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Weihnachten ist endgültig vorbei. Der Januar entfaltet sich flach und grau, befrachtet mit Ungewissheit. Matthew und ich sehen uns zurzeit nicht. Er lässt mir Abstand und Platz, damit ich mein Leben sortieren kann. Beim letzten Mal hat er meine Hände gehalten und mir gesagt, er werde meine Entscheidung respektieren und keinen Kontakt zu mir aufnehmen, sondern warten, und wenn keine Nachricht von mir käme, werde er das als meine Antwort nehmen.
Tom ist nach Hause gekommen. Als ich die Tür öffnete und ihn sah, war ich überrascht von der Woge der Zuneigung, die mich trotz allem überkam. Er umarmte mich, und für einen Augenblick kam ich ins Wanken. Er war so lange mein Leben, dass es schwer vorstellbar ist, ihn für immer auszuschließen. Dann sagte ich es ihm und sah die Ungläubigkeit, die sich in seinem Gesicht ausbreitete, die Zweifel daran, dass irgendjemand außer ihm etwas von mir wollen könnte, und da hasste ich ihn dann doch.
Zuerst glaubte er mir nicht. Er hatte angenommen, ich würde warten, er bräuchte es mir nur zu erklären und um Verzeihung zu bitten, und alles wäre wieder gut und wir könnten dahin zurückkehren, wo wir waren – er am Steuer, ich in dankbarer Unterwürfigkeit. Er hat mir erklärt, es sei töricht, sinnlos, nicht mehr als eine flüchtige Verblendung, geboren aus dem Unglück – auf meiner Seite natürlich – , was da einen Keil zwischen uns getrieben habe. Die angedeutete Schuldzuweisung entging mir nicht, und sie war alles andere als hilfreich. Ihm sei wieder klar geworden, dass ich diejenige bin, die er liebt – hurra! – , und dass ich es immer war, und jetzt könnten wir das alles hinter uns lassen und von vorn anfangen.
Nein, Tom. Ich will dich nicht mehr.
Ich weiß, ich tue ihm weh, aber ich muss mir selbst treu sein. Ich habe lange und angestrengt nachgedacht, und mein Entschluss steht fest. Wenn wir ein Kind hätten, sähe es vielleicht anders aus, weil wir ihm einen Versuch schuldig wären, aber wir haben nichts als seinen Verrat und seine Rechthaberei, und ich brauche mehr als das.
Zu allem Überfluss nahm er auch noch Anstoß an meinem Hund.
»Wirklich, Izzy?«, sagte er. »War das vernünftig, nachdem wir gerade alles renoviert haben?«
Nein, Tom, wahrscheinlich nicht, aber das hast du nicht mehr zu entscheiden.
Ich wünsche ihm nicht, dass er unglücklich ist. Ich hoffe, er findet die richtige Frau zum Lieben, und ich hoffe, sie wird seine Liebe erwidern. Er muss nur begreifen, dass ich nicht diese Frau bin. Nicht mehr.
Wir geben uns Mühe, gesittet miteinander umzugehen, während wir versuchen, alles zu klären. Wir wohnen im selben Haus, aber wir leben nicht mehr zusammen. Ich habe mich ins Gästezimmer mit seinen Erinnerungen an Matthew verzogen, und Tom schläft im Ehebett – oder sollte ich sagen, im ehemaligen Ehebett? Wir bleiben höflich und zivilisiert. Das ist nicht immer leicht. Ich ertappe ihn dabei, dass er mich, wenn er sich unbeobachtet glaubt, mit einem Gesichtsausdruck beobachtet, den ich noch nie bei ihm gesehen habe. Als wäre ich eine Fremde für ihn. Vielleicht war ich das auch immer.
Wenn wir es schaffen, warten wir mit dem Verkauf des Hauses bis zum Frühjahr. Tom, stets der vollendete Geschäftsmann, will die Remise mit einem kleinen Grundstück abtrennen und separat verkaufen, »um unsere Investitionen so gewinnbringend wie möglich wieder einzufahren«. Er spricht kühl und professionell mit Planern und den lokalen Behörden, um den Ball ins Rollen zu bringen. Manchmal habe ich den Verdacht, er glaubt, er könnte mich auf diese Weise dazu zwingen, Farbe zu bekennen.
