Die Welt der Ratten – als Stein gewordener Wahnsinn
––––––––
Gemeinsam mit dem Stamm, dem Borsch angehört, geht es an Bord eines seltsamen Gefährtes zur weltumspannenden ›Stadt‹. Ein Beutezug. Sie erreichen ihr Ziel...
*
*
Hintergrund:
––––––––
Irgendwann in fernster Zukunft: Viele tausend Welten sind von Menschen besiedelt. Überlichtschnelle Flüge sind verboten, weil es sich erwiesen hat, dass diese auf Dauer das energetische Gleichgewicht des Universums und somit das Raum-Zeit-Gefüge stören, was in manchen Bereichen des Universums in der Vergangenheit zu schrecklichen Katastrophen führte.
Die von Menschen besiedelten Welten haben keinen direkten Kontakt miteinander, da es keine überlichtschnellen Kommunikationsmöglichkeiten gibt. Dennoch entstand im Verlauf der Jahrtausende ein funktionierendes Handelssystem: Riesige Container-Schiffe sind im Unterlichtflug unterwegs zu ihren Zielwelten, mit mannigfaltigen Waren bestückt. Sie sind teilweise Jahrtausende unterwegs, um ihr Ziel zu erreichen, aber da der Strom der Handelscontainer niemals abreißt, werden die Planeten untereinander reibungslos versorgt.
Die Erde beispielsweise ist eine gigantische ›Zuchtanstalt für Menschenmaterial‹ - dem wichtigsten ›Exportartikel‹ für die Erde. Die Betreffenden werden in Tiefschlaf versetzt, bevor sie auf den Weg gehen. Ein übriges tut die Zeitdilatation, so dass sie unbeschadet den langen Flug überstehen.
Dieses komplizierte Handelssystem ist natürlich hochempfindlich - und muss überwacht werden. Dafür zuständig ist der Sternenvogt - der HERR DER WELTEN! Nur ein Sternenvogt besitzt das Monopol des Überlichtfluges, um seiner Aufgabe auch gerecht werden zu können. Aber dieser verhältnismäßig minimale Einsatz des Überlichtfluges hat keine negativen Auswirkungen auf die universale Ordnung.
Es gibt mehr als nur einen Sternenvogt, doch das Universum ist groß genug für alle - und so begegnen sie sich untereinander nur, wenn es unbedingt nötig erscheint...
*
Prolog 1
––––––––
John Willard, geboren auf einer unmenschlichen Erde, wird unter dramatischen Umständen der ›Diener des Sternenvogts‹, denn dieser geht selten persönlich in einen notwendig werdenden Einsatz, um die sogenannte universale Ordnung zu sichern. Sein Diener fungiert als eine Art Stuntman (Band 1).
Der erste Einsatz führt John Willard auf den ›Planeten der Amazonen‹: Aufgrund von Umwelteinflüssen kommen hier nur Frauen zur Welt. Um ihren Fortbestand zu sichern, müssen sie Männer von der Erde ›importieren‹. Und jetzt haben sie das Geheimnis des Überlichtfluges enträtselt und sagen dem Handelssystem den Kampf an (Band 2).
Es gibt einen Bereich im Weltall, in dem Handelscontainer einfach verschwinden. John Willard findet hier eine Art ›Miniuniversum‹, das durch radikal veränderte Naturgesetze entstand. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als einzudringen, obwohl es noch niemals zuvor eine Rückkehr von hier gab (Bände 3 bis 4).
In Band 4 gelingt John das bislang Unmögliche - und er kehrt zurück. Inzwischen hat der Sternenvogt einen zweiten Diener - einen kampfstarken intelligenten Androiden: Bron! Und der nächste Einsatz wartet bereits: Johns Bewusstsein wird ausgetauscht mit dem Bewusstsein eines jungen Mannes namens Bereter. Er ist ein so genannter Sucher - unterwegs in einer alptraumhaften Welt, die durch das Kollektiv der Träumer entstanden ist. Als Bereter kann sich John nicht an seine eigentliche Identität erinnern. Seine Aufgabe ist es, das Geheimnis der Traumwelt zu ergründen und den nicht abbrechbaren Traum in Bahnen zu lenken, die keine Gefahr mehr für die universale Ordnung bedeuten, ausgehend vom ›Planeten der Träumer‹. Kommt er als Bereter zu Tode, ist dies auch sein Ende als John Willard. Aber er hat eine wichtige Unterstützung auf seinem Weg: Bron! (Bände 4 bis 7)
John Willard überlebt nicht nur als Bereter, sondern er bewährt sich. Kein Wunder, dass der Sternenvogt das gleiche Prinzip auch beim nächsten Einsatz beibehält: Johns Bewusstsein wird diesmal mit dem Bewusstsein eines Mannes namens Karem Eklund ausgetauscht - auf einer Welt der krassen Gegensätze. Die Bewohner glauben, auf der Erde zu sein. Sie leben großenteils in einer halb zerfallenen Stadt, die schier den halben Planeten umspannt. Es gibt allerdings einen Bereich, wo sie keinerlei Zugang haben: Das ist der Bereich der Unsterblichen, die sich mittels einer riesigen Energieglocke gegen alles schützen, was von außen Einfluss nehmen könnte.
John soll als Karem Eklund die Zusammenhänge klären - und vor allem prüfen, ob von hier eine Gefahr ausgeht und ob diese Welt vielleicht sogar Aufnahme finden könnte in den Handelsverband.
Karem Eklund jedoch weiß nicht, dass er in Wahrheit John Willard ist. Das hat der Sternenvogt deshalb so angeordnet, damit die Unsterblichen unter der Energieglocke keinen Verdacht schöpfen. Zunächst scheint es ja ein eher angenehmer Auftrag zu sein, denn der Bereich unterhalb der Energieglocke ist wahrlich eine Art Paradies. Und dann tut er den entscheidenden Schritt... und bricht aus dem Paradies aus!
Schon beginnt sein ganz persönlicher Überlebenskampf, denn er wird angegriffen und muss sich seiner Haut wehren: Erfolgreich! Doch es gibt Tote. Nur einem kann er das Leben schenken: Borsch! Dieser weiß nun, dass er aus dem Bereich der Unsterblichen kommt und für ihn ist Karem Eklund folglich eine Art Gott.
Gemeinsam mit dem Stamm, dem Borsch angehört, geht es an Bord eines seltsamen Gefährtes zur weltumspannenden ›Stadt‹. Ein Beutezug. Sie erreichen ihr Ziel...
*
Prolog 2
––––––––
»Es gibt viele Lebewesen, die den Menschen auf seinem evolutionären Weg begleiteten - freiwillig und unfreiwillig.
Zu den Unfreiwilligen gehörte zunächst das Jagdwild, später kamen auch die so genannten Haustiere hinzu.
Auch Pflanzen wurden domestiziert.
Die einen, wie zum Beispiel Blumen, um sich daran zu erfreuen.
Die anderen dienten der Ernährung.
––––––––
Die Unfreiwilligen:
›Opfer‹ der Jagdleidenschaft und von Ackerbau und Viehzucht.
––––––––
Die Freiwilligen:
›Ungeziefer‹ wie Menschenflöhe, Läuse, Schaben, Wanzen etc. - und Tiere wie bestimmte Vogelarten, die in der Nähe der Menschen viel besser überleben konnten als in der freien Wildnis.
Dazu gehörten nicht nur Möwen und Krähen, für die eine Müllkippe ein wahres Schlaraffenland war.
Hinzu kamen dann auch noch Nagetiere wie Ratten und Mäuse.
Es ist heute schon abzusehen, dass die genannten Vogelarten als Begleiter der Menschen durch die Geschichte die geringeren Überlebenschancen haben, denn irgendwann wird entweder die Vergiftung der Müllkippen so fortgeschritten sein, dass die Vögel aussterben, die bislang davon profitierten, oder aber es wird keine Müllkippen mehr geben, weil man all die Wegwerfprodukte wieder verwendet.
––––––––
Damit würde die eigentliche große Zeit der Ratten beginnen, jenen intelligenten Nagern, die sich konsequenter als alle anderen Tiere an die Fersen der aufstrebenden Menschenrasse geheftet haben...«
(Zitat aus dem zwanzigsten Jahrhundert so genannter christlicher Zeitrechnung)
*
Eps, der Stammesführer, deutete hinauf.
»Das Material, aus dem die Stadt wie aus einem Stück gegossen wurde, ist zwar fast unzerstörbar, aber es gab zu jeder Zeit Waffensysteme, für die ein solcher Begriff nicht gilt. Während einer entscheidenden Auseinandersetzung wurden die gefährlichsten Banden in ein paar Außenviertel abgedrängt - und diese Außenviertel wurden kurzerhand gesprengt. Damit hat man damals allerdings nur eine entscheidende Schlacht gewonnen, jedoch längst nicht den ganzen Krieg. Dieser tobt im Wesentlichen noch heute!«
»Und von was leben die Städter, wenn sie nicht gerade sich gegenseitig umbringen? Arbeiten sie? Wenn ja, was?«
»Viele arbeiten, Karem. Es ist ein besonderes Privileg. Die Arbeitenden garantieren ein Mindestmaß an Versorgung. Jemand, der einen Arbeitenden angreift, ist des Todes. Jemand, der es wagt, eine Einrichtung zu zerstören, wird öffentlich zu Tode gefoltert. Man hat aus gewissen Fehlern der Vergangenheit gelernt, wenn auch nicht aus allen, Karem. Und außerdem sind neue hinzu gekommen: Es triumphiert gegenseitiges Machtstreben in seiner rigorosesten Form.«
»Und die Ernährung?«
»Es gibt so genannte Biofarmen. Sie sind wichtige Inseln in der Stadt und für alle tabu, außer für diejenigen, die darin arbeiten. Ein ungeschriebenes Gesetz, das selbst von den Mächtigen dieser Stadt beherzigt wird, denn ohne die funktionierenden Biofarmen stirbt die Menschheit aus.«
»Was ist das - eine Biofarm?«, fragte ich verwundert.
Eps schüttelte den Kopf. Er deutete auf die Stadt. »Wir müssen hinein, Karem, tut mir leid. Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren, glaube mir.«
Ich ließ mich resignierend zurücksinken.
Aber hatte ich wirklich Grund zu resignieren? Hatte ich nicht soeben in groben Umrissen erfahren, was nach dem zwanzigsten Jahrhundert alles geschah? Nein, man brauchte dafür keine speziellen Daten, wie das vorher in der Geschichte der Menschheit wichtig und üblich gewesen war. Es genügte schon der Gesamtüberblick. Der war schon schlimm genug.
Unser Gefährt rollte derweil näher. Eps und Borsch hatten sich davon überzeugt, dass hier im Moment keine weiteren Bandenmitglieder lauerten.
In Bodennähe waren die Nischen an der Außenseite der Stadt mit einer ganzen Fülle von unterschiedlich großen Löchern versehen, durch die man in das Innere der Stadt gelangen konnte. Eines der Löcher war der Beginn eines Straßentunnels und groß genug, unser Gefährt aufzunehmen.
Borsch und Eps lenkten es hinein.
Die Finsternis im Straßentunnel wurde von den Scheinwerfern unseres Gefährtes vertrieben. Ein Risiko, das wir eingehen mussten, sonst hätten wir uns nicht zurecht gefunden.
Nichts und niemand zeigte sich uns.
Der Straßentunnel war übersäht mit Abfällen. Es stank bestialisch. Er wand sich durch die Schaummasse der Stadt wie ein endlos langer Wurm.
Nach etwa fünfzig Metern fand Eps eine Stelle, die er als Parkplatz anscheinend ideal empfand.
Der Tunnel wurde zu beiden Seiten immer wieder von angeschnittenen Blasen durchbrochen. Eine dieser Blasen war groß genug, unser Gefährt aufzunehmen. Außerdem, was Eps anscheinend noch wichtiger erschien, es gab Plastikkisten, die hier wahllos herumlagen und mit denen man unser Gefährt tarnen konnte.
Schweigend stiegen wir aus und begannen mit der Arbeit, während Eps den Bildschirm beobachtete. Wir kamen mit einem Minimum an Licht aus und arbeiteten schnell und präzise.
Auch als wir damit fertig waren, unterbrach Eps die Überwachung noch nicht. Wir ließen ihn in der Deckung an seinem Bildschirm und setzten uns auf den Boden, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Das war zwar nicht bequem, aber immer noch besser als herumzustehen.
Wie lange würde Eps aus Sicherheitsgründen noch warten?
Norma kuschelte sich an mich. Ich legte den Arm um sie und schlief bald darauf ein.
Den Einzug in die Stadt hatten wir hinter uns. Hoffentlich würde ich mich an den Gestank gewöhnen. Aber möglicherweise waren die Städter selbst noch wesentlich schlimmer als das?
Eine kleine Kostprobe davon hatten wir ja bereits erhalten...
*
Beginn der Bitternis
––––––––
Ich hatte einen Traum. In diesem Traum hatten sich alle Menschen in Ratten verwandelt. Sie fielen übereinander her, bissen sich gegenseitig, zerrissen sich, fraßen sich gegenseitig auf.
Ein schrecklicher Alptraum, aus dem ich jäh erwachte.
Eps fluchte unterdrückt. Er hatte wieder Licht gemacht und schlug mit einem Knüppel wie wild um sich.
Es quiekte und piepste. Am Boden wimmelte eine graue Masse, in die Eps immer wieder hinein schlug.
Ratten!
Erschrocken sprang ich auf. Gleichzeitig mit mir all die anderen Schläfer.
Mir wurde klar, dass uns Eps das Leben gerettet hatte. Mit seinem Sichtgerät hatte er nach Menschen Ausschau gehalten, nicht nach Ratten und beinahe wäre er zu spät gekommen, um zu verhindern, dass uns die Ratten bei lebendigem Leib auffraßen.
Wir sprangen umher, zerquetschten Ratten unter unseren Füßen. Dafür brauchten wir nicht sonderlich zu zielen.
Einige fluchten dabei gotterbärmlich. Ich tat es eher verbissen. Genauso wie Norma an meiner Seite. Wir zertraten die Ratten, bis der Rest die Flucht ergriff.
Klägliches Piepsen blieb: Verletzte Ratten, die die Flucht nicht mehr schafften.
Eps machte mit dem Knüppel dem Leiden ein Ende.
»Das ist die Stadt, Karem, die verdammte, verfluchte Stadt, voll gestopft mit zweibeinigen und vierbeinigen Ratten, Ungeziefer und Dreck. Abgesehen dort, wo die Mächtigen dieser Stadt hausen.«
Den anderen winkte er zu. »Wir können diesen tristen Ort verlassen. Ich bin sicher, das Gefährt werden sie nicht so schnell finden. Und wenn doch...« Er schnalzte mit der Zunge. Klang das nicht schadenfroh?
»Eine Sicherung?«, vermutete ich.
»Ja, Karem, eine Art Sicherung. Sobald sich jemand an dem Ding zu schaffen macht, ohne sich genauestens auszukennen, kostet es ihn sein Leben. Deshalb haben wir unser Gefährt noch nie an Diebe verloren.«
Eps versammelte alle um sich und teilte vier Gruppen ein. Ich nahm rechtzeitig Norma und Borsch zur Seite, um Diskussionen mit Eps vorzubeugen.
Es gefiel ihm nicht, dass ich solchermaßen seinen Entscheidungen vorgriff, aber er fügte sich.
Wir waren insgesamt zwölf Personen, also vier Dreiergruppen. Es war zwar bedauerlich, dass Eps nicht zu meiner Gruppe gehören konnte, aber ich musste es in Kauf nehmen.
