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Es ist hart für Tom und mich, einen Weg zurück zu finden. Es hat keinen Streit mehr gegeben – der letzte hat uns beide zu sehr gebeutelt – , aber der Waffenstillstand ist wacklig. Wir umkreisen einander wie zwei Fechter, nur ohne Angriff und Parade, aber mit vorsichtigen Worten, sorgfältig gewählt. Sex haben wir im Moment keinen. Ich kann jetzt nicht daran denken.

Ich kann nur an das denken, was mit Mina passiert ist. Es erfüllt mich mit einer Mischung aus Trauer und Angst, und es verfolgt mich. Ich weiß, Tom hatte wahrscheinlich recht: Ein Fuchs oder ein Dachs hat sie gerissen, ihr mit einem Biss in den Nacken das Genick gebrochen. Aber ich werde den Gedanken nicht los, dass da ein Gesicht vor dem Fenster war und hereingespäht hat. Zugesehen hat, wie ich sie füttere und streichle und sie liebe. Nur darauf gewartet hat, sie zu töten. Ich kann mich hier nicht mehr sicher fühlen.

Die Maler sind mit den Schlafzimmern fertig, und mit den Badezimmern wird es auch nicht mehr lange dauern. Also werde ich hier bald wieder allein sein, und davor graut mir. Bill arbeitet immer noch im Garten – nein, Tom hat ihn nicht gefeuert – , aber er wird nicht jeden Tag hier sein. Ich werde allein sein mit dem Bösen, das hinter jeder Ecke lauert.

Ich habe meine Arbeit in die Remise verlegt. Alle meine Leinwände und Farben, meine Skizzenblocks und Kritzeleien haben ein neues Zuhause gefunden. Strom ist jetzt auch da, und auch wenn das Licht nicht ideal ist, brauche ich den Platz für Matthews Leinwände. Sie sind jungfräulich, weiß und riesig, eine noch ungeschriebene Geschichte. Das Arbeiten beruhigt mich, das Gefühl des Pinsels in meiner Hand, und meine Farben singen zu mir. Es schenkt meiner Seele Ruhe.

Ich bin froh, dass die Bäume fast kahl sind, denn so kann sich niemand unbemerkt im Grün verstecken und mich beobachten. Die Türen des Hauses sind verriegelt und vergittert, und darüber bin ich jetzt froh. Bei dem Gedanken an die Glastüren, die wir geplant hatten, läuft es mir kalt den Rücken herunter. Ich kann so entblößt nicht sein.

Ich treffe mich heute mit Matthew, und bei dem Gedanken daran fröstelt es mich ein wenig, und mir wird leicht flau im Magen. Mich ängstigt, was ich für ihn empfinde, wie sehr ich ein Wiedersehen herbeisehne. Ich habe unser Treffen bis jetzt hinausgezögert, weil ich warten wollte, bis ich wieder ganz gesund bin, aber ich habe oft an ihn gedacht. Ich weiß, es ist albern, aber ich habe seine Karte wieder und wieder gelesen und mich gefragt, ob die Andeutung stimmt, dass er die Verbindung zwischen uns auch spürt, diesen unsichtbaren Faden, der sich zwischen uns spannt.

Ich habe entschieden, dass es besser ist, wenn wir uns in der Remise treffen, nicht im Haus. Es kommt mir irgendwie zu intim vor, ihn in meinem Heim zu empfangen.

Es gibt noch einen Grund für meinen Entschluss, ins Atelier umzuziehen, bevor es vollständig fertig ist: Wir brauchen den Platz im Haus für meine Schwestern. Sie haben ihre Grundkurse beendet und hatten vor, wieder zu Hause zu wohnen, bis ihr Examensstudium anfängt – Schauspiel und Darstellende Kunst – , aber das geht jetzt doch nicht. Anscheinend gibt es Ärger im Paradies. Sie haben mich gebeten, eine Weile bei uns wohnen zu dürfen, weil sie dort nicht bleiben können. Daddy hat ein Verhältnis gehabt – welch Überraschung – , und anders als seine derzeitige Sekretärin hat seine Frau es nicht tatenlos hingenommen. Wieder einmal hat mein armer Vater sich zwischen seinem Schwanz und einer Wand wiedergefunden. Jemand sollte ihm sagen, dass die Definition von Wahnsinn darin besteht, dass man immer wieder das Gleiche tut und doch jedes Mal ein anderes Ergebnis erwartet.

