Februar 1499
Inverary Castle, Loch Fyne
„Die Unfähigkeit Eurer Wachen auf Innischonaill hat mich die Freiheit gekostet“, schimpfte Godfrey. „Außerhalb dieser Mauern kann ich mich nirgendwo mehr sehen lassen. Wenn ich Pech habe, wirft man mich sogar selbst in den Kerker.“
Archibald Campbell strafte Godfrey mit einem kalten, unbeteiligten Blick. „MacLean und seine Brüder haben einige meiner fähigsten Krieger getötet. Hört Ihr mich zetern?“
Sie befanden sich in den Privatgemächern des Laird auf Inverary Castle, dem Stammsitz der Earls of Argyll. Archibald, der gegenwärtige Earl, ließ sein Porträt malen. Flankiert von vier freistehenden Kandelabern, eine Hand auf der Hüfte, die andere am Griff seines Breitschwertes, stand Argyll vor dem Fenster, durch das nur schwach das Tageslicht hereinfiel. Neben ihm über der hohen Rückenlehne der Polsterbank war das Banner mit dem Familienwappen drapiert, auf dem Sitz lag ein erstklassiges Hochlandschwert, und gegen die Beine der Bank lehnte der glänzende, mit Messing beschlagene Schild.
„Einige Eurer fähigsten Männer! Pah!“, schnaubte Godfrey. „Andrew hat berichtet, dass mehr als ein Dutzend Eurer Krieger innerhalb von Minuten den Klingen der drei Brüder zum Opfer gefallen sind. Meine Güte, Eure Männer haben es doch nicht einmal geschafft, dieses kleine Mädchen und diesen dummen Jungen richtig zu entführen.“
Godfrey warf dem Maler einen misstrauischen Blick zu. Argyll hatte beteuert, dass Jan van Artevelde, mit dem er Französisch sprach, kein Gälisch verstand. In seinem Streben, sein Bild für die Nachwelt zu erhalten, hatte Argyll den flämischen Maler engagiert, den er während des Treffens mit dem König auf Castle Stalcaire kennengelernt hatte. Der kleine, gedrungene Mann aus Gent hatte nämlich sowohl Duncan Stewart, Earl of Appin, als auch James IV. von Schottland porträtiert. Pure Eitelkeit, wenn nicht gar vulgäre Prahlerei von Argyll, fand Godfrey, behielt jedoch gescheiterweise seine Meinung für sich.
„Auf der Straße von Archnacarry Manor hat MacLean weitere acht Männer meiner Truppe niedergemacht“, bemerkte Argyll fast gleichgültig, während er einen Fussel von seinem Ärmel schnippte. Zu seinem dunkel gemusterten Tartan trug er eine waldgrüne Jacke, einen eleganten Dachssporran und eine schwarze Mütze mit dem Schmuck dreier Federn. Er warf Godfrey einen kurzen Blick zu. Kühl und berechnend wirkten die braunen Augen im reflektierenden Kerzenschein. „Ihr solltet den großen Kerl nicht für so blöd halten, mein Freund. Es brauchte zwanzig kräftige Krieger, ihn vom Pferd zu ziehen, zu entwaffnen und zu binden.“
„Die Kehle würde ich dem Hurensohn aufschlitzen, wenn ich die Chance dazu bekäme“, keifte Godfrey. Der Maler sah von seiner Palette auf. Leichtes Erstaunen spiegelte sich in seinem Blick. Doch Godfrey ignorierte den kahlköpfigen Fremdling. Er ballte die Fäuste, gierte danach, MacLean wieder vor sich auf den Knien zu sehen. Dieses Mal wollte Godfrey nicht zögern. Er schlotterte vor Angst seit dem Tag, an dem er erfahren hatte, dass der Dreckskerl von der Inselfestung geflohen war.