Als sich unsere Gruppen trennten, schaute ich Eps nach. Irgendwie verspürte ich so etwas wie Wehmut. Kein Abschied, nichts. Er warf nicht einmal einen Blick über die Schulter zurück.
Ich hatte das schmerzliche Gefühl, Eps nie mehr wieder zu sehen, obwohl er dieses Gefühl offensichtlich nicht teilte.
Ich klopfte Borsch auf die Schulter.
»Was ist, Herr?«, fragte er misstrauisch.
Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht eine Vorahnung?«
Er hielt die Lampe in beiden Händen. Das Licht war stark gedämpft. Borsch war vor mir nur ein hoher Schatten.
»Was sollen wir tun, Herr?«
»Das, was Eps von uns erwartet, denn er ist der Stammesführer und hat die meiste Stadt-Erfahrung von uns.«
»Du aber bist der Unsterbliche!«
»Ja, Borsch, der bin ich, aber ich habe leider nicht das Recht, gegen die größere Erfahrung zu votieren. Es ist besser, wenn wir uns auf den Weg machen.«
Borsch kannte sich am besten von uns dreien aus. Er wurde deshalb von mir zum Führer bestimmt und ging vorweg. Norma sicherte den Rücken, ich die Flanken.
So schritten wir den Straßentunnel entlang. Trotz der Geräusche, die wir selbst verursachten, hörte ich das ferne Grollen, Tosen und Brausen. Es war die Summe der Laute, die von den Stadtbewohnern erzeugt wurden. Laut Eps gab es Milliarden von Menschen in der Stadt.
Ich verglich sie nicht mit einer gigantischen Schaummasse, sondern mit einer Wabenstadt. Nur waren die Waben hier wie Blasen geformt.
In regelmäßigen Abständen ging es aufwärts - schräg nach oben getriebene Tunnels, teils mit Stufen ausgerüstet, teils als steile Ebenen für Fahrzeuge geeignet.
Die Wabenstadt war vom Prinzip gesehen ein Wunderwerk der Baukunst, aber wenn man erst einmal wusste, wie das Leben in einer solch ›wundersamen‹ Stadt entartete, vergaß man alle Ehrfurcht vor diesem ›Fortschritt‹ und bekam eine Gänsehaut.
Hätte der Mensch nur halb soviel Fortschritte in Wissenschaft und Technik gemacht und dafür doppelt so viele Erfolge in Selbstbeschränkung und Vernunft erzielt, wäre der Weg der Menschheit anders verlaufen. Nicht nur humaner. Er hätte Fortschritte in Bereichen erzielt, die er längst vergessen hatte - in all seinem unseligen Streben: Er wäre der Vollkommenheit wesentlich näher gerückt und so war er ein intelligentes Tier geblieben, in einem künstlich geschaffenen unbarmherzigen Dschungel.
Nachdem alle natürlichen Gefahrenquellen wie Raubtiere und dergleichen ausgeschaltet waren, hatte der Mensch als Gefahrenquelle nur noch sich selber und diese Gefahrenquelle war ihm ›ebenbürtig‹ genug, um den Kampf ums Überleben ewig wären zu lassen.
Und es gab in einer solchen Welt weder technischen, noch sozialen Fortschritt mehr, weil sämtliche Kräfte für andere Dinge benötigt wurden.
Zum Töten zum Beispiel - ohne sich dabei selbst zu gefährden!
Und so hatte es der Mensch doch noch zur Selbstbegrenzung gebracht, auf dem absoluten Höhepunkt seiner Vermehrung. Nur hatte nicht die Vernunft dahin geführt, sondern die negative Seite seines Charakters.
Ich knirschte mit den Zähnen. Wir waren minutenlang unterwegs und nichts zeigte sich. Nur das Brausen war lauter geworden.
Hier, in den Randbezirken, sollte alles leer sein?
Wenn ich Eps richtig verstand, wurden nur die Unliebsamen in die Randbezirke abgedrängt. Dort dezimierten sie sich gegenseitig, weil die Versorgung hier nicht mehr funktionierte und nur der genügend zu essen hatte, der am besten zu stehlen vermochte - falls er es sich nicht anschließend wieder wegnehmen ließ.
Sozusagen menschliche Ökologie, nachdem die natürliche Ökologie weitgehend abgeschafft war.
Und die Mächtigen waren die Erfolgreichen in diesem grausamen Spiel.
Ich ballte die Hände zu Fäusten, weil ich wusste, dass ich viel lieber ein Mächtiger werden wollte.
Und sei es nur, meine Hoffnung zu stillen: Rückkehr ins Paradies.
So vage diese Aussicht auch sein mochte.
Norma stieß mich an. Ich fuhr herum und drückte mich mit den anderen blitzschnell in eine Deckung.
Links von uns ein stinkender Abfallhaufen, aber die Gefahr kam von rechts.
Borsch hatte die Lampe längst gelöscht, denn hier gab es ein gespenstisches Glühen, das scheinbar direkt aus den Wänden kam. War es der Morgen? Oder kam dieses Glühen von ungezählten Lichtquellen weiter vorn in der bewohnten Stadt?
Ich spitzte die Ohren. An das Rauschen und Grollen hatte ich mich gewöhnt. Ich konnte das Scharren von Schritten herausfiltern.
Menschen!
Ich lauschte.
Sie waren zu viert, bewegten sich vorsichtig, nutzten jede Deckung aus. Aber wir hatten sie dennoch entdeckt.
Was hatten sie vor?
Unser Licht musste uns verraten haben. Die vier hatten sich an unsere Fersen geheftet. Wahrscheinlich hatten sie Hunger und hofften, uns ausplündern zu können.
Ich hätte selber gern etwas gegessen, denn Eps hatte auf die Reise keinen Proviant mitgenommen. Schließlich waren wir in erster Linie unterwegs, um für neuen Proviant zu sorgen - für den ganzen Stamm sogar!
Ein greller Scheinwerfer flammte auf: Der gleißende Lichtfinger tastete über die Seitenwand, näherte sich uns.
»Verdammt!«, zischte Borsch. »Das sind ja gar keine Räuber, sondern Ordnungsleute.«
»Wir sind schon mitten in einem Wohnviertel!«, fügte Norma heiser hinzu.
Wir sahen uns nach einer besseren Deckung um.
Es blieb uns nur der stinkende Abfallhaufen.
»Sind die vier bewaffnet?«, fragte ich. »Ich meine: Schusswaffen?«
»Natürlich!«, antwortete Borsch.
Wir sprangen zu Abfallhaufen hinüber. Das Zeug war halb verwest. Verdorbene Lebensmittelreste, vermischt mit anderen Abfällen. Beutegut wahrscheinlich, das den Räubern nicht bekommen war. Sie hatten es wieder weggeworfen. Seitdem stank es vor sich hin.
Vielleicht auch Lebensmittel, die man vergiftet hatte, um die Räuber damit umzubringen?
Hier lag es auf einem großen Haufen und wir wühlten uns hinein wie die Ratten, obwohl diese sicher einen großen Bogen um das verdorbene Zeug nachten.
Wir wühlten uns hinein, bis wir nicht mehr zu sehen waren.
Das Letzte, was ich noch gewahrte, war der tastende Lichtfinger, der den Abfallhaufen erreichte und dort verharrte.
Wir atmeten nicht. Wir rührten uns nicht.
Im Abfall um mich herum krabbelte es. Ungeziefer, das nicht einmal vor dem Gift zurückschreckte?
Es schien sich hier sogar wohl zu fühlen und uns als unliebsame Gäste und sogar als Konkurrenten zu betrachten.
Ich spürte ein paar scharfe Bisse und konnte nichts dagegen tun.
Der Ekel schnürte mir die Kehle zu. Es war eine Frage der Zeit, bis er größer wurde als die Todesangst.
Meine Lunge drohte zu bersten. Ich hatte sie voll gesogen mit kostbarer Atemluft und die wurde jetzt knapp.
Und dann hielt ich es nicht mehr aus. Ich wäre sonst erstickt. Ich streckte den Kopf ins Freie, ließ die verbrauchte Luft hinaus und schöpfte frische Luft.
Sie stank zwar unbeschreiblich, aber jetzt kam sie mir vor wie köstliche Waldluft.
Norma und Borsch tauchten gleichzeitig auf.
Der Scheinwerfer war auf die gegenüberliegende Wand gerichtet. Mein Blick folgte dem Lichtfinger bis zum Ursprung zurück.
Die vier waren höchstens zehn Meter von uns entfernt.
Borsch und Norma brauchten keine Extraeinladung. Sie waren zu demselben Schluss gekommen.
Wir wühlten uns aus dem Abfall und begannen zu rennen. Ich hatte mein Kurzschwert in den Händen. Norma und Borsch folgten mir auf dem Fuße.
Wir gaben uns Mühe, kein Geräusch zu verursachen, um uns nicht vorzeitig zu verraten.
Einer der Ordnungshüter sagte etwas mit leiser Stimme. Das lenkte die anderen von uns ab.
Pures Glück, für das wir dankbar waren.
Die zehn Meter erschienen uns viel zu weit. Die vier brauchten nur zu schießen. Wir aber mussten ganz heran. Das war ein riesiger Nachteil.
Und dann waren wir am Ziel und schlugen zu.
Norma hatte ihr Kurzschwert, genauso wie ich, während Borsch einen Schlagstock führte. An einem Ende hatte er eine Verdickung und mehrere Dorne. Eine Waffe, wie es sie schon im Mittelalter gegeben hatte: Eine Art Morgenstern.
Die vier Überfallenen schrieen auf. Schüsse krachten, aber die Kugeln trafen uns nicht; sie prallten von den Wänden ab, zwitscherten als Querschläger davon.
Der Scheinwerfer fiel zu Boden und erlosch.
Wir droschen gezielt auf die vier Männer ein, bis sie sich nicht mehr rührten. Dann durchsuchten wir sie nach ihren Schusswaffen.
Noch bevor sich unsere Augen wieder an das diesige Dämmerlicht gewöhnt hatten, war das Werk vollendet.
Ich nahm den Scheinwerfer und schmetterte ihn gegen die Wand. Wir hatten keine Verwendung dafür - und anderen sollte er nicht mehr dazu dienen, nach uns zu suchen.
»Weg hier!«, knurrte ich.
Wir rannten davon, in unsere alte Richtung.
»Die Schüsse wurden bestimmt gehört!«, keuchte Borsch. »Wir müssen auf jeden Fall von der Straße herunter.«
Ein weiser Entschluss.
Da war ein Aufgang. Wir nahmen immer drei Stufen auf einmal und hetzten empor.
Ein Fußgängergang. Wir liefen weiter.
Rechts tat sich eine Öffnung auf. Jemand sprang uns in den Weg. Er hatte ein Gewehr im Anschlag.
Borsch lief auch diesmal vorweg. Er schoss schneller.
Wir rannten an der Öffnung vorbei. Es durfte uns nichts aufhalten.
Dabei wusste ich nicht einmal, wohin wir uns wandten. Wie konnten wir denn je in Sicherheit gelangen? Jeder würde sofort wissen, dass wir nicht dazu gehörten.
Borsch führte uns kreuz und quer. Es ging auch einmal ein Stockwerk höher. Dann ging es wieder abwärts.
Ein Wunder, dass er sich in diesem weitläufigen Labyrinth überhaupt auskannte.
Ja... kannte er sich denn wirklich aus? Oder wollte er es den etwaigen Verfolgern nur erschweren, uns einzuholen?
Und dann tauchten wir in eine der Öffnungen ein.
Vor uns stand ein Haus. Im aufsteigenden Morgenlicht nur ein hoher Schatten.
Es war ein Haus ohne Dach, denn hier würde es niemals regnen. Das Haus war aus Plastik gefertigt. Es hatte bizarre Formen, wie ich selbst in diesem dürftigen Licht erkennen konnte.
Borsch umrundete es halb und blieb dann keuchend stehen.
»Es gibt nur diesen einen Zugang zur Wabe«, raunte er, »und den haben wir benutzt.«
Im Innern des Hauses flammte Licht auf. Es drang durch feine Ritzen. Ich hörte murmelnde Stimmen.
Borsch tastete die Wand vor uns ab. Plötzlich riss er eine Tür auf.
Wir zögerten keine Sekunde und sprangen in das Haus - mit schussbereiten Waffen.
Ich hatte noch nie zuvor eine Schusswaffe benutzt, aber ich hatte im Geschichtsunterricht gelernt, wie man damit umging.
Hoffentlich genügte das für die Praxis!
Zwei Menschen fuhren von ihrem Lager auf. Die Hütte war zwar ärmlich, aber sauber.
Es waren zwei Frauen.
Borsch rannte in den Nebenraum. Auch dort flammte Licht auf. Ich hörte Borsch jemanden anbrüllen.
Die beiden Frauen hatten keine Waffen in den Händen. Ich ließ Norma mit ihnen allein und rannte ebenfalls in den Nebenraum.
Ein älterer, kräftiger Mann mit Bauch, aber er bewegte sich wieselflink. Vielleicht glaubte er, mein Auftauchen würde Borsch ablenken, denn er griff nach einem Messer.
Borsch schoss nicht. Es wäre nicht ratsam gewesen, denn der Schuss hätte sämtliche Nachbarn auf uns aufmerksam gemacht. Offenbar waren die Wabenwände nicht nur luftdurchlässig, sondern auch nur wenig schalldämpfend.
Borsch trat dem Alten ins Hinterteil. Der Mann überschlug sich fast. Seine Hände krallten sich halt suchend in das Bettzeug, wobei er das Messer verlor. Er schickte Borsch einen hasserfüllten Blick.
Ich verließ den Raum, denn es gab noch einen dritten und als ich diesen Raum betrat, erwarteten sie mich schon: Drei junge Burschen, vielleicht nicht älter als ich. Der eine hatte ein langes Messer, die anderen beiden je einen Schlagstock. An je einem Ende war eine Metallspitze befestigt.
Sie nahmen mich in die Zange, aber sie wollten mich nicht töten. Die Schusswaffe in meiner Hand ignorierten sie einfach. Es war ihnen genauso klar wie mir, dass ich sie nicht benutzen konnte.
Sie wollten mich gefangen nehmen, aus welchem Grund auch immer. Vielleicht, um Norma und Borsch mit mir zu erpressen?
Norma würde sich nicht darauf einlassen, aber Borsch. Norma folgte dem ungeschriebenen Gesetz ihrer Bande und Borsch war mit seinem Leben an mich verpfändet.
Ich würde sie beide nicht brauchen, um das Problem zu lösen.
Ich wartete, bis sie sich meiner sicher waren. Betont langsam steckte ich die Pistole weg.
Dass die drei keine Schusswaffen hatten, bewies vielleicht, dass nur die Ordnungshüter in diesem Viertel solche Waffen besitzen durften?
Gab es denn überall solche 0rdnungshüter? In jedem Viertel? Oder nur hier draußen, wo die Menschen am gefährdetsten waren, weil hier die Banden auftauchten, um zu plündern?
Ich grinste die drei an. Das hätte sie warnen müssen, aber sie verließen sich viel lieber auf ihre eingebildete Überlegenheit. Schließlich waren sie ja drei gegen einen.
Ich krümmte mich rechtzeitig. Einer stach reflexartig mit dem Messer zu. Das Messer zischte knapp über meinen Schädel hinweg.
Ich ließ mich hintenüber fallen und riss gleichzeitig beide Beine hoch.