Ich habe keine Ahnung, was ich tun werde. Wenn ich versuche, an die Zukunft zu denken, sehe ich nur eine kahle schwarze Wand, die fast so aussieht wie meine Erinnerungen an die Vergangenheit. Schwarz hinter mir, Schwarz vor mir, und ich gefangen im Limbus. Vorläufig bleibt mir nichts anderes übrig, als die Dinge Tag für Tag in Angriff zu nehmen und abzuwarten, wie das Schicksal sich entfaltet.
Ich weiß nicht, was mit Tom und Madeline geschehen ist. Ob er eine Offenbarung gehabt hat – was ja zur Jahreszeit passen würde – oder ob sie genug von ihm hatte, wie Joe es vorausgesagt hat. Ich habe nicht gefragt, und er hat es nicht gesagt, und um ehrlich zu sein, ist es mir auch egal. Eines Tages werde ich mich vielleicht fragen, aber nicht jetzt.
Einstweilen sieht es aus, als hätten wir den Kreis vollendet: Ich bin hier, Tom arbeitet lange, und das Haus zieht sich um mich herum zusammen. Ich hasse den Januar, selbst unter den günstigsten Bedingungen, aber jetzt drohe ich in seiner Tristesse zu versinken wie in einem Sumpf. Ich habe im Moment keine Projekte, und meine einzige Ablenkung ist mein Malkurs. Tom hat seine Arbeit, die ihn beschäftigt, und seine Pläne für die Trennung und den Verkauf unseres Zuhauses – perverserweise beginne ich jetzt, da es fast verloren ist, es als solches zu sehen – , aber ich habe nichts außer Matthew, und sosehr ich mich nach ihm sehne, ich kann ihn noch nicht bekommen. Ich muss mich konzentrieren. Ich muss dieses Kapitel meines Lebens abschließen, und selbst wenn es mich umbringt, werde ich die Geheimnisse dieses Hauses ans Licht befördern, bevor der Makler sein Schild draußen aufstellt. Der Gedanke, mit neuen unbeantworteten Fragen und einem weiteren Geheimnis in meinem Leben von hier wegzugehen, ist unerträglich.
Zu Mr Connor kann ich nicht noch einmal zurückgehen, selbst wenn ich wollte. Fairview hat Gemma irgendwann von meinem Besuch in Kenntnis gesetzt, und sie hat mich mit zornbebender Stimme angerufen. Die schmutzigen Details will ich uns ersparen; es muss genügen, wenn ich sage, dass an den Konsequenzen kein Zweifel besteht, sollte ich noch einmal dort aufkreuzen. Stattdessen versuche ich es noch einmal mit der Telefonnummer. Wenn sie nirgends hinführt, dann ist das so – aber versuchen muss ich es zumindest.
Ich wähle die 141, um meine Nummer zu unterdrücken. Ich will nicht, dass mich jemand zurückruft. Dann gebe ich mit Bedacht die Rufnummer ein und warte. Ich höre den Klingelton in dem fernen Haus, aber niemand nimmt ab. Mit einer Mischung von Enttäuschung und Erleichterung will ich auflegen, als ich doch noch eine Männerstimme höre. Die Ansage eines Anrufbeantworters.
»Sie sind mit den Graingers verbunden. Im Moment kann niemand ans Telefon kommen, also hinterlassen Sie uns bitte eine Nachricht.«
Ich lege auf und habe Herzklopfen vor Aufregung. Die Götter waren mir hold, und ich habe einen Namen, ohne mit jemandem sprechen zu müssen. Ich erinnere mich an die Kratzer und Furchen an der Wand und an das Zeichen, das aussah wie ein C oder ein G. G für Grainger, vielleicht? Mich schaudert, und ich setze mich atemlos aufs Bett.
Ich weiß, es ist ziemlich weit hergeholt, aber ich schalte doch den PC ein und gebe bei Google »Grainger« ein. Das allein wird nicht genügen, also schreibe ich noch den Namen des Dorfes dazu. Ich bekomme eine Liste von Treffern, aber nichts davon weckt mein Interesse. Ich durchkämme Gemeinderatsinformationen, Dorfnachrichten und viele, viele Graingers, die da draußen auf Facebook und LinkedIn unterwegs sind und alle vertrauensvoll ihre innersten Geheimnisse in den Äther hinaustwittern. Ich habe immer zu viel Angst vor den sozialen Medien gehabt und befürchtet, da draußen könnte jemand sein, der mich beobachtet.