Argyll hatte für eine solche Demonstration ohnmächtiger Wut lediglich ein mitleidiges Lächeln. „Ich hatte berechtigte Hoffnung, dass die Annullierung endlich gewährt wurde. Eigentlich wollte ich MacLean aus Innischonaill befreien, sobald Joanna und Iain verheiratet waren. Vollendete Tatsachen sind immer ein überzeugendes Argument.“
Gereizt verfolgte Godfrey, wie van Artevelde mit seinen Pinseln und Farben hantierte. Verdammt, fluchte er insgeheim, Argyll besitzt nicht einmal so viel Anstand, mit mir unter vier Augen zu sprechen. „Mein Bruder hatte andere Pläne. Wieso glaubt Ihr, dass Ewen auf die Erbin verzichtet hätte, wenn ihm die Annullierung gewährt worden wäre?“
„Ihr vergesst, dass ich viel mehr Einfluss beim König habe, mehr als Ewen Macdonald jemals besaß“, erklärte der Earl gelassen. „Ohne James Stewarts Erlaubnis hätte sein Schützling nicht heiraten können. Es wäre kein Ehekontrakt vom Zivilgericht anerkannt worden. Und in den Westlichen Highlands bin ich das Zivilgericht.“
Das stimmte. Argyll besaß das königliche Privileg über von der Krone eingezogene Ländereien. Er kaufte Schuldscheine und Pfändungsurkunden anderer Clanführer. Indem er seine außerordentliche Macht bei den Gerichten im Argyllshire geltend machte, kam er dann ganz legal, per Gerichtsbeschluss, in den Besitz derer Ländereien. Wenn nötig, setzten der Earl und seine Campbell-Gefolgsleute sogar mit Schwert und Dolch ihre skrupellosen Machenschaften durch.
Der Earl schaute auf seine Hand, die er so elegant in die Hüfte gestützt hatte, und betrachtete den großen Rubinring. Godfrey hoffte inständig, der Maler würde auch das abstoßend arrogante Lächeln einfangen können.
„Bei einem Verschwinden MacLeans oder vermutlich sogar seinem Tod“, fuhr Argyll fort, „wäre der jüngste Sohn des Anführers des Campbell-Clans als Gatte für Lady Joanna eine gute politische Wahl gewesen. Aber ich habe MacLeans Entschlossenheit unterschätzt. Deshalb bin ich dieses Mal ganz Eurer Meinung, Godfrey. Man muss ihn töten. Ich gebe Euch eine zweite Chance. Befreit die Welt endlich vom Rächer des Königs.“
„Jetzt noch? Aus welchem Grund? Es gibt keine Annullierung. Und der Bastard hat nicht nur seine Frau zurück nach Kinlochleven geholt, sie hat ihm zu allem Übel auch noch einen Sohn geschenkt.“
„Natürlich weiß ich, dass Laird und Lady MacLean einen gesunden Jungen bekommen haben“, erwiderte Archibald Campbell mürrisch. „Vor zwei Wochen habe ich in Gegenwart des Königs ein sehr unangenehmes Gespräch mit dem grandiosen Gentleman führen müssen. Es kostete mich enorme Anstrengung, und ich musste mit allen Tricks arbeiten, James Stewart davon zu überzeugen, dass ich nicht an MacLeans Kerkerhaft auf Innischonaill beteiligt war.“
Godfrey biss wütend die Zähne zusammen. Scharf und steif kam seine Antwort. „Ich vermute, Ihr habt die Schuld allein mir angehängt.“
Argyll zuckte mit den Schultern. „Ja, mein lieber Mann, wem denn sonst? Selbstverständlich habe ich James erklärt, dass Ihr mit Euren Clansleuten den MacLean auf die Festung im Loch Awe gebracht und mit Trug und Arglist den Kommandeur der Garnison überzeugt habt. Ihr handeltet auf meinen Befehl.“
Godfrey sank auf eine niedrige Truhe und schlug die Hände vor das bärtige Gesicht. Seine Situation war schlimmer, als er erwartet hatte. Er war ein toter Mann.