Ich kam mit den Schultern auf dem Boden auf, stabilisierte den Aufprall mit den Armen und setzte die Füße zwei meiner Gegner in den Unterleib.
Das schaltete die beiden für Sekunden aus.
Ich wirbelte zur Seite.
Der Dritte hatte wütend mit seinem Stock zustechen wollen. Die Metallspitze traf den Boden und ließ Funken sprühen. Ich griff danach und entriss dem jungen Mann den Stock. Mit der freien Hand packte ich sein Fußgelenk und brachte ihn zu Fall. Dann warf ich mich gegen die Beine der anderen beiden, die immer noch mit schmerzverzerrten Gesichtern ihren Unterleib pressten. Sie stürzten ebenfalls.
Ich war im nächsten Augenblick über ihnen und schlug mit dem erbeuteten Schlagstock zu. Das Ding ließ sich gut führen.
Ich tötete die drei Jungen nicht, sondern sorgte nur dafür, dass sie vorübergehend aus dem Verkehr waren.
Ich riss die Tür auf, die hinaus führte. Draußen standen Menschen, die misstrauisch zu mir herüber starrten. Ich hatte das Licht des hell erleuchteten Raumes im Rücken. Also konnten sie nicht mein Gesicht erkennen.
Als ich ihnen beruhigend zuwinkte, winkten sie erleichtert zurück und zogen weiter.
Ich schloss die Tür und lehnte mich schwer atmend dagegen.
Borsch kam mit dem Alten. Als der die drei regungslosen Jungen sah, wollte er sich hasserfüllt auf mich stürzen. Borsch riss ihn am Kragen zurück und stieß ihn in eine Ecke.
Norma kam mit den beiden Mädchen.
Eine ganze Familie also. Der Vater und seine Kinder?
Ich herrschte den Alten an: »Deine Söhne, die drei?«
Er spuckte nur zu Boden.
Ich nahm den Schlagstock und wog ihn wie prüfend in der Rechten. Kurz prüfte ich auch mit dem Daumen die Spitze.
Dann ging ich zu den drei Bewusstlosen und setzte die Spitze bei einem an - genau am geschlossenen Augenlid.
»Nein!«, stöhnte eines der Mädchen.
»Still!«, zischte Norma und knuffte das Mädchen in die Seite.
»Hört auf damit!«, bat der Alte heiser. »Ja, dies ist mein Sohn.«
»Und die anderen?«
»Ich habe nur den einen Sohn. Die anderen wohnen bei mir.«
»Wie viele Menschen zählt dein Stamm?«, fragte Borsch.
»Etwa fünfhundert«, gab der Alte widerstrebend Auskunft.
Borsch musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Du bist schon ziemlich alt. Hast wohl überlebt, weil du die Jungen aufgenommen hast, wie? Sie verteidigen dein Leben.«
Der Alte sah ihn nur ausdruckslos an.
»Wer ist euer Mächtiger?«, fragte ich.
Es war ein Schuss ins Blaue. Lag ich damit richtig?
Erst als ich die Spitze wieder am Auge seines Sohnes ansetzte, stieß er hervor: »Parlow!«
Ich tauschte mit Norma und Borsch einen Blick.
Den beiden war der Name jedenfalls nicht geläufig.
»Welchen Rang hast du denn, Alter?«, fragte Borsch. Er hob einen Morgenstern und schwang ihn durch die Luft. Unter seinem zerlumpten Hemd rollten mächtige Muskeln. Ein bedrohliches Spiel für einen Gegner.
Der Alte schluckte schwer. »Erzieher!«, knurrte er.
Borschs linke Augenbraue rutschte hoch. Er sah mich an.
»Erzieher sind halb tabu, Herr«, klärte er mich auf. »Das heißt, bis sich ein besserer Erzieher findet. Meistens entscheidet das fortgeschrittene Alter darüber, wer besser ist. Das heißt, die Alten sind den Jüngeren sowieso unterlegen...«
Der Alte spuckte wieder zu Boden.
»Nur zu«, sagte Norma spöttisch, »es ist schließlich deine Hütte, nicht wahr?«
Borsch deutete mit dem Kinn auf die jungen Männer und auf die Mädchen. »Die sind dir anvertraut?«
»Ja, genauso wie mein Sohn.«
»Habt ihr öfter Überfälle von Banden?«
»Sie vermeiden unser Viertel lieber, seit sie gemerkt haben, dass ein Besuch bei uns normalerweise für sie tödlich endet.«
Borsch lachte rau. »Du hast es gehört, Herr. Der Alte ist ein würdiger Erzieher. Er lebt deshalb noch, weil er schlau ist. Er hat rechtzeitig dafür gesorgt, dass er selber gar nicht mehr zu kämpfen braucht. Wenn ihm einer den Rang streitig machen will, dann hat er seine Leibwächter.«
»Ich habe sie in Aktion erlebt, Borsch«, sagte ich herablassend. »Wie du siehst, hatten sie keine Chancen.«
»Ja, gegen dich nicht, Herr. Aber du kannst dich nicht mit anderen vergleichen.«
»Was schlägst du vor?«
»Wehe, wenn die drei wieder zu sich kommen. Sie sind abgerichtete Wachhunde, wie ich die einschätze.«
»Sie wollten mich nicht töten, sondern nur gefangen nehmen.«
»Weil sie sich überlegen gefühlt haben. Wer weiß, was der Alte mit dir angestellt hätte, Herr? Gewiss hätte er ein Exempel statuiert und dich zu Tode quälen lassen.«
»Zu Tode?« Ich lachte auf.
»Verzeih, Herr!«
»Schon gut, Borsch. Wie ist nun dein Vorschlag?«
»Töte die drei!«
»Was ist mit den Mädchen?«
»Siehst du nicht, dass sie dem Alten zu Willen sind? Erzieher sind anders als andere. Der Alte spielt mit ihnen.«
Norma stieß die beiden Mädchen an und fauchte abfällig. Für sie war so etwas natürlich ganz besonders verabscheuungswürdig. Sie war an die Gleichberechtigung gewöhnt.
»Drei Leibwächter, abgerichtet zum Töten oder zum Foltern und zwei Mätressen?«, murmelte ich. Wahrscheinlich kannten sie das Wort Mätressen gar nicht, aber mir fiel keins ein, das besser gepasst hätte.
»Töte alle, außer dem Alten«, schlug Borsch vor. Norma nickte mir zu. Sie war der selben Meinung.
»Und dann, Borsch?«
»Dann kann uns der Alte vielleicht zu Parlow führen. Wenn er Mächtiger über fünfhundert Menschen ist, dann hat sein Wort Gewicht. Wenn wir ihn einmal in unserer Gewalt haben, kommen wir hier gut wieder heraus.«
»Du meinst, das wäre die einzige Möglichkeit, Borsch?«
»Ja, Herr. Bedenke, die haben ausgebildete Ordnungshüter. Das heißt, die Struktur in diesem Viertel ist festgelegt, die Zuständigkeiten verteilt. Gewiss gibt es in diesem Viertel eine intakte Versorgungsquelle...«
Er wandte sich an den Alten. »Was tauscht ihr denn gegen den Biofraß ein?«
Der Alte wirkte auf einmal sehr ruhig, fast gelassen. »Ausbildung!«, sagte er kühl.
Jetzt stahl sich sogar ein Lächeln in das bärtige Gesicht.
Seine Augen blitzten listig.
Was führte er im Schilde?
»Was heißt das?«, fuhr ich ihn ärgerlich an.
»Wir sind eine reine Ausbilderkaste, Fremder.«
Borsch trat ihm gegen das Bein. »Das heißt Herr, Frevler: Respekt oder ich bestrafe dich furchtbar und deine Seele ist verdammt für immer.«
Der Alte runzelte die Stirn.
»Herr...« Es kam nicht leicht über seine Lippen. »Herr, wir bilden die Männer und Frauen von Nachbarstämmen aus. Dafür haben wir freie Versorgung.«
Borsch sagte: »Das ist neu!«
Der Alte: »Wir tun das schon lange, auch wenn du es nie erfahren hast. Seit wir so großen Erfolg haben, sind die Mächtigen auf unserer Seite.«
Er wandte sich mir zu. »Deshalb rate ich Euch, Herr, niemanden zu töten und mich anzuhören.«
»Sprich!«, forderte ich ihn barsch auf. Mir war es lieber, wenn ich mich nicht als Mörder bewähren musste. Aber das durfte ich mir nicht anmerken lassen. Nicht in dieser Stadt.
»Ihr habt die drei Besten besiegt, ganz allein. Borsch, dieser Muskelriese, sagt Herr zu Euch und erweist Euch großen Respekt. Das lässt darauf schließen, dass ich es mit einem Mann zu tun habe, der mindestens einem Mächtigen ebenbürtig ist...«
Er drehte den Kopf und rief Borsch zu: »Wer ist dein Herr?«
Es kam so überraschend, dass Borsch darauf hereinfiel.
»Der Unsterbliche!«, entfuhr es ihm.
Im nächsten Augenblick wurde ihm sein Fehler bewusst. Er holte sogleich zum tödlichen Streich mit seinem Morgenstern aus.
»Nicht!«, befahl ich Borsch. Er hielt inne. Unschlüssig hielt er den Morgenstern erhoben.
»Vorsicht, die drei Kämpfer!«, sagte Norma.
Die Bewusstlosen kamen zu sich.
Ich trat dem angeblichen Sohn des Alten kräftig in die Rippen und herrschte ihn an: »Aufstehen und an die Wand, zu den Mädchen!«
»Tut, was der Herr befiehlt!«, bekräftigte der Alte.
Die drei Jungen zögerten.
»Los!«, fauchte der Alte.
Sie zuckten zusammen und krochen quer durch den Raum zu den Mädchen. Dabei warfen sie verständnislose Blicke auf den Alten und auf mich.
Der Alte packte seinen Sohn am Kragen und schüttelte ihn kurz. »Habt ihr denn immer noch nicht begriffen, wie überlegen euch der Unsterbliche ist?«
Ich hatte keine Waffe in den Händen, schob Borsch beiseite und griff in die angegrauten Haare des Alten. Ich zerrte ihn von der Gruppe weg, stellte ihm ein Bein und warf ihn zu Boden.
Zähneknirschend beugte ich mich über ihn, die Hände zu Fäusten geballt.
Einer der Jungen wollte ihm zu Hilfe eilen. Borsch schlug ihn brutal zusammen.
»Du miese alte Ratte!«, zischte ich. »Du glaubst, unsere Lage wäre sowieso aussichtslos und du spielst dein Spiel mit uns. Dabei hast du vergessen, dass es für dich ein Spiel auf Leben und Tod ist. Für uns gibt es keine Schwierigkeiten, begreifst du? Wenn wir wollen, verlassen wir dein Viertel. Hinter uns lassen wir ungezählte Tote. Falls du das willst, dann mach weiter so.«
Eines der Mädchen brach wimmernd zusammen. Ich wandte kurz den Kopf. »Lass sie, Norma!«
Norma gehorchte. Sie hatte auf das wimmernde Mädchen einschlagen wollen, weil sie alles hasste, was nach Schwäche aussah.
Norma hatte es nicht anders gelernt. Ich musste ihr vergeben.
Ich richtete mich langsam wieder auf.
»Schick mir die andere«, bat ich Norma.
Sie versetzte dem Mädchen einen kräftigen Tritt, der es vorwärts trieb, bis zu mir.
Ich ergriff das Kinn des Mädchens und zwang es, mich anzusehen.
In ihren Augen war Todesangst und deshalb tat sie mir leid. Aber ich konnte nicht mehr zurück. Ich hatte mir vorgenommen, die Stadt kennen zu lernen und das ging nun einmal nicht anders.
Und in diesem Augenblick wusste ich auch, dass ich nicht mehr zum Gefährt zurückkehren wollte.
Ob Norma und Borsch dies ahnten?
Ich würde sicherlich Eps niemals mehr wieder sehen. Vielleicht hatte Eps das schon vorausgesehen, als wir das Lager noch gar nicht verlassen hatten?
Ich wollte das Leben des Stammes nicht länger teilen. Ich hatte die Hoffnung in mir, aus diesem Dreck wieder heraus zu kommen, irgendwann und irgendwie - und auf jeden Fall vollends!
Ich würde mein Leben jedenfalls nicht im Dreck verbringen, sondern würde alles tun, um mich aus diesem Dreck zu erheben. Selbst wenn ich dabei selber Dreck verbreitete.
Der Alte wollte nach meinen Füßen greifen. Ich bemerkte es aus den Augenwinkeln und setzte meinen Fuß blitzschnell an seine Kehle.
Röchelnd rang er nach Luft. Jetzt wagte er sich nicht mehr zu wehren und aus seinen Augen war die listige Zuversicht gewichen.
Der Alte war gefährlich, denn er war skrupellos.
»Mir scheint«, sagte ich zu dem Mädchen, »wir sind haargenau in die richtige Wabe eingedrungen. Besser hätte es nicht kommen können. Es sei denn, wir hätten die Wabe von Parlow selbst vorgefunden, aber die wird gewiss noch besser bewacht, nicht wahr?«
Sie versuchte zu nicken. Ich ließ ihr Kinn los.
Sie wollte den Blick von mir lösen, aber das schaffte sie nicht. Ihre Augen waren schreckgeweitet, als würden sie den Teufel persönlich sehen.
»Was liegt dir am Leben des Alten?«, fragte ich.
Sie schüttelte verständnislos den Kopf.
»Ich lasse dich darüber entscheiden, ob der Alte weiterlebt oder nicht. Sage ja, dann darf er leben. Sage nein und ich töte ihn auf der Stelle.«
»Warum ich?«, ächzte sie. Das Mädchen zitterte am ganzen Körper.
»Hab keine Angst. Es gibt keine Folgen für dich. Du wirst auf jeden Fall überleben und es wird niemanden geben, der dich je zur Rechenschaft zieht.«
Schlagartig war sie ruhig. Ich lächelte sie an.
Auf einmal schaute sie auf den Alten hinab. »Er ist ein widerliches Schwein. Er hat uns regelrecht abgerichtet, dass wir ihm zu Willen sind.«
»Also töten?«
»Ich hasse ihn, aber...«
Sie schaute zu mir auf.
»Wer beschützt mich, wenn er nicht mehr lebt? Ich habe es nicht gelernt, mich zu behaupten. Dafür hat er gesorgt. Damit wir von ihm abhängig sind. Und wenn wir ihm nicht mehr gefallen, verstößt er uns.«
»Ja, du hast recht, er ist tatsächlich ein widerliches Schwein, das es nicht verdient hat, weiterzuleben. Also töten?«
»Nein!«, sagte sie fest. »So lange er mich akzeptiert, bin ich jemand, wenn auch nur in seinem Schatten. Sobald er nicht mehr ist, werden sich andere an mir rächen - dafür, was er ihnen angetan hat.«
Ich nahm den Fuß von seiner Kehle.
»Was hast du vor, Herr?«, fragte Borsch.
»Das will ich dir sagen, mein Lieber: Dieses Mädchen hier wird nun zu Parlow gehen und ihn hierher bringen, natürlich allein. Wie ich das Mädchen einschätze, hat es eine rege Fantasie und wird eine glaubwürdige Geschichte erfinden, damit Parlow auch kommt.
Dass es Verstand besitzt, hat es soeben bewiesen. Der Verstand hat über den Hass gesiegt. Das muss man anerkennen.«
»Dann hast du nur gefragt, um herauszufinden, ob sie zuverlässig ist?«
»Alle Achtung!«, lobte ich Borsch.
Er strahlte dankbar über das ganze Gesicht.