Ich versuche es noch einmal, diesmal unter dem Namen eines anderen Dorfs in der Nähe, Marston. Wieder finde ich nichts außer ein paar beliebigen Graingers und Informationen über Marston und seine historischen Tongruben. Bei einem Treffer zögere ich; er betrifft eine Stadt dieses Namens in Missouri mit einem Arzt namens J. Grainger. Ich versuche es stattdessen mit dem Namen der Stadt, aber da ist immer noch nichts.
Allmählich tun mir Augen und Nacken weh, und ich weiß nicht, was ich noch ausprobieren soll. Als letztes Mittel – und dabei komme ich mir ziemlich verschlagen und töricht vor, obwohl ich hier in der Privatsphäre meines eigenen Hauses bin – gebe ich »vermisste Personen« ein. Das habe ich die ganze Zeit tun wollen, aber aus irgendeinem Grund habe ich es nicht gewagt. Das Vermisstendezernat UK erscheint, und ich klicke die Suchmaske für ungeklärte Fälle an, aber da bin ich falsch, da geht es um unidentifizierte Leichen, auf die niemand Anspruch erhebt. Ich schließe das Suchfeld hastig wieder und verschließe die Augen vor den körnigen Fotos dieser armen verlorenen Seelen.
Ich versuche es mit »vermisste Person UK Grainger«, und wenn dabei nichts herauskommt, muss ich noch mal nachdenken. Ich tippe es ein, eher hoffnungs- als erwartungsvoll, und arbeite gewissenhaft alle Treffer durch. Und dann ist es plötzlich da, in einem alten Zeitungsarchiv. Mir bleibt fast das Herz stehen. Rachel Grainger, siebzehn, verschwand aus der Stadt, in der ich jede Woche meinen Malkurs halte. Rachel Grainger, verschwunden im Spätfrühling des Jahres 2004. Was ihr zugestoßen ist oder ob sie je gefunden wurde, steht da nicht.
Mein Mund wird trocken, und mir ist schlecht bei dem Gedanken, dass Rachel Grainger ihre letzten Tage vielleicht eingesperrt in der kleinen Kammer verbracht haben könnte – dort, wo jetzt mein Atelierbüro ist. Unwillkürlich kommt mir ein Traum in den Sinn, den ich einmal hatte und in dem ein Mädchen mit goldenen Haaren im Obstgarten mir etwas in die Hand drücken will. Ich erinnere mich an die verzweifelte Beharrlichkeit in ihrem Blick. Gänsehaut kriecht meine Arme herauf, und ich fühle, wie meine Kopfhaut sich kribbelnd zusammenzieht. Ich atme tief durch. Deine Fantasie geht mit dir durch, ermahne ich mich. Du musst mehr herausfinden.
In der Bibliothek ist es warm und still, und die Luft ist erfüllt vom unverwechselbaren Duft der Bücher. Ich fühle mich an die Bibliothek von Thorpwood House erinnert, auch wenn hier die Holztäfelungen und das Gefühl von Geschichte fehlen. Es herrscht die gleiche gedämpfte Stille, nur gelegentlich von unterdrücktem Husten oder einem gemurmelten »Verzeihung« durchbrochen. Ich gehe zum Empfang und erkläre der Bibliothekarin, dass ich die Lokalzeitungen vom Frühling und Sommer des Jahres 2004 sehen möchte. Daraufhin zieht sie fragend die Brauen hoch und teilt mir mit, dass solche alten Jahrgänge wahrscheinlich auf Fiche gespeichert sind. Ich sehe sie verwirrt an, und sie erklärt es mir.
»Microfiche. Film. Mit der Digitalisierung haben wir erst circa 2005 angefangen.«
Mein Blick ist immer noch verständnislos, und sie lächelt.
»Kommen Sie. Da lernen Sie noch was. Wir haben früher alles so archiviert.« Sie führt mich in einen Nebenraum abseits des Hauptlesesaals.
In dem kühlen, klimatisierten Raum stehen eine Reihe Aktenschränke und zwei antiquiert aussehende Maschinen mit Bildschirmen und einigen Knöpfen und Schubladen. Sie erklärt mir, wie ich die Zeitungen finde, die ich vielleicht suche, und wie ich die Mikrofilmkarten in die Schubladen lege und zum Lesen in das Gerät schiebe. Ich soll nur rufen, wenn ich etwas brauche – vielleicht nicht der allerbeste Rat in einer Bibliothek – , und dann lässt sie mich allein, damit ich die Zeitungen des Jahrgangs 2004 Ausgabe für Ausgabe durcharbeiten kann.