„Ach, nun verzweifelt nicht. Es gibt immer einen Ausweg“, tröstete Argyll süßfreundlich.
Godfrey schaute auf. „Verflucht, wie denn?“ Seine Stimme war heiser und klang wie die eines Mannes, der sich seiner Niederlage durchaus bewusst war.
Mit einer knappen Handbewegung bedeutete Argyll dem Maler van Artevelde, dass die Sitzung beendet sei. Dann machte er ein paar Schritte auf Godfrey zu und blieb vor ihm stehen. „Wenn Ihr MacLean tötet“, antwortete er völlig emotionslos. „Wegen ihres Clans und um ihr Vermögen zu retten, wird die hübsche Witwe wieder heiraten müssen. In diesem Fall kann ich James Stewart gewiss davon überzeugen, dass mein Sohn Iain die rechte Wahl wäre. Durch die Allianz zwischen den Glencoe Macdonalds und den Campbells würde die Stellung des Königs an der gesamten Westküste Schottlands gestärkt.“
„MacLeans Balg würde dennoch Joannas Ländereien erben und das Clanoberhaupt der Glencoe Macdonalds werden. Nicht ihr zweiter Gatte“, gab Godfrey zu bedenken.
„Das Leben kleiner Kinder hängt immer an einem seidenen Faden“, antwortete Argyll ungerührt, ging zur Leinwand und betrachtete eingehend das unvollendete Porträt. „Ein Fieber, ein unglücklicher Unfall kann innerhalb von Stunden, wenn nicht gar von Minuten, ihr junges Leben auslöschen.“
Godfrey stand auf und straffte die Schultern. „Und wieso ich?“, fragte er streitlustig.
„Très bien!“ Argyll nickte dem Maler anerkennend zu und wandte sich dann wieder an Godfrey. „Weil Ihr Kinlochleven wie Eure Westentasche kennt, mein Lieber. Und weil niemand, am allerwenigsten MacLean, erwartet, dass Ihr es wagen würdet, Euch im Umkreis von fünfzig Meilen von der Burg blicken zu lassen.“
Trotz all seines Kummers regte sich ein winziges Fünkchen Hoffnung bei Godfrey. „Leicht ist es nicht, in Kinlochleven hineinzukommen“, sagte er nachdenklich und halb zu sich selbst.
„In zwei Wochen ist Taufe. Verwandte und Freunde sind zu einem großen Bankett geladen. Auf Lady MacLeans Bitte planen sogar Beatrix und Idoine, in Begleitung eines kleinen Gefolges von Macdonalds aus Mingarry, zu kommen. Der liebestolle Gatte scheint den Verwandten seiner Frau Pardon zu gewähren, wenn sie ihm ihre Loyalität schwören.“
„Für mich gilt dieses Pardon ganz bestimmt nicht“, sagte Godfrey mit einem humorlosen Lachen.
„Leider nicht“, bestätigte Argyll. Vom Tisch nahm er eine Karaffe und schenkte, während er weitersprach, Sherry in drei Gläser. „Aber die Feier bietet Euch Gelegenheit, in die Burg zu schlüpfen. Wenn Ihr Euch auf die Lauer legt und MacLean an einem Tag überrascht, der sicherlich einer der freudigsten seines Lebens werden sollte, dann habt Ihr die Chance, uns beide ein für alle Male vom Rächer des Königs zu befreien.“
Godfrey nahm das Glas, das Argyll ihm reichte. „Und wenn es mir gelingt?“
„Wenn es Euch gelingt, werde ich dafür sorgen, dass Ihr sicher nach Frankreich kommt – mit Geld genug für den Rest Eures Leben, vorausgesetzt, Ihr seid genügsam.“
Godfrey schaute auf. Ohne mit der Wimper zu zucken, beobachtete der schlaue Fuchs ihn. Godfrey verstand das unausgesprochene Ultimatum: tun, was man von ihm verlangte, das war das Beste für ihn.