Die drei Jungen, die ich besiegt hatte, musterten mich von Kopf bis Fuß. Vielleicht dachten sie, ich hätte sie durch Zufall besiegt?
»Wie heißt du überhaupt, Mädchen?«
»Carlid!«
»Geh jetzt! Du kannst dich frei bewegen.«
Sie zögerte, als könnte sie es nicht glauben.
Ein Blick auf den Alten. Der schaute nur ausdruckslos.
Sie wandte sich ab und lief hinaus.
»Hoffentlich ist das kein Fehler, Herr!«, gab Borsch zu bedenken.
Ich winkte ab. »Bring alle nach hinten, Borsch. Norma wird dir helfen. Ich bleibe hier vorn und erwarte Parlow.«
*
Zwischenbemerkung:
––––––––
Nicht der Mächtige hat die Macht, sondern seine Diener.
Aber er benutzt ihre Macht, verfügt über sie.
Allein jedoch wäre er ein Nichts!
––––––––
(Freies Zitat, Herkunft unbekannt)
*
Ein Mächtiger
––––––––
Es gibt auch heute noch Leute, die erheben den Menschen zur ›Krönung der Schöpfung‹. Eine unglaubliche Selbstüberschätzung! Wenn schon Krönung, dann vielleicht ›Krönung der Bestialität‹.
Der Mensch ist als Bestie dann am erfolgreichsten, wenn sein überzüchteter Verstand mit ausgeprägten Instinkten eine Art Überlebenspakt eingeht. Dann gibt es nichts in der Natur, was dem auch nur annähernd gleichwertig wäre.
Ein Umstand, den ich auch von mir selbst kannte.
Kaum war ich allein, wurde ich nervös. Da war nichts mehr, was mich ablenkte. An die Freunde dachte ich im Moment nicht. Ich ging ein paar mal unruhig auf und ab. Dann hielt ich es nicht mehr aus.
Es war mein Kampfinstinkt, der mich hinaus trieb. Mein Verstand begründete es so: Für den Alten ist diese Wabe ideal zu verteidigen. Es gibt keinen zweiten Ausgang. Jeder, der die Wabe betreten will, muss durch den einzigen Eingang, der sich gut überwachen lässt. Für mich jedoch ist die Wabe eher eine verteufelte Falle. Sicherlich gibt es Waffen, die eine erfolgreiche Verteidigung von vornherein unmöglich machen.
Ich lief zum Hauseingang hinüber, der direkt gegenüber dem Eingang zur Wabe lag, in der das kleine Haus stand.
Der Eingang war offen. Das aufsteigende Tageslicht ließ das Wabengebilde scheinbar aus sich heraus glühen.
Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich die optischen Effekte sicherlich genossen und bewundert. Jetzt fehlte mir absolut der Sinn dafür.
In dem Gang draußen war niemand zu sehen. Er war breit genug, dass mehrere Menschen bequem nebeneinander Platz hatten. In unregelmäßigen Abständen gab es Zugänge zu anderen Waben.
Ich rannte nach links, bis zur nächsten Wabe. Das waren etwa zwanzig Schritte, denn die Nachbarwabe war so groß wie die, die ich verlassen hatte.
Der Alte hatte bevorzugt viel Platz für sich und seine Getreuen und der Besitzer der Nachbarwabe schien rangmäßig auch nicht niedriger zu stehen. Wie alle der zahlreichen Ausbilder?
Ich ließ alle Vorsicht außer Acht und betrat die Nachbarwabe.
Nichts rührte sich.
Das war es, was mich misstrauisch gemacht hatte. Jetzt war es mir auf einmal klar: Die unheimliche Ruhe! Eine Ruhe, die schlagartig begonnen hatte, nachdem Carlid gegangen war.
Die führten etwas im Schilde und sie hatten aus diesem Grund sämtliche Waben hier evakuiert.
Mein Herz schlug heftiger. Mein Instinkt hatte es gewusst, als der Verstand es noch nicht einmal geahnt hatte. Nun kauerte ich mich hier nieder, nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass mir niemand in den Rücken fallen konnte, weil es auch hier nur einen einzigen Zugang gab und wartete ab.
Es dauerte nicht lange, da hörte ich leises Scharren und gedämpfte Stimmen. Als sie näher kamen, verstummten sie.
Schatten zogen am Wabeneingang vorbei. Da draußen ging etwas vor.
Ich sah bärtige Burschen. Sie waren so beschäftigt, dass ich gewiss nicht auffiel, wenn ich mich in den Eingang stellte und bei ihrem Treiben zuschaute.
Ich tat es einfach, die Hände in den Taschen vergraben, allerdings in jeder Hand eine Waffe: In der Linken hielt ich ein Messer, in der Rechten eine Schusswaffe. Ich hatte die Büchsenmacherarbeit bereits bewundert. Wahrscheinlich wurden die Schusswaffen irgendwo in der Stadt fabrikmäßig hergestellt. Sie bestanden aus nicht rostendem Edelmetall und waren sehr handlich. Hoffentlich schossen sie auch so gut wie sie aussahen?
Meine Nackenmuskeln zogen sich schmerzhaft zusammen, als ich sah, was hier geschah: Man hatte eine kleine Kanone hergebracht. Das Rohr ruhte auf einem zweirädrigen Fahrgestell. Drei Männer waren damit beschäftigt, direkt neben dem Eingang zur Nachbarwabe.
Meine Freunde befanden sich dort drin!
Mir wurde heiß.
Die Männer brachen eine große Plastikbox auf. Sie hatte eine Kantenlänge von fast dreißig Zentimetern. Darin befand sich ein helles Pulver. Mit einem kleinen Schöpfgerät füllten sie einen Teil von dem Pulver in das Kanonenrohr.
Auf der anderen Seite des Ganges marschierte ein wahres Heer von Kämpfern auf. Sie machten grimmige Gesichter und hielten allerlei Mordinstrumente in den erhobenen Händen.
Es war klar, was sie vorhatten: Sie wollten mit der Kanone in die Wabe hinein schießen. Die Pulverladung reichte aus, die ganze Hütte mitsamt Insassen hinwegzufegen. Allein die Druckwelle schon, geschweige denn die faustgroße Kugel, die einer der Kanoniere in der Hand wog und erst in das Rohr einführte, als die richtige Menge an Pulver eingefüllt war.
Sie hatten die Pulvermenge genau dosiert, also Männer mit gewisser Erfahrung.
Ich knirschte mit den Zähnen. Die Kämpfer auf der anderen Seite standen bereit. Sobald der Schuss losgedonnert war, würden sie hinein stürmen und auf alles eindreschen, was dann noch wagte, sich zu regen.
Die Freunde hatten keine Chance. Genauso wenig wie der Alte, der sich so sicher gefühlt hatte.
Und hatte ich nicht rechtzeitig die Wabe verlassen, wäre ich genauso verloren.
Ich zog mich in die Nachbarwabe zurück und überlegte kurz.
Viel Zeit blieb mir nicht, denn die Kanone war geladen und jetzt schwenkten sie das Rohr herum. Es zeigte auf das Massenaufgebot von Kämpfern auf der anderen Seite des Ganges. Man sammelte sich, um die Kanone blitzschnell vor den Wabeneingang zu schieben und sofort abzufeuern, ehe die Opfer zu einer Gegenmaßnahme kommen konnten.
Ich nahm nicht an, dass das Mädchen Carlid falsches Spiel getrieben hatte, aber durch sie erst hatte Parlow erfahren, wo wir zu finden waren und er hatte entschieden, dass es besser war, den alten Ausbilder und seine Getreuen zu opfern. Vielleicht war das sogar ein politischer Schachzug, den er vor seinen eigenen Getreuen gut vertreten konnte, indem er einfach auf die mögliche Gefahr durch uns hinwies. Immerhin war es uns gelungen, weit in seinen Machtbereich vorzudringen. Gewiss weiter als jemals jemand zuvor, seit er diese Macht hier gefestigt hatte.
Ich konnte mir vorstellen, dass sein Ruf darunter leiden würde. Hier wurden Kämpfer für andere Machtbereiche ausgebildet. Wenn man dort erfuhr, wie leicht wir es gehabt hatten, würde niemand mehr den Ausbildungsmethoden von Parlow und seinen Leuten vertrauen. Ja, sehr schlau gedacht. Und ich kam erst jetzt dahinter.
Das hätte mich das Leben kosten können.
Ich zog die Pistole, lugte in den Gang hinaus und schoss.
Noch zeigte die Kanone auf die Kämpfer auf der anderen Seite des Ganges. Im nächsten Augenblick hatten die Kanoniere das Ding herumreißen und abfeuern wollen. Sie waren bereit.
Meine Kugel traf in das Pulverfass aus Plastik und erzeugte ein Hölleninferno: Das Pulver war leicht entzündbar. Die Kugel genügte bereits, um es hochgehen zu lassen. Eine gleißende Sonne entstand im Gang, blendete mich, wurde begleitet von einer ungeheuren Druckwelle.
Ich sah es nicht mehr, denn ich hatte mich rechtzeitig zurückgezogen. Sonst hätte es mir zweifelsohne den Kopf abgerissen.
Auch die Kanone donnerte los, allerdings nicht in die Wabe hinein, wie ursprünglich vorgesehen, sondern in Richtung der Kämpfer.
Die Druckwelle breitete sich im Gang aus, ließ Menschen wie welkes Herbstlaub davon wirbeln, zerfetzte alles, was sich zu nahe am Explosionsherd befand, donnerte in die Wabe, in der ich mich niedergeworfen hatte, beide Hände auf die Ohren gepresst, das Gesicht am Boden, den Mund weit aufgesperrt.
Ein fast untaugliches Mittel, um nicht für immer das Gehör zu verlieren.
Die Druckwelle macht aus dem kleinen Haus, das hier stand, eine Ruine.
Es dauerte nur Sekundenbruchteile, aber es waren Sekundenbruchteile in einer wahren Hölle.
Als es vorbei war, hörte ich nichts mehr. Ich war vorübergehend taub geworden.
Ich rannte hinaus. Kein Mensch war zu sehen. Kein Lebender zumindest. Die Druckwelle hatte noch bis in einige Entfernung großes Unheil angerichtet.
Die Kanoniere hatten einen Fehler gemacht, als sie die Box mit dem Pulver gebracht hatten. Sie hatten das Ganze als feierliches Ritual gezeigt.
Ihr Fehler und unsere Rettung.
Ich sprang in die Wabe des Alten.
Gerade regte sich etwas unter den traurigen Überresten der Hütte. Besorgt räumte ich die Trümmer beiseite.
Norma kam zum Vorschein. Ihr Gesicht war verzerrt. Ich sagte etwas zu ihr, hörte aber dank der Taubheit meine eigene Stimme nicht. Sie schüttelte den Kopf.
Ich half ihr auf und beobachtete sie dabei. Hatte sie sich etwas gebrochen? War sie anderweitig verletzt?
Alle lebten noch und hatten außer Quetschungen und Platzwunden und Schürfwunden nichts davon getragen.
Und sie waren so taub wie ich.
Aus keinem ihrer Ohren lief Blut. Ein beruhigendes Zeichen dafür, dass keiner auf Dauer sein Gehör verloren hatte.
Der Alte war fassungslos. Er hätte wohl nie für möglich gehalten, dass Parlow ihn opfern würde.
So kann man sich irren!, dachte ich schadenfroh.
Ich packte ihn am Kragen und zerrte ihn hoch.
»Wo ist dieser Parlow?«, fragte ich.
Er hörte nichts, denn er war genauso taub wie alle. Aber er schaute mir auf die Lippen. Ich wiederholte die Frage.
Der Alte nickte grimmig.
Ich stieß ihn von mir. Ohne eine weitere Aufforderung ging er voraus.
Seine Getreuen waren völlig konfus. Sie wussten anscheinend nicht, was sie von allem halten sollten.
Als wir die Wabe verließen, hielt ich den Alten auf und deutete auf die Kanone. Das Metall war praktisch unbeschädigt. Es glänzte wie pures Silber. Von dem zweirädrigen Fahrgestell war nichts mehr zu sehen.
Man hätte die Holzspäne, die nach der Detonation noch davon übrig waren, wahrscheinlich mit der Lupe suchen müssen.
Spontan wandte sich der Alte mir zu und reichte mir die Hand.
Ich ergriff sie ohne zu zögern, schüttelte sie.
Borsch und Norma zwinkerte ich kurz zu. Sie nickten.
Wir waren uns alle drei darüber im klaren, dass nur der vorübergehende Hass auf Parlow den Alten zu unserem Verbündeten machte. Sobald dieser Hass abflaute, war es aus mit der Freundschaft. Wir würden uns wohl kaum länger auf ihn verlassen können. Aber um gegen den mächtigen Parlow anzugehen, konnten wir uns vorerst nichts Besseres wünschen.
Der Alte winkte seinen Leuten gebieterisch zu. Auch das weinende Mädchen wollte mitgehen, aber ich schickte sie in die Wabe zurück. Hier war sie in Sicherheit. Wenn sie jedoch mit uns kam, würde sie es nicht überleben. Das war klar.
Ich rettete ihr mit dieser Maßnahme das Leben, auch wenn sie mich im Moment dafür wahrscheinlich für einen Unmenschen hielt.
Der Alte führte uns. Im Laufschritt lief er den Gang entlang.
Wir folgten ohne Zögern. Die drei Getreuen des Alten waren hinter uns. Wir hatten es nicht verhindert, als sie Waffen von den Gefallenen aufgenommen hatten. Wenn sie jetzt wollten, konnten sie uns hinterrücks niederstechen.
Aber das hatten sie nicht vor. Es war ihnen genauso klar wie ihrem Herrn, dass Parlow sie abgeschrieben hatte und sie waren mit ihrem Herrn einer Meinung: Das schrie nach Vergeltung.
Uns konnte es nur recht sein. Wir machten das Spiel gern mit. Uns blieb auch kaum eine andere Wahl. Wir hatten uns selbst in diese Situation gebracht und mussten zusehen, dass wir heil davon kamen.
Und nicht nur das: Mein Ehrgeiz ging so weit, dass ich noch wesentlich mehr erwartete. Ob Norma und Borsch etwas ahnten?
Und dann erreichten wir unser Ziel.
Der Alte streckte seinen Arm aus. Prompt schob sich sein Sohn an mir vorbei und reichte ihm ein Messer.
Der Alte gab Zeichen. Die drei Jungen teilten sich. Einer rannte in die Wabe rechts von uns, der andere in die linke. Der dritte preschte vor. Es schien ihm nichts auszumachen, dass der Alte ihn nur deshalb vorschickte, um die Gefahr abschätzen zu können.
Der Junge erreichte die Wabe des Mächtigen und stürmte hinein.
Wahrscheinlich gab es zu dieser Wabe, die wesentlich größer als alle anderen war, mehrere Zugänge. Deshalb hatten sich die Jungen teilen müssen.
Der vor uns war als erster da. Kaum war er unseren Blicken entschwunden, als mehrere Schüsse krachten.
Ich schaute dem Alten ins Gesicht: Keinerlei menschliche Regung.
Wir liefen ebenfalls zu diesem Eingang, blieben jedoch in der Deckung des Ganges und warteten.
Die Strategie war klar: Die anderen beiden Jungen sollten die Leibwächter von Parlow ablenken. Dann war unsere Chance größer, von hier aus hinein zu kommen.
Sehr groß konnte die Leibgarde nicht mehr sein - nach den Verlusten, die man bereits hatte.
Der Alte wandte den Blick und sah mich an.
