16
September 2004
Sie wusste, es war vorbei. Eine Zeit lang hatte sie sich an einen spinnwebzarten Hoffnungsfaden geklammert: Vielleicht würde er genug von ihr bekommen, vielleicht würde er sie gehen lassen. Aber eigentlich hätte sie von Anfang an wissen können, dass es vorbei war. Sie hatte es nicht wahrhaben wollen und daraus Kraft geschöpft, aber das funktionierte jetzt nicht mehr. Nichts funktionierte mehr.
Das Grauen hatte sie hinter sich gelassen, und sie war jenseits aller Schmerzen, nur noch ein Klümpchen von Bewusstsein und Hass, ein gefangenes, sterbendes Tier. Wenn sie könnte, wenn sie die Kraft hätte, würde sie ihm ins Gesicht springen, sie würde ihm mit den Zähnen die Gurgel herausreißen und die Augen aus den Höhlen kratzen.
Ob es am Hunger lag – sie hatte seit Tagen nichts mehr gegessen – oder an den Drogen, die sie regelmäßig bekam, jedenfalls fühlte sie sich losgelöst, als wäre sie schon fort und schwebte über ihrem Körper und schaute von den Sternen auf sich herab. Ein Auge war zugeschwollen – nicht, dass es etwas bedeutete, es gab ja nichts zu sehen. Nur ihn. Ihre Beine waren streifig von Blut, ihr Ohrläppchen zerrissen, wo er es zernagt und zerbissen hatte, und harte Blutkrusten bedeckten ihr Gesicht. Ihr Körper war zerstört, aber nicht ihre Seele.
Jede Nacht – oder waren es Tage? Sie hatte kein Zeitgefühl mehr – schickte sie ihre Gedanken über die Baumwipfel hinaus, wo sie schrien: »Ich bin hier, ich bin hier!« Sie presste die Augen zu und versuchte, sich mit der Kraft ihres Willens nach Hause zu versetzen, zu ihren Eltern. Bitte, lieber Gott, lass sie nicht sterben, ohne zu wissen, was mit mir passiert ist oder wohin ich gegangen bin. Lass sie nicht denken, ich sei weggelaufen und habe sie verlassen. Manchmal glaubte sie einen Moment lang, sie zu sehen, dort in der schwarzen Finsternis. Ihre Mutter weinte leise in der Küche, ihr Vater starrte ausdruckslos auf den Fernseher, und sein Gesicht war alt und durchzogen von den Falten und Furchen, die der Verlust hinterließ.
In ihrem Bestreben, jemanden irgendwie wissen zu lassen, wo sie war, hatte sie ihre Initialen mit dem einzigen Werkzeug, das sie finden konnte, an die Wand geschrieben. Unermüdlich hatte sie im Dunkeln gekratzt und geritzt, aber er hatte gesehen, was sie getan hatte, und hatte die Wand und sie zerschrammt, bis fast nichts mehr da war. Aber er hatte nicht alles erwischt, er hatte nicht gesehen, was sie sonst noch hinterlassen würde, noch nicht. Sie hoffte, sie würde sich an die Reihenfolge erinnern, aber manchmal schweiften ihre Gedanken ab und verirrten sich. Manchmal hatte sie Mühe, sich zu erinnern, wer sie gewesen war, und warum.
Er war draußen, da war sie sicher. Sie hörte ihn nicht, sie konnte ihn fühlen. Und auch beinahe riechen. Sie schickte einen Strom von Hass durch die Wand, zischend und brennend wie Säure.
Er öffnete die Tür, und sie sah seine dunkle Silhouette vor dem matten Lichtschein draußen. Er hatte eine Flasche in der Hand und ein Tuch über dem Arm – wie ein Kellner, dachte sie und kämpfte gegen den irrationalen Drang zu lachen.
Er sprach leise und sagte drei Worte: »Zeit zu gehen.«
Manchmal sprach er nicht. Manchmal gab es nichts als Schweigen und Schmerz, dann unterbrachen nur ihre erstickten Schreie die Stille. Manchmal sang er ihr etwas vor, und das war irgendwie noch schlimmer. Lieder aus den Charts, die sie nie wieder hören würde. Heute sprach er.
Er stieß sie mit dem Fuß an. »Komm schon, tick tack.«
Sie hatte nichts zu verlieren. Nicht mehr. Sie zog die rissigen Lippen zurück und entblößte eine Lücke, wo ein Zahn gewesen war. »Fick dich«, sagte sie, und sie spürte den ungläubigen Ausdruck auf seinem Gesicht mehr, als dass sie ihn sah.
Er stürzte sich auf sie, und plötzlich lag das Tuch auf ihrem Gesicht, und er goss die Flasche darüber aus und goss und goss. Ekelhaft süß drang es ihr in die Nase, füllte ihren Mund und ihre Augen, strömte kalt in ihr Haar und ihre Ohren, brannte in den Bisswunden und Kratzern. Sie hatte nicht mehr die Kraft, sich zu wehren, und ihre Hände flatterten hilflos an ihm, als er sie niederdrückte. Sie keuchte und würgte, und Eis durchflutete ihre Brust. Ihr Herz stolperte und schlug langsamer, ihre Lunge rang nach Atem.
Der Schmerz explodierte, und dann konnte sie fliegen. Schwerelos wie die Luft entglitt sie seinem Griff. Lichter knisterten und funkelten hinter ihren Lidern wie ein Feuerwerk, und die Person, die sie war, und die Person, die sie hätte sein können, trieben davon und verblassten. Die Zeit kräuselte sich und faltete sich zusammen und offenbarte Möglichkeiten, die es jetzt nie mehr geben würde. Bevor der letzte Lichtpunkt erlosch, sah sie einen Moment lang den Mann, der sie nie lieben, die Kinder, die sie niemals kennen würde – und dann fand sie Frieden.
Er beobachtete sie leidenschaftslos. Was für eine Sauerei. Es war wirklich an der Zeit gewesen, dass sie ging. Sie war so schön und so unterhaltsam gewesen, solange sie durchgehalten hatte. Zu schade, dass sie nicht das Stehvermögen besessen hatte. Wie seine Mutter hatte sie ihre Schönheit verrotten lassen.
Ihr Auge war offen. Prüfend berührte er den nassen Augapfel: kein Reflex. Er hatte gesehen, wie der Tierarzt das überprüfte, als sie den alten Buster eingeschläfert hatten. Nur dass der Tierarzt die transzendente Schönheit des Augenblicks nicht so sehr zu schätzen wusste wie er selbst.