„Ihr werdet ihn töten?“, fragte Argyll fast liebenswürdig, während er van Artevelde ein Glas reichte.
„Habe ich eine andere Wahl?“
Archibald Campbell hob sein Glas. „Dann lasst uns trinken. Auf den Tod von Rory MacLean!“
Der flämische Maler strahlte glücklich in die Runde und trank mit ihnen.
In einem Zug leerten die drei Männer ihre Gläser. Argyll warf sein Glas gegen die Kaminplatte, um den Handel zu besiegeln. Godfrey tat es ihm gleich. Nur der kleine Flame blickte zuerst unentschlossen und fragend von einem zum anderen, dann tat er grinsend dasselbe.
Der Tag war grau und stürmisch, aber ganz Kinlochleven strahlte im Kerzenschein. Trotz des kühlen Märzwetters waren die Gäste von weither angereist, ja selbst von Stalcaire war man gekommen, um der Taufe beizuwohnen. Nach der Hochmesse und der Taufzeremonie in der Kapelle hatten sich alle Gäste in der großen Halle zu einem üppigen Bankett zusammengefunden, bei dem Jongleure in farbenfrohen Seidenkleidern, Spaßmacher mit bunt bemalten Gesichtern, muskulöse Akrobaten in Hose und Wams, Spielleute mit Harfen, Flöten, Trommeln und Schellen und geheimnisvolle, tanzende Zigeunerinnen zur Unterhaltung beitrugen.
Nach dem Mahl versammelten sich alle, die adeligen Gäste, das Gesinde und die Wachleute der Burg, im Saal mit der hohen Decke. Laird und Lady, Lakai, Küchenmagd und Soldaten, Schulter an Schulter standen sie an diesem wunderbaren Tag, um ein Hoch auf den hübschen kleinen Jungen auszurufen.
Nach der Erstürmung von Dhòmhuill waren Joanna und Rory nach Kinlochleven zurückgekehrt. Die Macdonald-Krieger hatten zunächst mit Unmut auf die Nachricht vom Tod ihres Heerführers durch die Hand von MacLean reagiert. Joanna hatte ihnen jedoch erklärt, dass Ewen sie gezwungen hatte, unter Eid zu lügen, um das Leben ihres Mannes zu retten, dass Ewen sie entführt hatte und dass sie ihn sogar verdächtigte, geplant zu haben, ihr Baby nach der Geburt verschwinden zu lassen. Freiwillig hatten daraufhin alle ihre Gefolgsleute ihrem Gatten den Treueeid geschworen.
Rory war bereit, die Vergangenheit ruhen zu lassen. In den letzten fünf Monaten hatte er mit all seinen Handlungen Mut und Würde gezeigt. Er war resolut und unparteiisch. In allen Angelegenheiten, die die Burg, die Ländereien und die Pächter betrafen, hatte er sich als fähiger und gerechter Clanführer bewiesen.
Nun standen Seumas und Davie, Jacob Smithy und sein stämmiger Sohn Lothar, Jock Kean, Abby und Sarah neben der Galerie, wo die Musiker zum Tanz aufspielten. Mary und einige andere hübsche Milchmädchen standen flüsternd in der Ecke beieinander, warfen verstohlene Blicke zu einer Gruppe großer, kräftiger Macdonald-Krieger und schienen sich zu fragen, ob sie sie zum Tanz auffordern sollten.