Da wurde mir klar, was er wollte: Er hatte die Schüsse überhaupt nicht gehört!
Aber ich!
Also hatten sich meine Ohren schneller erholt. Mir war es so selbstverständlich vorgekommen, dass ich die Schüsse gehört hatte, dass ich an die Taubheit der anderen nicht mehr gedacht hatte.
Ich schüttelte den Kopf.
Der Alte runzelte die Stirn. Also ging es ihm doch ein wenig nahe, dass der Junge umgekommen war.
Ich legte meine Hand auf seine Schulter und lauschte.
Mir klingelten die Ohren. Ich hatte immer noch meine Schwierigkeiten damit. Aber die nächsten Schüsse würde ich nicht überhören.
Und da krachte es wieder. Diesmal an zwei Stellen gleichzeitig.
Es war nicht unbedingt anzunehmen, dass die beiden dabei ums Leben kamen. Vielleicht hatten sie sich eine List ausgedacht und waren damit erfolgreicher als er erste?
Ich zögerte. Konnten wir es wirklich wagen, jetzt in die Wabe hinein zu stürmen?
Ich dachte an den Jungen, der gerade erst gestorben war und konnte mich nicht zu diesem Schritt entschließen.
Etwas anderes nahm mir die Entscheidung ab: Ein Trupp von Kämpfern eilte herbei. Zwei schwangen Kurzschwerter, zwei weitere hoben ihre Schusswaffen.
Ich war schneller: Meine Kugel traf den einen und riss ihn um. Wir warfen uns zu Boden. Auch Borsch und Norma schossen.
Nur einer der Angreifer mit Schwert blieb am Leben. Er zögerte. Offenbar konnte er sich nicht entscheiden, ob er nun weiter angreifen oder besser wieder fliehen sollte.
Ich sprang auf und winkte meinen Gefährten zu, ihn am Leben zu lassen. Sie schauten mich verständnislos an.
Schade, dass sie mich nicht verstehen konnten. Sie waren noch immer völlig taub.
Ich lief dem Kämpfer entgegen. Der fing sich und ließ sein Kurzschwert wieder wirbeln.
Der Kämpfer sah meine Hände leer. Das weckte neue Zuversicht in ihm. Er grinste abfällig. Seine Augen glitzerten kalt. Er wartete, bis ich in Reichweite seines Schwertes kam.
Und dann war ich heran.
Ich stoppte im letzten Augenblick. Der Kämpfer schlug zu. Er würde mich verfehlen, das erkannte er, aber der Schlag war nicht mehr rückgängig zu machen.
Ich ließ das Schwert an mir vorbei zischen. Beinahe schlitzte es mein Gewand auf.
Meine Linke schnellte vor, umklammerte das Handgelenk des Gegners. Den Ellenbogen der Rechten kräftig an die Kehle des Gegners. Den Fuß hinter seine Beine. Mit dem rechten Arm schieben und den Gegner von den Beinen reißen.
Der Mann konnte sich nicht stürzte und verlor dabei sein Schwert.
Scheppernd traf es am Boden auf.
Ich verhinderte, dass mein Gegner flach aufknallte. Ich stieß ihn wieder hoch und verdrehte seinen rechten Arm. Er landete am Ende mit dem Gesicht an der Wand.
Ich ließ ihm keinerlei Bedenkzeit. Mit meiner jetzt wieder freien linken Hand packte ich ihn am Schopf und riss ihn zurück. Dann zwang ich ihn zu meinen Gefährten hinüber.
Wir durften keine Zeit verlieren, denn gewiss kamen jetzt schon andere Kämpfer herbei geeilt. Sie mussten jeden Augenblick auftauchen, um uns in die Zange zu nehmen. Zwischen der Wabe von Parlow und der anrollenden Angreiferfront würden wir zerrieben werden, ohne die geringste Chance.
Der Alte erkannte jetzt erst, was ich vorhatte. Mit geweiteten Augen hatte er den ungleichen Kampf verfolgt.
Ich ließ ihm keine Gelegenheit für unnötige Bewunderung, schob den Kämpfer an ihm vorbei zum Wabeneingang.
Der Kämpfer sah, was ihm bevor stand.
Er schrie wie am Spieß: »Nicht schießen, nicht schießen!«
Ich duckte mich hinter dem kräftigen Burschen, hielt ihn vor mich als lebenden Schild.
Schüsse krachten. Der Mann schrie immer noch, aber seine Kameraden hatten kein Erbarmen.
Den Sterbenden trieb ich vorwärts.
Alles musste ungeheuer schnell gehen. Ich traute es mir nun doch nicht zu, den Leichnam frei schwebend vor mir her zu tragen. Ich musste es nutzen, so lange der Bursche noch auf eigenen Beinen laufen konnte. Außerdem konnte mich ein Durchschuss erwischen, wenn ich zu langsam war und den Gegnern Gelegenheit dazu ließ.
Ich sah nicht, wohin es ging, trieb meinen durch die Treffer sterbenden Gefangenen blind vor mir her und hatte nicht die geringste Ahnung, wie es in der Wabe aussah.
An den Schüssen orientiert, die wie Donner an den Wabenwänden widerhallten, waren die Gegner an einem Punkt konzentriert. Also hatte die Ablenktaktik des Alten von vornherein keinerlei Chance gehabt.
Sicherlich waren inzwischen alle drei Jungen gefallen.
Ein Hindernis hielt uns auf. Ich ließ den Sterbenden los. Kein Schuss wurde mehr abgegeben. Der Sterbende prallte dumpf gegen eine Wand.
Das Haus des Mächtigen war wahrlich großherrlich. Es ragte wuchtig vor mir auf. Über meinem Kopf gab es Schießscharten.
Von dort also wurde geschossen. Angreifer waren normalerweise wirklich schlecht dran. Aber ich hatte es geschafft, in den toten Winkel zu gelangen.
Ein offener Eingang.
Die Schützen konnten mich jetzt nicht mehr treffen. Das war der Nachteil der Schießscharten: Ich blieb im toten Winkel.
Lauerten sie hinter dem offenen Eingang?
Ich nahm doch noch einmal den jetzt Toten auf und schob ihn am Türpfosten vorbei.
Nichts geschah.
Es genügte mir als Beweis dafür, dass sich alle Kampfkraft oben bei den Schießscharten konzentriert hatte. Parlow war sich in seiner Festung zu sicher gewesen.
Ich hetzte in das Innere des Palastes.
Schritte auf der Treppe.
Aha, mein Gehör funktionierte immer besser. Bald würde es die alt gewohnte Empfindlichkeit haben. Dann konnte ich wieder mit den Ohren allein schon meine Gegner ›sehen‹.
Die Schützen kamen von oben herunter gestürmt, um mir einen heißen Empfang zu bereiten.
Ich orientierte mich mit einem raschen Rundblick. Es war ausreichend hell hier unten im Erdgeschoss, denn der Palast besaß kein Dach.
Außerdem sorgte die großzügige Bauweise für genügend Öffnungen in der Decke des Erdgeschosses.
Das hatte natürlich auch den Nachteil, dass ich besonders vorsichtig sein musste.
Wie der Blitz verschwand ich in Deckung, direkt neben der Treppe.
Sie schwang sich frei nach oben, überwand dabei eine Höhe von etwa drei Metern. Hier unten gab es eine Art Eingangshalle. Unregelmäßig geformte und auch unterschiedlich große Gebilde lagen scheinbar wahllos herum und sahen aus wie Felsbrocken.
Darauf standen exotisch anmutende Blumen. Waren sie künstlich oder lebten sie tatsächlich?
Es gab auch Sitzmöbel, kunstvoll angefertigt. Offensichtlich Handarbeit.
Der Mächtige wusste zu leben.
Ich duckte mich hinter so einem Brocken, während meine Gegner herunter kamen.
Sie waren nur zu fünft, konnten natürlich in der Halle niemanden sehen und schwärmten sofort aus.
Alle waren mit Schusswaffen ausgerüstet. Gewiss konnten sie gut damit umgehen. Sonst hätten sie nicht zur Leibgarde des Mächtigen gehört.
Einer umrundete den Brocken, hinter dem ich kauerte. Er zögerte keinen Sekundenbruchteil. Sofort krümmte sich sein Zeigefinger um den Abzug.
Mein Messer war dennoch schneller.
Ich hatte es ansatzlos geworfen und es bohrte sich in seine Kehle.
Röchelnd sank er zusammen.
Ich war sofort bei ihm und stützte ihn.
Ein anderer sah herüber und schoss.
Die Kugel traf nur den Sterbenden, aber der Schütze selbst war ohne Deckung. Diesmal warf ich kein Messer, sondern schoss ebenfalls - mit der erbeuteten Waffe.
Nur noch drei Gegner. Zwei davon befanden sich am Ausgang. Sie hatten noch überlegt, wie sie mich überlisten konnten, falls ich mich noch draußen befand. Jetzt wirbelten sie herum.
Ich hechtete in meine alte Deckung. Kugeln sirrten als Querschläger davon.
Ich hatte es nicht auf die beiden am Ausgang abgesehen. Die hatten eine Möglichkeit, rechtzeitig Deckung zu finden: Indem sie den Palast nach draußen verließen.
Ihr Kumpan dachte anders. Geduckt schlich er herbei.
Er dachte gar nicht daran, extra Deckung aufzusuchen.
Ich stieß den Blumenstock von dem Stein, hinter dem ich mich versteckte.
Ein Schuss krachte. Der Angreifer hatte reflexartig geschossen. Gleichzeitig tauchte ich seitlich auf und schoss ebenfalls.
Und ich traf!
Im nächsten Augenblick hetzte ich die Treppe hinauf.
Die beiden, die den Palast verlassen hatten, hörten meine schnellen Schritte und stürmten wieder herein.
Sie kamen zu spät. Ich war schon oben.
An den Schießscharten lauerten fünf Männer. In der Stadt wurden anscheinend nur Männer zum Kämpfen ausgebildet. Frauen hatten andere Aufgaben zu erfüllen.
Die Fünf warfen sich herum. Wenn sie jetzt auf mich schossen, gefährdeten sie sich gegenseitig. Das ließ sie zögern und ließ mir genügend Zeit, zum Thron hinüber zu zielen, auf dem ein wimmerndes Menschenbündel saß: Parlow!
Er hatte panische Angst.
»Schießt doch!«, befahl er seinen Leibwächtern, aber sie wagten es nicht.
Ich bekräftigte ihren Entschluss: »Im gleichen Moment ist euer Herr verloren!«
Schüsse krachten am Eingang zum Palast.
Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass die beiden restlichen Gegner von unten herauf gestürmt kamen. Sie hätten möglicherweise nicht gezögert, mich zu erschießen. Sie waren entschlussfreudiger als die Fünf hier oben. Sonst wären sie mir nicht entgegen gekommen.
Ich näherte mich Parlow, mit drohender Pistole.
Hastige Schritte auf der Treppe. Ehe jedoch jemand auftauchte, verstummten sie wieder.
Die fünf Schützen schauten unwillkürlich hinüber.
Ich erreichte Parlow. Er war fett und aufgedunsen. Ein verweichlichter Mann, der die Blüte seiner Jahre längst hinter sich hatte.
Aber gegenüber seinen Leuten hatte er seinen Nimbus der Macht bewahrt. Wahrscheinlich hätte es niemand gewagt, Hand an ihn zu legen.
Ich drückte den Lauf meiner Waffe an seine Schläfe. Sein Doppelkinn wackelte. Auf der Stirn stand der Schweiß in dicken Perlen. Er verdrehte die Augen, als würde er jeden Augenblick in Ohnmacht fallen.
Ich dachte an das zeitlose Zitat: »Allein ist der Mächtige ein Nichts!«
Jetzt war Parlow allein.
Dieser Mann, der über Leben und entschieden hatte, skrupellos, nur dem eigenen Vorteil und auch dem eigenen Lustgewinn verantwortlich...
Jetzt bangte er um sein nichtswürdiges Dasein.
Aber ich zügelte meinen Widerwillen und drückte nicht ab. Nicht allein, weil ich ihn dann nicht mehr als Geisel hätte benutzen können. Denn wenn ich einen Wehrlosen tötete, konnte ich vor mir selber nicht mehr die Illusion aufrecht erhalten, im Grunde genommen ein Gerechter zu sein.
Die Wahrheit nämlich war: Ich hätte überhaupt gar nicht hier zu sein brauchen! Ich hätte von vornherein vorsichtiger sein müssen, wie es auf einem Beutezug normal war. Ich hätte rechtzeitig erkennen müssen, dass hier nichts für uns zu holen war außer vielleicht Schusswaffen, die es anscheinend überreichlich gab.
Schusswaffen waren allerdings keine geeigneten Waffen für Räuber, weil sie zuviel Lärm erzeugten.
Nein, ich war nicht hier und hatte nicht getötet, weil es notwendig war, sondern weil ich den Ehrgeiz hatte, mächtiger als die Mächtigen zu werden. Ich war allein, an meiner Seite Norma und Borsch und ich hatte mir in den Kopf gesetzt, die Welt zu erobern!
Ein wahnsinniger Gedanke. Ich zweifelte dennoch keinen Moment daran, dass es mir gelingen würde.
Ich hatte keine andere Wahl - vor mir selbst. Ich wurde von dem Drang vorwärts getrieben, einen Weg zurück ins Paradies zu finden. Dieser Weg führte nun einmal meines Erachtens ausschließlich über den Umweg der größtmöglichen Macht.
Ein Widerspruch in sich: Um den alten Frieden wieder zu finden, machte ich mich selber gewissermaßen zu einer Art reißenden Bestie.
In diesem Moment fand ich nichts Falsches dabei. Ich würde meinen Weg nicht aus den Augen verlieren.
Fanatismus ist, wenn alle anderen Faktoren nicht nur an Größe verlieren, sondern sogar null und nichtig werden.
Ich hatte mich in meinen unheilvollen Wahn so weit hineingesteigert, dass es kein Zurück mehr gab. Niemand konnte mich mehr von meinem Weg abbringen, am wenigsten ich selbst.
Ich wollte es auch gar nicht.
Und sollte es auch meinen Tod bedeuten!
*
Zwischenbemerkung:
––––––––
Das Recht des Stärkeren ist ein Geschenk der Schwachen.
Recht kann man nicht erzwingen, sonst ist es Unrecht.
So endet jedes Machtrecht dort, wo das Unrecht jedermann deutlich wird.
Denn wenn die Schwachen zahlreicher sind als die Stärkeren, kann das Recht, das sie zurücknehmen, immer zur Übermacht werden.
Wehe dem Mächtigen, der dies missachtet!
––––––––
(Zeitloses Zitat. Offensichtlich im zwanzigsten Jahrhundert so genannter christlicher Zeitrechnung von Sozialideologen wiederentdeckt)
*
Die neue Macht
––––––––
»Sobald jemand schießt, drücke ich ab!«, brüllte ich.
Die fünf Leibwächter zuckten zusammen. Parlow liefen die Tränen die feisten Wangen herunter.
Ich konnte mir vorstellen, dass er mehrfach soviel Nahrungsmittel zu sich nahm wie ein normaler Mann. An seiner Stelle hätten drei andere gut leben können.
Denn es gab immer nur so viele Menschen wie auch Nahrung fanden - genug, um das wenige, das sie hatten, gegen andere zu verteidigen.
Es war das eherne Gesetz der Stadt. Soviel hatte ich begriffen.
Drei Köpfe tauchten auf: Der Alte, Norma und Borsch.