Um Zeit zu sparen, nehme ich mir den lokalen Herald als das wahrscheinlichste Blatt vor. Er scheint die älteste Zeitung mit der höchsten Auflage zu sein. Ich beschließe, Ende September anzufangen und rückwärts zu arbeiten. Es ist ein mühsames Verfahren, und bald brennen meine Augen von dem ständigen Rein- und Raus-Zoomen und dem Überfliegen jeder Seite, Spalte für Spalte.
Nach fast zwei Stunden finde ich, was ich suche: einen Artikel auf der zweiten Seite, Ende August, mit einem Update zum Verschwinden eines Mädchens aus der Gegend. Eine Rachel Grainger, die von ihrer Arbeit im örtlichen Tierheim, wo sie während der Sommerferien aushalf, nicht nach Hause kam. Anscheinend hatte man bei den ausgedehnten polizeilichen Ermittlungen und einem anfänglich vorhandenen Tatverdächtigen keine weiteren Fortschritte gemacht, weder in der Frage, was Rachel zugestoßen war, noch, wo sie sich zum betreffenden Zeitpunkt aufhielt.
Ich arbeite mich weiter zurück, und zwei Wochen davor finde ich den Aufmacher auf der Titelseite, in dem detailliert über ihr Verschwinden berichtet wird. Rachel Grainger, wohnhaft in der Elvesham Road, siebzehn Jahre alt, lächelt mich aus einem körnigen Foto an. Sie hat blondes Haar und ein hübsches, lebhaftes Gesicht, und ich bin froh, dass sie mich nicht an das Mädchen in meinem Traum erinnert. Das wäre einfach zu schräg. Ich überfliege den Artikel und erfahre, dass ein Mann aus der Gegend, ein Liam Smith, festgenommen und befragt, später aber wieder freigelassen wurde und dass Rachels Familie davon überzeugt ist, dass ihr etwas zugestoßen ist. Der Artikel beschreibt ein fröhliches Mädchen aus einer liebevollen Familie, das Gegenteil von einer typischen Ausreißerin.
Meine feuchten Hände hinterlassen kleine Schweißperlen, die auf den Knöpfen des Lesegeräts angstvoll zittern, obwohl es im Raum kühl ist.
Ich kehre zurück in den September und suche jetzt sorgfältiger. Auf Seite sechs finde ich ein kurzes Update, das die immer noch Interessierten davon in Kenntnis setzt, dass man bei der Suche nach Rachels Aufenthaltsort nicht weiter vorangekommen ist. Familie und Polizei befürchten das Schlimmste, genau wie ich.
In den folgenden Ausgaben finden sich immer weniger Updates, und schließlich verschwindet Rachel aus dem Fokus der Öffentlichkeit.
Jetzt, da ich weiß, was ich suche, wende ich mich den digitalen Aufzeichnungen zu, und abgesehen von einer gelegentlichen Erwähnung im Zusammenhang mit anderen Fällen und den alljährlichen Aufrufen der Familie findet sich nichts über eine Leiche oder über Rachels wohlbehaltene Heimkehr. Von den Aufrufen abgesehen, die von der Verzweiflung ihrer Familie triefen, schwindet der Platz, den Rachel in der Hackordnung der Nachrichten bekommt, im Laufe der Jahre immer weiter, bis sie kurz vor dem Sportteil zwischen den Ankündigungen lokaler Festlichkeiten und den Fußnoten landet. Ich sehe, wie sie aus den Gedanken der Leute verschwindet – mit Ausnahme derer, die sie geliebt haben. Anscheinend hat die arme Rachel keine Ruhestätte und muss für immer in der Kühltruhe für die Kalten Fälle bleiben.
* * *
Ich weiß nicht genau, was ich jetzt tun soll. Zum ersten Mal habe ich echte Informationen, aber was soll ich damit anfangen? Ich möchte mit den Graingers sprechen, aber wie soll das gehen? Früher hätte ich es Tom erzählt. Ich hätte es genossen, ihm zu sagen: »Siehst du, ich hatte recht«, und sogar er hätte mir jetzt zuhören und mir helfen müssen. Das kann ich nicht mehr und will es auch nicht.
Ich fühle mich versucht, Matthew anzurufen. Es ist so lange her, dass wir zusammen waren, und er fehlt mir so sehr. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr kommt es mir richtig vor. Ich muss wissen, ob er mir glaubt.