In Begleitung von Tam MacLean und einem kleinen Kontingent von Macdonald-Kriegern hatten auch Lady Beatrix, Idoine und Andrew der Taufmesse beigewohnt. Sie hielten sich etwas abseits von der Schar der Gratulanten in der großen Halle, bis Joanna auf sie zuging und sie alle mit Handschlag willkommen hieß. Sie wusste, dass ihre Verwandten gegen Ewens dominante Persönlichkeit keine Chance gehabt hatten. Es waren ihre Verwandten, und um des Friedens willen im Clan hatte sie ihnen vergeben. Mit Rorys Zustimmung hatte sie dem enteigneten Trio sogar erlaubt, wieder auf Mingarry Castle zu wohnen.
Auf Joannas Bitten hin hatte Rory auch die notwendigen Schritte unternommen, nach einem geeigneten Gatten für Idoine zu suchen. Als Joanna ihrer Cousine mitgeteilt hatte, dass man wahrscheinlich einen aussichtsreichen Bewerber gefunden hätte, hatte ein glückliches Lächeln das runde Gesicht erhellt, ein Lächeln, das eine verborgene Schönheit hinter der sonst stets mürrischen Miene zum Vorschein brachte. Idoine hatte viel Aufhebens um Jamie gemacht. Die Art, wie sie den Jungen im Arm gehalten und seinen goldenen Lockenflaum geküsst hatte, zeigte deutlich ihre Sehnsucht nach einem eigenen Kind. Es war anzunehmen, dass ohne den Einfluss ihres egoistischen Vaters Idoine wie auch Andrew zu verantwortungsvollen Menschen heranreifen würden.
In ihrer Rolle als Gastgeberin und Burgherrin ging Joanna von einer Gruppe zur anderen und vergewisserte sich, dass auch jedermann das Fest genoss. Quer durch die Halle winkte sie Lady Emma und deren Bruder Laird Duncan zu, dann warf sie eine Kusshand zu den Camerons. Lady Nina hatte sich liebenswürdigerweise bereit erklärt, Jamies Patin zu sein, und Lachlan war der stolze Patenonkel.
Über den nächsten Anführer des MacLean-Clans wachte Maude auf dem oberen Stockwerk. Friedlich schlief er in seiner Wiege, die neben dem großen Baldachinbett seiner Eltern stand. Lächelnd hatte Joanna beobachtet, wie Fearchar ihrer lieben Freundin nach oben gefolgt war, und hatte darüber nachgedacht, dass die beiden möglicherweise schon bald ihren Laird um die Heiratserlaubnis bitten würden.
Am knisternden Kaminfeuer unterhielten Murdoch und Tam sich mit Pater Thomas. Isabel und Raine Cameron saßen auf der Bank vor einer langen Tafel und führten ein angeregtes Gespräch mit Arthur Hay. An einem anderen Tisch waren Keir und Lachlan in ein Schachspiel vertieft. Rory schaute ihnen über die Schulter zu und gab vermutlich beiden Brüdern seine bissigen Ratschläge.
Nachdem Joanna noch bei Ethel und Peg stehen geblieben war und ihnen für ihre Mühe und das köstliche Essen, das sie bereitet hatten, gedankt hatte, ging sie zu Lady Nina und Laird Cameron. Das tiefe Blau in Ninas Seidenrobe brachte das rotblonde Haar und ihren zarten, pfirsichfarbenen Teint zum Strahlen – wie ein himmlisches Wesen kam sie Joanna wieder vor.
„Erzählt uns von dem Wandbehang in Eurem Schlafgemach, der Lady Emma so fasziniert“, bat Nina. „Es soll ja ein sehr ungewöhnlicher Gobelin sein. Rorys Mutter vermutet, dass die Figuren auf einem wenig bekannten griechischen Mythos beruhen.“
„Ach, griechischer Mythos würde ich nicht sagen“, antwortete Joanna. „Ursprünglich hatte ich an der Wand meiner Schlafkammer einen Gobelin hängen, auf dem eine Szene dargestellt war, wie ein Ritter in voller Rüstung seiner Angebeteten Geschenke brachte. Ich hatte den Behang aus Cumberland mitgebracht, aber da mein Gatte nicht sehr von ihm angetan war, ließ ich den Gobelin entfernen.“
„Was ist denn so faszinierend an diesem Ritter und seiner Angebeteten?“ Wissbegierig richtete Alex die haselnussbraunen Augen auf Joanna. Das Wort Mythos hatte sofort sein wissenschaftliches Interesse geweckt.