Sie waren misstrauisch, aber als sie sahen, dass ihnen keine direkte Gefahr drohte, kamen sie ganz herauf.
Die Leibwächter waren unsicher, als sie den Alten erkannten. Der brüllte sie an: »Waffen weg!«
Außerhalb des Palastes waren wüste Schreie und Fußgetrappel: Die anderen Kämpfer. Sie wussten anscheinend nicht, wie sie sich verhalten sollten.
Der Alte brüllte hinunter: »Bleibt draußen! Ihr werdet alle Befehle von mir erhalten!«
Ich fand das reichlich voreilig, denn ich dachte an das Recht des Stärkeren. Wenn er sein Macht antrat, dann mussten die wichtigsten Untertanen wenigstens überzeugt davon sein, dass es ein Vorteil für sie war. Wenn nicht, konnte er sich nicht halten.
Es war deutlich genug, dass der Alte in die Fußstapfen von Parlow treten wollte. Ein gerissener Bursche, der zudem auch zu kämpfen verstand, obwohl der Bauch verriet, dass er in den letzten Jahren träger geworden war. Hoffentlich war er gerissen genug, den Stamm zu führen?
Es war wichtig für mich. Aus guten Gründen.
Der Alte trat auf mich zu. Er hatte ein Messer in der Hand. Die Spitze zeigte auf mich.
Ruhig schaute ich ihm entgegen.
Er wich meinem Blick aus. Hatte er Respekt vor mir? War das bei dem Alten überhaupt möglich?
»Was hast du vor?«, fragte ich.
Entweder sein Gehör litt noch immer, oder aber er wollte keine Antwort geben. Er trat von Parlow hin und setzte das Messer an die Kehle des Mächtigen.
»Lass ihn!«, befahl ich erschrocken.
Der Alte reagierte überhaupt nicht auf mich. Suchend schaute er umher. Plötzlich erstarrte er.
Ich folgte seinem Blick.
Das Obergeschoss des Palastes war vollkommen offen. Der Palast hatte eine achteckige Grundfläche. Auch hier fielen mir diese Brocken auf, die wie Felsen wirkten. Offenbar eine Vorliebe Parlows. Diese Brocken waren überall verteilt. Zunächst sah man keine Ordnung darin, aber dann erkannte man, dass damit verschiedene ›Räumlichkeiten‹ voneinander optisch abgetrennt wurden.
Der Palast hatte einen Durchmesser von zwanzig Metern. Er stand inmitten der Wabe, die sich darüber wie eine hohe, leuchtende Kuppel erhob.
Natürlich war auch der Boden der Wabe nicht etwa eben, sondern muldenförmig. Diese Mulde wurde von einem zusätzlichen Boden ausgeglichen. Das war anscheinend in allen Waben, in denen Privilegierte hausten, so üblich. Andere hatte ich nur im Vorbeihasten gesehen. Ich hatte nicht weiter auf die Unterschiede geachtet.
Und hinter einem der Brocken ragten zwei Beine hervor. Es waren die Beine eines Mädchens.
»Carlid!«, murmelte der Alte.
Irrte ich mich oder stahlen sich Tränen in seine Augenwinkeln? Das hätte ich als Allerletztes erwartet.
Doch schon die Geschichte hatte mich gelehrt, dass auch die grausamsten Menschen zu starken Gefühlsregungen fähig waren. Man hatte solches in Sprichwörter gekleidet wie zum Beispiel: »Nur wer wahrhaft liebt, kann auch wahrhaft hassen!«
Hatte der Alte Carlid - geliebt?
»Ist sie - tot?«, fragte der Alte.
Parlow sah ihn mit hervorquellenden Augen an. Seine Lippen zitterten. Er brachte keinen Ton hervor.
»Los, antworte!«
Parlow krächzte: »J-ja, sie ist - tot!«
»Auf deinen Befehl hin umgebracht? Damit du ungestört meinen Tod vorbereiten konntest?«
»J-ja, aber ich bitte dich, Tamor, du hättest an meiner Stelle genauso gehandelt. Bedenke, die Fremden sind gefährlich.«
»Gefährlich, Parlow? Für dich nun, da du so vorgegangen bist: Sie haben nach dir geschickt, weil sie einen nützlichen Vorschlag hatten. Sieh den einen, der die Waffe an deine Schläfe gepresst hält. Erkennst du seine Heiligkeit nicht? Er ist unbesiegbar. Das hättest du wissen müssen, sonst hättest du nicht so einen sinnlosen Versuch unternommen. Er ist einer der Unsterblichen. Er hat das Paradies verlassen und kam zu dir, Parlow. Und du versuchtest, ihn zu töten!«
Ich war nicht sicher, ob Tamors Gehör wieder ausreichend funktionierte. Wenn nicht, dann verstand er es ausgezeichnet, von den Lippen Parlows zu lesen.
Tamor hob seine Stimme und donnerte: »Hört, hört! Auch ihr unten! Hört, ihr Leibwächter und alle, die ich persönlich ausgebildet habe, damit sie Parlow, dem Mächtigen, dienen konnten! Hört, was er getan hat: Er hat große Schuld auf sich geladen. Einer der Fremden ist ein Unsterblicher. Er stieg vom Paradies zu uns herab. Parlow hat ihn nicht nur verschmäht, sondern hat gar versucht, ihn zu töten. Genauso wie mich und die Gefährten des Unsterblichen.«
Er brüllte es aus Leibeskräften: »Er hat an einem Unsterblichen gefrevelt und daher wird seine Seele verdammt sein. Der Unsterbliche schickte ihm Carlid, meine Lieblingsfrau. Parlow hat sie meuchlings ermordet. Eine Unschuldige. Ein Kurier des Unsterblichen.«
Er hatte das Unsterbliche so oft genannt, dass ich schon eine Gänsehaut bekam, aber ich sah an den unsicheren Blicken der Leibwächter, dass es seine Wirkung nicht verfehlte.
»Ich, Tamor, jedoch habe den Unsterblichen in meiner Wabe empfangen, als man ihm irrtümlich nachstellte. Ich wollte den Irrtum klar stellen und stellte meine Lieblingsfrau zur Verfügung. Das hat Carlid das Leben gekostet. Viele treue Kämpfer büßten das Vertrauen, das sie in die Entscheidungen ihres Herrn hatten, mit ihrem Leben.«
»Ich - ich habe doch nicht geahnt...«, wimmerte Parlow.
»Lauter!«, forderte Tamor.
Ich hielt immer noch die Pistole gegen die Schläfe von Parlow, obwohl das Blatt sich radikal gewendet hatte.
Tamor war ein Meister der Diplomatie. Er war der geborene Politiker. Er vermochte nicht nur mit der Waffe in der Hand zu kämpfen, sondern seine eigentliche Stärke schien der Gebrauch der Zunge zu sein.
Ich hatte viel über die Geschichte gelernt, hatte Staatsmänner so hautnah gespürt - dank der Hypnointensivierung -, dass ich mir gut ein Urteil erlauben konnte.
Es war mir in diesem Moment klar, dass Tamor nur deshalb nicht Oberhaupt dieses Stammes war, weil Parlow eine zu starke Streitmacht um sich geschart hatte. Tamor war einfach nicht an ihn heran gekommen, hatte sich all die Jahre untertänig fügen müssen. Und jetzt war die große Chance da. Tamor nutzte sie rigoros. Ich hatte keine Ahnung, ob seine Tränen für Carlid wirklich echt waren, aber sie unterstützten seine flammende Rede und dienten in idealer Weise seiner Überzeugungskraft.
»Lauter!«, forderte er noch einmal.
Parlow zögerte. Kein Wunder, denn der total verfettete und verweichlichte Mächtige saß nicht umsonst auf diesem Thron. Er hatte auch schon bessere Zeiten erlebt. Gewiss war er da in nichts schlechter gewesen als Tamor - aber auch keinen Deut besser. Er begann zu ahnen, welche Teufelei Tamor mit ihm im Schilde führte. Es war jedoch zu spät, eine Gegenmaßnahme zu ergreifen. Parlow krächzte mit zittriger Stimme, in der pure Todesangst mitschwang: »Ich-ich habe es nicht geahnt, das mit dem Unsterblichen. Ich wollte nichts gegen IHN unternehmen. Ich...«
»Hört, hört!«, brüllte Tamor mit sich fast überschlagender Stimme.
»Hört, wie er winselt, wie er lügt. Ich selbst habe die treue Carlid zur Verfügung gestellt. Der Unsterbliche hat sie in meinem Beisein über alles aufgeklärt. Carlid wusste genauestens Bescheid. Sie wusste auch, was der Unsterbliche von Parlow wollte. Sie machte sich nichts ahnend auf den Weg. Sie hat ihrem höchsten Herrn vertraut, genauso wie wir all die Jahre. Und ihr hoher Herr hat sie umgebracht. Er hat sie nicht angehört, sondern hat ihr einfach die Kehle durchgeschnitten.«
Ich zog meine Pistole zurück. Mir wurde endlich bewusst, wie lächerlich es war.
Aber ich behielt die Waffe in der Hand.
»Er ist ein Mörder. Er ist für den Tod verantwortlich all der tapferen Kämpfer, die vor meiner Habe ihr Leben lassen mussten, weil sie nicht ahnten, dass sie im Begriff waren, gegen einen Unsterblichen anzutreten. Sie mussten dafür büßen. Ihre Seelen sind verdammt. Nicht durch eigene Schuld, sondern durch die Schuld von diesem da.«
Er schöpfte tief Atem. Dann: »Was muss mit ihm passieren?«
Die Leibwächter murmelten hasserfüllt: »Töte ihn!«
»Was höre ich?«
Draußen wurde geraunt: »Töte ihn!«
»Was höre ich?«
Schon zorniger: »Töte ihn!«
»Was höre ich?«
Alle Empörung entlud sich in einem einzigen infernalischen Aufschrei: Töte ihn!«
Und Tamor selbst war der Henker. Ohne jegliche Skrupel schnitt er seinem Widersacher die Kehle durch. Parlow hatte zwischen ihm und der Macht gestanden.
Tamor nahm den leblosen, noch blutenden Leib und schleppte ihn zur Treppe. Er ließ ihn hinunter rollen.
Die Kämpfer strömten herein und spuckten auf den Leichnam.
Parlow, noch vor Minuten der unumschränkte Herr über Leben und Tod - und jetzt ein totes Menschenbündel, an dem sich der Volkszorn entlud.
Allein ist der Mächtige ein Nichts!, dachte ich bestürzt.
Mein Blick begegnete dem von Tamor. Ich sah die Gier in seinen Augen: Machtgier!
Und wenn ich selbst jetzt zwischen ihm und der Macht zu stehen kam?
Ich zwang mich zu einem Lächeln und steckte die Waffe weg. Dann reichte ich ihm die Hand.
Er ergriff sie triumphierend, schüttelte sie kräftig.
Es war an der Zeit, dass ich das Wort ergriff. Schließlich war ich oft genug zitiert worden.
»Ich, der Unsterbliche, spreche zu euch, Untertanen des Tamor!«
Es zuckte im Gesicht Tamors. Ja, das hatte er hören wollen: Ich machte ihm die Herrschaft nicht streitig. Ich hatte anderes im Sinn. Ich wollte weiter. Die Macht über diesen Stamm allein wäre für mich zu wenig. Es galt, Tamor als Kampfgenossen zu gewinnen. Er hatte seinen Sohn verloren und alles, was sein bisheriges Leben lebenswert gemacht hatte. Aber dafür hatte er weit mehr gewonnen.
Und ich wiederum musste ihn gewinnen.
Dabei konnte ich nicht auf Treue oder so hoffen. Dessen war ein Mann wie Tamor nicht fähig. Ich hatte mit eigenen Augen gesehen, wie er seinen Widersacher umgebracht hatte. Wie ein Schlächter, nicht wie ein Mann von edlem Gemüt.
Beinahe musste ich lachen. Die Vorstellung, in der Gesinnung von Tamor auch nur den geringsten Hauch von Edelmut zu finden, war wirklich absurd.
Ich musste Tamor handfest beweisen, dass es für ihn von Vorteil war, mir zu dienen. Nur damit würde ich bei ihm Erfolg haben.
Genauso wie vordem Parlow bei ihm Erfolg gehabt hatte, denn Tamor hatte ihm die Macht bislang niemals offen streitig gemacht und war stets ein guter Gefolgsmann gewesen.
»Ich, der Unsterbliche!«, wiederholte ich theatralisch, wie man es halt eben von einem Unsterblichen erwarten würde.
Das Gebrüll, das Inferno der Empörung, ebbte ab. Stille kehrte ein.
»Parlow hat für seinen Frevel gebüßt. Durch seinen Tod sind die Seelen der Verdammten befreit. Parlow war das Opfer, das Tamor mit meiner Billigung vollstreckte. Und nun sammelt er die verdammten Seelen der Kämpfer, um sie ins wahre Paradies des Himmelreichs zu führen. Sie sind damit befreit und wieder ohne Schuld. Sie sind damit Helden dieses Stammes.
Parlow hingegen, sofern er noch Restschuld besitzt, wird dafür vor dem obersten Himmelsgericht bestehen müssen. Dort werden Entscheidungen gefällt, gegen die jeder Lebende machtlos ist. Sogar ein Unsterblicher.«
Hatte vorher noch grausame Vergeltungswut die Menschen beherrscht, so schlug das nun ins genaue Gegenteil um: Unbeschreiblicher Jubel brandete auf.
Ich wartete, bis es nicht mehr gar so laut in der Wabe war, dass man fast befürchten musste, der Palast müsste im nächsten Augenblick zusammen fallen wie ein Kartenhaus.
»Wir haben einiges miteinander zu besprechen«, sagte ich gedämpft zu Tamor.
Der Alte grinste mich an und deutete auf seine Ohren.
Ich schüttelte den Kopf. Also war Tamor immer noch fast taub. Umso höher musste ich seinen Erfolg bei der Machtübernahme einstufen.
Er hatte genau das Richtige getan. Das konnte ein Mensch nicht lernen. Das musste ihm das Schicksal in die Wiege legen.
Ich dachte an ein Zitat, das ebenfalls aus dem zwanzigsten Jahrhundert so genannter christlicher Zeitrechnung stammte. Der Autor, dessen Namen genauso verloren gegangen war wie all die anderen, hatte die wahrhaft intelligenten Menschen in drei Kategorien eingeteilt: Die einen, das waren die Skrupellosen, die ihre Intelligenz dazu benutzten, um Macht und Besitztum zu erlangen. Tamor war einer von denen. Die zweiten, das waren diejenigen, die den Schwachen und Unwissenden die Augen zu öffnen versuchten, um die Macht der Mächtigen nicht zu groß wachsen zu lassen. Die dritten, das waren diejenigen, die zu den Wissenden, den so genannten Intellektuellen, gehörten. Es waren dieselben, die sich gegenseitig die Gehirne mit all den schönen Dingen aus Kultur und Wissenschaft voll stopften, sich anschließend gegenseitig mit wohlklingenden Titeln verzierten - und die ansonsten in ihrem Elfenbeinturm weitab vom tatsächlichen Geschehen vor sich hin träumten.
Zu welcher Kategorie gehörte ich selbst eigentlich? War ich nicht auch ein Machtstreber, einer der ersteren Sorte? - Nein, ich strebte nur nach Macht, um dafür als Belohnung die Rückkehr in meine ursprüngliche Welt zu erlangen.
Gehörte ich dadurch denn zur zweiten Kategorie?
Nein, sonst hätte ich mich nicht hier und jetzt als Unsterblicher feiern lassen dürfen.