Es ist eine Weile her, dass ich Amy und Zoe, meine Kuckucksschwestern, gesehen habe. Sie haben wenig Ähnlichkeit mit meinem Vater, denn sie haben blaue Augen und weißblondes Haar und sind langgliedrige nordische Typen. Ich freue mich darauf, sie wiederzusehen – selbstsüchtigerweise nicht nur um ihrer selbst willen. Eine Zeit lang werden sie mir die dringend benötigte Gesellschaft leisten, und hoffentlich wird ihre Anwesenheit die Anspannung ein wenig abmildern, die immer noch zwischen Tom und mir herrscht.

Ich gehe durch den Obstgarten zur Remise. Einen Moment lang ist mir, als wäre da jemand zwischen den Bäumen, aber anscheinend habe ich mich getäuscht. Ich blinzle einmal, und da ist niemand. Die Vorfreude auf das Wiedersehen mit Matthew durchrieselt mich und lenkt meine Gedanken von meinen Ängsten ab. Ein Teil meiner selbst weiß, dass es gefährlich ist und dass ich riskiere, meine Ehe aus einer Laune heraus wegzuwerfen, aber einen anderen kleinen Teil meiner selbst scheint das nicht zu kümmern. Nicht mehr. Tom ist nicht der, für den ich ihn gehalten habe oder den ich mir gewünscht habe, und auch er hat seine Geheimnisse. Ich weiß es, ich fühle, wie sie unter der Oberfläche wuseln wie Aale.

Es ist ein kalter, diamantklarer Tag, und das Laub raschelt frosttrocken unter meinen Füßen, mit verheißungsvollem Knistern. Ich fühle statische Elektrizität in der Luft, die meinen Pullover prickeln und meine Narbe kribbeln lässt. Ich bin Frankensteins Ungeheuer, das zum Leben erwacht.

Matthew ist schon da. Er steht in der Kälte und wartet, und die Bäume im Hintergrund sind der perfekte Rahmen für seine Gestalt. Er hat mich noch nicht gesehen. Seine Hände stecken tief in den Taschen, und sein Atem ist ein wirbelndes Geheimnis über seinem Kopf. Sein Gesichtsausdruck ist unbefangen, und ein kleines, undurchschaubares Lächeln spielt auf seinen Lippen. Er hört das Knacken eines Zweiges und blickt auf, und sein Lächeln erstrahlt im vollen Glanz und verrät eine echte, wunderbare Freude bei meinem Anblick. Gott, es ist so lange her, dass mich jemand so angesehen hat.

»Isabel, endlich. Ich dachte schon, das Schicksal hätte sich gegen uns verschworen und wir würden uns nie wiedersehen.«

Er streckt die Hand aus, und ich nehme sie. Sie kommt warm und trocken aus der Tasche. Er ist wie Feuer und Eis, und er bringt mich zum Schmelzen. Die statische Elektrizität hebt mein Haar und zieht mich zu ihm. Ich versuche, ihr nicht zu folgen.

Ich schließe die Tür zu meinem Atelier auf – nennen wir es doch jetzt so. Finger und Daumen kommen einander in die Quere, aber dann können wir hinein. Drinnen ist es warm, aber Matthew bringt einen Hauch von Frost mit sich, der kalt wie Raureif in seinem Mantel hängt. Ich drehe mich zu ihm um, und er lächelt.

»Ich habe mich so darauf gefreut«, sagt er, und etwas in seinem Blick lässt mich glauben, dass er damit mich meint, nicht etwa meine Arbeit.

Ich binde meine Mappe auf und fange an, ihm die Skizzen zu zeigen. Hinter Linien und Wirbeln verbergen sich wilde Klippen und schäumende Meere. Ich habe vor, zwei Bilder zu malen, das erste monochrom, auf Holz statt auf Leinwand: granitene Klippen und grauer Himmel, schäumende See und Gischt. Keine Farben, sondern Textur – Impasto und Sgraffito. Das zweite will ich auf eine Leinwand malen, das gleiche Sujet, aber diesmal in Farbe. Die Grün- und Blautöne des Ozeans und des Himmels, die violetten und grauen Nuancen der Felsen und der Heide. Aufgeregt zeige ich ihm die Studien auf Leinwand, die zeigen, wie es werden soll, und ich weiß, ich rede zu schnell und fuchtle mit den Armen wie eine Jazztänzerin. Er sieht schweigend zu, wie ich meine Ware präsentiere.