„Nichts“, gab Joanna zu. „Der Gobelin, den Rory anstelle des alten an die Wand hängen ließ, ist … nun … er ist eben anders.“ Als die beiden sie fragend ansahen, fuhr Joanna zögernd fort. „Es ist das Bild eines Highland-Lairds mit einem Drachenschwanz. Er … hm … er scherzt mit einer Nymphe.“
„Das klingt ja sehr skandalös“, meinte Alex amüsiert.
In diesem Moment trat Rory zu ihnen. Die beiden Männer tauschten Blicke, wie es nur Männer können, wenn sie über den unterschiedlichen Humor von Mann und Frau sprechen.
Joanna senkte den Blick und strich mit der Hand über den juwelenbesetzten Saum ihres Mieders. „Aus irgendeinem seltsamen Grund“, begann sie in überzeugend verwundertem Ton, „glaubt mein Gatte, der Laird auf dem Gobelin sei der Anführer des MacLean-Clans.“
Ninas melodiöses Lachen klang überrascht. „Warum sollte er das denn glauben?“
Joanna sah das Glitzern in Rorys Augen. „Wer weiß?“, antworte sie fröhlich. „Ich kann mir nicht vorstellen, woher er diese unsinnige Idee hat.“
Nina und Alex blickten fragend zu Rory; fast ungeduldig schienen sie auf eine Erklärung zu warten.
„Ach, das will ich für mich behalten“, sagte er und strich dabei glücklich lächelnd über Joannas lange Locken. „Nur eins will ich euch verraten: Meine Frau bestand darauf, dass die Meerjungfrau leuchtend rotes Haar bekam, wenn der Gobelin in unserem Schlafgemach hängen sollte.“
Ihre Freunde lachten, und Joanna schwieg weise. Manchmal, wenn sie abends in ihrer Kammer waren, schaute Rory auf das Bild und konnte immer wieder schallend lachen. Das letzte Mal hatte sie richtig mit ihm geschimpft. Sie hatte ihn gefragt, ob er ihr jemals ihren Fehler verzeihen wollte, aber er hatte vor Lachen gar nicht antworten können.
Die langen Winterabende vor Jamies Geburt hatten sie oft bei knisterndem Kaminfeuer auf dem breiten Bett gesessen. Joanna hatte von ihrer Kindheit auf Allonby und Kinlochleven erzählt. Rory hatte sie mit Geschichten von seinen wunderbaren Abenteuern auf See unterhalten. Und Joanna hatte gelernt, wenn auch nicht ganz so überrascht, dass der heimtückische, teuflische und lüsterne Sea Dragon einen äußerst scharfen, bissigen Humor besaß.
Rory legte den Arm um die Taille seiner Frau und nahm sie beiseite. „Ich möchte nicht, dass Ihr Euch zu sehr anstrengt“, sagte er leise, während er in ihrem Gesicht nach Zeichen von Müdigkeit suchte.
Joanna hatte darauf bestanden, Jamie selbst die Brust zu geben. Sie wollte keine Amme, die ihren Sohn nährte. Gegen die Kissen gelehnt saß Joanna nachts im Bett, hielt das Baby im Arm und sprach liebevoll mit ihm, während es gierig an ihren Brüsten saugte – ein Bild, das Rory immer wieder aufs Neue rührte. In andächtigem Schweigen beobachtete er die beiden, bis Jamie, das rosige Mündchen noch voller Milch, satt einschlief und in seine Wiege gelegt wurde. Danach nahm Rory seine Frau in die Arme und drückte sie an sein Herz, bis sie alle fest eingeschlafen waren.