Und gehörte ich zur dritten Kategorie?
Einst!, beantwortete ich diese Frage selbst. So lange ich noch im Paradies verweilte, war ich einer von jenen, die das Richtige wissen, aber entweder gar nichts oder das Falsche tun, in Unkenntnis der Realität.
Dafür hatte ich die Schule des Lebens besuchen müssen.
Schule des Lebens? Seltsam, dieser Begriff erschien plötzlich so fern, so abstrakt, so unpassend. Ich hatte viele Menschenleben auf mein Gewissen geladen. Ich war ein erfolgreicher Mörder. Ich hatte in jedem Kampf bisher gewonnen. Ich galt als unbesiegbar.
Und das bestärkte mich in meinem eigentlich wahnsinnigen Weg nach oben - nach GANZ oben.
Ich war verwirrt und brauchte viel Kraft, um meine Gedanken wieder in meiner Ansicht nach geordnete Bahnen zurück zu lenken.
Ich benutzte meine geschulte Intelligenz und mein gesammeltes Wissen dafür, den nächsten Schritt auf meinem beschwerlichen Weg vorzubereiten.
Nicht zum Wohle der Menschen. Nicht einmal zum Wohle von Norma und Borsch, die ich im Grunde genommen auch nur benutzte. Nur zum Wolle von mir selbst, getrieben von der Hoffnung und einem ihrer Götter: Rückkehr ins Paradies.
So war ich. Und deshalb war ich um keinen Deut besser als ein Parlow oder ein Tamor. Ich war eher schlimmer, weil die Beweggründe der Reichen und Mächtigen zu jeder Zeit die gleichen Beweggründe waren.
Nur dass sie eben nicht wussten, was sie wirklich dabei anstrebten. Ich jedoch kannte das Paradies aus eigener Anschauung.
Das allein machte mich schon erfolgreicher als alle Menschen zuvor, die in dem Wahn gelebt hatten, die Welt zu erobern.
*
Zwischenbemerkung:
––––––––
Es ist vor allem der Glaube an Erfolg, der den Erfolg bewirkt!
Denn der Glaube macht unermüdlich!
––––––––
(Zitat aus dem zwanzigsten Jahrhundert so genannter christlicher Zeitrechnung)
*
Der nächste Schritt
––––––––
Meine Anordnung lautete, jeden fremden Eindringling in den Einflussbereich des Stammes unverzüglich festzunehmen und zu mir zu bringen.
Ich war gemeinsam mit Norma und Borsch in den Palast eingezogen - und natürlich gemeinsam mit Tamor!
Norma war nicht gut auf mich zu sprechen. Ich hatte sie sträflich vernachlässigt, aber mir gingen so viele Dinge im Kopf herum, dass ich einfach keine Zeit für sie hatte.
Vor allem nahm mein Plan mehr und mehr Gestalt an. Ich war mir darüber im Klaren, dass dieser Plan nicht völlig neu war, dass viele vor mir solches schon versucht hatten, in der jahrtausendjährigen Geschichte der Wabenstadt. Aber ich war überzeugt davon, dass meine Aussichten auf durchschlagenden Erfolg wesentlich größer waren als bei all meinen Vorgängern.
Es hatte seinen besonderen Grund, dass ich erlassen hatte, sämtliche Fremdlinge lebend zu mir zu bringen, denn mir ging Eps nicht aus dem Sinn. Vor allem nicht sein Gefährt, denn dieses hatte längst begonnen, in meinem Plan einen festen Platz einzunehmen.
Eps und seine Leute würde es sicherlich nicht begeistern, aber darauf konnte und wollte ich keine Rücksicht nehmen.
Ich unterhielt mich häufig mit Tamor, sofern es dessen neuen Amtsgeschäfte überhaupt zuließen. Bei den Unterhaltungen achtete ich sorgfältig darauf, dass in erster Linie er redete und ich lernte. Tamor durfte nicht auf den Verdacht kommen, dass ich mich in der Stadt nicht auskannte und ich brauchte dringend Informationen für meinen Plan.
Tamor ging in seinen neuen Aufgaben regelrecht auf. Innerhalb von wenigen Tagen wurde sein Bauch schmaler. Es tat ihm gut. Er wirkte elastischer, strahlte vor seinen Leuten mehr Autorität aus.
Und dann gab es wieder so ein Gespräch zwischen uns beiden: »Was hast du vor, Karem?«
Auf diese Frage wartete ich schon lange.
Ich lehnte mich lächelnd zurück und ließ ihn eine Weile zappeln. Dann sagte ich bedächtig: »Warum, Tamor, verlässt ein Unsterblicher das Paradies und begibt sich in den Schmutz dieser Welt?«
Er schlug die Augen nieder. Auf seiner Stirn erschien eine steile Falte.
Er versäumte es nie, auf unsere besondere Verbindung hinzuweisen. Es hatte sich längst herum gesprochen, dass Tamor einer der Mächtigen geworden war und mit einem Unsterblichen einen unverbrüchlichen Pakt geschlossen hatte. Sämtliche Nachbarstämme waren informiert.
Ich hatte Tamor die Gegenfrage gestellt, um mich besser auf ihn einstellen zu können. Ich wollte ihm genau die Antwort präsentieren, die am besten in sein Konzept passte, ohne meine wahren Beweggründe zu verraten.
Das erschien mir ratsam.
Ruckartig hob er den Kopf. Er lächelte sein diplomatisches Lächeln, das nichts darüber verriet, was er in Wirklichkeit dachte.
»Ich kann mir kaum vorstellen, Karem, dass ein Unsterblicher etwas ohne besonderen Grund tut. Oder soll ich reine Abenteuerlust dahinter vermuten?«
»Nur zu, Tamor«, entgegnete ich achselzuckend. »Ich würde liebend gern deine Meinung erfahren. Nimm also kein Blatt vor den Mund. Du weißt, wir sind unter uns und da darfst du offen sein.«
Er nickte. »Ich habe es vor, unsterblicher Karem. Gewiss, ich habe es vor.« Er musterte mich nachdenklich. »Wie alt bist du, Karem?«
»Hat es mit der Beantwortung meiner Frage zu tun?«
»Verzeih, Karem, ich wusste nicht, dass Unsterbliche nicht nach ihrem Alter gefragt werden wollen.«
»Richtig, Tamor.«
Ein spitzbübisches Lächeln, wie mir schien, huschte über sein Gesicht.
»Also gut, Karem: Ich glaube nicht, dass dies nur Zeitvertreib für dich ist. Deshalb fragte ich nach dem Alter, denn ich habe mir vorgestellt, was ich machen würde, wäre ich unsterblich und hätte - nun, sagen wir mal zweitausend Jahre hinter mich gebracht.«
»Wie lange, Tamor, besteht die Stadt?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, sie war im Anfang viel größer. Es heißt, sie bedeckte die ganze Welt, ließ nur die Meere unberührt, all die Flecke mit Bergwildnis und die kalten Pole.«
»Und das Paradies!«, ergänzte ich.
»Ja, das hörte ich ebenfalls.«
»Also sind die Unsterblichen älter als die Stadt. - Was könnte sie an der Stadt interessieren?«
»Es heißt aber auch, Karem, dass alle Erfolgreichen mit der Unsterblichkeit belohnt werden. Damit meint man die Menschen, denen es gelingt, die Herrschaft über die Stadt anzutreten, mit allen Mächtigen unter sich vereint.«
»Du hast meine Frage noch immer nicht beantwortet.«
»Nun, Karem, ich glaube fest daran, dass du gekommen bist, um die Herrschaft über die Welt anzutreten.«
Ich lachte. »Beantwortet das nicht auch deine Frage an mich, was ich vor habe?«
»Gewiss, Karem, deshalb hast du mir ja wohl die Gegenfrage gestellt, nicht wahr?«
»Und was soll mein Motiv sein?«
»Ich kann mir vorstellen, wenn jeder Übermächtige wirklich mit der Unsterblichkeit belohnt wird, dann wird der Platz im Paradies mit der Zeit knapp. Ich weiß zwar nicht, wie es bei euch aussieht, aber ich darf das einmal so salopp formulieren, nicht wahr? Und eines Tages schiebt man einen Riegel davor. Das heißt, wo die Unsterblichen sind, dort gibt es keinen Tod und dort kann auch kein Sterbender für neuen Platz sorgen. - Und du wurdest von den Unsterblichen auserkoren, zu uns zu kommen und den Weg nach oben anzutreten.«
Ein faszinierender Gedanke, zugegeben, aber ich konnte ihn mit einem einzigen Satz zunichte machen: »Und warum habe ich nicht die überlegenen Machtmittel der Unsterblichen für diese Aufgabe eingesetzt?«
Tamor lachte.
Ja, ich war soeben überzeugt gewesen, seine gesamte Theorie mit einem einzigen Satz in Frage gestellt zu haben, aber entweder ich hatte mich überschätzt oder Tamor nahm es mit Humor. Warum sonst lachte er?
»In den letzten Jahrtausenden hat sich die Stadt verändert«, sagte Tamor. »Ich weiß, dass sie auf einen Bruchteil ihrer einstigen Größe geschrumpft ist. Außerdem weiß ich, dass große Teile der Stadt leer stehen, weil dort die Versorgungssysteme zusammengebrochen sind. Zu viele Machtkämpfe, Karem, nicht wahr? In den letzten Jahrzehnten ist noch einmal ein Wandel eingetreten. Es gibt einen Austausch an Informationen zwischen den Stämmen. Ich glaube nicht, dass es oft einen Stamm wie unseren gegeben hat, der für andere Stämme Kämpfer ausbildet. Jeder Stamm war doch bemüht gewesen, eine eigene Kampfkraft zu fördern und nicht für eine größere Kampfkraft des Nachbarn zu sorgen.«
Eine Frage, die mich schon oft beschäftigt hatte. Jetzt wurde sie endlich angesprochen.
Tamor fuhr fort: »Der Informationsaustausch funktioniert zwischen befreundeten Stämmen. Es gibt trotzdem immer wieder Anspruchskriege. Das lässt sich nicht vermeiden. Sobald ein Stamm zu groß und die Ernährung problematisch wird. An Platz mangelt es kaum innerhalb der Stadt. Zentralpunkt ist die Ernährungsfrage. Es gibt nun mal nur noch wenige Biofarmen, die intakt sind. Zu viele mussten aufgegeben werden. Man hat einfach nicht mehr die Kenntnisse, um eine sterbende Farm zu retten. In den letzten Jahrtausenden war man zu sehr bemüht, sich gegenseitig den Schädel einzuschlagen. Dabei wurde die Lebensgrundlage von vielen Milliarden Menschen zerstört.
Und heute stehen wir auf dem Höhepunkt der Entwicklung.
Die Stadt galt als fast unzerstörbar und sollte die Zeiten überdauern. Doch die Jahrtausende sind keineswegs spurlos an ihr vorüber geflossen.
Weißt du eigentlich, Karem, dass die meisten Kämpfer, die von uns ausgebildet werden, dazu benutzt werden, die lebenswichtigen Versorgungssysteme zu überwachen? Früher wäre das gar nicht möglich gewesen, weil es viel mehr dieser Systeme gegeben hat. Sie waren weit verzweigt und unüberschaubar. Aber dann hat die Unsitte um sich gegriffen, die plündernden, raubenden und mordenden Banden damit auszurotten, indem man die Versorgungssysteme drastisch reduziert.
Welch ein Frevel, denn jede Art von Zentralisierung macht das System nur anfälliger. Heute muss es überwacht werden.«
Er zuckte die Achseln. »Es ist dies auch möglich - eben wegen der Überschaubarkeit. So hat jedes Negative auch ein Positives, Karem. Und unser Stamm lebt ganz gut von dieser Einrichtung. Als wir damit begonnen hatten, waren wir ebenfalls nur eine Raubbande. Heute zählt unser Stamm rund fünfhundert Mitglieder. Es werden sämtlich erwachsenen Mitglieder dazu gebraucht, Kämpfer auszubilden. Die Frauen tun es mit den Kindern, die Männer nehmen sich der Heranwachsenden an.«
Er beugte sich vor. »Und zusätzlich gibt es in unserem Stamm immer etwa fünfhundert Männer, die von außerhalb kommen, als Heranwachsende oder schon als Kinder bei uns mit der Ausbildung begonnen haben und später wieder an ihren Heimatstamm abgegeben werden. Die Bewacher der Versorgungssysteme. Als du dann in unseren Bereich eingedrungen bist, warst du trotzdem sehr erfolgreich. Dafür bist du schließlich der Unsterbliche.
Um deinen Weg zur höchsten Macht weiter zu gehen, konntest du keinen besseren Startpunkt finden.«
So weit war ich auch schon gewesen. Aber ich hörte weiter zu. Wie immer vertrat Tamor sehr interessante Ansichten. Ich sah immer wieder meine Meinung bestätigt, dass Tamor ein würdiger Führer dieses kriegerischen Stammes war.
Ich verdankte ihm vieles, was mir Eps niemals hätte beibringen können.
Eps stammte aus einem zentraleren Bereich der Stadt. Das war sicher. Er war allerdings schon einige Jahre aus der Stadt heraus. Außerdem wusste er nichts von diesem Stamm, der Kämpfer ausbildete, denn Eps und seine Leute führten ihre Beutezüge ungern an gleicher Stelle durch. Sie wählten immer andere Angriffspunkte. Damit man sich niemals auf sie optimal einstellen konnte.
Ich wusste selbst, dass Tamor in einem nicht recht hatte: Dass die Mächtigsten dieser Welt zu Unsterblichen gemacht wurden. Ich hatte inzwischen darüber eine andere Theorie: Die Mächtigsten wurden stattdessen von den Unsterblichen abgeholt und umgebracht, ehe sie zu einer Gefahr wurden, denn im Paradies kümmerte sich wohl kaum jemand darum, was hier geschah, es sei denn, jemand wurde zu mächtig.
Noch war es technisch unmöglich, den Energieschirm zu knacken. Was aber, wenn sich ein paar Genies zusammen taten und die Menschheit nach jahrtausendelanger Stagnation und sogar erheblichem Rückgang einen neuen Aufschwung erlebte?
Ich vertrieb die Gedanken daran wieder. Wenn die Unsterblichen die Besten immer umbrachten, dann war das eine reine Vorsichtsmaßnahme, denn einen echten Aufschwung in Richtung Fortschritt konnte es in dieser Stadt nicht geben.
Nahm ich an! Obwohl die Worte Tamors andeuteten, dass diese neue Entwicklung sich bereits abzeichnete. Hatte er nicht gesagt, dass die Bevölkerung der Stadt auf ein Minimum zusammengeschrumpft war?
Irgendwann würde sich der Rest fangen und dann würde sich die Menschheit erneut ausbreiten dürfen, die Versorgungssysteme neu geschaffen werden. Die Menschheit würde neue Aufgaben haben und sich wie Ameisen über die Stadt ausbreiten, bis die Grenzen des Wachstums wieder einmal erreicht waren.
Denn diese Grenzen waren stets die Grenzen des BEVÖLKERUMGSWACHSTUMS, weil jedes andere Wachstum eine direkte Folge davon war.
Niemals wäre jemand auf die Idee gekommen, eine Zentralheizung zu ersinnen, wäre es nicht nötig gewesen. Und es wäre niemals nötig gewesen, hätte der Mensch seine Zahl begrenzt gehalten und wäre in den wärmeren Regionen der Erde geblieben.
