
»Du meinst, sie hielten uns für irgend welche Gegner, mit denen sie bereits trübe Erfahrungen gemacht haben.«
»Ja, Karem und da war es wichtig, dass keiner überlebte, um anderen von uns zu berichten. Begreifst du das? Es ist eine Frage der Vernunft. Wenn es zu Auseinandersetzungen kommt, darf es niemals Zeugen geben. Niemals, hörst du? Wir dürfen niemandem auffallen.
Die anderen Banden in den Außenbezirken dürfen nicht einmal vermuten, dass es uns gibt. Dann werden wir auch nicht von ihnen verfolgt. Es sei denn, wir haben den Beutezug hinter uns - und verschiedene Leute beginnen über uns im Nachhinein nachzudenken. Aber dann ist es uns egal. Bis zum nächsten Mal!«
»Ist das denn schon passiert?«
»Öfter sogar, aber bis jetzt konnten wir uns allen Nachstellungen entziehen. Bis jetzt eben!«, betonte er. »Nicht nur, weil wir besonders umsichtig sind, sondern auch, weil wir uns außerhalb der Stadt am besten auskennen. Den Rest erledigt die Wildnis mit den Verfolgern selbst!«
Das leuchtete mir ein.
Ich wandte den Kopf. Norma stand in der Nachbarwabe. Ich beugte mich zu ihr und küsste sie. Norma lächelte mich an. Dann kam sie zu mir herüber. Ich beobachtete sie dabei. Nein, sie war völlig unverletzt aus dem Kampf hervor gegangen.
»Wir sind da!«, knurrte Borsch.
Jetzt tauchten unsere anderen Stammesmitglieder auch auf. Sie schauten über den Rand ihrer Waben nach vorn.
Die Stadt war ein eigenes Gebirgsmassiv. So kam sie mir jedenfalls vor. Eine graue Masse, bucklig, unschön. Der Stadtrand sah aus wie abgefressen. Scharfkantige Teile ragten wie anklagend in die Luft.
Die Stadt war hier schätzungsweise dreißig Meter hoch. Der Rand sah tatsächlich aus wie ein künstlicher Querschnitt. Dieser war übersäht mit unterschiedlich großen Nischen. Die Kanten waren Abrisskanten. Das war sicher. War die Stadt einst größer gewesen? Wurde sie etwa zum Teil zerstört? Reichte sie deshalb nicht bis zu den Bergen hinüber?
Ich wagte nicht zu fragen, während der Suchscheinwerfer des Gefährts über die leeren Nischen tastete.
»Stell dir einen gigantischen Schaumteppich vor«, sagte Eps tonlos. »Jede Schaumblase ist so groß, dass du mindestens ein kleines Häuschen hineinstellen könntest. Manche sind viel größer. Und dann erstarrt der ganze Schaum zu einer festen, stabilen Masse. Nicht ganz starr, sondern in sich bis zu einem gewissen Grad elastisch. Dann kann es sogar Erdbeben geben, ohne der Schaummasse nachhaltig schaden zu können.
So lange die Masse noch nicht völlig stabil ist, werden ungezählte Tunnels gebohrt. Jetzt ist das Material noch geeignet dafür. Man treibt Tunnels kreuz und quer. Die einen so hoch, dass ein Mensch aufrecht darin gehen kann, andere größer, damit sie Fahrzeuge aufnehmen können. Wieder andere jedoch sind von geringem Durchmesser, weil sie Versorgungs- und Entsorgungssysteme aufnehmen müssen.
Und dann ist der Schaumteppich komplett vorbereitet. Die Masse erstarrt für die Ewigkeit, ist fast unzerstörbar.
Die Versorgungssysteme werden installiert. Die großen Tunnels sind die Straßen!
Die Schaummasse ist transparent. Ja, sie hat sogar das Bestreben, von außen dringendes Licht regelrecht aufzusaugen, um es nach innen weiter zu geben. Das ist im Innern, als würden die Wände glühen. Deshalb wirkt sie von oben gesehen dunkelgrau. Eigentlich müsste sie schwarz sein, aber im Laufe der Zeit hat sich soviel Dreck auf ihr festgesetzt, dass die licht schluckende Wirkung nachgelassen hat.
Sobald sämtliche Systeme fertig sind, können die Menschen einziehen. Es ist ihre Stadt. Sie lassen sich in den Blasen nieder, die alle untereinander verbunden sind. Sie haben genügend Licht, sind jedoch gegen sämtliche Unbilden des Wetters geschützt.
Nur im Sommer ist es unangenehm, wenn die Sonne beginnt, den Schaum aufzuheizen.
Aber die findigen Installateure haben dem Rechnung getragen, denn sie spritzen aus Milliarden von Düsen Wasser über das Gebilde. Es verdunstet und kühlt dabei die Hohlräume.
Das Material ist nicht nur fast unzerstörbar und wasserabweisend, sondern auch luftdurchlässig. So läuft kein Bewohner Gefahr zu ersticken. Zusätzlich wird jeder Bewohner über das Versorgungssystem mit Luft versorgt. Genauso wie mit Nahrungsmitteln und Getränken.
In den Hohlräumen werden Wohnungen gebaut, ganz individuell. Dem einen ein Haus, dem anderen spanische Wände, weil ihm das genügt.
Ein glückliches, zufriedenes Leben - eigentlich. Endlich können all die Menschenmassen untergebracht werden und fühlen sich dabei sogar wohl.
Damit hat man einst eine weltweite Krise bewältigt.
Mord und Totschlag hatten vorläufig ein Ende.
Ja, vorläufig, Karem«, fügte Eps hinzu, während er die leeren Nischen beobachtete.
Nichts rührte sich dort.
»Mit der Zeit hat sich das geändert, denn die Bewohner der Stadt vermehrten sich über Gebühr. Der Platz wurde eng, die Versorgung unzureichend.
Die Zerstörungswut der Beengten begann. Sie vernichteten die Computerterminals, über die man alles zum täglichen Leben bestellen konnte.
Es waren zu viele Menschen, um sie alle versorgen zu können, zu viele auch, um ihnen allen Arbeit zu geben.
Der Stadtstaat setzte seine Truppen ein, um dem Unwesen ein Ende zu bereiten. Der erneute Beginn von Mord und Totschlag, lieber Karem. Die Ordnung des Stadtstaates brach unweigerlich zusammen. Die randalierenden Banden gewannen die Oberherrschaft. Sie zerstörten so viele der lebenswichtigen Einrichtungen, dass Millionen von Menschen elendiglich ums Leben kamen. Niemand kann wirklich ermessen, wie viel Leid es damals wirklich gegeben hat. Obwohl man heute noch die Spuren davon sieht...«
––––––––
Ende
*