„Ich bin kein bisschen müde“, versicherte Joanna ihrem Mann. „Ich bin so glücklich, ich schwebe auf Wolken.“ Mit strahlenden Augen zog sie seinen Kopf zu sich hinab und küsste ihn zärtlich auf den Mund.
Gierig wie sein Sohn erwiderte Rory den Kuss. „Wofür war das denn?“, neckte er sie.
Joanna strich über die Spitze an seinem Hemdkragen und drehte an den goldenen Knöpfen der Jacke, die er auch bei ihrer Hochzeit getragen hatte. „Dafür, dass Ihr den Troubadour extra aus Wales habt kommen lassen, damit er während des Banketts singt. Es war eine wunderbare Überraschung.“ Ihr Gesicht strahlte vor Glück. „Woher wisst Ihr denn, dass ich als Kind seine Balladen so sehr liebte?“
Neckisch tupfte Rory ihr auf die sommersprossige Nasenspitze. „Maude hat es mir erzählt. Bei den Versen über den edlen fahrenden Ritter hättet Ihr immer wie ein liebeskrankes Mädchen geseufzt, hat sie gesagt.“
„Jetzt aber nicht mehr“, erwiderte sie keck. „Ich bin kein verträumtes Mädchen mehr. Ich habe einen richtigen Helden aus Fleisch und Blut, der jede Nacht neben mir liegt.“
Er zog sie näher „Wollt Ihr, Liebste? Jetzt?“
„Hmm“, antwortete Joanna. Nur mit Mühe konnte sie ihr Lachen unterdrücken. „Jamie heißt der Held!“, neckte sie ihn und zog dabei frech die Nase kraus. „Kommt, lasst uns nach ihm schauen.“
„Gerne, meine Liebe!“ Während Rory Joanna zum Ausgang der großen Halle geleitete, signalisierte er seinem Bruder Keir mit einem Blick, dass er nach oben ging.
Bei seiner Ankunft vor zwei Tagen hatte Duncan Stewart seinem Neffen eine Nachricht von Jan van Artevelde gebracht. Vor zwei Monaten, bei einem Treffen mit dem König und dem Earl of Argyll auf Stalcaire, hatte Rory den talentierten Künstler kennengelernt. Als er hörte, dass dem kleinen Mann aus Flandern angeboten worden war, ein Porträt von Archibald Campbell zu malen, hatte Rory ihn ermuntert, den Auftrag anzunehmen. Vielleicht gelang es dem Flamen ja, auf Inverary Castle etwas über die Verbindung zwischen Godfrey Macdonald und dem Earl zu erfahren. Van Artevelde hatte sofort zugestimmt und auch erwähnt, dass der Anführer des Campbell-Clans nichts von seinen Gälischkenntnissen wusste, die er seit seinen Studien während der gemeinsamen Seereise mit Lachlan kontinuierlich verbessert hatte.
Aus dem Brief des Malers hatte Rory erfahren, dass Godfrey sich heimlich, höchstwahrscheinlich am Tag der Taufe, nach Kinlochleven schleichen und ihn ermorden wollte. Nachdem er sich mit seinen Brüdern und Fearchar beraten hatte, hatte Rory sich entschieden, Godfrey unbewaffnet – abgesehen von einem Achselmesser, das er unter dem Hemd verstecken konnte – aus seinem Versteck zu locken.
Seit Duncans und Lady Emmas Ankunft auf Kinlochleven waren die Wachen am Torhaus in Alarmbereitschaft, und auch alle Eingänge zum Wohnturm waren gut gesichert. Rory hatte Joanna nicht über die Gefahr informiert. Er wollte sie nicht unnötig ängstigen, aber entweder Fearchar, Lachlan oder Keir, alle bewaffnet und vorbereitet auf einen Überraschungsangriff, waren ständig in ihrer und des Babys Nähe.