Ein winziges Beispiel von vielen, das auch die Unsinnigkeit der Ansicht zeigte, der Mensch habe die Eiszeit gebraucht, um den Gebrauch des Feuers zu erlernen. Es war völlig anders: Die Eiszeit hatte möglicherweise relativ hoch entwickelte, natürlich nichttechnische Zivilisationen auf der Erde vernichtet, die das Feuer vorher schon benutzt hatten. Es war nämlich schon lange vorher wichtig geworden, weil man damit zum Beispiel Fleisch als wichtiges Grundnahrungsmittel erfolgreich bearbeiten konnte. Damit war man nicht mehr direkt auf jagdfrisches Fleisch angewiesen.
Es gab noch viel mehr Gründe. Aller Fortschritt, den der Mensch jemals gemacht hat, selbst die Tatsache, dass er Intelligenz entwickelte, parallel mit Fingerfertigkeit, wurzelte in einer einzigen Tatsache: Der Mensch hatte einen unbändigen Fortpflanzungstrieb. Selbst zu absoluten Notzeiten, wenn es wahnsinnig anmutete, auch noch Kinder zu zeugen, wo die Erwachsenen schon verhungerten, wurden Geburtenraten in Rekordhöhe verbucht. Es war wie ein Naturgesetz - das den Menschen zu allem zwang, was er im Verlauf seiner Entwicklungsgeschichte leistete.
Und letztlich war auch sein Erfindungsgeist in Sachen Vernichtungswaffen eine Folge seiner ungeheuren Vermehrung.
Ich wusste, dass nur unter einem so übermächtigen instinktiven Zwang Intelligenz überhaupt entstehen konnte - falls das betreffende Lebewesen auch rein anatomisch dazu in der Lage war, die nötige Gehirnmasse zu entwickeln.
Insekten, die die Vermehrungsfreudigkeit des Menschen natürlich in astronomischer Höhe übertrafen, waren einfach zu klein.
Ebenfalls ein Beispiel, an das ich im Moment denken musste.
Tamor beobachtete mich dabei.
Ich sagte: »Und warum glaubst du, dass ich diesen Startpunkt gewählt habe und nicht kurzerhand die Macht an mich riss - einfach so?«
»Ich verstehe, Karem, du willst mich prüfen. Also gut: Ihr Unsterblichen seid nicht am Puls der Zeit. Ihr seid in eurem Paradies abgeschieden, ihr nehmt am tatsächlichen Geschehen nicht mehr teil.«
Wie die Intellektuellen aus dem Zitat!, dachte ich unwillkürlich. Laut sagte ich: »Ja, es stimmt: Einer von uns musste herab steigen zum Volk. - Wie ein Gott vom griechischen Olymp?«
Er verstand es nicht. Wie hätte er auch etwas über die alten Griechen wissen können?
Nun, dafür wusste er viel über die Stadt und hatte mir eigentlich sogar neue Perspektiven eröffnet.
»Du hast recht, Tamor«, sagte ich stirnrunzelnd, »es war nötig, die Stadt in ihrer Grundstruktur zu erkennen. Wir ahnten, dass unser theoretisches Grundmodell nicht mehr passte. Es war veraltet, überholt. Wir wissen natürlich, dass sich die Strukturen in der Stadt rasch ändern. Sie sind praktisch unberechenbar. Aber durch dich habe ich viel erfahren, was uns neu ist. Es beweist, dass meine Mission große Bedeutung hat.«
»Und was wird - dann, wenn du die Macht hast, Karem?«
Verwirrt schaute ich ihn an. Hatte er mich durchschaut.
Mir wurde heiß und kalt zugleich, denn ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war einfach auf diese Frage nicht vorbereitet gewesen: Dumm von mir! Und... gefährlich!
*
Ich schloss die Augen und lehnte mich zurück.
Auf die Frage von Tamor war ich nicht vorbereitet. Eigentlich dumm von mir.
Ich musste etwas erfinden: »Es ist das Wesen jeder Macht, dass sie einem Zweck dient.«
Ich öffnete die Augen wieder und schaute ihn an. »Verstehst du, Tamor? Die Macht dient nicht dem Mächtigen, denn er ist nur ihr Verwalter. Die Macht dient einem Zweck. Das ist die Dreierdominante: Die Macht wird erzeugt vom Zusammenschluss der Untertanen, die ihre gemeinsame Stärke in die Hände des Mächtigen legen, damit dieser dafür sorgt, die Macht dem einzig sinnvollen Zweck dienen zu lassen: Nämlich die Untertanen zusammenzuhalten! So speist sich jede gesunde Macht aus sich selbst heraus. Störungen müssen vom Verwalter der Macht rechtzeitig erkannt werden. Es ist keine Gewalt nötig, um Störungen zu beseitigen, sondern es genügt Überzeugungskraft, um Störungen erst gar nicht wirksam werden zu lassen.«
Tamor sah mich überrascht an. »Dann willst du tatsächlich die Welt einigen, Karem?«
Ich war selber überrascht, denn Tamor hatte vollkommen recht: Ich hatte ein Zitat aus dem zwanzigsten Jahrhundert abgewandelt und es damit tatsächlich geschafft, ein logisches Motiv für meine Vorgehensweise heute zu finden.
Ich als der Mächtigste der Mächtigen, an der Spitze der Welt. Aber nicht als ihr Beherrscher, sondern als ihr oberster Diener.
Der demokratische Grundsatz, der weit über das zwanzigste Jahrhundert zurück bis tief in die Vergangenheit der Menschheit seine Gültigkeit bewahrte - und somit auch heute noch hatte.
Auch in jener Zeit bewährte sich der Grundsatz (wenn auch nicht auf den ersten Blick erkennbar), da man Könige hinrichtete, wenn es dem Volk schlechter ging. Auch wenn diese Könige keine persönliche Schuld hatten. Sie mussten oftmals sogar für Seuchen und Naturkatastrophen herhalten, weil man annahm, die Götter hätten damit deutlich gemacht, dass sie einen anderen an der Spitze des Volkes wünschten.
Eine Zeit, in der das Machtstreben gewiss weniger ausgeprägt war als beispielsweise im zwanzigsten Jahrhundert.
Ich winkte mit beiden Händen ab.
»Zu früh, Tamor! Wir sind noch nicht so weit. Längst nicht!«
»Wir?«, rief er aus.
Ich betrachtete ihn stirnrunzelnd. »Allein ist der Mächtige ein Nichts, Tamor. Du bist Stammesführer, weil der Stamm dir dient, nicht weil du Tamor, der Erfolgreiche, der Listige bist. Damit hast du höchstens Konkurrenz verhindert, aber deine Fähigkeiten allein sind nichts ohne den Stamm. Ein König ohne Königreich ist eine Witzfigur, aber kein König.«
Er schüttelte den Kopf. »Dann willst du nicht der Mächtigste der Mächtigen sein, sondern willst die Mächtigen... einigen?«
»Sind die Weichen nicht bereits dafür gestellt? Glaubst du, Tamor, es ist ein Zufall, dass ich gerade in dieser Zeit herabgestiegen bin?« Das war natürlich gewagt, so etwas zu behaupten. »Wir sind weit weg vom Geschehen, zugegeben. Wir betrachten auch die Vorgänge in der Stadt eher von außen als in ihrer Grundstruktur. Wir haben einfach den Kontakt zur Basis verloren und wurden ins Abseits gedrängt. Ich glaube, die Unsterblichen haben deshalb nichts dagegen unternommen, Tamor, weil sie kein Interesse hatten. Sie begnügten sich damit, mögliche Gefahren für sich selbst zu orten und rechtzeitig zu unterbinden.«
»Unterbinden?«
»Jede Machtkonzentration in der Stadt, die das Paradies gefährden könnte, wurde bisher von den Unsterblichen zerschlagen, Tamor. Und sei es auch, indem man den Machthaber entfernte und das labile Gefüge von Herrschen und beherrscht werden sich selbst überließ. In der Regel hat es genügt. Es gab genügend Machthungrige, die wieder mit ihrem unerbittlicher Konkurrenzkampf begannen und für eine allgemeine Aufsplitterung in einzelne Stämme sorgte.«
»Dann - dann wurden diese Menschen nicht wirklich zu Unsterblichen gemacht?«, stieß Tamor hervor. »Dann wurden sie nur als Gefahrenquelle entfernt?«
Ich lächelte verzerrt. Verdammt, ich hatte mich verraten. Aber es war gleichgültig. Tamor war auf dem besten Weg, mein erster Vertrauter in Sachen Politik zu werden. Tamor war ein starker Gegner - falls man ihn als Gegner hatte. Aber er war gewiss auch ein ausgezeichneter Verbündeter, wenn man ihn sich nicht zum Feind machte.
Es war wichtig, dass ich mit offenen Karten spielte. Damit bewies ich Vertrauen ihm gegenüber und konnte ihn besser an mich binden.
»Ja, Tamor, es tut mir leid, dir das sagen zu müssen. Denn wäre es nicht so, hätte nicht ich zu kommen brauchen, um den Weg zur größten Macht zu beschreiten. Man hätte einfach warten können, bis ein Mensch aus eurer Mitte diesen Weg schafft. Und dann hätte man ihn unterstützen können.«
»Ihr traut keinem, nicht wahr, Karem? Ihr vertraut nur auf euch selber.«
»Wir sind eintausend Unsterbliche, Tamor, aber nur ein Teil davon - ein vergleichsweise winziger Teil! - interessiert sich für die Geschicke der Menschheit. Wir haben viel zu lange Zurückhaltung geübt und haben sogar mehr zerstört als genutzt. Es sind die Götter der Hoffnung, die von jeher die Menschheit regiert haben und es liegt nunmehr an uns, diesen Göttern die richtigen Namen zu geben, um die Menschheit in eine neue Zukunft zu führen.«
Tamor nickte begeistert: »Eine bessere Zukunft!«
Ich konnte seinen Enthusiasmus nicht teilen, denn mir wurde bewusst, dass ich Dinge gesagt hatte, die mir selber zuvor verborgen gewesen waren.
Ich hatte ein mögliches Motiv der Unsterblichen skizziert, mich in die Schule des Lebens zu schicken.
Denn es gab keinerlei Zweifel mehr daran, dass die Flucht aus dem Paradies beabsichtigt gewesen war. Ich ging sogar so weit zu behaupten, dass sogar der Absturz des Gleiters genau kalkuliert war.
Dabei hatte man auf meine Fähigkeiten vertraut. Hätte man sich darin geirrt, wäre ich nicht mehr am Leben.
Ich war der Beauftragte der Unsterblichen und man hatte mir jegliche Antworten betreffend die Umgebung des Paradieses versagt, weil man damit zwei Ziele verfolgt hatte: Erstens sollte mein Wunsch zur Flucht forciert werden und zweitens war es wichtig, mich vollkommen unvoreingenommen zu erhalten.
Ich sollte jedwedes Wissen über die Stadt und ihre Bewohner vor Ort erwerben.
Der Fehler der Intellektuellen des zwanzigsten Jahrhunderts: Es war ihnen gelungen, soviel Wissen anzuhäufen, dass sie sich vollkommen auf das Gesammelte konzentrieren mussten. Dabei merkten sie nicht, dass die Welt längst anderen Gesetzen folgte. Die aufgezeichneten Gesetzesmäßigkeiten, mit denen sich die Intellektuellen beschäftigten, waren starr und leblos.
So studierte ein Soziologe zwar genauestens soziologische Strukturen, erkannte durchaus, was dem ›Wohle des Menschen‹ dienlich und was undienlich war, aber diese theoretischen Erkenntnisse waren losgelöst vom Menschen selbst, von all seinen unlogischen, unvernünftigen, in Urzeiten vorprogrammierten Scheinbedürfnissen und Wunschträumen.
So hatte sich der Soziologe weit von der Realität entfernt und hatte nur sein reduziertes Schemabild. Und indem er sich selbst als wahrhaft wissend einstufte und sein Schema über den Menschen an sich warf, um an ihm (anstatt am Schema selbst) zu korrigieren, wo es nicht passte, tat er für das Volk Unverständliches. Obwohl er eigentlich etwas Gutes tun wollte, stufte man ihn als Störenfried ein.
Das steigerte seinen Zorn über die vermeintliche Undankbarkeit. Auswirkungen dieses Zorns waren zum Beispiel Terrorgruppen und Terrorismus, weil der Soziologe zum Rädelsführer wurde und als solcher glaubte, in den Machtstrukturen allein und ihrer erzieherischen Wirkung auf das Volk wäre der Grund für die Ablehnung ihm gegenüber begründet. Er baute ein Feindbild auf und zerstörte, nicht wissend, dass er damit erst recht jegliche Verbindung mit dem lebendigen Menschen kappte. Er wurde zum gebrandmarkten ›Superaußenseiter‹, zum gefährlichen Wahnsinnigen gebrandmarkt, den es zu vernichten galt.
Und nur seine Anhänger waren seiner Meinung...
Mir schwindelte, als mir das alles durch den Kopf ging. Das Beispiel des Soziologen, der zum Terroristen wird, weil er sich zwar unverstanden, aber vollkommen im Recht fühlt, machte deutlich genug, warum die Unsterblichen mich in allem präparierten, nur nicht in dem, was ihrer Meinung nach in der Stadt wirklich geschah.
Unvoreingenommenheit ist das Prinzip jeder erfolgreichen Wissenschaft. Aber wie kann ein Wissenschaftler unvoreingenommen sein, wenn er sein gesamtes Studium den im Netz der puren Logik gefangenen Vorurteilen widmete? Wenn er eben alles, was er durch die Brille der Schulweisheit betrachtete, eben in erster Linie nach vorher erlerntem Schema einordnet?
Es war erregend. Ich befand mich in einem Zustand, in dem ich mir einbildete, die Lösung aller Probleme praktisch in den Händen zu haben.
Der Student nicht als programmierter Theoretiker, sondern beginnend in der Praxis - mit dem bereits vorhandenen Wissen lediglich als möglicher Berater, niemals als alleingültigem Schema.
Allein so wäre es möglich, Soziologie mit praktischer Politik so zu verknüpfen, dass wirklich etwas Praktikables entstehen würde.
Niemals starre Modelle, weil es zu wenige Konstanten gibt, an denen man ein Modell orientieren kann. Weder in der Soziologie, noch in irgendeinem anderen Bereich.
Also stets OFFENE MODELLE, empfindsam genug, sich Änderungen anzupassen.
So gesehen, würde sich zwar mein Weg zur Macht kaum von den Wegen anderer in der Geschichte unterscheiden, aber die Ausübung dieser Macht würde erheblich anders sein.
Es durfte niemals passieren, dass ich als Mächtiger an der Spitze isoliert wurde. Das bedeutete, ich durfte den Kontakt zur sich ständig wandelnden Basis nicht verlieren. Ich musste jede Veränderung der Strukturen vorausahnen, musste frühzeitig darauf reagieren.
Und - wie machte man das?
Es brachte mich in die ernste Wirklichkeit zurück.
Ja, wie machte man das?
Ich dachte an die Götter der Hoffnung. Eine Welt ließ sich nur regieren, wenn die Mehrheit der Beherrschten die Herrschaft nicht als solche empfand. Das heißt, wenn sie das Gefühl hatten, alles dies diente gemeinsamen Zielen.
Wie der listige Tamor, der zur Zeit glaubte, mein Machtstreben würde ihn persönlich enorm fördern.
Er sollte ruhig in diesem Glauben bleiben, denn das war einer der Götter der Hoffnung.
Er wollte mit im Licht stehen, das auf den Herrn der Welt strahlte.
»Wie werden wir vorgehen, Karem, Unsterblicher?«
––––––––
Ende dieses Bandes