Dann halte ich inne und warte gespannt. Ich spüre seinen Blick auf mir, aber ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht sehen. O Gott, hoffentlich gefällt es ihm.

»Unglaublich«, sagt er, und mein Herz fängt wieder an zu schlagen.

»Ich habe schon Bilder von Ihnen gesehen und fand sie wunderbar. Sie sind so komplex und kraftvoll, dass ich wusste, ich muss eins davon haben.« Er schweigt kurz und fügt dann leise hinzu: »Ihr Foto im Profil war auch dabei, und Ihr Gesicht hat mir ebenfalls gefallen. Sie sahen aus wie jemand, den ich kennenlernen wollte.«

Ich drehe mich um, und er lächelt mich an.

»Und jetzt ist es so weit.«

Er hat seinen Mantel ausgezogen und den Duft seines Aftershaves freigesetzt. Er riecht gut, wie frisch gemähtes Gras oder Wäsche, die im Wind weht. Er und sein Duft in meinem Atelier, und ich will ihn. Die Spannung zwischen uns ist real und unverkennbar, und ich weiß, er fühlt sie auch.

Ich kann nicht anders, ich mache einen Schritt auf ihn zu und lege meine Hand auf seine warme Brust. Es ist impulsiv und falsch, und ich weiß, ich überschreite eine Grenze, aber ich tue es trotzdem, und in diesem Augenblick weiß ich, ich habe recht. Er fühlt es auch. Sein Herz klopft unter meiner flachen Hand im Takt mit meinem. Er sieht mich lange und durchdringend an und ist jetzt sehr ernst. Er fasst mein Kinn und hebt mein Gesicht, und die Zeit verlangsamt sich. Mein Herz schlägt die Saiten zu einem Lied, das so alt ist wie die Zeit, und ich falle.

Seine Lippen nähern sich meinen, und plötzlich erstarre ich. Was tue ich hier? Tom, ich liebe Tom, und das hier ist falsch.

»Tut mir leid«, sage ich, »aber es geht nicht. Das war keine gute Idee von mir. Es tut mir wirklich leid, aber ich habe einen Fehler gemacht.« Ich schiebe ihn sanft weg. Ich kann jemanden, den ich liebe, nicht so gleichgültig kränken und verletzen. Dazu bin ich nicht gemacht.

Eine Sekunde lang herrscht Verlegenheit, eine aufgeladene Stille, bevor ich weiterspreche.

»Es ist meine Schuld. Verzeihen Sie. Bitte, können wir einfach vergessen, dass es passiert ist?«

»Was denn vergessen?« Er lächelt. »Alles in Ordnung. Nichts ist passiert.«

Wir kämpfen uns durch den Augenblick und sprechen wieder über den Auftrag. Seine Begeisterung ist echt und ansteckend, und ich sage mir, wir werden gut zusammenarbeiten – und weiter nichts. Er ist sehr interessiert an dem, was ich tue, und daran, wie ich arbeite. Er sieht sich im Atelier und im Büro um, öffnet Türen und Schränke und stellt seine Fragen mit einem jungenhaften Überschwang, den ich liebenswert finde.

Er fängt an, in meinen Skizzenblocks zu blättern und jeden einzelnen eingehend zu studieren, bis er einen findet, der ihn zum Lächeln bringt. Ich winde mich vor Verlegenheit, als ich sehe, was für ein Block es ist. Er enthält einen abgebrochenen Versuch mit Selbstporträts, lauter Mini-Ichs, die von den Blättern spähen und von denen kein einziges »genau richtig« ist. Normalerweise bin ich zufrieden mit meiner Arbeit, aber hier bin ich es nicht. Als ich ihm den Block wegnehmen will, lässt er ihn meinem sichtlichen Unbehagen zum Trotz nicht los. Stattdessen hält er ihn hoch über dem Kopf, und dann reißt er ein Blatt heraus, faltet es sorgfältig zusammen und steckt es ein. Als ich ihn frage, warum er das tut, sagt er, er möchte nur mein Gesicht im Gedächtnis behalten. Mir läuft ein Schauer über den Rücken bei dem Gedanken daran, dass er mir irgendwo allein in die Augen schaut.

Ich weiß, ich sollte diesem Mann sagen, ich kann seinen Auftrag nicht annehmen und ihn nicht wiedersehen, aber das werde ich nicht tun. Ich spüre, ich sollte vor ihm weglaufen, aber ich werde es nicht tun. Ich spiele mit dem Feuer.